Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

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VI. Prinzip der bezugsweisen Differenzierung.

Im Allgemeinen erklärt man die Entstehung neuer und verschiedenartiger Geschöpfe im Wege der Abstammung aus früheren Geschöpfen dadurch, daß die Elterngeschöpfe nach Maßgabe als die Entwicklung des irdischen Reiches fortschritt und die Verhältnisse desselben sich neu gestalteten und vermannichfachten, auch demgemäß abgeänderte Einflüsse erfahren, hiernach nicht nur selbst ihre Organisation mannichfach abänderten, sondern auch mannichfach abgeänderte, mithin zu neuen Organismen sich entwickelnde, Keime von sich abspalteten, hiervon aber nach dem Prinzip des Kampfes um das Dasein die günstigst organisierten und den Außenverhältnissen am besten angepaßten die anderen verdrängten, das Feld behielten und ihre Eigentümlichkeiten auf die Nachkommen vererbten. Die Einflüsse, wodurch die Organismen abgeändert werden, beruhen auf Wirkungen der allgemeinen Naturkräfte, die an sich zwecklos ohne angebbares Prinzip, wohin sie zielen, hiernach mit dem Charakter zufälligen Wirkens, ein Spiel treiben, was nur dadurch den Charakter der Zweckmäßigkeit erhält, daß die nicht bestandfähigen Folgen dieses Spieles gegen die bestandfähigen den kürzeren ziehen und diesen den Platz lassen. Kurz die drei Prinzipe der Veränderlichkeit der Organismen durch unbestimmbare an sich zwecklos wirkende Naturkräfte, des Kampfes der veränderten Organismen um das Dasein mit dem Siege der am vorteilhaftesten veränderten und der sich immer mehr fixierenden Vererbung ihrer Eigenschaften gelten als die zureichenden Hebel der Entwickelung des organischen Reiches von einfachen Anfängen aus zur heutigen Mannichfaltigkeit; und man bezeichnet diese Entwicklung als natürliche oder künstliche Züchtung, Zuchtwahl, je nachdem obige Hebel durch die Natur ohne absichtliches Zutun des Menschen oder mit Hilfe von solchem in Wirkung treten.

Nun zeigen sich diese Prinzipe auch heute noch in Gestaltung und Erhaltung der Verhältnisse der organischen Welt wirksam und wird sich gegen den allgemeinen Gesichtspunkt, sie hiernach auch für die Entwicklung der organischen Welt bis zum heutigen Bestande in Anspruch zu nehmen, nichts Erhebliches einwenden lassen, um nicht zu mystischen Gründen seine Zuflucht nehmen zu müssen; aber aus demselben Gesichtspunkte scheint mir zu den vorigen Prinzipien ein anderes nicht nur zuzuziehen, sondern dem Prinzipe des Kampfes um das Dasein noch überzuordnen , das Prinzip einer Abhängigkeit der Existenzbedingungen der organischen Geschöpfe von einander und demgemäßen Ergänzung durch einander, was auf ein entsprechendes Übergewicht in den Entstehungsbedingungen hinweist. Nun sucht man freilich dies Prinzip selbst nur als sekundären Erfolg der natürlichen Züchtung nach den angegebenen drei andern Prinzipien etwa wie folgt darzustellen: diejenigen Organismen werden zusammen fortbestehen, welche sich so abgeändert haben, daß sie am besten zusammen bestehen können; die andern werden eingehen; hiermit bleiben nur die zusammenpassenden übrig, ohne daß von vorn herein Bedingungen für das Zusammenpassen gegeben waren. Und man muß zugestehen, daß im Ausgange von der Ansicht eines unorganischen Ursprungs der Organismen auf keine andere Ansicht zu kommen war.

Hiergegen führt die Ansicht vom kosmorganischen Ursprunge der Organismen eben so natürlich zu einer andern Auffassung, die den Blick auf einen einheitlichen Entwicklungsplan der Organismen eröffnet, der sich nach voriger Auffassung so zu sagen stückweis aus unzähligen zufälligen Einzelheiten zusammensetzt. Außerdem läßt die vorige Auffassung bei genauerer Erwägung Schwierigkeiten ungehoben, die der oberflächlichen Betrachtung entgehen mögen, bei unserer Auffassung aber überhaupt wegfallen.

Man sagt: der Egoismus sei das Prinzip der Welt, und so kämpfe Jeder um sein Leben mit dem Andern; in der Tat aber ist der Egoismus nur das Prinzip der Einzelnen, worüber ein die Gesamtheit aller Einzelnen bindendes Prinzip, will man so, der höhere Egoismus des Systems der Einzelnen herrschend greift. So sage ich; aber die bisherige Deszendenzlehre, mindestens in ihren entschiedensten Vertretern, leugnet eben das Dasein eines solchen Prinzips. Man sieht, mit allgemeinen Phrasen für und wider wird überhaupt in diesem Felde nichts auszurichten sein; also sehen wir lieber den faktischen Verhältnissen direkt ins Auge.

Ich meine doch zuvörderst, faktisch spielt in den Verhältnissen der Jetztwelt das Prinzip des Kampfes um das Dasein, das heißt um die Existenzbedingungen, eine so untergeordnete Rolle gegen das Prinzip einer Abhängigkeit der Existenzbedingungen der organischen Geschöpfe von einander und Ergänzung zu einander, daß es von vorn herein bedenklich erscheinen muß, ihm die übergeordnete Rolle in der Entwickelung der jetzigen Existenzbedingungen beizulegen. Ehe wir aber eine andere Vorstellung dafür zu substituieren suchen, sehen wir uns die Verhältnisse der Gegenwart in dieser Hinsicht an. Kann wohl das Prinzip des Kampfes um das Dasein als das jetzt herrschende im Verhältnisse zwischen Tier- und Pflanzenreich gelten? Ist nicht vielmehr das Tierreich mit seiner Existenz völlig auf das Pflanzenreich angewiesen? Wohl besteht zwischen beiden insofern ein Kampf, als die Pflanzen von den Tieren gefressen werden, und wo ein Baum steht, nicht zugleich ein Tier stehen kann; aber anstatt daß die Tiere als höher entwickelte Organismen die Pflanzen verdrängen, um ihre Stelle einzunehmen, beschränken beide nur die Ausbreitung ihres Daseins wechselseitig so weit, daß beider Fortexistenz möglichst gesichert bleibt; denn sollten die Tiere alle Pflanzen zerstören, so würden sie damit die Bedingungen ihrer eigenen Fortexistenz zerstören, und sollte es keine Tiere mehr geben, so würden den Pflanzen die Kohlensäure, welche die Tiere ausatmen, der Dünger, welchen sie fallen lassen, und die Hilfe, welche sie von den Insekten bei der Befruchtung erfahren; fehlen.

Auch im Tierreich werden die Pflanzenfresser von den Fleischfressern im Kampfe um das Dasein nicht verdrängt, sondern bloß vor einer so übermäßigen Verbreitung, daß sie sich wechselseitig die Nahrung verkümmern würden, gehindert, indes der Überfluss den Fleischfressern zur Nahrung dient. Die Menschen führen Krieg mit einander, aber nur mitunter; indes sie in der Hauptsache und beständig zu ihrer Forterhaltung, Fortpflanzung und Fortentwicklung auf einander angewiesen sind. Es ist wahr, die kultivierten Nationen verdrängen allmälig die rohen, die größeren Raubtiere werden allmälig von den Menschen ausgerottet, kultivierte Saaten aus wenigen Spezies von Gewächsen treten an die Stelle mannichfachen Unkrauts, und überall verdrängen im Kampfe um das Dasein vollkommenere oder den Umständen vollkommener angepaßte Exemplare einer Spezies die unvollkommeneren oder weniger angepaßten, und behält der Kampf um das Dasein in dieser Hinsicht große Wichtigkeit; aber diese Wichtigkeit überbietet doch nicht die des Ergänzungsverhältnisses, das sich von anderer Seite geltend macht, und wie vermöchte man in Beispielen folgender Art das letztere als sekundären Erfolg des ersten nach den Prinzipien der bisherigen Züchtungslehre darzustellen.

Nehmen wir das Ergänzungsverhältnis der zwei Geschlechter. Wenn ich nicht irre, steht für die bisherige Züchtungslehre nur folgender Weg offen, seine Entstehung zu erklären. Anfangs gab es nur geschlechtslose oder beide Geschlechter in sich vereinigende Geschöpfe. Durch irgend welche Zufälligkeiten — denn umsonst suche ich in der bisherigen Züchtungslehre nach einem andern Prinzip der Wirkungsweise der Kräfte, als daß von den möglichen Wirkungsweisen derselben irgendwo und irgendwann diese oder jene eintreten — änderte sich die Organisation eines gegebenen Tier – Individuum so ab, daß es einen männlichen Charakter annahm, mithin sich nicht mehr durch sich selbst fortpflanzen konnte. Durch andre dergleichen Zufälligkeiten änderte sich die Organisation eines ändern Individuum derselben Spezies so ab, daß es einen weiblichen Charakter annahm, mithin sich nicht mehr durch sich selber fortpflanzen konnte. Zufällig waren diese Veränderungen so beschaffen, daß doch durch Begattung beider Individuen eine Fortpflanzung möglich war; auch traf zufällig die Bildung beider Geschlechtsindividuen an demselben Orte und in derselben Zeit zusammen; und indem sich diese Zufälligkeiten in ganz ähnlicher Weise durch das Tierreich wiederholten und ihre Erfolge durch Vererbung fortpflanzten, ist die jetzt durch die ganze obere Schicht des Tierreiches durchgreifende Verschiedenheit und Trennung der Geschlechter entstanden. Daß aber die Individuen mit getrennten Geschlechtern im Kampfe um das Dasein das Feld behielten, liegt in dem Vorteile, den ihnen die mit der Trennung der Geschlechter eingetretene Teilung der Arbeit beim Fortpflanzungsgeschäft und nach andern Beziehungen gewährt.

Bemerken wir nun, daß der Eintritt von Zufälligkeiten, wodurch geschlechtslose Individuen sich in geschlechtlich differente verwandeln, an sich nicht zu den wahrscheinlichen in der Wirkungssphäre der Kräfte gehören kann, da wir jetzt keine Zufälligkeiten mehr eintreten sehen, wodurch eine solche Verwandlung an den unzähligen geschlechtslosen Spezies von Geschöpfen, die es noch gibt, erfolgte, und bemerken wir dazu, daß in den Prinzipien der bisherigen Züchtungslehre vollends nichts liegt, was die gleichzeitige und an dieselbe Lokalität sich knüpfende Entstehung zweier sich ergänzender Geschlechtsindividuen auch nur einer einzigen Spezies, geschweige durch das ganze Tierreich mit dem geringsten Grade von Wahrscheinlichkeit behaftet erscheinen ließe. Im Gegenteil sollte man zur Entstehung der beiden verschiedenartigen Geschlechtsindividuen verschiedenerlei einwirkende Umstände, also verschiedene Zeiten und Orte erwarten. Und was gewinnt man nun damit, Millionen oder Milliarden Jahre in Anspruch zu nehmen, um das zufällige Zusammentreffen solcher Umstände doch einmal und wieder einmal hier und da möglich zu finden, als daß man die aller unwahrscheinlichste Ansicht doch nicht unmöglich erscheinen läßt, indes es sich vielmehr darum handelt, unter den möglichen Ansichten die wahrscheinlichste zu finden; wenn man nicht gar vielmehr dem Wirte gleicht, der den Verlust, den er durch zu billigen Verkauf an jedem einzelnen Maße Bier erlitt, durch die Menge der verkauften Maße einzubringen meinte. In der Tat aber sollte man glauben, daß die Forterhaltung der geschlechtlichen Trennung im organischen Reiche nach solchen Prinzipien, wenn selbst vermöge glücklicher Zufälligkeiten durch eine gewisse Zeit möglich, mit dem Wachstum der Jahre immer unwahrscheinlicher werden müsste. Denn setzen wir auch, daß beide Geschlechtsindividuen sich zufällig um dieselbe Zeit im erforderlichen Ergänzungsverhältnisse gebildet hätten, so sieht man nicht ein, wiefern beide, die sich zur Fortpflanzung zusammenfinden mußten, günstiger dazu gestellt sein sollten, als das geschlechtlose oder beide Geschlechter in sich vereinigende Individuum, welches hiermit auch die Bedingungen der Fortpflanzung in sich vereinigte.

Hiergegen macht man die Vorteile der Arbeitsteilung geltend, welche durch die Trennung der Geschlechter zu Stande komme, und. unstreitig gibt es solche Vorteile. Wenn aber die Arbeitsteilung irgend eines Geschäftes erst nur einseitig zu Stande kommen und auf den Zufall warten sollte, daß er die Ergänzung von der andern Seite zufüge, so würden die Vorteile sich in Nachtheile verkehren und das geteilte Geschäft eingehen, statt das ungeteilte zu verdrängen und sich auf die Nachkommen zu vererben; ich wüßte aber nicht, wie nach der bisherigen Züchtungslehre das Zustandekommen der Arbeitsteilung des Fortpflanzungsgeschäftes anders als in solcher Weise und mit solchem Erfolge zu denken wäre. Auch kommt die Arbeitsteilung in den Geschäften des äußern menschlichen Lebens niemals durch Zufälligkeiten sondern durch innere Entwickelungsbedingungen zu Stande; und so wird es auch unstreitig mit den Geschäften des inneren Lebens sein.

Dieselben Schwierigkeiten der bisherigen Züchtungslehre kehren nur in anderer Form bei folgendem Beispiele wieder. Viele Pflanzen sind auf eine Befruchtung unter Mithilfe gewisser Insekten angewiesen und diese Insekten gegenteils auf eine Befriedigung ihres Nahrungsbedürfnisses beim Akte dieser Hilfe.

Soll nun ein solches Verhältnis nach der bisherigen Züchtungslehre zu Stande gekommen gedacht werden, so hat die betreffende Pflanze aus unbekannten Ursachen ihre Organisation so abändern müssen, daß es eines betreffenden Insekts zur Befruchtung bedurfte, und ein Tier hat aus eben so unbekannten Ursachen, welche prinzipiell mit den bei der Pflanze wirksamen in gar keinem Zweckbezuge stehen, seine Organisation so abändern müssen, daß es seine Nahrung aus der betreffenden Pflanze unter Vollzug einer Beihilfe zur Befruchtung suchen mußte. Die Pflanze und das Tier sollen nun im Kampfe um das Dasein mit ihren Verwandten, die sich nicht so vorteilhaft auf einander eingerichtet hatten, das Übergewicht erhalten haben. Aber wenn sie nicht zugleich ihre Organisation mit Bezug zu einander in jener Weise abänderten, so kamen sie ja durch ihre Abänderung wieder in entschiedenen Nachteil gegen ihre nicht abgeänderten Verwandten, weil sie die Ergänzung nicht fanden, welche sie brauchten, und blieben selbst, wenn sie dieselbe zu finden vermochten, dadurch in Nachteil, daß sie dieselbe erst suchen mußten.

Was nun aber hier vom Ergänzungsverhältnisse in zwei spezialen Beispielen gesagt ist, findet im Grunde mehr oder weniger auf alle Ergänzungsverhältnisse im organischen Reiche Anwendung. Überall begegnet man einer Ungeheuern Schwierigkeit, das Ergänzungsverhältnis durch Anpassung der Organismen an einander in den zufälligen Wegen einer von einander unabhängigen Abänderung unter Zuziehung des Kampfes um das Dasein entstehen zu lassen, und wird sich dieser Schwierigkeit nur dadurch überheben können, daß man dafür die Ansicht eines örtlichen, zeitlichen und kausalen Zusammenhanges der Entstehungsbedingungen der sich ergänzenden Organismen substituiert. Auch tritt eine solche mit dem gemeinsamen kosmorganischen Ursprunge der Geschöpfe in natürliche Beziehung und begreift selbst das Ergänzungsverhältnis des organischen und unorganischen Reiches mit unter sich.

In der Tat meine ich, daß von Anfange herein sich das kosmorganische Reich gleich in ein zusammengehöriges, zusammenhängendes und zusammenpassendes molekular – organisches und unorganisches differenzierte, indem der frühere einheitliche Bestand jenes Reiches sich in den Zusammenbestand beider, sich zur Ergänzung fordernden wie eine solche bietenden, Reiche nach dem alsbald zu besprechenden Prinzips auflöste; daß dann weiter das molekular – organische Reich sich, mit Hinterlassung eines der Differenzierung unfähigen Restes in den Pflanzentieren, in ein zusammengehöriges und zusammenpassendes Tierreich und Pflanzenreich differenzierte, und innerhalb beider Reiche noch spezialere Differenzierungen, darunter die der beiden Geschlechter, der Parasiten und ihrer Träger u. s. w. eintraten.

Hierbei verstehe ich gegenüber dem Falle der einfachen Spaltung einer Masse in mehrere Massen, die nur in Größe und äußerer Form, aber nicht der innern Konstitution oder dem Baue nach sich von der Ursprungsmasse und von einander unterscheiden, unter Differenzierung den Fall, daß eine Masse von einer gegebenen inneren Konstitution sich sei es direkt in Massen von ungleicher Konstitution spaltet, welche ein Ergänzungsverhältnis zu einander behalten, oder die von ihr erzeugten Keime vor ihrer Abspaltung so spaltet, daß daraus Organismen im Ergänzungsverhältnisse hervorgehen, was ich kurz als Massendifferenzierung und Keimdifferenzierung unterscheide.

Nun spricht man schon in der bisherigen Züchtungslehre von Differenzierung insofern, als derselbe Organismus Nachkommen erzeugt, die durch zufällige Einflüsse nach dieser oder jener Richtung verschieden ausfallen oder im Laufe folgender Generationen sich verschieden entwickeln. Insofern aber hier von einer Differenzierung die Rede ist, wodurch aus einem Organismus Nachkommen hervorgehen, die, anstatt zufällig verschieden zu sein, in wesentlichem Ergänzungsverhältnisse zu einander verschieden sind, nenne ich diese Art der Differenzierung bezugsweise Differenzierung zum Unterschiede von jener, welche zufällige Differenzierung heißen kann, deren Tatsache nicht durch die Annahme von jener als aufgehoben sondern nur als ergänzt anzusehen ist.

Auch das Prinzip des Kampfes um das Dasein wird durch das Prinzip der bezugsweisen Differenzierung nicht ungültig, sondern wenn ersteres Prinzip nach der bisherigen Züchtungslehre als Korrektiv der schrankenlosen Variabilität der Organismen zur Hervorrufung eines zweckmäßigen Bestandes der organischen Welt erscheint, so hat es nach der folgenden Auseinandersetzung auch für uns noch als Korrektiv der bezugsweisen wie zufälligen Differenzierung zu gelten, nur daß es zu einer mehr sekundären und untergeordneten Rolle herabgedrückt erscheint. Näher zugesehen ist nämlich das Verhältnis so zu fassen.

Um an die Entstehung der Geschöpfe aus Keimen, kurz Keimdifferenzierung, anzuknüpfen: wenn zwei verschiedenartige Geschöpfe dadurch entstehen, daß ein Keim vor seiner Abspaltung vom Muttergeschöpfe sich in zwei verschiedene Keime differenziert hat, die sich demgemäß zu verschiedenen Geschöpfen entwickeln, so läßt sich leicht denken, daß sie aus ihrem ersten Zusammenbestande oder ihrer Verschmelzung gewisse Bedingungen eines stabeln organischen Wirkungszusammenhanges und gegenseitiger Ergänzung zu ihrer Forterhaltung und Entwickelung in den gesonderten Zustand mit hinübernehmen, indes aber in ihrer Trennung selbst die Nötigung liegt, diese Bedingungen dahin zu vervollständigen, daß sie auch noch für den durch Zwischeneinschiebung von Teilen der Außenwelt getrennten Zusammenbestand und die getrennte Fortentwicklung reichen. Jedenfalls sind Vorbedingungen der durch Differenzierung aus einem einheitlichen Ursprunge hervorgegangenen Geschöpfe in einer gegenseitigen Einrichtung beider auf einander gegeben, die nicht erst geschaffen, sondern eben nur ergänzt zu werden brauchen, um ein bezugsreiches Leben und eine bezugsweise Entwicklung der getrennten Organismen fortzuerhalten. Diese Ergänzung aber kann vollkommener und unvollkommener sein, und der Kampf um das Dasein wird nun seine wichtige Rolle darin spielen, daß er den am besten zusammenpassenden Ergänzungsgliedern das Übergewicht verleiht, eine um so wichtigere, als nicht nur die direkt aus der Differenzierung hervorgegangenen Ergänzungsglieder unter einander, sondern diese auch mit allen aus nebengeordneten Differenzierungen hervorgegangenen Gliedern und mit der unorganischen Außenwelt sich in ein zusammenpassendes Verhältnis zu fügen und demgemäß abzuändern haben.

Inzwischen sieht man, daß dem Kampfe um das Dasein doch hiernach viel weniger zu leisten überlassen bleibt, als nach der bisherigen Züchtungslehre; sofern er die Hauptbedingungen zum zweckmäßigen Zusammenbestande nicht erst zu schaffen, sondern eben nur zu ergänzen hat.

Ich halte dafür, daß die sukzessiv im irdischen System eingetretenen bezugsweisen Differenzierungen ebenso in der Uranlage des kosmorganischen Systems gelegen sind, als noch heute die Teilung einer Zelle in deren Anlage gelegen ist, nur daß diese noch äußerer Bedingungen der Ernährung dazu bedarf, deren das kosmorganische System nicht bedurfte. Ich setze voraus, ohne es freilich direkt beweisen zu können, daß die sukzessiven Differenzierungen im Sinne eines Fortschrittes zur Stabilität gelegen sind und aus allgemeinstem Gesichtspunkte ihre Erklärung darin zu suchen haben. In der Tat läßt sich denken, daß eine gegebene Organisation sich bis zu gewissen Grenzen durch innere Kräfte unter gegebenen Außenbedingungen so abändern kann, daß ein Fortschritt zur Stabilität ohne Differenzierung stattfindet, im Laufe der Fortwirkung der inneren Kräfte und etwaiger Abänderung der Außenbedingungen aber ein Punkt eintritt, wo mit Trennung dieser Organisation in zwei sich ergänzende Glieder mehr in dieser Hinsicht geleistet werden kann, als durch Abänderung der ganzen Organisation, und daß auch der Kampf um das Dasein nur den Erfolg hat, die instabeln organischen Verhältnisse zum Vorteil der stablern zu beseitigen.

Man darf gegen das vorige Prinzip nicht einwenden, daß wir das organische Reich jetzt nicht mehr im Wege desselben sich fortentwickeln sehen, da wir das organische Reich, abgesehen von den Erfolgen der hier nicht in Betracht kommenden künstlichen Züchtung, jetzt überhaupt nicht mehr sich fortentwickeln sehen. Doch mußte es sich von ersten Anfängen aus bis heute fortentwickelt haben. Mag nun auch das Prinzip der bezugsweisen Differenzierung in voriger Aufstellungsweise bloß als ein hypothetisches gelten, so scheint es mir doch nach voriger Darlegung eine notwendige Ergänzung der andern Prinzipe, wodurch die Deszendenztheorie nicht minder im Wege der Hypothese die Fortentwicklung des organischen Reiches bis heute zu erklären sucht, ohne diese Fortentwicklung heute noch fortgehend zu finden.

Auch gewinnt unser Prinzip in Anwendung auf die Entfaltung des organischen Reiches in eine Mannichfaltigkeit von Organismen eine Unterstützung dadurch, daß jeder einzelne Organismus sich noch heute nach demselben Prinzip in eine Mannichfaltigkeit von Organen gliedert, nur mit dem Unterschiede, daß keine vollständige Trennung der differenzierten Teile stattfindet, und darum auch der Erfolg der Differenzierung keiner Korrektion durch einen entsprechenden Kampf der getrennten Teile um das Dasein bedarf, als sich für die Entwicklung des organischen Reiches nötig macht; indes es in nur beschränkterem Sinne an einer derartigen Korrektion doch auch nicht ganz fehlt, sofern von schon entwickelten Organen oder Organteilen vielfach einer auf Kosten des andern wächst und solchen wohl gar ganz verdrängt. Dieser Vorgang erscheint im Embryo der Zufälligkeit merklich entzogen, indes der Kampf um das Dasein in der Entwickelung des organischen Reiches als Korrektion von Unzweckmäßigkeiten erscheint, welche durch die Differenzierung unter zufälligen Umständen zufällig hervortreten, ein Unterschied, der aber bloß darin liegt, daß in der Entwickelung des Embryo einer gegebenen Spezies von Organismen durch die Vererbung immer dieselben Unzweckmäßigkeiten bezüglich des Fortbestandes des Organismus und hiernach auch dieselbe Korrektionsweise sich wiederholt, während verschiedene Spezies in so mannichfach wechselnde Verhältnisse zur Außenwelt und zu einander treten, daß die Unzweckmäßigkeiten als zufällig erscheinen.

Wenn ich oben klarheitshalber Spaltung und Differenzierung, Massen- und Keim-Differenzierung unterschieden habe, so ist doch eben so wenig eine strenge begriffliche Grenze zwischen bloßer Spaltung und Differenzierung, als zwischen Massen- und Keimdifferenzierung zu ziehen, indem durch immer geringere Unterschiede der geteilten Massen oder Keime von einander die Differenzierung sich in die bloße Spaltung verläuft, und nach Maßgabe als ein Mutterkörper relativ zu sich selbst immer kleinere differente Keime von sich abspaltet, die Massendifferenzierung in die Keimdifferenzierung übergeht.

Wie und in welchem Verhältnisse zu einander sich nun überhaupt die Differenzierungen und Spaltungen der Geschöpfe im ganzen Entwicklungsgange des organischen Reiches vollzogen und Massen- und Keimdifferenzierungen kombiniert oder einander abgelöst haben, darüber sind Vorstellungen bisher mehr Sache der Phantasie als eines sichern Schlusses. Nur sind wir jedenfalls gebunden anzunehmen, daß die Differenz der aus den Differenzierungen hervorgehenden Glieder im Laufe der Fortentwicklung des organischen Reiches immer mehr abgenommen hat, so daß sie jetzt nicht mehr bis zur Hervorrufung neuer von den Elterngeschöpfen und von einander wesentlich verschiedener Spezies reicht. Insbesondere muß man auch dahinstellen, wiefern die Differenzierungen gegebener Stufe sich mehr in zeitlich und räumlich zusammenhängenden Prozessen durch das ganze organische Reich oder in partiellen getrennten hier und da vollzogen haben; nur daß man aus allgemeinem Gesichtspunkte glauben kann, daß, je näher dem Ursprunge des organischen Reiches, so mehr sei das erste, je näher der Jetztzeit, so mehr das letzte der Fall gewesen.

In keinem Falle glaube ich, daß für den Gang der Differenzierung durch die ganze Ausdehnung und Sukzession des organischen Reiches sich je ein sehr einfaches Schema werde aufstellen lassen; weil die kosmorganischen Verhältnisse, wovon dieser Gang den Ausgang genommen, dazu unstreitig zu verwickelt und die verschiedenartigen Zustände zu unregelmäßig verteilt waren. Daß sie es aber von vorn herein waren, kann man aus ihren noch fortbestehenden Folgen schließen; ja man hat die Unregelmäßigkeit von Anfange herein viel größer, mehr ins Elementare als jetzt reichend, anzunehmen, weil die von Anfange herein den ganzen Entwicklungsgang beherrschende Tendenz zur Stabilität allmälig eine Ordnung und Gliederung in diese Verhältnisse und Zustände gebracht hat, die früher nicht bestanden haben kann, ohne es doch damit zur Ausgleichung der klimatologischen und meteorologischen Unregelmäßigkeiten zu bringen, die heute noch bestehen, und womit eben so große Unregelmäßigkeiten in der Verteilungsweise der organischen Geschöpfe zusammenhängen.

Was zwar die klimatologischen Verschiedenheiten betrifft, so haben dieselben erst merklich werden können, als die innere Erdwärme nicht mehr den Hauptanteil an der Erwärmung der Oberfläche, auf der die Organismen leben, hatte, und die dichte Nebelhülle, welche früher über Land und Meer liegen mochte, der Heiterkeit des Himmels Platz machte, und unstreitig traten hiermit auch Änderungen in der organischen Welt ein. Aber hiervon hätten wir bloß regelmäßig geordnete und regelmäßig auseinanderfolgende Änderungen erwarten können, wenn nicht uranfängliche Gründe der Unregelmäßigkeit vorhanden gewesen waren.


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