Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII. Verschiedene Entwicklungsverhältnisse des organischen Reiches, welche unter Voraussetzung seines kosmorganischen Ursprunges eine wesentlich andere Auffassung als bisher erfordern.

1) Da in den pflanzentierischen protoplasmatischen Geschöpfen weder eine Differenzierung in Pflanze und Tier noch in verschiedene Geschlechter schon eingetreten ist, so kann man leicht geneigt sein, den Zustand, dieser Geschöpfe als denjenigen anzusehen, von dem die Differenzierung des molekular – organischen Reiches ausgegangen ist. Auch ohne Rücksicht auf das Prinzip der bezugsweisen Differenzierung ist man ja allgemein geneigt, im Protoplasma den Urstoff aller organischen Entwickelung zu sehen. Viel wahrscheinlicher jedoch scheint es mir, daß wir darin vielmehr einen von aller Differenzierung und frühern Fortentwicklung rückständigen Rest zu sehen haben, der für sich allein gar keiner höheren Fortentwicklung fähig ist, als die er in den pflanzentierischen Organismen schon erfahren hat, und der zwar in alle organischen Keime und höheren Organismen konstituierend mit eingeht, zur Bildung ihrer Struktur, zur Ernährung und zum Wachstum derselben hilft, indem er dazu schon mehr als bloß unorganischer Stoff vorbereitet ist, aber doch so wenig, als dieser ohne organisierende Kräfte, welche sein eigenes Vermögen übersteigen, zur Organisation überhaupt zu führen vermag, zu einer höheren Organisation zu führen vermochte.

Jedenfalls muß man sehr die Natur eines organischen Stoffes unterscheiden, der sich durch alle Entwicklungsepochen der Erde hat in derselben einfachen Struktur zu reproduzieren vermocht, von organischen Stoffen, welche in Abänderung ihrer Struktur der Entwickelung der Erde zu folgen vermochten. Wäre das Protoplasma von heutiger Beschaffenheit überhaupt zu höheren organischen Entwicklungen fähig, ohne schon in solche einzugehen, so sollte es sich erstens schon seit der unvordenklichen Zeit, von der die Entwicklung des organischen Reiches datiert, höher entwickelt haben, und es somit keine selbstständigen protoplasmatischen Geschöpfe mehr geben; zweitens seine Fähigkeit zu höherer Fortentwicklung noch jetzt beweisen; und jedenfalls hätte man eben so viel Anlaß, Versuche darüber anzustellen, als über die generatio aequivoca, um die jetzt herrschende Ansicht von der Rolle, welche das Protoplasma in der Entwicklung des organischen Reiches spielen soll, aufrecht zu halten, Versuche, die wahrscheinlich eben so verunglücken würden. Schlimm aber, wenn die ganze Entwicklungslehre auf Voraussetzungen fußt, deren Anerkennung von der Erfahrung standhaft verweigert wird. Ich gebe zu, daß man diese Voraussetzungen dennoch aufrecht halten muß, wenn es keinen andern Weg gibt, diesen Entwicklungsgang in seinen Anfängen zu repräsentieren, leugne aber mit Vorigem, daß dies der Fall ist.

2) Die Ansicht, daß die ganze Entwicklung des organischen Reiches von einem protoplasmatischen Zustande ausgegangen sei, trifft wesentlich mit der Ansicht zusammen, daß sie von kleinsten Keimen oder einfachsten Geschöpfen, als wie den protoplasmatischen Moneren, ausgegangen sei, und nach der Voraussetzung eines unorganischen Ursprunges des Organismen kann man in der Tat nicht wohl auf eine andere Ansicht als diese kommen; denn natürlich müßten sich die zufälligen Bedingungen für die erste Entstehung kleinster und einfachst konstituierter Organismen im unorganischen Reiche leichter zusammenfinden, als für die Entstehung größerer und zusammengesetzterer Geschöpfe, und überhaupt läßt sich der ganze Entwicklungsgang unter jener Voraussetzung nicht anders als von solchem Ausgangspunkte konsequent darstellen.

Hiergegen steht in eben so wesentlicher Abhängigkeit von der Voraussetzung des kosmorganischen Ursprunges der Organismen die Ansicht, daß der Ausgang der Entwickelung von einem einzigen gewaltigen Geschöpfe von verwickeltster Struktur stattfand, welches von vorn herein durch Differenzierung und Spaltung zu einer großen Mannichfaltigkeit von Geschöpfen von verschiedener Struktur als Stammeltern der heutigen führte.

In der Tat ist hiernach das kosmorganische System selbst als das einheitliche Urgeschöpf zu betrachten, von dessen innerlich verwickelten Verhältnissen und Bewegungen alle Differenzierung und Spaltung den Ausgang genommen. Aber auch das durch erste bezugsweise Differenzierung desselben im Ergänzungsverhältnisse zum molekular – unorganischen Reiche hervorgehende molekular – organische dürften wir von Anfange herein unter dem einheitlichen Gesichtspunkte eines Geschöpfes, mit entsprechender Verwickelung der inneren Konstitution, als dem kosmorganischen Reiche zukam, aufzufassen haben. Denn die Verkleinerung der Bewegungen, wodurch der Übergang des kosmorganischen Systems in ein Molekularsystem geschah, konnte doch unmittelbar keinen andern Erfolg haben, als daß der kosmorganische Verband aller Teilchen, der durch die größeren Bewegungen hergestellt war, sich in einen Molekularverband durch kleinere Bewegungen verwandelte; ohne daß man sieht, worin ein Grund zu einer uranfänglichen Trennung des organischen Verbandes gelegen haben könnte. Denn wenn schon nicht nur möglich sondern sogar wahrscheinlich ist, daß in die molekular – organischen Zustände sich unmittelbar mit entstandene oder bald daraus entstandene unorganische eingemischt haben, so würde es doch eine ganz willkürliche Annahme sein, daß diese Einmischung in Form fester, den organischen Verband trennender Scheidewände geschehen sei, vielmehr konnte man darin von vorn herein nur einen Mischverband zwischen organischen und unorganischen Zuständen sehen, wie noch heute solche Mischverbände ohne Trennung des organischen Verbandes bestehen (vgl. Abschn. I) .

Lassen wir nun für die kosmorganischen Bewegungen von vorn herein keine andern beschränkenden Bedingungen gelten, als die in der Natur der Kräfte, von denen sie abhängen, liegen, indes wir die Ur-Anordnung und Ur-Impulse der Teilchen aufs Mannichfachste variiert denken, so wird sich die hiervon abhängige Mannichfaltigkeit und Verwickelung kosmorganischer Zustände natürlich auf die unmittelbar daraus hervorgehenden molekular – organischen übertragen, und wir demgemäß anzunehmen haben, daß sich von vorn herein zahllos verschiedene, nur mit der allgemeinen Natur molekularer Kräfte verträgliche Arten organischer Moleküle und Arten des Verbandes derselben unter einander und mit den unorganischen Molekülen in chaotischer Zusammensetzung und Auseinanderfolge aus dem kosmorganischen Zustande hervorgebildet haben, und erst allmälig vermöge der Tendenz zur Stabilität bestimmte Kreisläufe und periodische Bewegungen in diesem Chaos entstanden, kleinere Perioden sich größeren einbauten, und die Massen sich so differenzierten, teilten und gleichartige Moleküle so gruppierten, daß dem Prinzip jener Tendenz möglichste Genüge geschahe.

Unstreitig nun trat mit der zuletzt oberhalb des heißflüssigen Kernes erfolgenden klaren Auseinandersetzung des unorganischen Reiches in ein Reich des Festen, Tropfbaren und Luftigen unmittelbar auch die zugehörige Differenzierung des organischen Reiches in verschiedene, zu jenen Reichen in verschiedener Beziehung stehende, Reiche ein, und zerfielen diese organischen Reiche, nach Maßgabe, als die Bedingungen des Zusammenhanges in einem jeden schwanden, in verschiedene Bestandstücke, Geschöpfe, die eben deshalb von einfacherer Konstitution als der allgemeine Mutterstock oder die Mutterstöcke, woraus sie hervorgingen, waren, weil sich deren Verwickelung in diese Bestandstücke auseinandersetzte, aber auch einen einfacheren Bau zeigten, als die im Laufe der Entwickelung des organischen Reiches daraus hervorgegangenen höheren Geschöpfe, sofern sie in ihrer molekularen Struktur erst die Anlage zur Differenzierung in deren unterscheidbare Glieder, Organe, organische Systeme in analoger Weise einschlossen, als dies noch heute von den Keimen verschiedenartiger Geschöpfe gilt. Möglich daher auch, daß sie wie diese sich von vorn herein äußerlich viel ähnlicher darstellten, als die später daraus entwickelten Geschöpfe, indes sie doch ebenso wie die Keime schon die Bedingungen der verschiedenartigen Entwicklung in sich trugen.

Nun gehörten zur Entwicklung und selbst einfachen Forterhaltung in einer Nachkommenschaft außer den innern Bedingungen der ersten Geschöpfe auch angemessene äußere Bedingungen, welche sie bis zu gewissen Grenzen unmittelbar darin fanden, daß sie durch bezugsweise Differenzierung aus dem kosmorganischen Reiche im direktesten Ergänzungsverhältnisse zu eben den Teilen des unorganischen wie organischen Reiches hervorgingen, mit denen sie kosmorganisch verschmolzen waren oder unmittelbar zusammenhingen, und nach der Trennung in nächster Beziehung blieben. Auch reichen unstreitig die allgemeinsten Bedingungen bezugsweiser Erhaltung der heutigen Geschöpfe bis zu dieser Entstehungsweise zurück, ohne doch überall zureichend für die Forterhaltung oder Fortentwicklung der ersten Geschöpfe gewesen zu sein. Und so mochten von diesen viele im Kampfe um das Dasein mit andern, welche günstigere Bedingungen für ihre Forterhaltung fanden, wieder untergehen, andre fortbestehen und sich fortpflanzen, ohne es wegen verhältnismäßig zu homogener Konstitution zu einem entschiedenen Zellenbau und hiermit zu einer höhern Fortentwicklung, welche erfahrungsmäßig durch einen solchen durchzuschreiten hat, bringen zu können, noch andere endlich, welche die Anlage zu höherer Fortentwicklung in komplexeren molekularen Zuständen einschlossen, sich im Fortschritte der Entwickelung des organischen Reiches teils in eine Organisation von unterscheidbaren Gliedern, Organen, organischen Systemen entfalten, teils selbst in verschiedenartige im Ergänzungsverhältnisse zu einander stehende Geschöpfe differenzieren.

3) Weiter hängt mit der herrschenden Ansicht vom unorganischen Ursprunge der Organismen die Ansicht zusammen, daß die Bevölkerung der Erde mit Organismen von einem oder wenigen Zentris, wo sich gerade günstige Bedingungen zur Entstehung derselben zusammenfanden, ausgegangen, mithin um so sparsamer war, je näher der Urzeit; wogegen aus unsern bisherigen Betrachtungen auf Grund der Ansicht vom kosmorganischen Ursprunge der Organismen vielmehr folgt, daß die Verbreitung, Dichtigkeit und Üppigkeit der Entfaltung des organischen Reiches über der Erde von vorn herein jedenfalls nicht geringer gewesen ist, als heute; vielmehr kann sie nicht nur nach paläontologischen Tatsachen, sondern auch nach dem Prinzip der Tendenz zur Stabilität heute als geringer angesehen werden, sofern ein Wachstum des unorganischen Reiches auf Kosten des organischen im Sinne dieses Prinzipes ist.

Wenn nach der herrschenden Ansicht die Organisation der Geschöpfe in der Urzeit überhaupt noch nicht in so große Verschiedenheiten aus einander gegangen war und insbesondere auch nach klimatischen Verhältnissen noch keine so großen Verschiedenheiten darbot, als heute, so wird Letzteres unstreitig zuzugestehen sein, weil die klimatischen Verschiedenheiten sich selbst erst allmälig ausbilden konnten, stimmt auch mit den Ergebnissen der Paläontologie. Was aber Ersteres anbelangt, so werden wir allerdings die Mannichfaltigkeit der Entwickelung zu verschiedenartigen höhern Geschöpfen auch mit dem Fortschritte der Zeit als wachsend, hingegen nach den Bemerkungen unter voriger Nummer die Mannichfaltigkeit in verschiedenem Sinne molekular angelegter Geschöpfe in der Urzeit größer als jetzt anzusehen haben.

Wie schwer fällt es; sich z. B. die Entstehung eines brasilianischen Urwaldes vorzustellen, der nicht wie unsre Wälder bloß eine einzige oder wenige Spezies von Bäumen enthält, sondern die verschiedenartigsten unter einander, mit einem Gewirr von Schlinggewächsen, Orchideen u. s. w., mit Affen, Papageien, Schlangen, Schmetterlingen, Moskito’s u. s. w., wenn all’ das aus gleich angelegten Keimen auf demselben Boden, also wesentlich unter denselben Umständen hervorgegangen sein soll; woher sollen die Bedingungen zu so verschiedener Entwicklung gekommen sein? Nach unserer Auffassung ist der ganze Urwald bloß ein auseinandergelegtes und zur Entfaltung gediehenes Stück des kosmorganischen Systems, worin alle Verschiedenheiten jener Geschöpfe und noch mehr, als sich haben erhalten können, schon vorangelegt waren, wenn sie auch zum Teil erst durch spätere Differenzierung sich deutlich entwickelt haben.

4) Man macht der Deszendenzlehre nach der seitherigen Ausführungsweise derselben den Einwurf, daß danach zwischen den verschiedenen Spezies der Organismen so zu sagen kontinuierliche Übergänge zu erwarten wären, statt der sprungweisen Verschiedenheit; die sich zumeist zeigt, da die abändernden Bedingungen im Allgemeinen kontinuierliche Abänderungen zeigen. Denn fehlt es schon hier und da nicht an Übergängen, welche die Unterscheidung der Spezies zweifelhaft machen, so sind sie doch mehr Ausnahmen als Regel, indes man das Umgekehrte erwarten sollte. Nun sucht man diesem Einwurfe dadurch zu begegnen, daß der Kampf um das Dasein zwischen den Verwandten stärker als zwischen den Nichtverwandten sei, so daß endlich nur letztre übrig bleiben müssen. Und in der Tat, nehmen wir z. B. zwei verwandte Pflanzenspezies, die ziemlich dieselben Nahrungsstoffe aus dem Boden brauchen, so wird der durch die eine ausgesaugte Boden nicht zugleich oder nicht mehr zur Ernährung der andern dienen können, indes er noch recht wohl zur Ernährung einer ganz anders gearteten Spezies dienen kann; wonach die Verhältnisse vorteilhafter für den Zusammenbestand der nicht verwandten als verwandten Spezies liegen. Aber es scheint mir, daß man mit dieser Betrachtung zu viel und damit im Grunde das Gegenteil von dem beweist, was zu beweisen ist. Denn wenn Individuen verwandter Spezies in stärkerem Kampfe um das Dasein begriffen sind als nicht verwandte, so müssen aus gleichem Grunde Individuen derselben Spezies in stärkerem Kampfe begriffen sein als bloß verwandte, also Individuen verwandter Spezies, wenn auch in Nachtheil gegen die Individuen nicht verwandter, doch in Vorteil gegen Individuen derselben Spezies sein; und man wird also statt der unzähligen Individuen derselben Spezies eben so viel Individuen verwandter Spezies zu erwarten haben.

Diese Schwierigkeit der Deszendenztheorie fällt nach unserer Auffassung des Ursprunges der Organismen weg, weil man danach alle Spezies, die keine deutlichen Übergänge zwischen einander zeigen, als von verschiedenen Urgeschöpfen, in die das molekular – organische Reich zerfallen ist, sei es unmittelbar, sei es mittels späterer bezugsweiser Differenzierung, abhängig denken kann. Das große Widerstreben, was viele Naturforscher hegen, die verschiedenen Spezies der organischen Geschöpfe im Sinne der heutigen Deszendenzlehre mit Spielarten derselben Spezies unter prinzipiell gleichen Gesichtspunkt zu fassen, fände hiermit seine volle Rechtfertigung; und die Schwierigkeit, verschiedene Spezies zu einer fruchtbaren Fortpflanzung mit dem Resultate einer neuen Spezies zu bringen, ihre Erklärung.

Man darf nicht einwenden, daß im kosmorganischen System so gut alle mögliche Übergangsstufen zwischen den Anlagen der einzelnen Spezies als später zwischen diesen selbst erwartet werden müßten. Dies wäre bloß dann der Fall, wenn wirklich ein Prinzip, was eine Verwandtschaft der Anlagen darin begründete, angenommen werden müßte, was nach unsern Voraussetzungen nicht der Fall, sofern wir uns die Verteilungs- und Bewegungsweise der Stoffe im kosmorganischen System von vorn herein durch keine andern Bedingungen als die allgemeine Natur der materiellen Kräfte beschränkt denken. Denn hiernach werden außer den Uranlagen zu den verschiedenen Spezies, die wir jetzt beobachten, allerdings auch alle mögliche, d. i. unendlich viele, Übergangsstufen gedacht werden können, aber zwischen den Anlagen zu einer bloß endlichen Zahl von Geschöpfen doch nicht alle verwirklicht sein und beim Zerfall in diese Geschöpfe zum Vorschein kommen können.

Inzwischen ist damit doch nicht gesagt, daß nicht in der Natur der materiellen Kräfte selbst und dem in letzter Instanz davon abhängigen Prinzip der Tendenz zur Stabilität, was schon im kosmorganischen System vor Ausgeburt der Organismen eine gewisse Wirkung geäußert, gewisse Gemeinsamkeiten und Verwandtschaftsverhältnisse der Formen, des Baues, der Funktionen der Geschöpfe, wie wir solche selbst zwischen verschiedenen Spezies doch auch beobachten, von vorn herein begründet sein konnten.


 << zurück weiter >>