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Reisevorbereitungen

Kaum war das schöne Weihnachtsfest vorüber, so fingen die Eltern an, Pläne für die Sommerreise zu machen. Die Sommerreise war für uns alle etwas Selbstverständliches, für die Eltern, weil sie den Hauptteil ihres Lebens in kleinen, fast ländlichen Städten verbracht hatten und nie rechte Großstädter wurden. Immer sehnten sie sich nach mehr Licht, weniger Lärm, etwas Grünem. Wir Kinder aber wollten wenigstens einmal im Jahre »raus«; grade weil wir echte Großstadtkinder waren, hatte eine Sommerfrische auf dem Lande alle Reize einer Entdeckungsfahrt ins Ungewisse für uns.

Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, daß die Eltern eine Sommerreise ohne uns machten, sie fuhren nach Italien. Wir Kinder aber hatten zu Haus zu bleiben, und zwar unter der Obhut einer Nenntante, der Frau Kammergerichtsrat Tieto, genannt Tatie. Märchenhafte Belohnungen waren uns versprochen worden, wenn wir tadellos artig seien: zweimal in jeder Woche sollten wir in den Zoo geführt werden, jeden Sonntag in eine Konditorei, um einen Windbeutel mit Schlagsahne zu essen. Das Taschengeld aber wurde für diese Ferienzeit verdoppelt.

Die Eltern fuhren ab, und mit dieser Stunde brach das Chaos über unser Heim herein. Tatie, die nie eigene Kinder gehabt hatte, war wohl bisher der Ansicht gewesen, wir seien leidlich wohlerzogene Kinder. Ach, sie hatte uns nur unter der Peitsche unserer Dresseure gekannt! Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, ist diese ganze Zeit mit einer nicht abbrechenden Serie von Prügeleien zwischen meinen Schwestern und uns Brüdern erfüllt gewesen. Prügeleien, denen die Tante hilflos, mit kleinen, erschreckten, hühnerhaft glucksenden Schreien zusah, denen im Höhepunkt des Gefechtes Ausrufe folgten wie: »Ach, ihr seid doch ganz, ganz ahtige Kinder, ich weiß es doch! – Hans, du bist bestimmt ein ahtiges Kind, du verstellst dich bloß! –

Fiete, Itzenplitz, ihr seid doch Mädchen, Mädchen prügeln sich doch nicht! (Die Tatsachen sprachen augenblicklich stark gegen diesen Satz.) Prügeln ist doch igittigitt! – Kinder, Kinder, ihr wollt doch nicht, daß ich dies den Eltern schreibe, ihr würdet sie ja soooo betrüben!«

Aber wir vertrauten fest darauf, daß Tatie viel zu gutmütig war, den Eltern dies zu schreiben. Wir riefen ihr zu: »Pfui, Tatie, du wirst doch nicht petzen! Petzen ist sooo igittigitt!« und prügelten uns ruhig weiter. Irgendwelche grundlegenden Meinungsverschiedenheiten lagen dabei nicht mit den Schwestern vor. Es war die reine Freude an Krach und Klamauk – in Räumen, in denen wir Vaters wegen immer hatten leise sein müssen. Die Schwestern waren die Älteren und Stärkeren, aber ihre Kleidung behinderte sie. Nach der damaligen Mode trugen sie fast bis auf die Schuhe reichende Röcke und Korsetts, die wir Jungens die Stahlpanzer nannten.

Auch kämpften sie weiblich, das heißt, sie waren starken Schlägen abhold, dafür waren sie listig. Meistens entschieden sie das Gefecht dadurch für sich, daß sie beide – ohne Rücksicht auf den andern – über einen von uns herfielen, ihn zu Boden warfen und mit großer Eile einen Turm aus Stühlen und Tischchen über ihn bauten. Sofort kam dann der andere dran. Ehe wir uns noch aus dem schwankenden, über uns drohenden Stuhlgebäude befreit hatten, waren sie in ihr Zimmer geflüchtet und hatten hinter sich abgeschlossen. (Darauf kam es für sie an, so viel Zeit zu gewinnen, daß sie die Tür hinter sich abschließen konnten.)

Nun blieb uns Jungen nur das immer fruchtlose Poltern gegen die Tür, in Fällen besonderen Rachedurstes auch das Spritzen von Wasser durch das Schlüsselloch. Auch erinnere ich mich, daß Ede und ich einmal in der Speisekammer einen Schwefelfaden fanden und ihn den Schwestern brennend durchs Schlüsselloch hängten, um sie auszuräuchern. Aber grade bei dieser Gelegenheit erlebten wir einen folgenschweren Ausfall des belagerten Feindes und wurden schwer aufs Haupt geschlagen!

Zum Unheil für Tatie war auch unsere alte Minna in die Ferien gegangen, sie hätte nie eine solche Liederlichkeit in der elterlichen Wohnung geduldet. Das andere Mädchen, Christa Bartel, war ganz neu bei uns, sie kam vom Lande und war erst siebzehn Jahre alt. Sie war nicht der geringste Beistand für Tatie. Im Gegenteil, wir überzeugten sie rasch davon, daß unsere Art zu leben sehr viel amüsanter sei als das Reinmachen von Zimmern, und so hatten wir in ihr bald einen Bundesgenossen. In ihrem einfachen, durch die Großstadt arg verwirrten Kopf stellte es sich so dar, daß wir als Kinder reicher Leute – denn sie hielt die Eltern natürlich für ungeheuer reich – sehr wohl das Recht hatten, uns so zu benehmen, wie wir uns nun eben benahmen, und daß die Tante ganz unberechtigt versuchte, uns in unserm Recht zu beeinträchtigen.

Es war ja wirklich sehr viel kurzweiliger, das olle Messing in der Küche nicht zu putzen, sondern einen Besorgungsweg der Tante dazu zu verwenden, aus dem geheiligten Plüschsalon mit Benutzung sämtlicher Betten und Teppiche des Hauses den Serail von Harun al Raschid herzustellen. Sie und die Schwestern waren verschleierte Haremsdamen – Tüllgardinen gaben ausgezeichnete Schleier ab! –, Ede war der Wesir und ich natürlich Harun. Mit meinen Frauen wußte ich freilich nur wenig anzufangen. Ich war stets geneigt, sie beim kleinsten Versehen köpfen zu lassen, was die Mädchen, da dies Köpfen mit Vaters langem Papiermesser aus Bambus ausgeführt wurde, sich nicht recht willig gefallen ließen. Später gerieten wir dann aufs Säcken: ungehorsame Frauen wurden in einen Teppich gerollt, mit Bindfaden umschnürt und ins Meer versenkt, das heißt in die dunkle Besenkammer gerollt.

Einer der Meisterstreiche von Ede und mir war es, alle drei Mädchen sehr dauerhaft einzurollen. Erst kam die kräftige Christa daran, bei der uns noch Itzenplitz und Fiete halfen, dann Itzenplitz mit Hilfe von Fiete, schließlich Fiete, die wir Jungens gut allein bewältigten. Als wir uns überzeugt hatten, daß die »Weiber« sicher in ihren Teppichen steckten, stimmten wir einen Hohngesang über ihren Häuptern an, schlugen, ihr Flehen und ihre Drohungen mißachtend, die Tür zur Besenkammer zu und begaben uns auf die Straße, nach neuen Abenteuern dürstend.

Unterdes kam die gute Tatie an die Tür der Wohnung. Wie immer hatte sie ihre Schlüssel vergessen. Sie klingelte, sie klingelte viele Male, mit löblicher Geduld, aber ihr Klingeln blieb vergeblich. Die Wohnung, in der sie fünf blühende Menschen hinterlassen hatte, war grabesstill. Tatie war ein ängstliches Gemüt, sie dachte sofort an Gas, Einbrecher, Mörder ...

Sie flog am ganzen Leibe, als sie den Portier benachrichtigte. Der Portier hatte nur uns Jungens weggehen sehen, neues gemeinschaftliches Klingeln blieb ebenso erfolglos wie Taties Klingelsolo. So wurde ein Schlosser geholt und die Tür geöffnet.

»Warraftig!« rief der Portier. »Hier haben Einbrecher gehaust!«

Und so sah die Wohnung auch wirklich aus. Verstreute Bettstücke, umgestürzte Stühle, heruntergerissene Gardinen, verschobene Tischdecken, umgestürzte Vasen waren unheilvolle Anzeichen. Die Tante lächelte wehmütig. Ähnliche Spuren hatte sie in letzter Zeit nicht selten gesehen, sie mußten nicht unbedingt auf Einbrecher weisen.

Aber die Stille in der Wohnung war beängstigend. Der Schlosser bewaffnete sich mit seinem Hammer, der Portier mit dem schönen Ebenholzstock des Vaters, die Tante aber hatte ein heruntergefallenes Aquarellbild aufgehoben – Motiv: Pfeiler der altrömischen Wasserleitung in der Campagna – und trug es unter dem Arm.

So durchwanderten sie die Wohnung, böser Ahnungen voll. Erst am äußersten Ende des langen Hinterflurs, bei der Besenkammer, hörten sie erschöpftes Geschrei. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, und die gesackten Haremsdamen waren entdeckt.

Sie hatten in dem fensterlosen, glutheißen Raum, in dicke Teppiche verpackt, einige recht unangenehme Stunden verbracht. Die Retter glaubten zuerst, dies sei ein Werk der entmenschten Einbrecher. Die Empörung war allgemein, als sie erfuhren, zwei schlichte, wohlerzogene Knaben hatten dies vollbracht.

Sofort erbot sich der Schlosser, hier zu bleiben und der Tante bei einer tüchtigen Abreibung zu helfen. Zu ihrem Unheil meinte die Tante, mit Rücksicht auf den guten Ruf meiner Eltern, dies Angebot ablehnen zu müssen. Sie hatte sich vorgenommen, bei unserer Rückkehr streng, ja, sogar sehr streng mit uns zu verfahren, sie wäre diesmal auch vor einer Backpfeife nicht zurückgeschreckt. Doch rechnete sie nicht mit dem Rachedurst der Mädchen!

Kaum waren wir in der Wohnung angekommen, kaum hatte Tatie zu einer Strafpredigt angesetzt, so stürzten sich die drei Mädchen über uns. Jawohl, auch die ländliche Christa beteiligte sich an der Ausprügelung der Söhne ihres Brotherrn! Die Tante war nur ein welkes Blatt auf dem Strome der Zeit, vergeblich versuchte sie, mit ihrer Stimme das Kampfgetöse zu übertönen, umsonst zerrte sie mit ihren schwachen, zitternden Händen hier an einem Ärmel, dort an einem im Gewühl auftauchenden Fuß – sie mußte weichen, schon war sie selbst bedroht, der Strudel sog sie an sich.

Bleich flüchtete sie hinter einen Tisch und sah dem Rasen der entfesselten Elemente zu. Nachdem wir genug verdroschen waren, schleppten uns die Mädchen ins Badezimmer und schlossen uns ein. Sie weigerten sich auch zur Abendessenszeit, uns freizulassen. Wir sollten nur hungern und in der Nacht ohne Bett bleiben, sie gaben den Schlüssel nicht her. Erst nach Mitternacht gelang es der Tante, ihn unter dem Kopfkissen von Itzenplitz fortzustehlen und uns zu befreien. Ede und ich hatten uns die Zeit unterdes mit Baden und Seeschlachten vertrieben – und genauso sah das Badezimmer auch aus!

Arme, nun schon längst verstorbene Tante! Ich fürchte, wir haben dir jene Sommerwochen mit all der unbedachten Grausamkeit von Kindern zu einem wahren Alpdruck gemacht! Du hattest damals grade deinen Mann verloren und fühltest dich sicher sehr einsam und verlassen in der Welt. Du brauchtest ein wenig Sympathie – und du wärest unter die Räuber gefallen! Ich sehe dich noch vor mir in deinem schwarzen Kleid, eine kleine, dürftige Gestalt, mit einem blassen Gesicht, in dem nur die komisch aufgebogene Nasenspitze immer gerötet war. Wieviel Tränen haben wir dir wohl erpreßt, wie oft haben wir dich mit dieser Nase geneckt, Tatie! »Woher ist deine Nase so rot, Tatie? – Du trinkst doch nicht heimlich, Tatie? – Es ist eine Rotweinnase, Tatie! – Nein, es ist eine Schnapsnase! – Nein, es ist eine Karfunkelnase! – Tatie, erlaub mal, daß wir deine Nase mit Mehl einstäuben, wir wollen nur mal sehen, ob sie auch da durchleuchtet!« Schreckliche Kinder – und besonders ich schrecklich, der von meiner geflickten Hose her es hätte besser wissen sollen!

Aber, Tatie, ich muß dich loben: trotz all der Qualen und Ängste, die du durch uns ausstandest, hast du uns nicht bei den Eltern verpetzt. Du hast sie nicht zu Hilfe gerufen, du wolltest es durchhalten. Und wenn die Eltern doch überraschend und sehr viel früher als erwartet aus Italien zurückkamen, herbeigerufen von Unter- und Überbewohnern, die den Tumult nicht mehr ertragen konnten, du hast uns in Schutz genommen und alles geschehene Unheil nur deinem völligen Mangel an Fähigkeit, mit Kindern umzugehen, zugeschrieben. Du hast es erreicht, daß keinerlei peinliche Fragen an uns gestellt, kein strenges Strafgericht abgehalten wurde. Tiefes Schweigen nur herrschte über jenen Teil der Sommerferien. Und die aus Italien mitgebrachten Geschenke der Eltern für uns sahen wir wohl, aber kaum gesehen, verschwanden sie auch schon wieder. Viel, viel später erst, bei Gelegenheit überwältigender Leistungen fanden diese Geschenke ihren Weg zu uns!

Aber dies waren, wie schon gesagt, auch die einzigen Sommerferien, die wir auf diese wilde und freie, aber doch enttäuschende Art verbrachten. Die Eltern hatten ihre Erfahrungen gemacht, sie verzichteten auf Italienreisen, sie zogen es vor, in der Nähe zu bleiben und uns im Auge zu behalten. Wir machten unsere Sommerreisen wieder gemeinsam.

Die Wahl des Ortes war stets recht schwierig, denn er mußte billig sein, nicht zu weit von Berlin entfernt liegen, und er mußte dem Ideal entsprechen, das meine Eltern von ländlicher Stille und Schönheit hatten. So haben die Eltern Sommerfrischen entdeckt, in die damals noch kaum je ein Berliner gekommen war. Wir sind in Neu-Globsow gewesen, als es noch ein von seinen Glasarbeitern verlassenes, verfallenes Dorf war, und wir haben in Graal manchen Sommer die Ferien verbracht, als dort noch alles still und ländlich war, ohne Strandkörbe und ohne Kurtaxe. In Müritz gab es schon Berliner, Müritz war ein aufblühendes Seebad, aber in Graal herrschte noch der Friede.

War der Ort der künftigen Sommerfrische bestimmt, so war das erste, daß mein Vater sich Karten von ihm kaufte, Karten der Landesaufnahme, sogenannte Meßtischblätter. An manchem Winterabend, während der Schnee gegen die Fensterscheiben flog, saßen wir um Vater und folgten seinem Finger, der uns schon jetzt unsere Sommerwege wies. Das Bedürfnis nach Ordnung bei meinem Vater war so groß, daß er sich gescheut hätte, an einen Ort zu fahren, von dem er nicht schon vorher, ehe er ihn noch gesehen hatte, jeden Weg, jede Brücke, jeden Waldfleck kannte.

Unter seiner Leitung lernten wir unmerklich Karten lesen, wir kannten bald jedes Zeichen auf diesen Blättern. Wir wußten den Weg von Gelbensande nach Graal mit jeder Abzweigung, jeder Schonung. Wir konnten genau sagen, wann der Wald aufhörte und das langgestreckte Dorf sichtbar wurde. Und so gut wir das alles im voraus wußten, so überrascht waren wir doch immer wieder, wenn das auf dem schwarz-weißen Blatt Gesehene sich in die Wirklichkeit umsetzte. Die kleinen, mickrigen Waldzeichen auf der Karte wurden nun zu einem überwältigend hohen Buchendom, der Weg, der so klar und glatt vor uns gelegen hatte, mit einem Blick zu übersehen, wand sich mm in vielen Krümmungen, daß man keine hundert Schritte voraussehen konnte, durch den Wald. Er war auch nicht glatt, tief war er in den Sand eingeschnitten, und hob sich über Hügelchen, von denen die Karte nichts gewußt hatte.

Neben diesen Meßtischblättern kaufte mein Vater aber in einem andern Geschäft der Friedrichstadt, ich glaube, in der Mittelstraße, Ansichtspostkarten unserer künftigen Sommerfrische. Ich bin nie selbst in diesem Geschäft gewesen, habe es auch später nie entdecken können und bezweifele, daß es noch existiert. Aber die Schilderungen, die uns Vater von diesem Geschäft entwarf, grenzten ans Wunderbare.

Man sollte in ihm nicht nur alle Ansichtskarten aller deutschen Orte kaufen können, sondern fast aller Reiseorte der ganzen Welt. Wenn Vater von der Bedienung »Graal« verlangte, beschäftigte sich sein einer Nachbar mit Marseille. Die Nachbarin auf der andern Seite aber wühlte in Karten von Cannes und behauptete hartnäckig, es müsse noch eine besonders hübsche Karte geben, mit drei Palmen hinten und zwei Palmen vorne! Und die Karte wurde gefunden! Niemand hätte sich mehr als Vater freuen können, daß die Karte gefunden wurde. Er war nun einmal sehr für Ordnung.

Und für Sparsamkeit. Darum kaufte er ja auch unsern Sommerbedarf an Ansichtskarten nicht in Graal, sondern in jenem Geschäft der Friedrichstadt, wo man das Dutzend für fünfzig Pfennige bekam, während es am Ort eine Mark kostete. Ansichtspostkarten mußten geschrieben werden, an jeden erdenklichen Bekannten und Verwandten. Sie waren ein Beweis, daß man in einer Sommerfrische gewesen war, und im übrigen schickte sich dieser Gruß aus Ferientagen. Aber wenn man auch knappes Geld für viel Feriengrüße ausgeben mußte, so wollte man sie doch so billig wie nur möglich haben. Man rechnete eben mit jedem Pfennig, und man war glücklich über jede neue Möglichkeit, wieder ein paar Pfennige zu sparen. Darum ging mein Vater in die Postkartenzentrale.

Wer es nicht selbst miterlebt hat, kann es sich gar nicht vorstellen, mit welcher Intensität die Generation um die Jahrhundertwende sparte. Das war nicht etwa Geiz, sondern es war eine tiefe Achtung vor dem Geld. Geld war Arbeit, oft sehr schwere Arbeit, oft sehr schlecht bezahlte Arbeit, und es war darum sündlich und verächtlich, mit Geld schlecht umzugehen.

Auch Vater war gar nicht geizig, ich habe es später oft erfahren, wie großzügig er war, wenn eines seiner Kinder Geld brauchte, wie glücklich er dann war, seine sauer ersparten Hunderte oder gar Tausende einem von uns zu schenken. Aber derselbe Vater konnte sehr, sehr ärgerlich werden, wenn er die Seife im Badezimmer »schwimmend« fand, so daß sie aufweichte und sich zu rasch verbrauchte. Beim Händewaschen hatte er einen besonderen Trick, die Seife fast trocken zwischen den Händen nur »durchwutschen« zu lassen, das sparte! Der Lack der selbst eingemachten Saftflaschen mußte immer in ein dazu bereit stehendes Töpfchen abgeklopft werden, im nächsten Jahre wurde er dann neu warm gemacht und tat seine Dienste wie zuvor. Nie zündete Vater, solange Glut in den Öfen war oder eine Lampe brannte, ein Streichholz an: er schnitt sich aus alten Postkarten »Fidibusse«, schmale, lange Papierkeile, die er über der Glut entzündete und mit denen er seine Pfeife ansteckte. An jeder Drucksache, an jedem Brief schnitt er das ungebrauchte weiße Papier ab und brauchte diese Zettelchen zu Notizen.

So war er voll hundert Ideen, die Ausgaben einzuschränken, und ich muß gestehen, daß keine einzige dieser Sparmaßnahmen die Behaglichkeit des Hauses verminderte oder den Gedanken an Mangel aufkommen ließ (natürlich abgesehen von meinen geflickten Hosen). Sparsamkeit war in unserm Hause so selbstverständlich, daß wir – selbst ich geborener Verschwender – unsere Wünsche von selbst beschränkten. Mehr als drei der hauchdünnen Fleischscheiben bei Tisch zu fordern, wäre uns Kindern als Frevel erschienen.

Später haben wir dann – zu unserm Erstaunen – gehört, daß unser Vater ein recht wohlhabender, fast schon reicher Mann war, durch seine eiserne Sparsamkeit, die ihm half, einige Erbschaften zusammenzuhalten und zu vergrößern. Aber noch einmal muß ich sagen, wir Kinder haben nie etwas entbehren müssen, was andere Kinder hatten. War Vater vielleicht in manchen Dingen zu sparsam, betraf es bestimmt die eigene Person.

Eine meiner kläglichsten Erinnerungen aber ist, um vorzugreifen, jener Tag, als Vater nach Ablauf der Inflation von seiner Bank nach Hause kam. Man hatte ihn aufgefordert, das »Konto wegen Geringfügigkeit« aufzulösen. In einem Zigarrenkistchen trug er die kümmerlichen Reste seiner Ersparnisse aus fast fünfzig Lebensjahren nach Haus. Er saß lange darüber, blätterte in den Aktienbögen, murmelte: »Papier, Papier, nur noch Papier!«

Aber auch da verlor er den Mut nicht. Er war pensioniert, alt, krank, aber sofort begann er wieder, einen Teil seiner Pension zurückzulegen. Er dachte an seine so sehr viel jüngere Frau und an seine Kinder. Er sparte von neuem, jetzt mußte er sparen. Und als Vater dann vor ein paar Jahren starb, konnte er sich sagen: »Meine Frau braucht nichts von dem zu entbehren, was sie gewohnt ist. Sie kann auch gerne etwas verschenken, sie tut es doch nun einmal mit Vorliebe ...«

Wie mein Vater das eigentliche Ziel unserer Sommerreise, das Haus, in dem wir wohnen sollten, ermittelte, weiß ich nicht mehr, jedenfalls hat er es nie vor unserer Ankunft gesehen, und es gab daher manchmal die seltsamsten Reinfälle, von denen noch berichtet werden soll. Jedenfalls waren Hotels und Pensionen nicht nur der Kosten wegen, sondern auch wegen der Galle meines Vaters ausgeschlossen. Auch in den Ferien mußte Mutter selbst kochen, die gleiche reizlose Diät, die wir alle mitaßen, an die wir völlig gewöhnt waren (noch heute habe ich eine tiefe Abneigung gegen alles starke Gewürz).

So landeten wir meist in einem Büdner- oder Bauernhaus, was für uns Kinder natürlich von Vorteil war. Denn da gab es Vieh, Reiten auf Pferden, Leiterwagenfahrten zur Roggenernte und ähnliche Genüsse mehr. Für Mutter bedeutete das natürlich auch in den Ferien reichliche Arbeit, zumal uns immer nur eines von unsern beiden Hausmädchen begleitete. Im Grunde war es nur der aufs Land versetzte städtische Haushalt, etwas erschwert durch die primitiven ländlichen Einkaufsgelegenheiten und das Kochen auf demselben Herd mit den Bauern. Doch hatte meine Mutter eine sehr selbstverständliche, unauffällige Art, all ihren vielen Pflichten gerecht zu werden. Uns Kindern ist es damals nie aufgefallen, daß Mutter eigentlich das ganze Jahr hindurch nie eine freie Minute hatte, und dabei war sie eigentlich immer fröhlicher Laune.

Solch ein Umzug für fünf bis sechs Wochen bedingte natürlich eine unendliche Packerei. Man fuhr nicht wie heute mit ein bißchen Kleidern, Wäsche und Schuhen, nein, es wurden auch Töpfe, Bestecke und Geschirr eingepackt, Konserven wanderten in Kisten, auch wurden leider die Schulsachen von uns Kindern nie vergessen, denn »eine Stunde Schularbeiten an jedem Ferientage hält den Kopf in Gang«.

Daneben aber spielte sich der alljährlich wiederholte Kampf zwischen Vater und Mutter wegen der Akten ab. Im allgemeinen kümmerte sich Vater überhaupt nicht um die Packerei. Ging sie aber ihrem Ende zu, verkündete Mutter schon ihre Absicht, Hilfe zu holen, die sich auf die Schließkörbe zu setzen hatte, damit sie auch zugingen, so wurde Vater unruhig. Mit Aktenbündeln unter dem Arm strich er herum und versuchte, sie unter Wäsche und Kleidern versteckt in die Koffer zu schmuggeln. Hier preßte er noch einen Band Reichsgerichtsentscheidungen hinein, dort ein begonnenes Manuskript über den Dreierlei Beweis im Strafverfahren.

Meiner Mutter entgingen diese heimlichen Machenschaften natürlich ganz und gar nicht, und nach kurzem stellte sie den Feind. »Vater, als du im vorigen Herbst so krank wurdest, hast du doch selbst gesagt, du wolltest in diesem Sommer einmal ganz ausspannen! Und nun steckst du schon wieder Arbeit in die Koffer!«

»Ich will ja gar nicht richtig arbeiten, Louise!« sagte Vater dann etwas verlegen. »Ich nehm mir nur so ein bißchen zum Schmökern mit.«

»Das kenne ich!« sagte Mutter. »Du sagst jetzt, ›ein bißchen schmökern‹, und am dritten Tag schon bist du den ganzen Nachmittag nicht mehr loszueisen. Nein, Vater, tu mir die Liebe, laß dieses eine Mal alle Arbeit zu Hause, sonst wird aus deiner ganzen Erholung nichts!«

Aber so sehr meine Mutter auch bat, in diesem Punkt war der sanfte Vater unnachgiebig, aus diesem Gefecht ging er stets siegreich hervor. Ja, schließlich holte Mutter noch selbst einen Handkoffer vom Boden, der ganz allein mit Vaters Büchern und Schriften gefüllt wurde. Still legte sie obenauf wenigstens noch ein paar Bände von Gustav Freytag zum Vorlesen an Regentagen. Dann faßte Vater Mutter um und sagte: »Sei bloß nicht traurig, Altchen. Ich will diesmal wirklich nur ganz wenig arbeiten.«

»Ich sage ja auch gar nichts mehr«, meinte dann Mutter. »Ich weiß ja, du kannst gar nicht ganz ohne Arbeit leben. Aber laß es diesmal wirklich wenig sein – wir möchten dich doch noch lange, lange behalten.«

Neben dem Packen der Sachen mußten aber auch wir Kinder feriengerecht vorbereitet werden. Meine Mutter, die selbst sehr schlechte, brüchige Zähne hatte, war von einer panischen Angst vor Zahnschmerzen besessen. Kurz vor den Ferien führte sie uns alle vier zu unserm Zahnarzt in die Kleiststraße.

Herr Lenkstake war ein großer schöner Mann mit einem blonden Vollbart und Goldbrille. Er trug immer ein Samtjackett mit Verschnürungen und sah überhaupt nicht wie ein Zahnarzt aus. Ich fürchte auch, er war kein sehr tüchtiger Zahnarzt, denn ich erinnere mich, daß ich einmal, in seinem Vorzimmer sitzend, den fürchterlichen Schmerzensschrei einer Frauenstimme hörte, dem sofort ein ebenso gräßlicher aus Männermunde folgte, unzweifelhaft aus Herrn Lenkstakes Munde.

Dann folgte eine empörte Schimpferei, unterbrochen von kläglichem Weinen. Als dann Mutter und ich in das Behandlungszimmer kamen, erzählte uns Herr Lenkstake, noch zitternd vor Empörung, daß die Patientin eben ihm in die Hand gebissen habe!

»Einfach in die Hand! Und wie –! Sehen Sie bloß, Frau Rat! Sind das Manieren –?! Natürlich hat es ein bißchen weh getan – aber darum einfach zubeißen! Das ist eine Welt und das ist ein Beruf! Junge, mach den Mund weit auf, und wenn dir's auch weh tut, laß dir nicht einfallen mich zu beißen! Dir haue ich sofort eine!«

Seitdem habe ich von tüchtigeren Zahnärzten, als Herr Lenkstake einer war, gehört, daß er an seiner wirklich sehr häßlich aussehenden Wunde allein die Schuld getragen hat, sintemalen er den Zahnspiegel, der der Schutz der Zahnärzte gegen solche Übergriffe oder Überbisse seiner Patienten ist, nicht listig genug zwischen Ober- und Unterkiefer gehalten hat.

Aber nicht nur das Samtjackett deutete darauf hin, daß Herr Lenkstake den Beruf des Zahnarztes nur als Broterwerb betrieb. Sondern die ganze Wohnung war angefüllt mit Ölbildern, sehr bunten Bildern, über die meine Mutter regelmäßig den Kopf schüttelte.

»Sieh dir das an, Junge!« sagte sie dann wohl. »Da hat er doch wirklich eine grüne Kuh gemalt, eine grüne Kuh auf einer braunen Weide! Was das nun wieder soll!«

Ich fand diese Bilder überaus reizvoll und sehr ungewöhnlich, aber viel mehr interessierte es mich, daß alle Bilder in dieser Wohnung in ständiger Bewegung waren. Denn Herrn Lenkstakes Haus stand genau an jener Stelle der Kleiststraße, wo aus der Hochbahn eine Untergrundbahn wird (diese Strecke ist nun seit meinem Ausflug mit Fötsch fertiggeworden). Trat man ans Fenster, so sah man die Züge, mit plötzlich aufglänzendem Lichte, im Tunnelschlund verschwinden oder aus der Schwärze auftauchen, während das Licht ausging und der Zug langsamer zum Bahnhof Nollendorfplatz hinauffuhr. Und jedesmal, wenn ein Zug das Haus passierte, erzitterte es leise, und die Bilder an der Wand fingen an, sachte hin und her zu pendeln. Wegen dieser pendelnden Bilder bin ich meine ganze Berliner Zeit hindurch gerne zum Zahnarzt gegangen. Ich habe auch nicht eine Erinnerung daran, daß mir die Zahnbehandlung je weh getan hätte, die pendelnden Bilder allein halten mein Gedächtnis an Herrn Lenkstake wach.

Waren die Zähne dann in Ordnung, so wurden wir Jungens am letzten Tage vor der Reise zum Haarschneider geschickt, denn Vater mißtraute den ländlichen Haarkünstlern. Bei einem solchen Haarschnitt geschah mir einmal, halb mit, halb gegen meinen Willen, etwas Schreckliches. Ich habe schon früher erzählt, daß ich auf den Wunsch meiner Mutter lange Locken mit Ponnies trug – ich wage sie nicht golden zu nennen, sie werden wohl eher semmelblond gewesen sein. So schön in meiner Mutter Augen diese Locken nun auch gewesen sein mögen, für einen Jungen waren sie eine schreckliche Last – nicht nur wegen des Gespötts der Kameraden, sondern ewig waren sie auch verfitzt und in Unordnung. Abends wurden sie fast eine halbe Stunde lang gekämmt und gebürstet, und das allwöchentliche Waschen mit nachfolgendem Einsalben war eine Qual! Ich hatte Mutter hundertmal gebeten, mich von diesen Locken zu befreien, vergeblich! Sie sahen doch so hübsch aus –!

Aber daran dachte ich wirklich nicht, als ich an jenem Vorferiennachmittag zum Haarschneiden ging. Die Haare würden geschnitten werden wie sonst, das heißt, sie mußten etwa fünf Zentimeter über das Ohrläppchen hinabreichen, grade so weit gekürzt, daß sie den Waschkragen meiner Kieler Matrosenbluse nicht berührten. Die Ponnies aber hatten die obere Hälfte der Stirn zu bedecken.

Aus irgendeinem Grunde – wahrscheinlich hatten alle zu viel zu tun – ging ich an jenem Tage allein, nicht einmal Ede begleitete mich. Bei unserm gewohnten Friseur in der Martin-Luther-Straße war alles voll. Viele andere Jungens warteten dort schon auf ihren Ferienhaarschnitt. Aber ich entdeckte in der Winterfeldstraße einen kleinen, etwas schäbig aussehenden Laden, in dem ich nicht lange würde warten müssen.

Der Meister, ein etwas vermickerter, aber wieselartig flinker Berliner, begrüßte jeden Jungen, der auf dem Sessel Platz nahm, mit dem Satz: »Also hinten kurz und vorne lang, wie jewohnt, wat? Macht zwanzig Pfennje, Jung. Aber allet rein runter, is 'en Jroschen billjer, wat meenste?«

Zu meinem Erstaunen wurde das »Allet rein runter« von sämtlichen Jungen glatt abgelehnt, mir erschien das Angebot eines Preisnachlasses um fünfzig Prozent höchst beachtenswert.

Mich sah der Meister schon beim Warten öfters recht mißgünstig von der Seite an und hieß mich weiter warten, als ich eigentlich schon an der Reihe war: »Nee, Junge, mit deine Puppenlocken, det dauert mir jetzt zu lange! Wart man noch een bißken, bis die richtjen Jungens fertig sind!«

Worauf die andern grinsten, ich aber wieder einmal bis tief ins Herz verletzt war.

Dann saß ich endlich auf meinem Thron – der Laden hatte sich mittlerweile ganz entleert –, und der Meister fing an, unzufrieden in meinen Haaren herumzukämmen. »Wat det olle Sauerkraut bloß soll?!« schalt er dabei. »Findste denn det schön, Junge? Sowat tragen doch bloß die kleenen Meechen! Kiek nur mal, wenn ick's nur een bißken in die Stirne kämmen tu, siehste aus wie det Osterlammm von die ollen Jidden zu Pfingsten!«

Er gönnte mir meinen Anblick im Spiegel. Die Augen sahen durch einen Vorhang herabhängender Haare, ich meinte schon, den Ruf meiner Mutter, wenn ich so verwildert von einem Spiel heimkehrte, zu hören: »Junge, willst du dich wohl sofort mal kämmen?!!«

Der Versucher fuhr fort: »Det weeßte doch, for zwei jute Jroschen kann ick dir so 'n Puppenschnitt nich liefern! Det macht dreie. Haste denn ooch Jeld jenug bei dir?«

Das war wirklich der offizielle Satz, und so hatte Mutter mir auch drei Groschen mitgegeben. Ich zeigte sie dem Meister. Er sah unzufrieden darauf und fing von neuem an: »Ick rede jegen mein eijenet Jeschäft, aber ich sare dir, Junge, et is rausjeschmissenet Jeld! Ick rasiere dir die Haare mit meine Maschine uff' en zehntel Millimeter vom Kopfe wech – du sollst ma sehen, wie schön det dir kleidet! Und haste noch zwee Jroschen, von die Mutter nischt wissen broocht! Und denn, wat wird sich deine Mutta freuen, wenn se dir denn so sieht! Die hat ja noch keene Ahnung, wie du als richtjer Junge aussiehst! Wat meenste?«

Ich wagte, schüchtern zu sagen, daß, wenn ich die Frisur schon wechseln müsse, mir ein Scheitel wie bei den andern Jungens das richtige erschien. Doch war der Meister ganz dagegen. »Nee, Junge, jetzt mach man bloß keene halben Jeschichten! Du ahnst ja nich, wie schön det kühlt, so 'n nackter Kopp im Sommer! Du hast ja 'n Pelz wie 'n Hamster! Wie is det, wenn ick dir so ankieke, is mir immer so, ihr macht an die See? Hab ick recht oder hab ick nich recht?«

Ich bestätigte, daß der Meister recht hatte.

»Na siehste!« sagte er tief befriedigt. »Det isset, wat ick noch wissen wollte! Für den Harz oder Thüringen hätt ick noch nischt jegen den Scheitel jehabt, aber an de See, wo du ewig am Strand schmorst wie 'n Bratappel in de Röhre! Und denn immer rin int Wasser – aber wat bringste raus von deine Locken? Jekochtet Sauerkraut! Und denn kämmt dir deine Mutter 'ne halbe Stunde, wenn die andern alle fein im Sande spielen können. Und denn ziept et, und sie schimpft dir, det de nicht stille hältst! Na, wie isset, Junge, wolln wa 't mal vasuchen?«

Die letzte, genau der Wahrheit entsprechende Schilderung – denn ebenso hatte ich's im Vorjahr erlebt – gab meinem Entschluß die entscheidende Wendung. An die mildere Form, den Scheitel, dachte ich nun schon gar nicht mehr, alles oder nichts, hieß es bei mir. Der Versucher hatte auf der ganzen Linie gesiegt. Also nickte ich.

Im gleichen Augenblick hatte er auch seine kleine Haarschneidemaschine zur Hand und führte, im Nacken beginnend, eine breite Bahn, mitten durch meine Lockenpracht mähend, bis zur Stirne vor. Dann hielt er inne und sagte: »Na, Junge, wie jefällt dir det?!« Ich sah in den Spiegel, und Angst erfüllte mein Herz. So grauenvoll hatte ich mir den Anblick doch nicht gedacht! Rechts und links prunkten noch weitläufige Jagen mit der Pracht meines dichten Hochwaldes, aber eine breite Schneise, eine Landstraße, eine wahre Heerstraße führte nun mitten durch meine Wälder, und kein Gebet, keine Reue würde auch nur einen Baum aufwachsen lassen vor seiner Zeit! Ich wollte an die Eltern denken, aber ich konnte einfach nicht an sie denken. Bei diesem Anblick an die Eltern zu denken, war einfach Vermessenheit!

Der Meister hatte gespannt meinen Gesichtsausdruck beobachtet. Nun sagte er: »Meenste, det de Kloppe kriegst? Na, laß man, Kloppe is nicht schlimm. Die verjißt 'en richtjer Junge in ne halbe Stunde, und nu biste doch een richtjer Junge, keen Fatzke nich! Mit det olle Sauerkraut warste een Fatzke!«

Aber ich hörte gar nicht mehr auf ihn. Ich dachte nur an den Empfang, den ich zu Haus finden würde. Und zwischendurch erst fiel mir ein, daß der Meister mich richtig reingelegt hatte. Er hatte sehr wohl gewußt, daß Mutter die neue Haartracht – du lieber Gott, Haartracht bei einem Schädel, der immer mehr das Aussehen einer Kegelkugel annahm! –, also, er hatte wohl gewußt, daß Mutter mich abscheulich finden würde! Aber so war es immer bei mir: zu spät fing ich an, nachzudenken über das, was andere mir vorschlugen! Erst fiel ich immer darauf rein, ich dachte zu langsam. Jetzt sah ich auch erst, daß der kleine vermickerte Barbier ein richtiger Spaßvogel war. Er hatte sich einen Witz mit mir erlaubt! Das war eben so seine Art von Witzen!

Aber nun wollte ich ihm auch den Gefallen nicht tun und ihm eine ängstliche Miene zeigen! Jetzt wollte ich ihm seinen Witz verderben. Und ich gab mir die allergrößte Mühe, ein vergnügtes Gesicht zu machen. Ich scherzte sogar selbst über meine Ohren, die ganz überraschend immer abstehender und röter aus dem Lockenwall hervortraten!

Ob es mir gelungen ist, den Listigen wirklich zu täuschen, weiß ich nicht. Aber ich verblüffte ihn doch zum Schluß noch gründlich. Denn als ich ihm nach vollendetem Werke seinen Groschen aushändigen wollte und er ihn großartig zurückwies: »Det haste für umsonst, Junge! Det hat mir direkt Spaß jemacht! Und wenn de morjen kommst und du erzählst mir, wat deine Ollen dazu jesagt haben, denn schenk ich dir noch en Jroschen« – da sagte ich, auf meiner Zahlung bestehend: »Nehmen Sie nur, mir hat's auch Spaß gemacht, das ›olle Sauerkraut‹ loszuwerden!«

Damit verließ ich den Laden – ein aufrechter Mann, stolz lieb ich den Spanier! Die viel zu weit gewordene Pennälermütze rutschte über den Schädel hinab, bis sie an den abstehenden Ohren ein natürliches Bollwerk fand. Ich schlug den Weg nach Haus ein.

Aber schon nach zwanzig Schritten hatte mich all mein Stolz verlassen. Mir war, als sehe mich jeder Entgegenkommende an und beginne sofort zu lächeln. Ich drückte mich an den Hauswänden entlang, und ich verwünschte den langen hellen Sommerabend, der mich dazu verdammte, bei vollem Tageslicht vor Mutter hinzutreten. Ich vermied die Luitpoldstraße mit den Kindern der Bekannten. Ich trieb mich so lange wie nur möglich in der Umgegend umher, und als mich die nahende Abendbrotzeit doch zur Heimkehr zwang, durcheilte ich die heimische Straße mit gesenktem Kopf so schnell wie möglich, ohne jemandem Rede zu stehen. Durch den dunklen Flur der Wohnung kam ich noch unentdeckt in mein Zimmer, und da saß ich nun, die unvermeidliche Enthüllung erwartend, unfähig, auch nur in einem Buche zu lesen!

Dann kam Mutter und rief mich zum Abendessen. Die so oft achtlos gebrauchte Redensart von dem »Nicht seinen Augen trauen« bekam hier tiefen Sinn für mich. Denn meine Mutter starrte mich so ungläubig an, als sei ich nicht ich, sondern irgendein unbekannter, gräßlich entstellter Doppelgänger, ein Phantom, ein Nachtmahr, irgendein Gespenst, vor dem man drei Kreuze schlagen mußte, und es löste sich in Rauch auf, während plötzlich ein holder blondlockiger Knabe auf seinem Stuhle saß ...

Aber kein blondlockiger Knabe erschien, Mutter mochte ihre Augen noch so sehr reiben. Das Gespenst blieb. Da begriff sie, was geschehen war, sie brach in Tränen aus und rief: »Junge, Junge, was hast du da nur wieder gemacht! Deine schönen Haare! Wie siehst du nur aus?! Was hast du nur für Ohren?! Du siehst ja richtig wie ein Topf mit zwei Henkeln aus! Wenn du dir wenigstens einen Scheitel hättest schneiden lassen! Ich habe Vater schon vorbereitet, daß es mit deinen Locken nicht mehr lange gehen würde. Und nun hast du ihm das angetan! Wie bist du nur darauf gekommen?! Und ganz ohne uns zu fragen!«

Meine Mutter klagte noch lange fort, aber ich hörte kaum zu. Die Entdeckung, die sie mir gemacht hatte, daß nicht sie, daß es der Vater gewesen war, der auf meinen Locken bestanden hatte, verwirrte mich aufs äußerste. Mutter hatte also alle Mühen und Beschwerden wegen meiner Locken widerspruchslos hingenommen und hatte nicht einmal verraten, daß es nicht sie, sondern daß es der Vater war, der sie wünschte.

Plötzlich tat mir Mutter namenlos leid. Ich drängte mich an sie und sagte mit Tränen in den Augen: »Mutter, ich hab's wirklich nicht gewollt. Es ist rein durch Zufall gekommen, beim Friseur war so viel zu tun.«

Das Geständnis, daß ich gefragt worden war, daß ich mich hatte reinlegen lassen, widerstrebte meinem Stolz.

»Und sicher wachsen die Haare ganz schnell wieder, du weißt doch, meine Haare wachsen furchtbar schnell. Und dann will ich gerne immer Locken tragen und nie mehr darüber schimpfen ...«

Aber Mutter schüttelte nur traurig den Kopf. »Siehst du, Hans«, sagte sie. »So bist du immer: schnell mit der Reue bei der Hand, aber wenn du vorher lieber ein bißchen nachdenken wolltest! Mit deinen Locken ist es nun vorbei – für immer!«

Sie trocknete sich die Augen.

»Nun, jetzt hilft alles nichts mehr. Geschehen ist geschehen. Komm, Junge, wir wollen schnell in Vaters Zimmer gehen und es ihm noch vor dem Essen sagen, solange die andern noch nicht dabei sind ...«

Und sie nahm mich bei der Hand und zog mich mit sich. So war Mutter immer. Sie kannte keinerlei Heimlichkeiten mit uns Kindern vor dem Mann; wenn wir sie nur um einen Groschen baten, fragte sie erst Vater. Aber sie war stets bereit, uns Kindern beizustehen und zu vermitteln. Willig nahm sie ein Gutteil des väterlichen Zorns auf ihre unschuldigen Schultern, ertrug den ersten Ausbruch an unserer Seite und redete hinterher unter vier Augen dam Vater unermüdlich zu.

Ich aber muß sagen, daß bei dieser besonderen Gelegenheit mich mein guter, sanfter Vater sehr enttäuschte. Sein Zorn über den Lockenraub schien mir in gar keinem Verhältnis zu stehen zu der Größe meines Vergehens. Er behauptete, ich sähe schmählich aus wie ein Zuchthäusler! Nur Zuchthäusler hätten so kahl geschorene Köpfe!! Kein Mensch könne sich mit mir auf der Straße sehen lassen!!! Vor Verwandten und Bekannten müsse ich versteckt werden! Und was die Fahrt in die Sommerfrische angehe, so weigere er sich, mit mir im gleichen Abteil zu fahren! Mutter könne ja tun, was sie wolle, aber er, er setze sich nicht mit einem Zuchthäusler auf die gleiche Bank!!

Das alles war so ungewohnt und überraschend, daß es einen tief verwirrenden Eindruck auf mich gemacht hat. Ich habe später viel schlimmere Dummheiten, auch Schlechtigkeiten begangen, aber mein Vater ist doch, nach anfänglicher Bestürzung und Erregung, immer der gleiche geduldige Vater geblieben, stets zur Hilfe bereit. Aber bei dieser Gelegenheit war er völlig anders: als ich den freilich recht ungeschickten Versuch machte, ihn durch den Hinweis auf die Billigkeit dieses Haarschnitts zu versöhnen und ihm die zwei ersparten Groschen darbot, schlug er sie mir zornig aus der Hand. Vater, der doch nie nachtragend war, hielt mir noch nach Wochen meinen »Zuchthäuslerkopf« in plötzlich wieder frisch erwachtem Grimm vor.

Wenn ich mir heute diesen sonst ganz unverständlichen Zorn meines Vaters überlege, glaube ich, dies Wort »Zuchthäusler« gibt einen Schlüssel zur Erklärung. Mein Vater war Jurist, er war Richter, er war Strafrichter, und zu den von ihm sehr schwer empfundenen Pflichten eines Strafrichters gehörte es, Todesurteile zu verhängen. Ich weiß wohl, wie still Mutter in solchen Tagen das Haus hielt. Offiziell wußten wir Kinder natürlich nicht, warum Vater plötzlich eine noch viel tiefere Ruhe als sonst brauchte. Aber wir erfuhren es stets, ich weiß nicht mehr wie, vielleicht durch meine heimliche Aktenschnüffelei oder durch ein Wort, das Mutter zu den Mädchen hatte fallen lassen.

Dann saßen wir so still in unsern Zimmern, und wenn es Nacht wurde und der Straßenlärm verstummte, hörten wir Vaters leisen, schnellen Schritt in seinem Zimmer, Stunden um Stunden, bis wir darüber einschliefen. Wir wußten, Vater maß dann Schuld und Strafe gegeneinander ab. Oft lag ja auch nur ein Indizienbeweis, kein Geständnis vor, und der Richter prüfte sein Herz, ob es auch ohne Zorn und Eifer urteile.

(Vielleicht verwundert es manchen, daß mein Vater, der so skeptisch über die Juristerei und über den Zivilprozeß im besonderen reden konnte, es so heilig ernst mit seiner Arbeit nahm. Aber bei meinem Vater durfte man nie auf die Worte, sondern mußte nur auf die Taten sehen. Er liebte Jean Paul, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, alles Leute, die es nie fertig gebracht haben, ein Witzwort zu unterdrücken, die sich an geistreichen Spielen erfreuten und die es darum doch mit ihrem Glauben an Wahrheit und Menschentum nicht weniger ernst nahmen.)

Aber mein Vater hatte nicht nur Todesurteile zu fällen, sondern er hatte ihnen auch, wie ich glaube, nach dem Brauch damaliger Zeit gelegentlich beizuwohnen. Welche Qual das für diesen zarten, überempfindlichen Menschen gewesen sein muß! Aber so zart er war, so mutig war er auch: er dachte nie daran, sich dieser Folge eines Urteilsspruches zu entziehen. Doch hat er bei diesen Gelegenheiten wohl Zuchthäusler in den abschreckendsten Situationen gesehen, und das Zeichen des Zuchthäuslers war eben der kahl geschorene Kopf!

Es ist nur eine Vermutung von mir, auf keine Überlieferung gestützt, aber ich habe doch, wie ich glaube, mit dieser Erklärung eine Begründung für den maßlosen Zorn meines Vaters gefunden, als er meinen kahlen Kopf sah. Daß er nur aus törichter Vatereitelkeit so grimmig geworden wäre, werde ich nie glauben. So war Vater gar nicht!


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