Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pechvogel

Vielleicht hat mein Leser, der bis hierher dem Kreuz und Quer meiner Erinnerungen gefolgt ist, schon hinreichend den Eindruck gewonnen, daß in meiner frühen Jugend mir das Glück nicht grade nachgelaufen ist, und er meint, ich habe schon genug und übergenug Beweise davon gegeben. Und doch kann ich der Versuchung nicht widerstehen, beinahe am Schluß dieser Niederschrift noch einmal zurückzuschauen und mir und andern durch einen kurzen Überblick zu beweisen, wie das Unheil, mit kleinen lächerlichen Unfällen, mit Krankheiten und schließlich einem großen Unglücksfall immer wieder bestimmend in mein Leben eingriff, meine Eltern in steter Sorge um mich hielt und auch redliche Anstrengungen von mir boshaft vereitelte.

Ich erstrebe dabei keine Vollständigkeit. Meine Mutter hat mir erzählt, daß ich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahre eigentlich alljährlich einmal lebensgefährlich krank gewesen sei, von kleinerem Mißgeschick zu schweigen. Gottlob habe ich vieles davon vergessen, und so wird es mir um so leichter, eine gewisse Auswahl zu treffen, um zu zeigen, daß ich ein geborener Pechvogel war. Freilich würde auch dieser Beweis, daß es geborene Pechvögel gibt – denn daran zweifelt wohl kaum jemand! –, sinnlos sein, wenn mir nicht mein ganzes späteres Leben gezeigt hätte, daß dies Pech von einem bestimmten Zeitpunkt an aufhörte. Das Unglück hatte alles getan, mich trübe und mißvergnügt zu machen, meinen Anstrengungen den Mut zu nehmen und in mir einen gewissen Fatalismus zu erzeugen, der auch das Widrigste mit der Apathie eines abgetriebenen Packesels hinnahm.

Als dies erreicht schien, verließ es mich, langsam, kaum merklich zuerst kehrte mir der Mut zurück, und wenn ich heute zurückschaue, scheint es mir ein anderer, allerdings nahe verwandter Junge zu sein, der dies alles nicht so sehr ertrug, als vielmehr überdauerte. Mit einem fast belustigten Gefühl kann ich die trübe Miene dieses Jungen betrachten, ich weiß heute: es führte alles doch zu einem guten Ende!

So kommt es, daß ich heute dies Trübe auch nur in einem heiteren Lichte schildern kann. Gelegentlich der Sommerreisen mit meinen Eltern habe ich des beängstigenden Gefühls gedacht, es müsse noch einen andern Jungen geben wie ich, in derselben Stadt wie ich, in der gleichen Haut wie ich, eigentlich genau wie ich – und doch ganz, ganz anders!

Es hat sich nun herausgestellt, daß es diesen Jungen wirklich gab. Es gab den Jungen, der alles so schwer nahm und immer dachte: mir geht doch alles schief, ich habe nie Glück, und es gab den andern, gewissermaßen amüsiert zuschauenden Jungen, der sagte: du nimmst aber eigentlich alles fürchterlich tragisch! Warte nur, es kommt noch anders. Und da es mittlerweile wirklich anders gekommen ist, habe ich fast nur vom Gesichtspunkte dieses zweiten Jungen aus erzählen können.

Ich bin in der seinerzeit durch ihre theologische Fakultät und besonders eifriges Biertrinken ihrer Studenten berühmten Universitätsstadt Greifswald geboren. Allerdings gerate ich noch heute in eine gewisse Erregung, wenn man mich als Pommern anspricht. Itzenplitz ist in Hannover geboren, Fiete in Beuthen, Ede in Berlin und ich also in Greifswald, wir wären ja ein seltsames Stammgemisch in einer Familie, wenn der Geburtsort entscheidend wäre. Nein, wir sind von beiden Eltern her allesamt Hannoveraner, oder genauer vom Vater her auch noch Ostfriesen, was eigentlich noch feiner als das Hannöversche ist. Denn Hannoveraner gibt es viele, Friesen aber nur wenige. Außerdem aber bin ich schon mit fünf Jahren aus Greifswald fortgekommen, so daß meine Erinnerungen an diese Stadt und damit an Pommern nur dürftig sind.

Zu einer dieser wenigen Erinnerungen gehört die sehr deutliche, daß ich im Treppenhaus unserer Wohnung am Karlsplatz stehe. Sie lag im ersten Stock. Ich habe den Kopf zwischen den Stäben des Geländers hindurchgezwängt und schaue aufmerksam in das Erdgeschoß hinunter, das mit roten Fliesen belegt unter mir liegt.

Ich warte gespannt darauf, daß jemand da unten durchgeht, denn ich bin fest entschlossen, diesem Jemand, wer es auch sei, auf den Kopf zu spucken. Ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen ich zu diesem Entschluß gekommen bin, genug, er ist da und er wird ausgeführt werden! Jetzt geht die Tür nach der Straße, und ich sehe, daß Vater hereinkommt. Aber Vater kommt nicht allein, er bringt einen andern Herrn mit. Das kann meinen Entschluß nicht ins Wanken bringen: als die beiden Herren unter mir durchgehen, um den Treppenfuß zu erreichen, spucke ich alles, was ich durch längeres Bemühen in meinem Munde gesammelt habe, auf sie hinunter.

Es muß wie ein immerhin nicht ganz leichter Regenfall gewesen sein, denn sie hielten sofort inne und starrten etwas fassungslos zu mir empor.

»Du, Hans –?!« rief Vater, vor Staunen noch nicht ganz empört. »Was fällt dir denn in aller Welt ein?! Warte nur –!«

Und er fing an, mit bedauernden Worten zu seinem Begleiter, die Treppen hinaufzueilen.

Aber grade nicht zu warten, bin ich fest entschlossen. Die Tür zu unserer Wohnung steht weit offen; ehe die beiden oben sind, werde ich hindurchschlüpfen, sie hinter mir zuschlagen und ein Versteck hinter den Mänteln des Kleiderschranks beziehen. Das alles ist bereits genau überlegt

Ich will den Kopf aus den Geländerstäben herausziehen, aber, komme es nun von der Eile oder von meiner Ungeschicklichkeit, der Kopf, der so leicht hineinrutschte, will nicht wieder hinaus! Ich verdoppele meine Anstrengungen, umsonst, der Kopf sitzt wie eingezwängt, ich mag an ihm zerren, so viel ich will!

Da sind auch schon die Rächer, zur Flucht ist es zu spät, und so stimme ich für alle Fälle ein klägliches Geheul an. Denn einmal bekomme ich den Kopf nicht frei, zum andern droht mir Strafe.

»Komm sofort hervor, Hans!« ruft Vater zornig. »Was ist dir nur eingefallen, auf uns herunterzuspucken! Sie müssen wirklich entschuldigen, Herr Kollege! Ich weiß nicht, was in den Jungen gefahren ist! – Du sollst vorkommen, Hans!!«

Aber meine Versuche sind nur noch schwächlich. Ich weiß doch schon: aus eigener Kraft schaffe ich es nicht. Ich muß alles vom Vater erwarten, den ich eben angespuckt habe.

»Hans, gib dir Mühe!« Das klingt schon drohender.

»Ich kann doch nicht!« heule ich und bemühe mich stärker.

»Hans!« droht Vater voll Entschlossenheit. »Du kommst jetzt hervor, oder es gibt Klapse!«

»Ich weiß nicht«, sagt der Kollege nun zweifelnd. »Es sieht wirklich aus, als sei der Kopf zu dick für den Zwischenraum!«

»Der Kopf ist hineingegangen, also muß er herausgehen«, erklärt Vater mit Nachdruck und hat einen Fundamentalsatz der Logik für sich. Aber leider sollte ich ihm bald beweisen, daß es bei mir nicht nach der Logik ging.

»Wenn wir ziehen würden?« schlug der Besucher vor.

Also zogen sie. Die Stäbe des Geländers waren von einem überaus fleißigen Drechsler gearbeitet worden, der die im Grundprinzip bestehende Schaftform mit vielen kugligen und ringförmigen Gebilden unterbrochen hatte. Besonders die Ringe hatten sehr scharfe Kanten, und mein verstärktes Gebrüll bewies bald, daß meinem Kopf unverzierte Schäfte lieber gewesen wären.

Die beiden Herrn zogen mit Eifer, ich brüllte stärker und stark. Im Hintergrund hatte sich fragendes, klagendes, ratendes Weibervolk aus unserer Wohnung eingefunden, darunter Mutter und die Schwestern.

»Er hat auf uns 'runtergespuckt!« rief Vater empört zur Mutter und zog noch stärker. Ich schrie gellend.

(Noch heute bin ich der Ansicht, daß das etwas übertriebene Abstehen meiner Ohren in diesem Abenteuer seinen Ursprung hat. Bis zu den Ohren ließ der Kopf sich ziehen, aber die Ohrmuscheln sperrten sich, als seien sie aus Eisen!)

Vater war überzeugt davon, daß ich dem Herausgezogenwerden widerstrebte, um meiner Strafe zu entgehen, und zog immer stärker. Schließlich überließ er das Schulterziehen dem Gast und ergriff mich an den Beinen: horizontal, einem Engel gleich, schwebte ich über der Erde, und mein Gebrüll war einfach fürchterlich.

Das ganze Haus lief zusammen, ja, sogar in den Nachbarhäusern hatte sich die Kunde verbreitet, der Junge vom Landrichter habe sich eingeklemmt, und Bekannte wie Freunde dienten Vater mit guten Ratschlägen, die ihn nur noch nervöser machten. Schließlich kam auch Vater zu der Überzeugung, daß hier die Logik nicht ausreiche, und gab erschöpft den Kampf auf. Nun brüllte ich kniend ins Treppenhaus hinab.

Aber jetzt trat Mutter in Tätigkeit. Sie war dafür, mich – ohne Rücksicht auf die voraufgegangene Spuckerei – erst einmal zu beruhigen. In der Ruhe werde mein Kopf schon abschwellen und ich aus eigener Kraft aus der Vergatterung finden. Sie versuchte es mit guten Worten, dann mit Versprechungen, schließlich mit Schokolade. Vater stand – ein stummer, aber schreiender Protest – dabei.

Ich aber brüllte nur noch heftiger, wenn das nach den vorangegangenen sehr beträchtlichen Leistungen überhaupt noch möglich war. Denn nun war ich fest überzeugt, daß ich nie wieder aus diesen Stäben befreit werden würde, daß ich mein ganzes Leben lang auf die roten Fliesen des Erdgeschosses werde hinabstarren müssen, und ich verweigerte sogar die geliebte Schokolade, weil mir schien, Mutter wolle mich an eine Ernährung durch Gitterstäbe gewöhnen.

Ich weiß nicht mehr, von wem endlich der weise Vorschlag kam, einen Stab des Gitters herauszusägen. Mein Vater hatte juristische Bedenken, zum mindesten müsse der Hausbesitzer erst befragt werden. Der Kollege warf ein, daß Gefahr im Verzuge liege, es seien schon krampfartige Zustände bei mir erkennbar. Auch brüllte ich so erregend, daß eine ernstliche Störung der Hausruhe vorliege, die jeden hindere, seinen Geschäften nachzugehen.

Vater war nicht nur Jurist, sondern auch Sparer, er mußte erst wissen, wie hoch er vom Wirt für diese Beschädigung des Treppenhauses in Anspruch genommen werde. (Ob Vater gesonnen war, mich bei zu hohen Ansprüchen erst einmal stecken zu lassen, weiß ich nicht.)

Die Herren waren noch in ihrer wegen meines Gebrülls notwendig lauten Debatte, als der von meiner Mutter herbeigeholte Hauswirt, mit einer Stichsäge in der Hand, erschien. Lächelnd fuhr er über meinem Kopf mit der Säge hin und wider, ein Knacks, er bog die Stange zur Seite und, von hilfreichen Händen hervorgezogen, saß ich inmitten einer beträchtlichen Menschenansammlung, von der ich bisher nur notdürftig die Schuhe sowie die Rock- und Hosenkanten hatte sehen können. Völlig verbrüllt und verschmiert blickte ich blöde lächelnd in lauter freundlich lächelnde Gesichter – mit einem Schlage war mein Gebrüll verstummt.

Dann sammelte ich mich, streckte die Hand zur Mutter aus und verlangte: »Meine 'Lade, Mutti!«

Mein Vater, noch des Spuckens eingedenk, machte eine abwehrende Bewegung, aber es war schon zu spät: ich hatte die Schokolade und aß sie auch schon. Daß hiernach an irgendein Strafgericht nicht mehr zu denken war, versteht sich.

Ich meine, das eben erzählte Erlebnis ist so eindrucksvoll und einzig, daß es unverwechselbar erscheint. Ja, es gehört so bevorzugt zu dem Schatz meiner frühesten Kindheitserinnerungen, daß ich heute noch manchmal träume, ich säße mit dem Kopf in was fest. Ich erdulde dann schwere Angst, aber keine Macht kann mich befreien. Bis mich dann schließlich das Erwachen doch befreit.

Wer beschreibt nun mein Erstaunen, als ich nach meines Vaters Tode dies gleiche Erlebnis in den von ihm aufgezeichneten eigenen Kindheitserinnerungen fand, diesmal in Nienburg an der Weser beheimatet und rund vierzig Jahre früher als das meine datiert! Es war genau der gleiche Hergang geschildert, nur daß Vater sich nicht – wie selbstverständlich – des Spuckens halber in diese Lage begeben hatte, sondern zu einem Überblick aus der Vogelperspektive.

Da es nun sehr unwahrscheinlich ist, daß Vater wie Sohn im gleichen Kindesalter das gleiche ungewöhnliche Erlebnis gehabt haben sollen, erhebt sich die schwerwiegende Frage: Hat der Sohn beim Vater, hat der Vater beim Sohn Anleihen gemacht?

Nach der ganzen Wesensart meines Vaters möchte ich es für ausgeschlossen halten, daß er sich bewußt seiner Entlehnung bei mir – und noch dazu ohne mein Einverständnis – schuldig gemacht haben sollte. So frei er auch bei seinen mündlichen Erzählungen mit den Tatsachen umging – ich erinnere nur an die Boviste –, so gewissenhaft war er allem Geschriebenen gegenüber. Wie er seine Buchstaben bis ins höchste Alter langsam, mit einer fast pedantischen Deutlichkeit mehr zeichnete als schrieb, so genau nahm er es auch mit dem Inhalt des Geschriebenen.

Objektiv ist die Annahme viel einleuchtender, daß ich die Geschichte in meinen Kindertagen öfter von ihm gehört und so unbewußt in den Schatz meiner eigenen Erfahrungen eingereiht habe. Subjektiv muß ich gegen diese Annahme aufs lebhafteste protestieren. Dies Erlebnis ist ausschließlich das meine, mit der größten Deutlichkeit befindet es sich in mir, sehe ich doch noch das gelbe gedrechselte Holz der Gitterstäbe vor mir, das von Lack glänzte, und habe ich doch noch deutlich nicht nur die blaue Schürze unseres Hauswirts, der ein Böttchermeister war, vor Augen, sondern auch seine buntgestreiften Pantoffeln, in denen der Fuß nur halb steckte, so daß ich hinten die grobe graue Wollsocke sehe, die schlecht angezogen war, so daß die Strümpfe an der Hacke beutelten! (Ich möchte den sehen, der in einem Satz mehr Beweismaterial beibringt!)

Nein, dies Erlebnis ist mein klares Eigentum, es gehört mir, fast zu sehr, wie ich schon sagte, denn es beunruhigt dann und wann sogar meine Träume. Ich bedaure, daß dies Rätsel, das sich durch Vaters eigene Aufzeichnungen eingestellt hat, nicht mehr gelöst werden kann, aber dies Rätsel kann mich nicht verwirren: ich allein habe gespuckt, festgesessen, Fledermausohren und Schokolade bekommen und bin freigesägt worden!

Da ich von jeher besonders ungeschickt war, hatte ich es in diesen frühen Jahren überhaupt besonders eifrig damit, mich in gefährliche Situationen zu begeben. Auf dem Höfchen hinter dem Hause hatten wir Kinder einen Sandhaufen und über dem Sandhaufen breitete eine junge Blutbuche ihre Zweige aus, der Liebling unseres böttchernden Hausherrn. Als ich eines Tages der Alleinherrscher dieses Sandhaufens war, kam ich auf die Idee, ich müsse unbedingt sofort die Blutbuche ersteigen.

Ohne Verzug schleppte ich von dem Warenlager des Wirts an Bütten und Baljen herbei, was meinen Kräften angemessen war, baute daraus einen Turm und erklimmte mit seiner Hilfe den untersten Ast der Blutbuche. Hier saß ich – wieder einmal – angenehm erhöht über meiner Umwelt und schaukelte mich mit dem Zweig, erst sachte, dann stärker. Aber die Buche war noch sehr jung, der Zweig gab nach, brach, und ich stürzte, aber weich, denn ich fiel auf den Sandhaufen.

Verblüfft starrte ich zu meinem Zweig empor und bemerkte mit Schrecken, daß er jetzt kläglich herabhing. So unbedenklich ich vor kurzem gespuckt hatte, so unheilschwanger erschien mir jetzt dieser gebrochene Zweig. Ich eilte ins Haus, schlich mich unbemerkt zu Mutters Nähkasten und kehrte mit einem Zwirnstern bewaffnet an die Stätte meiner Schandtat zurück.

Ich war völlig überzeugt, daß Vaters Entschädigungszahlungen für diesen gebrochenen Ast den Ruin meiner Familie herbeiführen mußten. Ich erkletterte wieder meinen Büttenturm und machte mich daran, den Zweig mit Zwirn an den Baum zu heften. Aber im Eifer dieser Beschäftigung beachtete ich nicht, daß mein Unterbau auf Sand gegründet war: er kam ins Rutschen, und ich stürzte zum zweitenmal, diesmal aber so ungeschickt, daß ich mir an dem Rand einer Balje einige Schneidezähne ausschlug.

Mein mörderisches Geschrei, als ich Blut fließen sah, lockte nicht nur Mutter, sondern auch den Meister herbei. Mein Erstaunen war grenzenlos, als ich nicht wegen des abgebrochenen Zweiges gescholten, sondern herzlich bedauert und getröstet wurde, auch vom Böttcher. Ich fand es sehr verwirrend für ein Kind, zu wissen, welche seiner Untaten schwer bewertet wurden und welche Untaten gar keine waren.

In meiner Erinnerung ist es direkt danach, daß ich an der Hand unseres Mädchens auf Besorgungen gehe. Es muß aber doch – als Erholungspause für meine Familie – einige Zeit vergangen sein, denn es ist ein grauer kalter Wintertag. Es wird nicht mehr auf dem Sandhaufen gespielt, sondern jetzt schlittere ich auf dem Eis des Rinnsteins, während Marie-Sophie-Helene, meine Hand haltend, auf der Kante des Bürgersteigs geht. Aber der mir von ihr gegebene Halt muß doch unzureichend gewesen sein, denn plötzlich stürze ich, und da ich grundsätzlich nie einfach wie andere Kinder falle, so schlage ich mit der Stirn gegen den scharfkantigen Bordstein und verliere das Bewußtsein. Ich wurde blutend heimgetragen, meine liebe Mutter seufzte. Vater war auf dem Gericht, ein Arzt wurde geholt, und ich wurde genäht.

Hiernach sah ich schon nicht mehr ganz frisch aus; so neu ich auch noch war, wirkte ich doch schon stark lädiert, mit abstehenden roten Ohren, ausgeschlagenen Vorderzähnen und einer breiten roten Narbe über die Stirn. (Die Wunde hatte selbstverständlich nicht so geheilt wie bei andern Kindern, sondern sich erst mal entzündet.) Nein, ich wirkte nicht schön, aber mich störte das wenig.

Denn nun war der Frühling gekommen, und ich widme mich mit Schwestern, Freunden, Bekannten und auch Unbekannten auf dem Karlsplatz dem erregenden Murmelspiel. Muß ich es noch extra sagen, daß ich ein schlechter Murmelspieler war, vielleicht der schlechteste von ganz Greifswald –?! In diesem Frühjahr war ich von Haus aus recht gut mit Murmeln ausgestattet, ich besaß ihrer viele in allen Arten und Größen, von der einfachen Tonkugel an über »echte Marmeln« bis zu blanken Eisenkugeln, ja, bis zu der großen Kristallkugel, die in ihrer Mitte einen schneeweißen Eisbären trägt. Diese Kristallkugel liebe ich über alles.

Aber auch die vollste Kiste hat einen Boden, und wenn man immer nur aus ihr nimmt, erreicht man schließlich diesen Boden. Mein Murmelbeutel wird leerer und leerer. Ich sehe sie alle dahinschwinden, eine nach der andern, die Tonkugeln, die echten Marmeln, die silberglänzenden Eisenkugeln, die Glaskugeln mit den bunten gedrehten Stäben in der Mitte. Mit der Durchsicht meiner Bestände abends im Bett werde ich immer schneller fertig, und mit Neid sehe ich auf die Beutel meiner Schwestern, die durch das Spiel nicht leerer, sondern voller werden.

Schließlich kommt die Stunde, da ich die Kristallkugel mit dem Eisbären wagen muß, will ich überhaupt noch mitspielen. Erregende lange Verhandlungen gehen voraus. Auch von der Gegenpartei wird diese Kugel hoch bewertet, wenn auch nicht ganz so hoch wie von mir. Schließlich kommt eine Einigung zustande: jetzt habe ich die Gelegenheit, durch einen Wurf mit dem Eisbären fast alles Verlorene wiederzugewinnen.

Viele Kinder umstehen uns, es ist ein wichtiger Moment. Ich weiß, was auf dem Spiele steht, und wie selten im Leben reiße ich alle meine Kräfte zusammen. Diesmal muß es mir gelingen, dieses Mal werde ich Glück haben ...

Eine atemlose Stille herrscht unter den Zuschauern, selten wechseln solche Vermögen durch einen Wurf ihren Besitzer. Mein Gegner, wohl zwei oder drei Jahre älter als ich, tritt aufgeregt von einem Fuß auf den andern, beobachtet mich dabei aber scharf. Ich ziele genau nach der kleinen Erdhöhlung, in die meine Kugel fallen muß, ich strecke den Arm, ich werfe schon –

Da ruft mein Gegner: »Kuckt mal, der Storch mit dem Frosch!« Mein Kopf fährt zum Himmel, und weit vom Ziel rollt meine Kugel ...

»Das gilt nicht!« schreie ich zornig.

Und: »Verloren!« schreit er.

»Das war Betrug!« rufe ich, denn es gab natürlich gar keinen Storch mit einem Frosch. »Es gilt nicht!«

Und ich stürze mich auf die Kugel und nehme sie fest in die Hand.

Mein Gegner überfällt mich und sucht mir die Hand aufzubrechen. Die Ansichten der Zuschauer sind geteilt, aber doch überwiegen die, welche der Meinung sind, im Spiel (noch nicht in der Liebe) sei jede List erlaubt. Doch halten sie sich der nun beginnenden kriegerischen Auseinandersetzung fern.

Mein Gegner braucht auch keine Hilfstruppen, mein Kampf ist aussichtslos. Er ist soviel stärker und kampferprobter als ich bleiches Krankengemüse. Mit einem Arm wehrt er gelassen meine Schläge ab und konzentriert sich nur darauf, mit den Nägeln der andern meine Hand aufzuzwicken. Ich sehe ein, daß die Kristallkugel mit dem Eisbären für mich verloren ist. Aber wenn ich sie nicht habe, er soll sie auch nicht bekommen, dieser Betrüger, der! Ich sehe nahe bei mir die gähnende Abflußöffnung des Rinnsteins. Mit letzter Kraft reiße ich meine Hand frei und schleudere die Kugel mit Wucht in die ...

Denkste! sagt heute der Berliner. Denn so nahe mir auch die Öffnung ist, ich habe vorbeigetroffen. Die Kugel prallt stark gegen das Pflaster, zerspringt, und die eine scharfkantige Hälfte fliegt mir direkt ins Gesicht, grade unter das Auge, wo sie einen tiefen Schnitt hinterläßt.

Wieder einmal werde ich blutend nach Haus geführt, wieder einmal werde ich genäht, wieder einmal sehe ich noch dramatischer aus. »Unser geschundener Raubritter«, sagte mein Vater seufzend, wenn sein Blick auf mir ruhte, und dieser Titel ist mir in meiner ganzen Jugend treu geblieben.

Aber man beachte doch auch, in welch wirkungsvoller Steigerung mich die Unfälle heimsuchten! Den festgeklemmten Kopf trug mir eine reine Frechheit ein, die Strafe war milde im Hinblick auf das Vergehen. Sehr viel schmerzhafter schon mit einem zerschlagenen Kiefer wurde ich für das an sich löbliche Vorhaben bestraft, einen angerichteten Schaden durch das Anheften eines Zweiges wieder gutzumachen. Am schärfsten aber fiel die Strafe für den Kampf aus, den ich gutgläubig für mein Recht unternahm. Ich verlor nicht nur den geliebten Gegenstand, nein, dieser geliebte Gegenstand übernahm noch in geplatztem Zustand die Rolle des Strafrichters, bedrohte mich mit dem Verlust des Auges und verwundete mich empfindlich!

Wer da noch an einen Zufall glauben will, dem ist nicht zu helfen! Ich war schon früh davon überzeugt, daß die Bosheit in eigener Gestalt an meiner Wiege einen giftigen Spruch gemurmelt habe, dem ich verhaftet war für und für! Hat man denn je schon davon gehört, daß eine auf ein Pflaster springende Glaskugel wie ein reißendes Tier auf den Werfer zurückfährt?! Ich nicht, von andern nämlich, bei mir halte ich freilich alles für möglich.

Wie ich eben schon sagte, habe ich reichlich fünf Jahre meines Lebens in Greifswald verbracht, aber die ganze Ausbeute dieser fünf Jahre sind die wenigen eben erzählten Erinnerungen. Sonst ist nichts mehr da, keine Erinnerung an die Wohnung, an Eltern, Gespielen, Straßen, Häuser – alles fort, nur diese paar unangenehmen Erinnerungen! Und da behaupten die Leute, das menschliche Hirn sei so glücklich organisiert, daß es Unheil leichter vergesse als gute Stunden! Bei mir nicht! Bei mir jedenfalls nicht!

Ich überspringe nun ganze neun Jahre, nicht, weil es mir an Stoff gebräche – ich glaube, dem Leser in früheren Abschnitten schon genug berichtet zu haben –, sondern weil ich an den frühesten Anfang das Ende dieser Jugendzeit anschließen will. Wie der Anfang, so das Ende, dieser Satz bewahrheitete sich auch an mir. Ich bin nun vierzehn und ziere die Obertertia des Bismarck-Gymnasiums zu Berlin. Aber Vater hat das Ziel seiner Jugendwünsche erreicht und ist zum Reichsgerichtsrat ernannt worden. Ostern werden wir nach Leipzig übersiedeln, aber das ganze Vierteljahr, das wir noch in Berlin sind, hat etwas Provisorisches, eine fast unerträglich verlängerte Abschiedsstimmung belastet uns alle.

So erfreulich nun diese Versetzung auch ist, so gespannt wir Kinder dem neuen Leben in Leipzig entgegenschauen, mancherlei Schwierigkeiten sind noch zu überwinden, ehe wir fahren können. Da bin zum Beispiel ich. Wie gesagt, ich gehe auf das Bismarck-Gymnasium, und in Leipzig gibt es das Königin-Carola-Gymnasium, das ich ab Ostern besuchen werde, dies scheint ganz einfach. Aber es ist gar nicht einfach, denn in Leipzig wird in die höhere Klasse zu Ostern versetzt, während ich in Berlin eine Obertertia besuchte, die zu Michaelis in die Sekunda aufrückt. Es handelt sich also bei mir darum, ob ich ein halbes Jahr verlieren oder gewinnen werde, ob ich einen Sprung vorwärts tue oder zurücksinke und altes Wissen sechs Monate hindurch wiederkäue.

Vater war natürlich für Springen. Meine Lehrer machten etwas bedenkliche Gesichter und sprachen von Lücken in meinem Wissen, vor allem, was Geometrie und Algebra betraf. Vater hatte eine ernste Aussprache mit mir und bat mich um meine offene Meinung. Ob ich es mir denn zutraue, schon zu Ostern die Aufnahmeprüfung für die Untersekunda zu bestehen? Er wolle mich ja nicht drängen, aber immerhin finde er ... ich als sein Sohn ... offener Kopf ... ein Vierteljahr eben mal ganz ernsthaft büffeln ... ein halbes Jahr früher auf die Universität ... ja, Vater ging so weit, an ein weit zurückliegendes, halb vergessenes Erlebnis zu erinnern, als mir nämlich der Besuch einer Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder empfohlen worden war. Hier habe ich doch einmal Gelegenheit zu beweisen, daß ich nicht zurückgeblieben, sondern daß ich geistig voraus sei! Im übrigen lege er die Sache natürlich ganz in meine Hände, er dränge mich nicht, und wenn es mir eben Spaß mache, ein halbes Jahr länger als nötig auf die Penne zu gehen, er sei damit einverstanden.

Einer so wirkungsvollen Ansprache von Gleich zu Gleich konnte der Sohn natürlich nicht widerstehen. Ich traute mir alles zu, war bereit, ein halbes Jahr zu überspringen, und wurde vom Bismarck-Gymnasium ab- und dafür im Institut von Herrn Doktor Dackelmann angemeldet. Hätte ich geahnt, was mir dort bevorstand, so hätte ich mir den Fall ein wenig besser überlegt. Das Institut von Doktor Dackelmann war nämlich das, was man eine »Presse« nennt, hier wird in harte Köpfe, an denen Lehrer üblichen Schlages verzweifeln, grade so viel Wissen gepreßt, daß eine bestimmte Prüfung bestanden werden kann.

Dabei ist die Kenntnis der Lehrer dieses Institutes, was für eine bestimmte Prüfung verlangt wird, erstaunlich. Sie kennen nicht nur den Wissensstoff im allgemeinen, nein, sie sind auch über die Spezialitäten jeder Anstalt genau unterrichtet: in Gotha sitzt ein Professor, der unerbittlich ist, wenn der Prüfling beim zweiten Aorist versagt, und in Merseburg sitzt ein Deutschlehrer, der verlangt, daß man den Geßler-Monolog, das Lied von der Glocke und den Gang zum Eisenhammer auswendig weiß. In Leipzig hingegen, am Königin-Carola-Gymnasium, waren die ersten einhundertfünfunddreißig Hexameter der Odyssee Pflicht. Genau dies verlangte Wissen wurde den Prüflingen eingetrichtert, ohne jeden Zusammenhang. Der Ehrgeiz des Institutes ging dahin, daß der Prüfling sein Examen bestand, was nachher mit ihm wurde, war ihm gleichgültig.

In diese Presse geriet ich nun, und zwar hatte mein Vater, um es auch gut zu machen, mich für den Einzelunterricht angemeldet. Fünf Stunden am Vormittag und drei Stunden am Nachmittag saß ich als einziges Opfer meiner Lehrer da. Es gab kein Abirren der Gedanken mehr, nie war ein anderer »dran«, acht Stunden am Tage lang. Die Lehrer wechselten stündlich, ich aber konnte nicht wechseln, ich hatte immer da zu sein, und wie da zu sein!

Und wenn ich dann erschöpft nach Hause wankte, steckten in meiner Mappe soviel Aufgaben, die morgen früh in meinem Hirn anwesend zu sein hatten, daß ich wußte, es würde ziemlich tief in der Nacht sein, ehe ich Schluß machen konnte.

Bis dahin hatte ich einer ziemlich laxen Auffassung von Schule und Schularbeiten gehuldigt Es war gar nicht so schlimm, wenn man einmal beim Träumen erwischt wurde und eine schlechte Zensur bekam. Es war auch nicht gefährlich, wenn Hausarbeiten gelegentlich mit einem »Mangelhaft« oder »Ungenügend« zensiert wurden. Die Zeiten waren vorbei, da ich regelmäßig mit Mutter meine Schularbeiten machen mußte, und auch Vater bekam nur noch selten und nur auf sehr dringendes Verlangen meine Schulhefte zu sehen. Ich hatte mich selbständig gemacht. Im allgemeinen genügte es vollkommen, wenn ich mich im letzten Vierteljahr etwas auf die Hosen setzte; wurde ich nicht als Fünfter versetzt, so als Zehnter oder Fünfzehnter, die Hauptsache war, ich wurde versetzt.

Aber was war ein solches sanftes Büffeln im letzten Vierteljahr gegen das, was mir nun zugemutet wurde! Mein Kopf fing rasch zu rauchen an. Dabei war es nun nicht etwa so, daß man angeschnauzt oder getadelt wurde, daß der Lehrer die Geduld verlor, losbrüllte oder Strafarbeiten gab. Im Gegenteil – geduldigere Lehrer habe ich nie gefunden – sie brauchten ihre Geduld aber auch redlich bei den meist überharten Köpfen, die ihr stündliches Brot waren. Mit einer Langmut sondergleichen übten sie immer dasselbe, zehnmal, zwanzigmal, wenn es sein mußte, auch hundertmal, bis auch der vernageltste Schädel dessen überdrüssig wurde und lieber das Richtige sagte, statt es immer wieder anzuhören. Dann kam doch wenigstens wieder etwas Neues, das allerdings auch sofort auf die gleiche Weise eingetrichtert wurde.

Ich stand unter der besonderen Obhut von Doktor Dackelmann, dem eine gewisse Schärfe nicht abzusprechen war. Er war ein kleiner, dicker, recht schmieriger Mann, der eine Neigung zum Prusten hatte. Er verschmähte grundsätzlich den erhöhten Platz des Lehrers. Er setzte sich neben mich auf dieselbe Schulbank, denn ich wurde immer in einem großen, leer hallenden Klassenzimmer unterrichtet, und so war ich immer der »Letzte«! Denn daß Doktor Dackelmann, der neben mir aus dem gleichen Buch lernte, der Erste war, daran konnte kein Zweifel sein.

»Fallada!« sagte er und prustete. »Fallada! Nomen est omen, Namen werden zu Schicksalen. Eines Tages wirst du fallen und daliegen. Aber nicht in dieser Prüfung, so wahr mir Gott helfe, nicht in dieser Prüfung, und wenn ich noch in deine letzte Gehirnzelle ein Gerundivum pressen muß! Hätte ich Ursache, dich mit jenen – Holzböcken zu vergleichen, die, schon bebartet und der Einberufung zum Militärdienst gewärtig, noch einen letzten verzweifelten Versuch machen, die Einjährig-Freiwilligen-Prüfung zu bestehen, ich würde still leiden und schweigen. Aber du, ein offener Kopf – und hier haben wir also nun ein »ut« mit dem Indikativ! Eheu te miserum! Si tacuisses!«

Und ich wahrhaft Elender wußte, daß er mich nun zwei Stunden lang damit schinden würde, daß »ut« den Konjunktiv zur Folge hat, und morgen wiederum und sofort, bis es saß, saß, saß, eisern saß. Und sobald dieser erstrebte Zustand eingetreten sein würde, würde er mir die Ausnahmen beibringen, wo »ut« doch den Indikativ regierte, und eine Wirrnis würde sich in meinem Schädel ausbreiten, und die Ausnahmen würden die Regel überwuchern. Aber Gottvater gleich würde er seine Feste errichten in meinem Kopf und würde nicht eher ruhen, bis sich die Wasser über der Feste (nämlich die Regel) von den Wassern unter der Feste (also den Ausnahmen) geschieden hatten. Und währenddem würde er ununterbrochen von meinem offenen Kopf reden und von den Holzköpfen der andern, und dabei wußte ich doch auf das genaueste, daß er den andern von meinem Holzkopf sprach und ihre hellen Schädel pries!

Ganz anders war Herr Muthesius, ein langer, ernster, schwärzlicher Mann, der vom vielen Schreiben an der Tafel stets kreidige Ärmel hatte. Ihm war die weitaus schwierigere Aufgabe zugefallen, mich in Mathematik zu unterrichten, ein Gebiet, für das ich zweifellos minderbegabt bin. Das hatte er schnell erkannt, es war schlechterdings unmöglich, mir beizubringen, daß der oder jener geometrische Beweis zwingend war, daß es neben ihm keine andere Möglichkeit gab. In hellen Augenblicken konnte ich einsehen, daß der Beweis »stimmte«, aber selbst in diesen Momenten der Erleuchtung bestand für mich immer noch der Zweifel, ob nicht vielleicht doch ein gegenteiliger Beweis noch zwingender sein könnte.

So beschränkte sich Herr Muthesius nur darauf, mir die einzelnen Beweise einzupauken. Ich mußte sie mechanisch auswendig lernen, ohne alle Rücksicht darauf, ob ich sie begriffen hatte oder nicht. Dieses Auswendiglernen aber geschah auf eine erregende, fast wilde Art. Handelte es sich um leichtere Fälle, so schlug Herr Muthesius, auf dem Katheder über mir sitzend, nur den Takt zu den Formeln mit einem sehr breiten Lineal, skandierte damit mein Gestammel.

War der Fall aber ernster, so forderte mich der Lehrer auf, hinter ihm im Takt die Bänke des Schulzimmers zu umwandeln, wobei er wild mit dem Fuß aufstampfte und das Lineal in gleichem Rhythmus wie einen Taktstock auf und ab stieß. Ich sehe ihn noch vor mir, sein schwarzer Rock mit Kreideflecken war ruckweise bewegt, sein Fuß stampfte, seine Stimme fing an zu dröhnen. Die a² und b², die a   b und a – b bekamen Leben. Unwillkürlich fing auch ich an, mit dem Fuße zu stampfen, jedes Plus bekam seinen Tritt und jedes Minus; auch schrie ich genau wie er.

Wie viele Stunden sind wir an den grauen, trostlosen Winternachmittagen so stampfend um die Schulbänke gewandert! Das Gas war noch nicht angezündet, vom Fußboden, auf dem sie geschlafen hatte, schien die Dunkelheit aufzusteigen, schon versanken unsere Knie in ihr. Dann stieg sie langsam höher an uns, bis sie die Hände und zuletzt das Gesicht auslöschte. Aber immer weiter stampften und memorierten wir, a   b und a – b ... O Gott, ich habe keine Freunde mehr, keine Eltern, kein Heim. Keine Geschwister. Auch an eine Prüfung ist nicht zu denken. Denn eine Prüfung wäre das Ende von diesem hier, und dies hier hat nie ein Ende! Dies ist Selbstzweck, hier zu marschieren, mit einem wilden, fast kriegerischen Stampfen, Stunde um Stunde, ein Leben lang, bis das Hirn zu dampfen anfängt, die ganze Welt versinkt, das Ich ausgelöscht ist, und nichts bleibt als a²   2ab   b²! Heiliger Bimbam! (Mit einem Fußtritt auf dem Bam!)

In meiner letzten Stunde bei ihm gab mir Herr Muthesius noch einen wertvollen Wink.

»Hören Sie«, sagte er. »Hören Sie, Dings ...«

(Herr Muthesius bestand nämlich darauf, alle seine Schüler, ungeachtet ihres Alters, mit »Sie« anzureden. Nicht als ob er damit eine besondere Achtung ausdrücken wollte, sondern einfach nur darum, weil er zu faul war, sich zu merken, welche Schüler mit »Du« und welche mit »Sie« anzureden waren. Wie er sich auch keinen Namen merkte, sondern alle gleichmäßig mit dem Sammelnamen »Dings« rief.)

»Hören Sie, Dings!« sagte Herr Muthesius, »Sie werden da zu Leipzig von einem Professor in Mathematik geprüft werden, der helle ist, dem machen Sie nicht fünf Minuten lang vor, daß Sie auch nur ein bißchen von Mathese kapiert haben, Dings! Halten Sie sich an das Eingepaukte, ich warne Sie, und wenn Sie was nicht wissen, so faseln Sie nicht, sondern sagen offen, davon weiß ich nichts, das hat mir der Muthesius nicht eingetrichtert. Da war ich nicht da, da habe ich grade Rotlauf gehabt, alles besser als faseln. Und kommen Sie dann doch ins Gedränge, dann fragen Sie ihn listig nach Houston Stewart Chamberlain. Haben Sie von dem Menschen schon mal gehört? Nicht? Natürlich nicht! Wie sollten Sie auch, Dings?! Der Mann hat ein Buch geschrieben, ›Die Grundlagen des 20. Jahrhunderts‹, das ist sein Steckenpferd. Wenn Sie ihn darauf zu reden bringen, dann sind Sie gerettet, Sie könnten noch unwissender sein, als Sie sind!«

Damit schied Herr Muthesius von mir, und nie wieder habe ich von ihm gehört. Manchmal muß ich heute noch an ihn denken und dann zerbreche ich mir den Kopf, ob ein solcher Mann wie andere Menschen leben kann, vielleicht sogar Frau und Kinder hat, wer ihm seinen schwarzen Rock ausbürstet, ob er irgendwelche Leidenschaften hat, ob er gerne Bier trinkt, was er ißt? Aber alle diese Fragen bleiben ohne Antwort. Ich kann mir Herrn Muthesius nicht anders vorstellen, als daß er immer noch, zeitlos, ja ewig, durch ein immer dunkler werdendes Schulzimmer stampft, mit dem Lineal skandierend: a   b und a – b – bis in alle Ewigkeit!

Und nun ist ein strahlender Apriltag, kurz vor dem Osterfest. Ich steige die breiten Stufen des Königin-Carola-Gymnasiums hinunter, und unten steht Vater und sieht mir sehr erwartungsvoll entgegen. Ich bemühe mich, möglichst langsam zu gehen. Ich lege mein Gesicht in ernste Falten und verrate nichts von der freudigen Erregung, die mich erfüllt. Im Gegenteil, ich gebe mir Mühe, möglichst griesgrämig und verdrossen auszusehen.

Aber ich muß ein sehr schlechter Schauspieler sein, denn Vaters erwartungsvolles Gesicht verwandelt sich in ein zufrieden lächelndes.

»Also bestanden, Hans? Bestanden?!« sagt er glücklich.

»I wo, Vater!« versuche ich noch. »Durchgefallen mit Pauken und Trompeten!«

»Erzähl keine Geschichten!« lacht Vater. »Ich kenn doch deine Augen! War's schwer?«

»Nicht die Bohne!« lache ich. »Wen Dackelmann in seinen Klauen gehabt hat, für den ist so was ein Kinderspiel! In allem habe ich glänzend abgeschnitten, sogar in Mathese!«

»Mathematik!« verbesserte mich Vater, der selbst in Augenblicken solch freudiger Erregung unsere saloppe Schülersprache ablehnt. »Also Untersekundaner, Hans, ein halbes Jahr vor der Zeit! Du schlägst deinen Vater!« Aber er lächelt vergnügt, und plötzlich sagt er, ganz überraschend: »Wünsch dir was, Hans! Du kannst dir wirklich was Ordentliches, Großes wünschen. Heute spare ich nicht!«

»Was Ordentliches, was Großes, Vater, das wirklich viel kostet?« frage ich nachdenklich.

»Ja, meinethalben auch, was viel kostet!« sagt Vater. »Weißt du denn gleich was, so aus dem Handgelenk?«

»Natürlich!« sage ich, denn das scheint mir ja nun doch etwas lächerlich, daß man nicht Wünsche in beliebiger Menge und Art zu jeder Zeit bereit haben sollte. »Komm mal mit, Vater. Ich will dir was zeigen!«

»Was willst du mir denn zeigen? Zuerst müssen wir an Doktor Dackelmann telegrafieren!«

»Können wir auch! Auf dem Weg kommen wir an einem Postamt vorbei.«

»Wie du schon Bescheid weißt, hier in Leipzig!« wundert sich Vater.

»Das ist doch dein Verdienst, Vater«, sage ich. »Du hast doch die Querstraßen von der Zeitzer mit uns geübt.«

Und ich wiederhole Vaters Merksatz, uns vorsorglich eingeübt:

»Aho! Sido! Sophiechen Körner schenkt Arndts Werke an Moltke für den Kronprinzen!«

Das heißt ins Verständliche übersetzt: die Zeitzer Straße wird der Reihe nach von folgenden Querstraßen durchschnitten: Albertstraße, Hohe Straße, Sidonienstraße, Sophienstraße, Körnerstraße, Schenkendorfstraße, Arndtstraße, Moltkestraße, Kronprinzenstraße.

Vater hatte eine wahre Leidenschaft für solche kleinen Gedächtnishilfen. In Fällen wie dieser nahm ich sie auch ganz willig an, bei seinen Zahlenhilfen freilich streikte ich. Wenn durchaus nicht in meinem Schädel haften wollte, daß die Schlacht bei Ägospotami 405 vor Christi Geburt stattgefunden hat, schlug Vater mir etwa folgende Hilfe vor: »Das ist doch ganz einfach, Hans! Ihr seid 4 Geschwister, ist die erste 4. Es gibt kein weiteres, macht die 0. Wenn es aber noch ein weiteres gegeben hätte, wäret ihr 5. Also 405!«

Das überzeugte mich nie. Ich fand, ich konnte ebensogut sagen: Unsere Familie besteht aus sechsen, gibt 6. Kommt Großmutter dazu, macht 7. Weiter niemand mehr, ist 0. Also fand die Schlacht bei Ägospotami 670 vor Christi Geburt statt. Kam ich Vater aber so, wurde er meist etwas ärgerlich. Dann sagte er nur kurz: »Ach, du bist ein alter Dröhnbartel!«

In diesem Falle aber hatte ich seinem »Aho! Sido!« Anerkennung gezollt, das steigerte noch seine gute Stimmung. »Also, was ist es denn, Hans? Du machst mich ganz neugierig!«

»Du wirst schon sehen, Vater!« sagte ich vorwärtsdrängend. Und vorbereitend: »Aber ich glaube, es kostet vielleicht bestimmt sogar etwas über hundert Mark!«

Nun wurde Vater doch etwas bedenklich. »Ich kann mir gar nicht denken«, sagte er fast unzufrieden, »daß ein Junge wie du, der alles hat, sich gleich etwas für über hundert Mark wünschen kann!«

Damit schwieg er etwas pikiert, und wir traten in das Postamt ein.

Vater überlegte lange, was er telegrafieren solle: daß ich die Prüfung »glänzend« oder daß ich sie »gut« bestanden hätte. Immerhin lag erst nur mein Bericht vor. Es gelang mir aber, Vater völlig davon zu überzeugen, daß ich »glänzend« bestanden hatte, was übrigens auch der Wahrheit entsprach.

Dann wanderten wir weiter, bis ich vor einem großen Schaufenster haltmachte. »Da!!« sagte ich und zeigte mit dem Finger.

»Ein Fahrrad!« rief Vater verblüfft. »Ja, kannst du denn radeln?!«

Ich hätte ja nun meinem Vater die Geschichte jenes Knaben erzählen können, der seinen Vater fragte, ob er baden dürfe, und der die Antwort bekam: »Ja, aber erst, wenn du schwimmen kannst!« Doch konnte ich wirklich schon radeln. Ich hatte es in Berlin gelernt, auf Rädern anderer Jungens, in aller Heimlichkeit. Heimlich aus bekannten Gründen, denn sonst wäre mir das Radeln-Lernen nie erlaubt worden. Es war aber, mich selbst überraschend, gut gegangen. Einige auf den Knien zerrissene Strümpfe und durchgescheuerte Handflächen hatte allein ein großer Kohlenwagen verschuldet, der zwei Tage unabgeladen in der Luitpoldstraße gestanden hatte. Dieser Wagen hatte eine magische Anziehungskraft auf mich ausgeübt: ich konnte ganz auf der andern Straßenseite radeln, unentrinnbar lockte er mich an sich, bis ich in seinen Rädern, einmal auch unter ihm landete!

Aber das waren längst abgetane Dinge, heute war ich ein perfekter Radler und konnte mit Stolz antworten: »Ob ich radeln kann, Vater? Natürlich kann ich radeln! Alle Jungen können radeln!«

Vater war mehr geneigt, bei diesem Thema zu bleiben, statt sich auf den Radankauf zu konzentrieren. »Wo hast du denn das Radeln gelernt, Hans?« fragte er.

»In Berlin doch!« antwortete ich unschuldig. »Schon endlos lange. Lange vor Dackelmanns Zeit. Außerdem braucht man Radeln gar nicht zu lernen. Radeln kann man gleich. Man setzt sich eben drauf und fährt los.«

Und ich sah dem Vater bieder ins Auge.

»So!« sagte der trocken. »Und du hast uns nie etwas von dieser deiner neuen Kunst erzählt, Hans? Seltsam, o wie so seltsam! Sonst bist du eigentlich nicht so zurückhaltend im Rühmen deiner Künste, Hans!«

Vater betrachtete mich mit einem hellen, recht spöttischen Lächeln.

»Och ...« antwortete ich, reichlich verlegen. »So'n Dreck! Das ist doch gar keine Kunst!«

»Nun«, meinte der Vater. »Heut ist ein besonderer Tag, und so will ich nicht weiter in dich drängen. Ich glaube mich freilich zu erinnern, daß vor einigen Monaten deine Mutter über einen ungewöhnlich starken Strumpfverschleiß bei dir klagte. Vielleicht erzähltest du uns etwas vom Weitspringen beim Turnunterricht, bei dem du so leicht hinfielst –? Aber da täuscht mich wohl mein Gedächtnis, nicht wahr, Hans?«

Ich zog es vor, zu schweigen.

»Nun, du hast recht, wir reden nicht mehr davon. Der Himmel hat dich als perfekten Radler erschaffen. Das stimmt doch, Hans?«

»Jawohl, Vater, das stimmt!«

»Nun wohl, mein Sohn, hier ist eine stille Straße, und so wirst du nun erst einmal eine kleine Prüfung ablegen vor mir und dem Händler. Erst dann wird zum Ankauf geschritten. Du kommst heute aus den Prüfungen nicht heraus, Hans!«

»Und diese bestehe ich noch glänzender, Vater!«

Und so war es wirklich. Eine Viertelstunde später radelte ich an Vaters Seite nach Haus, bewies meine Meisterschaft durch ein unwahrscheinlich langsames Tempo, bekanntlich das schwierigste beim Radeln. Ich rede immerzu, alle Schleusen sind geöffnet. Ich bin selig vor Glück. Das Rad hat einhundertfünfunddreißig Mark gekostet, Vater hat mir etwas Solides, etwas fürs Leben gekauft Nur die krumm nach unten gebogene Lenkstange hat er abgelehnt.

»Nein, nein, ich kenne das! Die sitzen so wie Affen auf dem Rade. Ich möchte dich doch nicht in dieser Richtung ermuntern, Hans, ich gebe noch immer nicht die Hoffnung auf, daß du dich mit den Jahren zum Menschen entwickelst«

Wenn Vater so neckte, war er immer allerbester Stimmung.

Mein Erwachen am nächsten Morgen war köstlich. Ich kam aus tiefstem Traum, der, kaum hatte ich die Augen geöffnet, schon rasch entschwand, aber im Schwinden das Gefühl hinterließ, als habe ich in der Nacht Schönstes erlebt. Es war noch sehr früh. Im Hause schlief alles, auch die Stadt um das Haus herum schlief noch, nur zeitige Vögel lärmten in dem Garten schon.

Plötzlich wird es mir klar, daß wir einen Garten haben! Wir wohnen nicht mehr in Berlin, wir sind in Leipzig, aus der Veranda unserer neuen Wohnung steigt man über ein paar Stufen in den Garten hinab. Und in diesem Garten blüht schon einiges: Krokus, Leberblümchen, Schneeglöckchen. Schon wird der Rasen grün, denn es ist Frühling, das Osterfest ist nahe – und es sind Ferien. Es sind ganz richtige Ferien, ohne alle Schularbeiten, Faulferien, denn ich habe gestern meine Prüfung mit Glanz bestanden! Ich habe einen Sprung über ein halbes Jahr getan, ich bin Untersekundaner!

Ein stolzes Gefühl erfüllt mich, ich habe etwas geschafft, trotzdem Doktor Dackelmann im stillen mich für einen Holzkopf hält! Aber ich habe es erreicht! Es gibt keinen Zweifel daran, es gibt einen handgreiflichen Beweis dafür, ein Rad, ein Herrenfahrrad, das nagelneu unten im Keller steht!

Ein überströmendes Glücksgefühl, wie selten gespürt, erfüllt mich: Frühling und Ferien und Osternähe, Untersekundaner und Fahrrad, es ist fast zu viel! Ich dehne und recke mich, mein Gähnen ist fast ein Schluchzen!

Es leidet mich nicht mehr im Bett. Leise stehe ich auf, leise, um niemanden zu stören. Ich wasche mich mit einer ganz ungewohnten Flüchtigkeit, ziehe aber immerhin doch meinen Sonntagsanzug an, und nun schleiche ich in den Keller.

Da steht es! Es ist ein Rad der Marke Brennabor mit Torpedo-Freilauf und Rücktritt. Vater ist großzügig gewesen, er hat nicht nur das beste Rad im Laden gekauft, er hat mir auch noch einen Fahrradständer und eine Azetylenlampe dazu spendiert. Ich betrachte mein Rad mit verliebten Augen, ich drehe die Pedale, das Hinterrad saust so schnell, daß man die Speichen nicht mehr sieht! Nun drücke ich auf ein Pedal, und plötzlich steht das Rad; fast ohne Übergang ist aus der raschesten Bewegung völlige Ruhe geworden. Großartig!

Ich schleiche wieder nach oben, ich unterziehe Mutters Nähschrank einer Prüfung und entdecke ein Handtuch, das mir das Stopfen nicht mehr zu lohnen scheint. Ich nehme es an mich, klaue noch aus Mutters Nähmaschine eine Flasche Öl (reines Knochenöl), und wieder unten angelangt mache ich mich daran, das schon spiegelnde Rad zu noch höherem Glanze aufzupolieren und jeder schon vom Händler geölten Stelle noch ein paar Tropfen Öl zu versetzen.

Als ich damit fertig bin, ist es nicht mehr ganz früh, aber immerhin noch früh. Ich höre die Mädchen oben langsam mit dem Reinmachen der Wohnung beginnen. Ich überlege, was ich nun anfangen soll. An solch einem glücklichen ersten Ferientag muß ich doch etwas ganz Besonderes beginnen! Mir fällt Onkel Achim ein, der in einem Leipziger Vorort wohnt. Er hat sich vor ein paar Tagen mit der Tante zu einem kurzen Besuch in dieser neuen Wohnung sehen lassen, heute früh werde ich diesen Besuch erwidern – per Rad.

Noch einmal steige ich nach oben. Von der alten Minna, die unsere Übersiedlung von Berlin nach Leipzig nicht ganz ohne Bedenken mitgemacht hat, verlange ich ortsüblich »zwei Bemmen«. Damit versetze ich sie ein wenig in Ärger, denn Minna ist schon böse mit den Leipzigern, weil sie nicht Berlinisch reden und weil sie alles falsch aussprechen. Neulich hat ihr doch ein Schutzmann wahrhaftig gesagt, sie solle nicht in die weiche, sondern in die harte P-Bahn einsteigen. Die Leute hier sind wirklich zu albern. Ein bißchen Anstellen ist immer schön, aber was zuviel ist, ist zuviel!

Während Minna so nach ihrer Art vor sich hinbrummt und mir statt Bemmen echt berlinische Stullen schmiert, sieht und hört uns die neue Leipziger Perle neugierig zu. Sie ist noch sehr jung, aber stattlich gebaut und hört auf den Namen Albine. Ihr Haar ist etwas rötlich und ihre Haut sehr weiß. Mir gefällt Albine, einmal aus allgemeinen, noch nicht genau definierten Gründen, dann aber auch, weil sie sehr höflich zu mir ist und mich mit »Sie« und »Junger Herr« anspricht.

Ich wende mich an sie. »Wissen Sie eigentlich, Albine, was für eine Schülermütze die Carolaner tragen?«

»Aber ja doch, junger Herr! Weinrot mit silbernen Streifen. Das ist die schickste Mütze von Leipzig!«

Ich habe es natürlich längst gewußt, aber es ist immer gut, ein bevorstehendes Glück auch, aus anderm Munde bestätigt zu hören. In Berlin hat es keine bunten Schülermützen gegeben.

Minna sagt empört: »Was das nun wieder für ein Quatsch ist: bunte Schülermützen! Bloß damit sich alle Schulen gut voneinander kennen und sich schön verkloppen können!«

»Sekundaner kloppen sich nicht mehr, Minna!« sage ich hoheitsvoll, wickle unter ihren argwöhnischen Blicken (Wo willst du denn schon so früh hin, Hans?!) die Stullen in Butterbrotpapier, rufe: »Ich bin nicht zum Frühstück hier. Ich radele zu Onkel Achim!« und verschwinde rasch, ehe Minna Widerspruch erheben kann, aus der Küche.

Die aus Vaters Zimmer bereits organisierte Karte studiere ich genau. Jawohl, ich brauche nur die Kronprinzenstraße hinunterzufahren, dann komme ich in einen Wald oder doch Park, und nun, fast immer der Pleiße folgend, fahre ich durchs Grüne – wenigstens auf der Karte grün, an den Bäumen gibt's noch keines! – bis ziemlich vor des Onkels Haus.

Es ist recht frisch draußen, trotzdem die Sonne scheint. Die Straßen sind noch leer, um diese Morgenstunde wirken sie weiter und aufgeräumter als am Tage. Es gibt eigentlich nur Zeitungs- und Semmeljungen sowie Milchmädchen auf ihnen. Und dann gibt es jetzt mich, der stolz auf einem Rade fährt! Ich fahre ganz behaglich, ich eile nicht, es ist grade erst sechs Uhr. Schließlich sehe ich sogar ein, daß ich dem Onkel kaum vor sieben meinen Antrittsbesuch machen kann.

Bald bin ich im Walde – es ist wirklich eher Wald als Park – und nun fahre ich auf einem schönen, hellen Radfahrerweg an der Pleiße entlang. Es gibt da viele Häuschen, an denen umgestürzte Boote liegen, noch heute werde ich mit Ede hierherkommen und Rudern lernen. Leipzig gefällt mir erst einmal natürlich viel besser als Berlin. Als ich zu einem Lokal komme, das »Der Wassergott« heißt, lehne ich mein Rad gegen eine Bank, gehe auf und ab, um ein bißchen wärmer zu werden, und esse meine Brote. Dann fahre ich wieder weiter, aber ich muß noch ein paarmal unterwegs Station machen, sonst komme ich zu früh zum Onkel.

Es ist ein paar Minuten nach sieben Uhr, als ich an der Tür des Vorgärtchens klingele. Onkel Achim sieht höchstpersönlich aus einem Fenster heraus. »Was –? Du, Hans –?« fragt er ziemlich erstaunt. »Ist was Besonderes los?«

»Gar nichts!« rief ich, nun doch etwas verlegen, zurück. »Ich wollte euch nur mal besuchen ... Ich habe nämlich ein neues Rad ...«

Aber den Onkel scheint das Rad nicht sehr zu interessieren. »Na, denn komm rein, mein Sohn!« sagt er, in sein Schicksal ergeben. »Viel Zeit habe ich aber nicht mehr, ich muß um halb neun in der Stadt sein!«

Ich gehe also hinein und begrüße die Tante und den Onkel. Ich werde aufgefordert, am Frühstückstisch Platz zu nehmen. Aber ich kann hier nicht sitzen. Ich kann unmöglich in diesem Zimmer sitzen. Denn alle Wände sind mit Reiseerinnerungen behängt. Der Onkel ist weit in der Welt herumgekommen, er hatte eine Plantage in Brasilien, eine Farm in Deutsch-Ostafrika. Auf bunten Wandteppichen hängt ein halbes Völkerkundemuseum an der Wand.

Umsonst werde ich mehrfach aufgefordert, mit zu frühstücken. Ich habe keine Ruhe dafür. Schließlich sagt der Onkel lachend: »Nun, Hans, wenn du nicht frühstücken willst, so rauch wenigstens eine Zigarette. Du rauchst doch natürlich?«

»Natürlich!« lüge ich und nehme eine Zigarette aus dem dargereichten Etui. In Wahrheit habe ich noch nie geraucht, ich bin noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen, daß ich rauchen könnte. Und mit einer plötzlichen Gedankenverbindung, um mein reifes Alter zu beweisen, sage ich: »Ich habe gestern übrigens meine Aufnahmeprüfung zur Sekunda bestanden. Darum hat Vater mir das neue Rad geschenkt.«

»Soso ...« sagt der Onkel ziemlich gleichgültig. »Das ist ja recht erfreulich. Aber jetzt muß ich los. Sage deiner Tante Adieu, Hans, und bringe mich bis zum Bahnhof.«

Also muß ich dieses Zimmer schon wieder verlassen, aber selbst ich finde, daß ich recht deutlich dazu aufgefordert bin. (Erst später erfuhr ich, daß Onkel und Tante Besuche verabscheuten, besonders aber Verwandtenbesuche! Sie blieben am liebsten »für sich!«) Aber daß ich wieder auf die Straße komme, hat auf der andern Seite den Vorteil, daß ich mich unbemerkt der Zigarette entledigen kann. Es ist mir doch ziemlich komisch, der Magen macht fahrstuhlartige Bewegungen nach oben, und im Kopf ziehen Schleier. Kaum habe ich den Onkel im Bahnhof verschwinden sehen, so muß ich in ein Gebüsch und gebe meine Bemmen wieder von mir. »Nie wieder!« denke ich. »Dies Rauchen ist ja einfach ekelhaft!« (Noch ahne ich nicht, als ich meinen Magen so gründlich entleere, daß mir diese Zigarette das Leben gerettet hat!)

Dann fahre ich recht erleichtert, mit freierem Kopfe, wieder dem häuslichen Herde zu. Die Übelkeit ist geschwunden, schon beginne ich, mich auf mein Frühstück zu freuen. Diesmal fahre ich nicht durch das Gehölz, sondern durch manchmal recht langweilige Vorstadtstraßen, mit rüttelndem Kopfsteinpflaster. Schließlich tauchen weit gestreckte Baulichkeiten zu meiner Rechten auf, aus einem Schild sehe ich, daß dies der Städtische Schlachthof ist.

Die Straßen sind hier fast leer, es sind glatte Asphaltstraßen. Unwillkürlich beginne ich rascher und rascher zu treten, ich fliege nur so dahin! Der Rausch der Schnelligkeit, die Freude über das schöne flinke Rad bezaubern mich immer mehr, in kurzem Bogen, ganz schräg liegend, sause ich um die Ecke und sehe direkt vor mir einen Fleischerwagen, dessen beide Braune auf mich zu galoppieren!

Ob ich noch versucht habe zu bremsen, weiß ich nicht mehr. Ich weiß überhaupt lange gar nichts mehr. Ich sehe nur noch zwei braune Pferdebrüste, die hoch, hoch sich über mir erheben, und lange Pferdebeine, mit blinkenden Hufeisen, und die Beine werden auf mich zu immer länger, immer länger ...

Wie gesagt, aus Eigenem kann ich über meine nächste Ferienzeit nur wenig berichten. Es geschah, was immer geschieht: überraschend schnell sammelte sich viel Volks, das umherstand. Ein Schutzmann teilte die Massen, beugte sich zu mir und versuchte zu erkunden, wer ich sei. Doch soll ich ihm, nach Namen und Anschrift befragt, die klare Antwort »Drei Jahre« gegeben haben, eine Auskunft, die auch mit meinem Alter in sichtlichem Widerspruch stand. Aber es zeigte sich wieder, wie vorteilhaft es ist, einen sehr ordentlichen Vater zu haben: auf dem Leipziger Stadtplan in meiner Tasche standen Name und Adresse. Von einer mitleidigen Seele wurde eine Matratze gespendet und ich erst einmal aus der Morgenkälte in einen Laden getragen, dessen Besitzer nicht ganz so mitleidig war, sondern heftig protestierte, weil ich ihm durch übermäßiges Bluten nicht nur den Laden beschmutze, sondern auch die Kundschaft verjage ... Denn ich blutete wirklich sehr. Ein Huf hatte mich direkt im Munde getroffen, die Lippe war zerrissen, die Zähne fehlten zum Teil, zum Teil standen sie wie Kraut und Rüben, und was da sonst noch los war, mußte sich erst später zeigen ...

(Später zeigte sich, daß ich beim Durcheinander meines Sturzes auch einen Teil der Deichsel, wenn auch nur einen minimalen, gekostet hatte. Sie trennte sich nur sehr allmählich und unter Schmerzen von mir.)

Ein Schutzmann hielt vor dem Laden Wacht, ein zweiter Schutzmann eilte zu meinen Eltern, um sie auf den Schreck in der Morgenstunde vorzubereiten. Unterdes kam ein Krankenwagen und lud mich ein. Bruder Ede erlebte die Ankunft dieses Wagens vor der Eltern Haus und eilte aufgeregt zu ihnen: »Jetzt bringen sie den Hans! Vater, Mutter, jetzt bringen sie ihn! Ein bißchen lebt er noch!«

Unter Leitung eines Arztes wurde ich langsam meiner Hüllen entledigt. Besonderen Eindruck hat mir – aber erst sehr viel später! – gemacht, daß mir die Wäsche einfach vom Leibe geschnitten wurde, da ich bei jeder Bewegung ächzte und stöhnte. Eine Gehirnerschütterung war zweifellos da, wie schwer, würde sich später zeigen. Die Verletzungen am Munde waren »nicht schlimm, sahen nur schlimm aus«. Ein Fuß war gebrochen.

Aber als nun die Wäsche von meinem Leib gestreift war, sah der Arzt meine Eltern nur mit einem langen, bedeutungsvollen Blick an: genau über den Leib lief wie ein Feuermal eine Radspur. Sie erklärte nun auch mein ständiges Blutbrechen. Ich hatte nicht nur Blut aus der Mundwunde verschluckt, auch mein Magen blutete, entweder war er geplatzt oder gerissen – auch das würde sich später weisen.

Wieder wurde ein Krankenwagen bestellt und ich in eine Klinik gefahren ...

Ich habe dort lange, lange gelegen, über ein Vierteljahr. Aber ich will keine Krankengeschichte erzählen, fast jeder weiß derartiges aus Eigenem zu berichten. Ich erwähne es darum auch nur kurz, daß ich lange Zeit hungern und dürsten mußte; ich war zu schwach zum Operieren, der Magen mußte stillgelegt werden, also bekam ich nichts zu essen und zu trinken. Statt dessen qualvolle Salzwassereinspritzungen. Und als der Magen notdürftig wieder heil war, bekam ich durch Unachtsamkeit etwas Falsches zu essen, und wieder fing das Bluten und Hungern und Dürsten an!

Als ich nach Wochen leidlich repariert wieder nach Haus kam, war ich nur noch ein bleiches Gespenst. Auf einem Fuß hinkte ich – noch viele Monate lang – und im Munde trug ich ein künstliches Gestänge, an dem jeder mir noch verbliebene Zahn mit Draht angehängt war. Jeden Tag erschien der Zahnarzt, ein echter Leipziger mit Namen Tritsche, und zog und drückte und schraubte, um »Kraut und Rüben« wieder in Richtung zu bringen. Nie war das angenehm, oft fürchterlich. Übrigens ist dies der Zahnarzt, der mir als Zahnpflegemittel ein Präparat namens »Bäbbe Goh!« empfahl, von dem wir noch nie gehört hatten. Erst als mein Vater laut und deutlich in der Drogerie »Bäbbe Goh« verlangte, erhielt er Pebecco!

Aber, wie schon früher gesagt, ich war damals fast Fatalist, ich nahm auch dies hin, wie ich anderes hingenommen hatte. Es war nun einmal so, daß ich ausgesprochenes Pech im Leben hatte, damit mußte ich mich eben abfinden. Am Anfang Frühling, Ferien, Untersekunda, neues Rad. Am Ende: Winter, Nacharbeiten in der Schule, doch nur Obertertia, das zertrümmerte Rad war verschwunden, und es gab keinerlei Aussicht auf ein neues. Ja, alle Anstrengungen bei Herrn Dr. Dackelmann waren nun doch umsonst gewesen. Umsonst hatte ich den Verdacht eines Holzkopfes durch übermäßiges Büffeln zu zerstreuen versucht. Umsonst war ich an vielen Winternachmittagen hinter Herrn Muthesius durch das dunkelnde Schulzimmer gestampft. Umsonst hatte ich die Prüfung »glänzend« bestanden. Ich kam nicht in die Untersekunda, ich wurde in die Obertertia gesetzt. Ich hatte kein halbes Jahr übersprungen, ich hatte eines verloren!

Alles wurde dadurch anders. Ich bekam andere Freunde, andere Lehrer. Mein lange hinkendes Bein schloß mich nicht nur von aller körperlichen Betätigung, sondern auch von der Tanzstunde aus. So habe ich auch nie Tanzen gelernt. Ich denke manchmal, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ich hätte tanzen können. So geriet ich immer mehr in eine Isolierung, ich hatte so vieles nicht mit den anderen gemeinsam.

Und auf der andern Seite, wenn ich trübe werden wollte über mein »Pech«, sagte ich mir wieder: Was für einen Dusel hast du gehabt! Hättest du vom Frühstück beim Onkel Achim mitgegessen, hättest du keine Zigarette geraucht, du wärest wohl draufgegangen ...

Viel Pech freilich, aber auch Glück im Pech, sehr viel Glück. Und heute möchte ich eigentlich sagen: im ganzen genommen hat es sich bei mir – wie bei den meisten Menschen – ausgeglichen, Pech und Glück halten sich heute die Waage. Nein, das ist sehr ungerecht: die Schale des Glücks ist viel stärker gefüllt, tief hängt sie herab. Pech ist heute nur noch die Würze des Glücks!


 << zurück weiter >>