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Sommerfrische

Wenn Vater gemeint hatte, man solle den Tag nicht vor dem Abend loben, und ich habe bestimmt noch einen kleinen Unfall in der Reserve, so hatte er nicht ganz unrecht mit dieser Befürchtung. Ich bin wirklich meine ganze Jugend hindurch ein ungewöhnlicher Pechvogel gewesen. Eine seltene Begabung lag in mir, dort zu verunglücken, wo andere auch nicht die leichteste Möglichkeit dafür sahen. Man hätte mich ins Bett stecken können, wenn ich ein Bein brechen sollte, ich tat es doch!

Ich erinnere mich an eine Fahrt in die großen Ferien, bei der ein Sportangler unser Abteilgenosse war. Mein Vater, den alles wirkliche Leben nach seinen Akten brennend interessierte, ermunterte den Angler, uns von seiner Passion zu erzählen. Er tat es mit Leidenschaft und sicher einigem Petruslatein. Die Fische, die er mit Angelruten aus dem Wasser zog, waren nie unter Armeslänge, und wenn er weitererzählte, wuchsen sie sichtbar. Sie schwollen unter seinen Worten an und wurden aus stillen Seebewohnern zu lebensgefährlichen wilden Ungetümen.

Vater war der dankbarste Zuhörer solcher Übertreibungen, er hörte sie sich still lächelnd an. War er doch selber nicht frei von dieser Neigung. Mit den Geschichtchen, den Anekdoten, den Döneckens, die er erzählte, nahm er es auch nie genau. Wir haben, so oft wir bestimmte Geschichten aus Vaters Munde auch hörten, nie die gleiche Fassung vorgesetzt bekommen. Die nackte Wirklichkeit war für Vater nur der Rohstoff, aus dem er seine Werke knetete.

Die Geschichten wuchsen, sie bekamen neue Wendungen, eine ganz andere Pointe. War eine Geschichte aber gar zu sehr verändert, wuchs sie, wie etwa die halbpfündigen Hechte unseres Anglers zu kleinen Walfischen, dann rief sicher eines aus der Familie lachend das Wort »Bovist!« Und wir alle stimmten in diesen Ruf »Bovist!« ein.

Wir hatten nämlich einmal bei einer Harzwanderung Boviste gefunden von ganz ungewöhnlicher Größe. Es waren staunenswerte Boviste gewesen, die stattlichsten vielleicht von der Größe eines Kinderkopfes. Aber wenn Vater von ihnen berichtete, wuchsen sie von Mal zu Mal, Kinderköpfe genügten ihm nicht. Erst wurden kleine Kürbisse, dann große daraus. Als Vater schließlich mit ernster Miene berichtete, er sei beim Stolpern in einen solchen Bovist hereingetreten und tatsächlich bis zum Knie in ihm versunken, als er schilderte, wie er da hilflos gestanden hatte, eingehüllt in eine Wolke des gelbgrünen Samenstaubes, der ihn vollständig vor seiner Familie verbarg – da war das Wort »Bovist« gefunden als Ausdruck für alle väterliche Übertreibung!

Vater ertrug diesen Ruf mit lächelnder Gelassenheit. Das Übertreiben in harmlosen Anekdoten war der einzige Exzeß, den er seiner Phantasie erlaubte. »Was wollt ihr?!« konnte er lächelnd fragen. »Es geschieht niemandem ein Übel damit und amüsiert meine Zuhörer. Boviste so groß wie ein Kinderkopf hat jeder schon gesehen, aber ein Bovist, in dem ein Mann versinkt, den lob ich mir!«

Aber wenn Vater sich selbst solche Exzesse erlaubte, so war er auch völlig bereit, den Exzessen anderer mit der Miene tiefster Gläubigkeit zuzuhören. Unser Angler war ganz begeistert von seinem aufmerksamen Zuhörer. Er holte ein Köfferchen aus dem Netz und zeigte uns seine künstlichen Fliegen und Blinkfischchen, die er statt Regenwürmer als Köder auswarf. Und sowohl Eltern wie wir Kinder waren ehrlich begeistert von diesen künstlichen, farbenfrohen Gebilden. Besonders die Fliegen waren hinreißend. Sie hatten im Aussehen mit den Stubenfliegen nicht das geringste gemeinsam, sie waren, aus winzigen Vogelfedern geformt, am ersten bunten Kolibris vergleichbar, nur daß sie unter der bunten Hülle drei, vier silbrige Stahlhaken verbargen, mit Häkchen und Widerhaken.

Die Fliegen gingen von Hand zu Hand, es gab immer noch eine schönere, auf die wir einander aufmerksam machen mußten. Dabei erzählte uns der Angler, wie er sie so auswarf, daß sie direkt über der Wasserfläche dahinschwirrten. Der Fisch sprang danach, die bunte Hülle hatte ihre Dienste getan, die Haken traten in Tätigkeit, der Fisch saß fest.

Weiß es der Henker, wie ich es angefangen hatte: auch bei mir hatte die bunte Hülle ihre Dienste getan, auch ich saß fest! Eine schöne, braunrot gefiederte Fliege steckte mir bis zum Ende der Haken im Daumenballen. Ganz verblüfft starrte ich auf mein Werk. Im ersten Augenblick empfand ich nicht einmal so sehr den Schmerz wie ein tiefes Erstaunen, daß so etwas hatte passieren können! Ich hatte doch mit keinem Gedanken daran gedacht ...

Dann entdeckte Mutter den fassungslosen Ausdruck auf meinem Gesicht, sah, wie ich töricht erstaunt die Fliege im Daumenballen anstarrte, und rief erschrocken: »Junge, wie hast du nun das wieder fertiggebracht? Es ist doch nicht zum Sagen!«

Der mütterliche Ausruf lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich. Vater sagte ergebungsvoll: »Als wenn ich es mir nicht gedacht hätte! Dieser Tag verlief schon gar zu friedevoll. Tut es sehr weh, Hans? Zieh mal daran. Vielleicht sitzt es nicht tief und geht gleich heraus!«

Aber der Angler protestierte: »Mit Ziehen ist da nichts zu machen! Die Fliege muß richtig rausgeschnitten werden. Da sind Widerhaken daran. Und sie sitzt über einen Zentimeter tief! – Wie hast du das bloß angestellt, Junge –?!«

»Ich weiß es nicht!« antwortete ich schlicht und ziepte doch an der Fliege. Es tat gemein weh, und die Widerhaken bohrten sich davon eher tiefer ins Fleisch.

»Rausschneiden?« fragte mein Vater. »Das tut wohl am besten ein Arzt?«

»Aber wir fahren noch über fünf Stunden, und ich glaube nicht, daß es der Junge solange mit der Fliege im Ballen aushält! Sag, Junge, bist du ein mutiger Junge und hältst es solange aus, bis du bei Onkel Doktor bist?«

Bei diesem gut gemeinten, aber ungeschickten Appell schwand mein Mut mit Windeseile dahin. Die Fliege fing sofort stärker zu schmerzen an, das heißt natürlich nicht die Fliege ...

»Nein!« sagte ich, schon schluckend. »Ich halte es bestimmt nicht aus! Und schneiden lasse ich mich auch nicht! Ich will, daß die olle Fliege rauskommt! Ich halte das nicht mehr aus!!«

»Hans!« sagte mein Vater streng. »Du wirst doch nicht weinen? Du wirst bestimmt nicht weinen! Ich weiß das! Du bist ein mutiger Junge!«

Da war es alle mit mir. Aufweinend warf ich mich gegen Mutters Brust und schrie: »Ich bin kein mutiger Junge! ich will gar kein mutiger Junge sein! Ich will, daß die olle Fliege rauskommt!«

(Ich darf bemerken, daß ich zur Zeit dieses Abenteuers neun Jahre alt war.)

Nun begann eine erregte Debatte unter den »Großen«. Das beste wäre vielleicht, im nächsten Städtchen auszusteigen und zu einem Arzt zu gehen. Aber Vater widerstrebte diesem Ausmarsch der Sieben aus dem sicheren Ferienzug – es war fast sicher, daß wir heute und morgen bei diesem Andrang keine Plätze bekommen würden. Mutter war dafür, daß ich versuchen sollte, bis zur Zielstation die Fliege im Ballen zu tragen.

Aber das schien bei meinem sich immer steigernden Gebrüll fast ausgeschlossen. Hätten die Großen die Sache nicht so wichtig genommen und mich nicht so eindringlich ermahnt, mutig zu sein, hätte ich die Fliege wohl ganz standhaft ertragen. Als ich aber gesehen hatte, wie mir nach ihrer Ansicht etwas sehr Schmerzhaftes geschehen war, stiegen die Schmerzen, schwand der Mut ... Ich brüllte!

So blieb nur eines, die Axt im Hause zu spielen, das heißt selbst zur Operation zu schreiten. Mein Vater war in solchen praktischen Dingen leicht hilflos, einesteils fürchtete er eine Blutvergiftung, auf der andern Seite mußte er erst die juristische Frage klären, wie der Angler eine Beschädigung seiner Fliege ertragen würde.

Der Angler tat dies Bedenken mit einem Achselzucken ab und bot meiner Mutter ein großes Messer mit Hirschhornschale: »Schneidet wie Gift! Machen Sie gleich einen tüchtigen Schnitt – tief genug! Alles andere ist bloß Quälerei!«

Diese Verhandlungen vor dem Ohr des Patienten machten mein Gebrüll zu einem schrillen Geschrei. Ich schloß die Hand und weigerte mich, sie wieder zu öffnen. Alle waren ratlos ...

»Sei doch ein guter Junge, Hans«, bat die Mutter schmeichelnd.

»Es tut ja nur einen Augenblick weh, und du bist das olle Ding los!«

»Ich weiß, daß du Mut hast«, sagte mein Vater. »Du mußt nur wollen, Hans!«

»Wenn du dir die Fliege glatt rausschneiden läßt«, versprach der Angler, »schenk ich dir mein Messer. So ein schönes Messer hast du sicher noch nie gehabt!«

Mein Heulen wurde leiser, durch Tränenschleier schielte ich nach dem Hirschhorn.

Aber in meinem Vater war der Sinn des Erziehers verletzt. »Nein«, sagte er. »Sie sind sehr liebenswürdig, aber das geht nicht. Einmal wäre solch ein Messer – ich möchte es eher einen Dolch nennen – eine allgemeine Bedrohung in der Hand meines Sohnes. Zum andern aber widerspricht es aller Pädagogik, selbstverständliche Pflichterfüllung bei Kindern durch Belohnung zu erkaufen!«

Mein Gebrüll wurde wieder stärker.

»Hans!« sagte Vater. »Du weißt, was deine Pflicht ist! Deine Pflicht ist es, jetzt mutig zu sein. Durch deine Ungeschicklichkeit hast du den Schmerz selbst verschuldet, so mußt du ihn auch selbst ertragen!«

Ich brüllte wie am Spieße.

»Ich werde die Fliege selbst herausschneiden!« erklärte mein Vater sehr entschlossen, war aber recht bleich dabei. »Zeige die Hand, Hans. Ich will, daß du die Hand zeigst! Ich will es ...«

Der Angler war tief beleidigt, daß mein Vater sein großzügiges Messerangebot so kurzweg abgelehnt hatte. Sicher hätte er sich von dem Hirschhorn nur schwer getrennt.

»Der Junge wird nie die Hand hinhalten«, erklärte er, etwas hämisch. »Ich würd's auch nicht tun. Warum soll er eigentlich keine Belohnung haben? Wir kriegen ja auch eine Belohnung, wenn wir was Besonderes leisten.«

Mein Vater wankte unter diesem direkten Angriff. Aber er widerstand noch. »Pflicht darf nie erkauft werden«, sagte er feierlich. »Du wirst jetzt deine Hand herhalten, Hans ...«

Ich dachte gar nicht daran. Ich fühlte, wie schwach Vaters Position war. Hier, im fahrenden Zug, angesichts eines offen rebellierenden Mitfahrers, würde er die Operation nie erzwingen können. Ich widerstand ihm also, sah ihn nur weiterbrüllend trotzig an ...

Vater sah erst ratlos auf mich, dann sagte er etwas pikiert: »Nun gut, dann behalte deine Fliege. Das scheint dir ja lieber zu sein.«

Und er lehnte sich in seinen Sitz zurück.

Einen Augenblick herrschte fast Schweigen im Abteil. Ich weinte leiser. Über meiner Weigerung, mich von Vater schneiden zu lassen, hatte ich fast vergessen, daß die Konsequenz dieser Weigerung war, ich würde die Fliege im Daumenballen behalten müssen.

Und jetzt fing die Stelle an, wirklich zu schmerzen. Eine erst leichte rote Schwellung war eingetreten. Wie häufig in meinem Leben fing ich nun an, darüber nachzudenken, wieso ich die Karre eigentlich derart verfahren hatte, nachdem ich sie verfahren hatte. Ich war immer geneigt, dem ersten Impuls zu folgen, dann aber vor einem Trümmerhaufen geduldig nachzudenken.

Meine Mutter flüsterte mir sanft ins Ohr: »Junge, wir gehen mal beide ‹dahin›. Vielleicht kriegen wir das Dings alleine 'raus!«

Dies war ein wahrhaft erlösender Vorschlag. Aber meine Ehre gebot, daß ich nicht sofort auf ihn einging. Mutter mußte mir erst sehr gut zureden, ehe ich auf das einging, was ich so gerne tun wollte. Unter dem völligen Schweigen der andern verließen wir das Abteil und gingen dahin.

»Setz dich nur ruhig hin«, sagte Mutter. »Daß wir beide stehen, dafür ist nicht Platz genug hier. Jetzt laß mich mal deine Hand in aller Ruhe ansehen. Wir müssen doch 'rausbekommen, wie wir den Haken ohne viel Schmerz 'rauskriegen.«

»Es sind doch vier Haken!« bestand ich auf der Schwere meiner Verwundung. »Und jeder einzelne tut aasig weh, Mutter!«

»Das glaube ich«, sagte Mutter mitleidig. »Mir wäre es viel lieber, ich hätte das Dings in der Hand, als du. – Wie ist es, Junge? Soll ich es jetzt mal mit einem Schnitt versuchen?«

Ich sah Mutter prüfend an. Dann sagte ich herrisch: »Na, schneid los, Mutter! Aber nicht gleich so tief! Ich will erst mal sehen, wie weh es tut!«

»Am besten wäre es wohl«, meinte Mutter zweifelnd und sah das Messer in ihrer Hand ängstlich an, »ich schnitte mit einemmal tief genug ...«

»Nein, erst ein bißchen!« befahl ich. »Ich weiß nicht, ob ich dann weiter schneiden lasse, wenn es sehr weh tut.«

Zögernd setzte Mutter das Messer an. Ich machte die Augen zu und öffnete sie doch sofort wieder, als die Messerspitze meine Haut berührte. Mutter seufzte tief auf und fing an zu schneiden.

»Aua!« sagte ich und riß die Hand fort.

»Ich habe kaum die Haut geritzt, Junge«, protestierte Mutter.

»Aber es tut verdammt weh!« versicherte ich und betrachtete neugierig den Schnitt, aus dem langsam Tropfen für Tropfen Blut trat. Innerlich war ich überrascht, wie wenig weh es getan hatte. Ich zog probeweise an der Fliege. Sie saß unerschüttert fest. Aber dies Ziehen tat nun wirklich weh. »Na, schneid noch mal, Mutter!« sagte ich gnädig. »Aber wieder nur ein bißchen.«

Mutter nahm stillschweigend meine Hand, setzte das Messer an – und setzte es wieder ab.

»Ich kann es nicht, Junge!« rief sie verzweifelt. »Diese Stückelei! Entweder läßt du mich gleich richtig schneiden oder – – So kann ich es einfach nicht!«

Sie war ganz blaß geworden.

»Dann gib mir das Messer!« sagte ich. »Ich kann es schon. Wenn man sich selbst schneidet, tut es überhaupt nur halb so weh.«

Ich nahm das Messer, setzte es an und, da ich den zweifelnden Blick meiner Mutter fühlte, schnitt ich auch wirklich los. Es war ein krasser Irrtum von mir gewesen, daß sich selber schneiden weniger weh tue.

Es tat zehnmal so weh! Hundertmal! Und dazu war der Entschluß, sich selbst Schmerzen zu bereiten, viel schwerer als das einfache Hinhalten der Hand.

Aber ich hatte mich selbst gefangen, und so saß ich denn auf meinem Klodeckel und schnitzelte auf Raten los. Jeden einzelnen Haken schnitt ich besonders frei. Vor ständig laufendem Blut konnte ich die Wunde schon längst nicht mehr sehen. Aber ich zog an der Fliege, und der brennende Schmerz an der Stelle, wo der Haken noch immer fest saß, verriet mir, wo ich weiter zu schneiden hatte.

Mutter hatte dies längst nicht mehr ansehen können. Sie hatte das Fenster ein wenig geöffnet und sah hinaus. Manchmal fragte sie verzweifelt: »Ist sie noch immer nicht los?« – ich aber ächzte nur zur Antwort.

Unter mir sauste es hohl über den Schienen, es klapperte auf Weichen, durch das offene Fenster drang Gesumm der Telegrafenleitungen, die vorbeihuschten – ich aber saß und schnitzelte eine Grube in mich, unter Schmerz und Verbissenheit. Es war ein Musterbeispiel heldischer Feigheit: um mir den einen raschen Schmerz des tiefen Schnitts zu ersparen, fügte ich mir hundert langsame Schmerzen zu! Feige und tapfer zugleich!

Dann war es soweit! Mit einem letzten Ruck riß ich die Fliege aus ihrer Verankerung. »Sie ist 'raus, Mutter!« sagte ich, und fühlte auch schon, wie mir schlecht wurde.

Nachher saß ich ein bißchen matt im Abteil bei den andern. Von meinem »Unfall« wurde nicht gesprochen. Nur manchmal sah eines neugierig auf meine verbundene Hand und dann ruhte der Blick auch auf mir. Der Angler hatte nur unsere Rückkunft abgewartet und war dann bei der nächsten Gelegenheit ausgestiegen oder besser in ein anderes Abteil umgestiegen, nach einem sehr mürrischen Gruß.

Vater hatte wohl auch kein Wort zu mir gesagt, aber er hatte mir einen Kognak gekauft, woraus ich schloß, daß er mit mir doch zufrieden war. Heute denke ich freilich, daß zu viel Zufriedenheit eigentlich nicht der geringste Anlaß vorlag. Den Kognak habe ich übrigens nicht trinken können, dann wäre mir erst richtig schlecht geworden.

Das war eines meiner Reise-Mißgeschicke. Leichtere und schwere blieben nie aus. Bei aller Anteilnahme waren meine Eltern doch geneigt, solch Unheil als nicht zu vermeidende Schickung des Himmels anzusehen. Einmal fuhren wir nach Neu-Globsow, das damals noch nicht von den Berlinern entdeckt, sondern ein in Wäldern verlorenes, von seinen früheren Bewohnern, Glasarbeitern, aufgegebenes Dorf war. Es lag ein wenig abseits vom Stechlin; enge, fast verwachsene Waldwege führten zu ihm.

Es war das Verlassenste, Einsamste, Schönste, was man sich nur denken konnte. Auf schmalen Fußpfaden war an seinen Ufern Stunde um Stunde zu gehen, ohne je einen Menschen zu treffen, auf Spuren menschlicher Ansiedlungen zu stoßen. Es gab da eine Stelle, wo ein halb verfallener Bootsteg ziemlich weit in den See ging. Auf dem saßen wir Kinder besonders gern, wir stocherten mit Zweigen oder Schilfhalmen nach den Krebsen, die man zu Dutzenden auf dem etwas schleimigen Seeboden sah. Oft hielt sich ein wütender Krebs an solchem Halm fest, und. nicht selten gelang es uns dann, ihn auf den Steg zu ziehen.

Dann kreischten die Schwestern und flohen vor den »ekelhaften Tieren« – wir Jungen aber hatten es bald 'raus, die Krebse um die »Taille« zu fassen, das heißt, wir faßten sie direkt hinter den Scheren, daß sie uns nicht kneifen konnten, und trugen sie in einem Körbchen nach Haus. Dort aß sie abends mit Genuß Vater. Ich selbst lehnte sie trotz der verlockenden roten Farbe damals noch ab. Später habe ich mich erst zu Krebsnasen, dann zu ganzen Krebsen bekehrt. Heute äße ich gerne oft welche, leider bekomme ich sie nur selten ...

Das Haus, in dem wir wohnten, war ganz allein mit seinen vier Zimmern und seiner Küche für uns da. Vater muß es gemietet haben, ohne es je gesehen zu haben. Wer der Vermieter war, weiß ich nicht mehr, er kann aber kaum am Ort gewohnt haben, sonst hätte selbst mein sanfter Vater ihm hart zugesetzt. Mit ein paar alten Linden davor und je zwei Fenstern rechts und links von der Haustür sah das gelb getünchte Häuschen hübsch genug aus, und der Gedanke, auch in den Ferien eine Küche ganz für sich allein zu haben, entzückte Mutter.

Aber nie vergesse ich die erste Nacht in diesem Hause. Es wehte und regnete draußen, und nur zu bald entdeckten wir behaglich in den Betten Liegenden, daß es nicht nur draußen regnete. Es tropfte, es tropfte immer schneller und stärker durch die Decke, bald rief dies, bald jenes der Kinder: »Mutter, mir tropft es jetzt ins Gesicht! – Mutter, ich bin schon ganz naß!«

Aus der Küche geholte Schüsseln und Töpfe erwiesen sich als ungeeignet, die Flut zu dämmen, denn wenn eines gerade im besten Einschlafen sich behaglich ausstreckte, kippte die auf seinem Deckbett stehende Schüssel und ergoß ihr Tropfwasser. Dann wurde wieder geschrien.

Außerdem waren wir aber bei weitem nicht die einzigen Bewohner des Hauses, wir waren sogar stark in der Minderzahl. Sobald Mutter die Nachtkerze löschte, verließen Ratten und Mäuse im trauten Verein ihre Löcher, stöberten und tanzten um uns. Sie schienen jedes Stück von unsern mitgebrachten Sachen zu revidieren und entblödeten sich schließlich nicht, über unsern Betten fortzulaufen. Dabei fegten die Gardinen mit einem widrigen Geräusch an den Wänden entlang, denn auch der Sturm draußen war nicht ausgeschlossen, durch die klaffenden Wände und Fenster drang er und pustete uns sogar in unsern Betten an.

Gewissermaßen als Schlußbild sehe ich uns alle halb sitzend in unsern Kissen, die Türen zwischen sämtlichen Zimmern stehen offen, auf daß wir einander mit Trost und Rat beistehen können. Bei jedem brennt eine Kerze (die Elektrizität war in Neu-Globsow noch nicht entdeckt), und über jedem Haupt ist ein Regenschirm aufgespannt, gegen den es regelmäßig tropft. Auf jeder Bettdecke aber liegen Wurfgeschosse bereit. Ab und zu raschelt es, dann schmeißen wir, und von Zeit zu Zeit wird einer von uns Jungen beordert, die Geschosse wieder einzusammeln und den Schützen zu fernerem Gebrauch zuzustellen.

Ich habe seitdem Neu-Globsow nicht wiedergesehen, habe aber gehört, daß es eine hochstehende Sommerfrische mit allem erdenklichen Komfort geworden ist. Ich bezweifle aber, daß Berliner Ferienjungen dort noch eine so vergnügte und anregende erste Nacht erleben wie wir Bengels.

Am nächsten Morgen – es regnete gottlob nicht mehr – ging mein Vater (der die Nacht nicht so interessant gefunden hatte) auf Einkauf aus. Er kehrte heim mit Gips und Flaschen. Die Flaschen wurden in kleine Scherben zerschlagen, in den weichen Gipsbrei eingebettet, und damit wurden außen und innen am Hause die Dutzende von Ratten- und Mauselöchern verschlossen.

»Durch den Gips würden sich die Ratten wieder durchfressen«, erklärte mir Vater, »aber die Glassplitter muten sie ihren Zähnen doch nicht zu!«

Wie aber das tropfende Dach geheilt wurde, dessen erinnere ich mich nicht mehr.

Lange sahen wir Kinder unserm Vater bei seinem ungewohnten Werke zu. Ich weiß noch, wie sehr ich ihn bewunderte, daß er auch dies konnte. Glassplitter gegen Rattenzähne, wahrhaftig, Vater wußte doch einfach alles!

Als wir Vater genug bewundert hatten, gingen wir auf Entdeckungsreisen, einen der größten Genüsse des ersten Ferientages an unbekanntem Ort. Wir strolchten über ein Stück unbestelltes Land hinter dem Hause, auf dem es betäubend nach Sommer und Sonne roch, viele kleine scharf riechende Trockenheitspflanzen wie Thymian wuchsen dort. Wir drängten dem Waldrand zu, und an diesem Waldrand entdeckten wir etwas ganz Herrliches: eine Kreuzung von Laube und Gartenhäuschen, primitiv und nicht völlig gut erhalten, aber wie gemacht für eine Räuberburg.

Innen war es dunkel und kühl (auch dreckig), wir setzten uns alle auf eine Holzbank und waren einstimmig der Ansicht, daß die Sommerfrische diesmal einfach »pyramidal« sei und das allerbeste verspreche.

Vor unserer Bank lag ein großer alter Mühlstein. Er hatte wohl früher als Tisch gedient, aber das Stammende, auf dem er geruht hatte, war abgefault, und der Stein lag nun am Boden. Es war ein recht großer und schwerer Stein, einen Durchmesser von einem Meter wird er wohl gehabt haben, aber das bestärkte uns nur in dem Gedanken, daß dieser Mühlstein wie gemacht fürs Trudeln sei. Von unserer Räuberburg fiel das Land schwach ab bis zu dem Ferienhaus, an dessen Außenwand wir Vater etwa in Schirmgröße hantieren sahen. Wir dachten es uns herrlich, den Stein bis dorthin zu rollen.

»Und dann suchen wir uns einen festen Stamm und legen ihn darauf! Dann haben wir einen Tisch vor der Haustür, und abends spielen wir Halma und Salta daran!«

Dies Programm rief allgemeinen Beifall hervor. Mit schwerer Mühe wurde der Stein aufgerichtet und dann zur Tür gerollt. Das ging schon leichter. Itzenplitz und Ede rollten. Fiete stützte an der einen, ich auf der andern Seite. Die Tür hatte eine Schwelle, der ins Freie rollende Stein kippte –

»Halt ihn, Hans!« riefen die andern.

Aber wenn ein etwa anderthalb Zentner schwerer Mühlstein ins Fallen kommt, kann ihn ein zehnjähriger Junge nicht halten. Der Stein fiel, ich fiel, und als die Sachlage wieder klarer wurde, lag der Stein da, und unter dem Stein war meine Hand, mit den Fingerspitzen eigentlich nur, aber doch immerhin weit genug, daß ich sie nicht aus eigener Kraft hervorziehen konnte.

»Helft mir! Helft mir!« schrie ich. »Oh, ich halte es nicht aus! Es drückt mir die Finger ab!«

Meine lieben Geschwister hätten mit vereinten Kräften den Stein sehr wohl anheben können, aber das angerichtete Unheil und mein schmerzverzerrtes Gesicht machten sie kopflos. Erst lief Ede davon. Dann stürzte ihm Fiete nach. Itzenplitz murmelte noch: »Lieber Hans!« tätschelte meine Schulter, und schon verschwanden alle drei in wilder Panik, noch einmal rauschten die grünen Büsche, und weg waren sie. Verschwunden im Walde!

Ich aber lag halb kniend vor dem Mühlstein und versuchte vergeblich, mit meiner freien Hand den Stein so weit anzuheben, daß ich die Finger vorziehen konnte. Dies war nun wirklich ein wütender Schmerz; jeder, der die Finger einmal zwischen Tür und Türfutter gehabt hat, wird es mir bestätigen, und der Schmerz steigerte sich von Sekunde zu Sekunde.

Ich hatte alles Recht zu schreien, als ob ich am Spieß stäke, und wenn ich Vater auch in meiner Prometheuslage nicht sehen konnte, so war doch meine einzige Hoffnung, daß mein Schreien sein Ohr erreichen würde. Wirklich hörte ich ihn angelaufen kommen. Mit einem einzigen Griff, ohne ein Wort, hob er den Stein an, befreite mich, zog mich an sich und legte mich Wankenden gegen seinen Bauch. Dann nahm er meine Hand sanft in die seine.

»Mein armer Junge«, sagte er. »Das sieht böse aus. Weine nur tüchtig, brülle – du hast ein Recht zu brüllen. Ich möchte wohl wissen, warum gerade du vom Schicksal so verfolgt wirst?!«

Ich schielte unter meinen Tränen hoch zu ihm und sah, daß auch ihm die Tränen nahe waren, daß auch er leichenblaß war. Ich fühlte, wie sehr Vater mich liebte, wie er mich wegen all meiner kleinen und großen Mißgeschicke vielleicht ganz anders als seine andern Kinder liebte, wie einem jeden ja auch schwer Erkämpftes teurer ist als das mühelos in den Schoß Gefallene.

»Es tut verdammt weh, Vater«, sagte ich. »Aber ich will nicht mehr weinen.« Und mit plötzlichem Schrecken: »Die Finger werden doch nicht abgenommen werden?«

»Nein, bestimmt nicht!« sagte Vater beruhigend. »Freilich, diese drei Nägel, die jetzt ganz blauschwarz aussehen, wirst du erst einmal verlieren. Aber ich denke doch, sie werden wieder nachwachsen. Aber, wie ist denn das?« plauderte er fort und zog mich dabei unmerklich gegen das Haus, »es ist ja die rechte Hand, die du dir verletzt hast, Hans! Das ist aber schlimm für dich, da wirst du gar keine Schularbeiten während dieser Ferien machen können! Das ist ja furchtbar traurig für dich!«

Wieder schielte ich nach Vater. Ich sah die Fältchen um seine Augen, und nun brach ich trotz aller Schmerzen doch in ein Lachen aus. »Ja, ich bin schrecklich traurig, Vater«, sagte ich lachend. »Ich wollte eigentlich jeden Tag mindestens drei Stunden arbeiten!«

»Daraus wird nun freilich nichts«, sagte Vater. »Nun, ich hoffe, du wirst auch das wie ein Mann tragen.«

Und Vater hat natürlich Wort gehalten. Trotzdem ich die Hand schon nach zwei Wochen wieder gebrauchen konnte, mußte ich die ganzen Ferien auch nicht einen Strich Schularbeiten machen. Meine Geschwister hingegen – Vater hatte sich nicht mit einem Wort nach ihrer Mitwirkung an dem Unfall erkundigt, aber er hatte sie wohl aus der Ferne weglaufen sehen –, jedoch meine Geschwister mußten in diesen Ferien besonders lange arbeiten, wohl kaum wegen ihres Anteils an dem Unfall, an dem wir ja alle gleich beteiligt waren, sondern mehr wegen ihrer kopflosen Flucht.

Gegen solche Unfälle genommen, war mein diesmaliges Debüt in Graal eine pure Harmlosigkeit! Ich rannte nur ein bißchen schnell um die Hausecke, und auf der andern Seite, um die Ecke herum, stand ein Fenster offen, wie Bauernfenster offenstehen: nach außen, nicht nach innen wie Stadtfenster. Und dieses Fenster war auch noch durch einen Sturmhaken gesichert.

Also: ich schoß um die Hausecke, in Stirnhöhe befand sich die breite untere Leiste des Fensters, der sogenannte Wasserschenkel, das Fenster erklirrte weit hinaus, der Sturmhaken aber hielt stand, der Angriff war abgeschlagen, und der Angreifer lag gefällt auf dem Boden, für etwa drei Minuten dem bewußten Sein entzogen, und mit einer ständig trotz allem Brotmesser-Auflegen anschwellenden Beule. »Der gehörnte Hans« hieß ich in diesen Ferien. »Wenn es diesmal aber damit abgeht«, sagte Vater seufzend zur Mutter, »so will ich unserm Schöpfer danken.«

Und wenn ich mich recht erinnere, ist es in diesen Ferien damit abgegangen. Nicht des kleinsten Unfalls erinnere ich mich mehr aus ihnen.

Noch an demselben Abend ging der Vater nach dem Abendessen mit uns Kindern zum Strand, Mutter und Christa bereiteten unterdes die Schlafgelegenheiten vor. Es war fast noch hell, und wir liefen jubelnd vom Feldweg an die Ränder der Kornfelder. Wir pflückten roten Mohn und blaue Kornblumen, rosa Raden und weiße Margeriten. Wir waren Großstadtkinder, es schien uns unbegreiflich herrlich, daß dies alles »umsonst« wuchs, daß wir keiner Blumenfrau dafür Geld zu geben hatten.

Vater ging unterdes behaglich weiter, mit seinem gleichmäßigen Schritt, bald waren wir hinter ihm, bald ihm weit voraus. Er freute sich unseres Glücks, nur mit einem leisen Wort erinnerte er uns manchmal daran, daß wir auch um der schönsten Blumen willen kein Korn zertreten durften. Dann dachte ich an Andersens schönes Märchen von dem Mädchen, das auf das Brot trat, und begnügte mich gerne mit den Blumen am Feldrand. Noch heute empört und betrübt es mich, wenn ich achtlos zertretenes Korn sehe oder eine zerlegene Wiese. Das sitzt seit den Ermahnungen Vaters unverwischlich in mir!

Nun kommen wir in den Wald, und es wird dunkler um uns. Wir Kinder halten uns näher beim Vater und fangen an zu lauschen, ob wir schon die Brandung der See hören. Aber Vater sagt uns, es wird heute keine Brandung geben, es ist kaum Wind gewesen am Tage. Und trotzdem hoffen wir und lauschen wir weiter ...

Allmählich wird der hochstämmige Kiefernwald niedriger, er flacht sich gegen die See ab wie ein ungeheures schräges Dach, die Bäume sind alle landeinwärts gewachsen. Immer niedriger werden sie, immer verkrüppelter, hell schimmert es schon vor uns durch sie hindurch.

Nun fangen wir doch wieder an zu laufen, jedes will zuerst die See sehen. Die Kiefern haben aufgehört, wir laufen nun mühsam im Dünensand bergan. Der Strandhafer raschelt, ein kühler Atem bläst uns sanft an.

Und dann stehe ich wieder oben auf der Düne und wie jedes Jahr, wenn wir an der See sind, überfällt mich das altvertraute, und doch immer wieder bestürzende Gefühl der ungeheuren Weite, die sich mir auftut. Zuerst sehe und fühle ich nichts anderes als dies, wie groß das ist, wie es immer weiter geht, auch dort, wo Horizont und Wasser ineinander verlaufen. Mein kleines Jungenherz pocht aufgeregt: hier stehe ich ja und ich sehe dies. Es ist auch für mich da, und ich gehöre dazu, fühle ich, ohne mich wäre es nicht so da, wie es jetzt ist. Es ist ein Ewigkeitsgefühl, ein Unvergänglichkeitsahnen, das mich überkommen hat Ich könnte es nicht mit Worten beschreiben, aber ich fühle es ...

Ich bin ein kleiner, kränklicher, von vielen Mißgeschicken verfolgter Junge ... Aber hier stehe ich nun auf der Dünenkuppe wie die Gesündesten, und ich fühle dies ... Jedes Jahr überkommt mich zwei-, dreimal angesichts der See dies Gefühl, daß ich da bin und daß ich da sein muß. Daß die Welt nicht ohne mich da wäre. Es ist ein dunkles stolzes Gefühl, das doch demütig macht.

Wenn ich jetzt hinunterlaufe von der Düne, wenn ich die kleinen Plätscherwellen sehe, die auf den flachen Sandstrand laufen, wenn ich Muscheln suche oder die kleinen, frisch gespülten, gelblichen Kiesel, die beinahe Bernstein sein könnten – dann wird auch dieses Gefühl vergessen sein. Wenn ich die Nähe der See anschaue, vergesse ich ihre Weite über den tausend Einzelheiten. Aber ich hatte es und ich habe es noch ...

Und nun kommt Vater. Er nimmt mich bei der Hand und führt mich hinunter zu meinen drei Geschwistern, die längst vorausgelaufen sind, und während des Gehens sagt er leise zu mir: »Ist das schön, Hans?«

»Es ist so groß, Vater«, antworte ich.

»Ja, es ist groß«, bestätigt Vater. »Sehr groß. Wenn du wieder in Berlin bist, vergiß nicht, daß es etwas so Großes gibt. Es gibt viel Großes, Hans, für den Menschen, der es nur fühlen kann, nicht nur an der See oder in den Bergen. Auch in den Büchern und in der Musik, in Bildern und Plastik – aber besonders im Menschen. Es hat sehr große Menschen gegeben, Hans ...«

Ich will Vater noch fragen, ob es denn heute keine großen Menschen mehr gibt, aber nun sind wir schon bei den Geschwistern, und alle Größe verschwindet über der wichtigen Frage, ob wir noch waten dürfen ...

»Vater, nur fünf Minuten, bitte, bitte!«

Vater hat Bedenken, ob es Mutter auch recht sei. Er weiß auch nicht recht, wie wir uns abtrocknen sollen. Und werden wir uns auch nicht erkälten? Aber dann erlaubt er es uns doch, und einen Augenblick später sind wir im Wasser, fühlen die sanfte Kühle, gehen mit unsern befreiten, nackten Füßen über den weichen Sand, sind glücklich. Natürlich werden aus den fünf Minuten doch zehn Minuten, und natürlich taucht der Hans doch trotz aller Vorsicht die aufgekrempelten Hosenränder ins Wasser. Aber heute schadet alles nichts. Nicht einmal unter uns streitgewohnten Geschwistern gibt es ein unfreundliches Wort ...

Eine Stunde später liege ich im Bett. Ede schläft schon, er war so früh aufgestanden und so spät ins Bett gekommen wie noch nie. Auch ich hatte gedacht, todmüde zu sein, aber nun ich im Bett liege, kann ich nicht einschlafen. Immerzu lausche ich auf die ungewohnten Geräusche. Das Fenster steht weit offen, und ich höre das leise Bewegen von Zweigen im kleinen bäuerlichen Blumengarten. Ich höre das Rasseln einer Kette im Kuhstall und ein paar Höfe weiterhin das Bellen eines Hundes. Ich bin so glücklich, daß ich gar nicht einschlafen möchte. Ich möchte immer so wach liegen, es ist schade darum, solch Glück zu verschlafen.

Aber dann rechne ich mir aus, daß noch neununddreißig solche Ferientage voller Glück vor mir liegen, den Abreisetag nicht gerechnet, und wenn ich fünfzehn Stunden an jedem Tag wach bin, so macht das fünfhundertfünfundachtzig Stunden Glück, ohne Schule und andere Sorgen. Das scheint mir eine so ungeheure Zahl, besonders wenn ich daran denke, wie lang eine Lateinstunde ist, daß die Ferienstunden eigentlich nie alle werden können. Abreise und Schulbeginn sind so fern wie der Mond, dessen Strahlen wie ein sanfter heller Schnee vor meinem Fenster leuchten.

Am andern Morgen wache ich auf, und noch ehe ich meine Augen geöffnet habe, verraten mir die Vögel im Garten, daß ich in den Ferien bin, daß ein unendlich langer seliger Tag vor mir liegt, einer von neununddreißig. Ich denke, es ist noch ganz früh, ich höre Edes sanften Schlafatem. Aber nun tut die Tür sich auf, Mutter kommt herein und ruft: »Aber nun aus den Betten, ihr Langschläfer! Es ist gleich neun! Wer von euch beiden will denn nun die Eier aus dem Hühnerstall holen –?!«

Da springen wir beide aus den Betten, und der erste Ferientag beginnt.

Sie haben es gehalten, diese Ferien, was sie versprachen, wie eigentlich alle mit den Eltern verbrachten Sommerferien herrlich waren. Vater hatte trotz seines Aktenkoffers so viel Zeit für uns, und auch Mutter saß häufig bei uns, wenn sie meistens dabei auch Bohnen schnitzelte oder Erbsen pahlte. Die Ferien brachten alle Jahre Kinder und Eltern wieder näher zusammen. Es gab kaum noch Mißverständnisse und sehr wenig Unarten. Natürlich muckschten wir manchmal, wenn wir aus dem schönsten Spiel heraus an die Schularbeiten mußten – Vater hielt streng darauf, daß wenigstens etwas getan wurde –, aber das war im Augenblick, wenn wir unsere Hefte zusammenlegten, wieder vergessen.

Morgens ging es regelmäßig an den Strand, aber fast jeden Nachmittag wurde ein langer Spaziergang durch die Wälder gemacht. Vater war unermüdlich, immer neue Ziele zu entdecken oder neue Wege zu alten Zielen. War es aber eines Tages zu heiß, so suchten wir uns eine schattige Stelle am Waldrand und Vater fing an zu erzählen. Er konnte die herrlichsten Geschichten erzählen, und für uns Kinder einer neuen Generation war eine besondere Lichtseite dieser Geschichten, daß es nicht einfache Märchen waren, sondern daß sie alle Bezug auf unser Leben hatten. Sie erzählten uns von dieser Welt, die uns umgab, und machten sie uns faßlicher.

So erzählte uns Vater an einem Nachmittag die Geschichte von den vier Getreidearten, die sich stritten, welche dem Menschen am nötigsten sei. Er berichtete, wie die Getreidearten untereinander ausmachten, daß jede ein ganzes Jahr dem Menschen fehlen sollte, wie die Hühner plötzlich keine Gerste zu fressen fanden und wie die Pferde dem Menschen ohne Hafer fast ausgestorben wären. Dann wiederholte er, was die Berliner alles zu sagen hatten, als ihnen Schrippen und Knüppel fehlten, und wie traurig die Kinder wurden ohne allen Kuchen aus Weizenmehl. Aber am schlimmsten war es doch, als der Roggen nicht mehr wuchs, als kein Brotkorn mehr in die Mühlen kam, als die Bäcker kein Mehl mehr zum Brotbacken hatten. Wie anders redeten da die Berliner, als sie sich plötzlich nur mit Schrippen und Knüppeln ernähren sollten! Und wie weigerten sich die Kinder, ewig nur weißen Kuchen zu essen! Ja, es war eine schlimme, schreckliche Zeit, als Korn fehlte!

Auf dem Heimweg sahen wir Kinder mit besonderer Achtung auf jedes Getreidefeld. Wir wußten sie alle wohl zu unterscheiden: die gelbgoldene Rispe des Hafers von der flachen, begrannten Gerstenähre, den goldigen, fast viereckigen Weizenkolben von dem etwas fahlen hohen Stand des Roggens, in dem die graugrünlichen Körner, mit ihrer Spitze schräg zur Erde weisend, standen.

Oder Vater erzählte uns von der Elektrizität. Er wußte viele Geschichten von der Elektrizität, wie man sie zuerst entdeckt, wie einen Zwerg so klein und schwach, und wie man sie heute in Riesenwerken aus Kohlen oder Wasser hervorzauberte, und wie man sie sich auf tausend Arten dienstbar machte. Vater wußte immer neue Geschichten, und oft durften wir uns auch ganz einfach eine bestellen, wie es zugegangen war bei der Entdeckung Amerikas, und ob es wohl möglich sei, daß der Mensch fliegen lerne. Vater wußte alles ...

Mit Respekt dachte ich dann an eine technische Zeitschrift, »Prometheus« genannt, die allwöchentlich in unser Haus kam und die Vater regelmäßig las; wenn er auch ein Jurist war, er interessierte sich für alles. Er wollte nicht hinter seiner Zeit zurückbleiben, er wollte verstehen, was vorging ...

Kam aber ein kalter regnerischer Tag und saßen wir in den engen Zimmern Mutter gar zu sehr im Wege und quälten sie mit unsern ewigen Wünschen, so nahm Vater ein Buch aus dem Aktenkoffer und zog mit uns auf den Heuboden oder auf die Scheunendiele, und dort las er uns vor, viele Stunden lang, bis er ganz heiser wurde. Wie viele Bücher habe ich so in den Ferien von Vater vorlesen hören: den Ivanhoe von Walter Scott und den ganzen Max Eyth, von Pyramiden und Dampfpflügen und dem armen kleinen Schneider Berblinger in Ulm, der so gerne das Fliegen erfunden hätte. Aber den tiefsten Eindruck hat mir doch das Buch »Soll und Haben« von Gustav Freytag gemacht. Vater las es in einer höchst dramatischen Weise vor. Er ließ den Veitel Itzig in der schrecklichsten Art kreischen und speicheln, der alte Baron Rothsattel bekam bei Vater etwas bärbeißig Kurzes wie mein Onkel Oberstleutnant von Rosen, wenn er sich ärgerte, der Wucherer Ehrenthal sprach ölig sanft, und nur die frische Stimme des Musterhelden aller Helden Anton Wohlfahrt hatte einige Ähnlichkeit mit der eigenen väterlichen Stimme.

Ab und zu unterbrach sich dann Vater und hielt uns unsere ersten Vorlesungen in Wechsel- und Pfandrecht, er belehrte uns, wie sich Pfandbriefe und Obligationen unterschieden. Ich war stolz darauf, daß ich alle diese verwickelten Geschäfte des alten Rothsattel genau verstehen konnte, und habe es nie vergessen, was mir mein Vater beiwegelang an Grundkenntnissen des Handels eintrichterte. Am meisten bewunderte ich aber in meinem Herzen doch den Herrn von Fink, trotzdem ich ihm manchmal wegen seines hochnäsigen, schnodderigen Tones grollte. Ich hätte für mein Leben gerne ein Herr von Fink werden mögen: ein unübertrefflicher Sportsmann, dabei reich, jeder Laune gewachsen – und doch so edelmütig!

Nein, wie eilig flogen die Ferientage dahin. Kaum waren wir erst so recht aufgestanden, so mußten wir schon wieder ins Bett! Nun wurden schon die Blaubeeren reif. Aus dem Walde kamen wir mit schwarzen Mündern heim und mit Flecken in unsern weißen oder weißblau gestreiften Sommerblusen, über die Mutter schalt. Und dann gab es nach ein paar Regentagen Pilze über Pilze. Überall drängte dies stämmige Geschlecht aus dem Waldboden, und Vater lehrte uns, die nützlichen von den Schädlingen zu unterscheiden.

Diese endlosen Jagden nach Pilzen, immer tiefer in das Herz des Waldes hinein, ohne Weg und Steg! Wenn man dann einen Augenblick stille stand, vom vielen Bücken sauste das Blut noch in den Ohren, aber man meinte das Sausen draußen zu hören, die Stimme des Waldes selbst, als sängen Sommer und Wald gemeinsam ein großes feierliches Lied zu Ehren der Schöpfung, und jede Mücke stimmte mit ihrem Sirr-Sirr darin ein!

Und das Glück, diese Entdeckerfreude, wenn man plötzlich, nach langem vergeblichem Umherstreifen, den Waldboden vor sich gelb werden sah von den Kolonien der Pfifferlinge! Manchmal war es, als bildeten sie fast kreisrunde Dörfer auf dem Waldboden, und dann wieder zogen sie in langen Straßen dahin, die plötzlich aufhörten, rätselhaft warum, und eine Viertelstunde lang wuchs dann weit und breit kein Pfifferling!

Einsam stand dagegen der Steinpilz, das waren ernste Gesellen mit braunem Hut, manchmal mit zwei, drei stämmigen Kindern, schräg gegen des Vaters Fuß gestellt. Mit welcher Spannung schnitt man sie ab und schaute auf die weiße Schnittfläche, ob sie auch madenfrei seien. Und dann wieder streiften wir weit über die Wiesen und suchten Champignons, und wir lernten die verschiedenen Arten genau unterscheiden, den Waldchampignon und den Wiesenchampignon und den Schafchampignon. Der letzte war aber bei uns der begehrteste, wenn auch sein Name fast verächtlich klingt.

Kamen wir dann abends müde und hungrig nach Haus, beladen mit Netzen und Körben, so seufzte Mutter wohl über die nicht abreißende Arbeit. Denn die Pilze mußten noch am gleichen Abend geputzt werden, damit sie in der Sommerhitze nicht verdürben. Dann saßen die weiblichen Familienmitglieder noch lange auf, sogar Itzenplitz und Fiete bekamen ein Küchenmesser in die Hand und mußten mithelfen. Wir Jungen aber wurden mit dicken Stopfnadeln bewaffnet und hatten die geputzten und zerschnittenen Pilze auf lange Schnüre zu reihen, an denen sie in der Sommerhitze getrocknet wurden. Wohl schrumpften sie dann ein, wurden schwärzlich und unansehnlich, aber wir wußten, daß sie im Winter in mancher Pilzsuppe, Pilzsauce, Pilzauflauf mit dem ganzen guten Geruch der feuchten Walderde ihre Auferstehung feiern würden!

Wie die Tage dahinfliegen! Baden wir denn eigentlich gar nicht in der See? Doch! Natürlich baden wir! Graal fängt schon schüchtern an, sich ein Seebad zu nennen, da wird man wohl schon baden müssen. Freilich, es sind fast vierzig Jahre seitdem vergangen, eigentlich keine so außerordentlich lange Zeitspanne, aber jedenfalls dachte man damals noch sehr viel anders über Baden als heute! Zu vieles Baden war ungesund, es »zehrte«, man mußte sich mit dem Baden in acht nehmen, nicht zu lange und nicht zu häufig!

So kam es, daß wir höchstens zwei- oder dreimal in der Woche badeten, und ich kann eigentlich nicht sagen, daß dieses seltene Baden unser Ferienglück irgendwie beeinträchtigte. Schwimmen konnte keines von uns, außer vielleicht Vater, der aber wegen seiner schwachen Gesundheit überhaupt nicht baden durfte. So war uns das Baden eigentlich mehr eine lästige Pflicht. Gott ja, man war nun einmal an der See, und so gehörte es eben dazu, aber im Grunde genommen war Waten viel schöner!

Ich war dazu noch in einer besonders schwierigen Lage. Es gab zwei kleine Badeanstalten, ein Damen- und ein Herrenbad, und die Trennung nach Geschlechtern wurde aufs strengste durchgeführt. Der Gedanke, einfach vom Strand aus zu baden, war so sittenlos, daß er noch in keinem Schädel seine Sumpfblasen aufgetrieben hatte. Wohl kamen vereinzelt Entartete vor, die sich während der Badezeit in den Dünen herumtrieben und sogar mit Ferngläsern die Damenbadeanstalt beobachteten, aber das waren nur Ausnahmen, die bald von wachthaltenden Fischern ermittelt wurden und der allgemeinen Verachtung anheimfielen. Groß aber kann ihre Ausbeute an Genüssen selbst mit Ferngläsern nicht gewesen sein, denn die Damen trugen ja damals noch diese seltsamen, meist roten Badeanzüge, bei denen die Hosen bis weit über das Knie hinabreichten. Ein Rock fiel noch darüber, und das Ganze saß, von einem Gürtel gehalten, teils in glänzender Falte, teils wie angeklatscht am Leibe und sah eher komisch aus als verführerisch.

Ich sagte, ich sei in einer schwierigen Lage gewesen. Denn eigentlich war ich schon zu groß für das Damenbad, mich aber allein ins Herrenbad zu schicken und den treulosen Fluten anzuvertrauen, das war erst recht untunlich! Manchmal gelang es Mutter, der Badefrau einzureden, ich sei noch unter zehn, und wir vier umgaben dann unsere Mutter wie vier Küchlein die Henne. Manchmal versuchten wir auch ein klägliches Spritzen, das aber rasch verboten wurde, denn der Kopf durfte nicht naß werden! Tiefer als bis zum Bauchnabel durften wir nie ins Wasser. Uns wurde immer wieder eingeredet, daß auch am ruhigsten Sommertage plötzlich eine große Welle daherkommen könne. Auch sei der Meeresboden gewissermaßen siebartig von tiefen Löchern durchsetzt, in denen ein Kind ohne Laut verschwinden könne!

So war die ganze Baderei eigentlich mehr Pflicht als Vergnügen, und wir waren immer froh, wenn wir wieder in unsern Kleidern steckten und der heimischen Burg zustrebten, stets voller Spannung, ob nicht ein Unbefugter unterdes Besitz von ihr ergriffen hätte. So wenig besucht damals Graal auch noch war, der Kampf um die schönste Burg stand doch schon in voller Blüte, und wir wollten nicht umsonst in tagelangem Bemühen einen Wall und Graben angelegt haben, die auch der stärksten Sturmflut zu trotzen schienen!

Die Freude, wenn man zur heimischen Burg kam, und alles war noch in bester Ordnung, die Empörung, wenn uns der Brettersteg über den Graben gestohlen war (den wir erst gestohlen hatten), oder gar der Balken, der Mutters Sitzplatz bildete! Aufklärungsfahrten wurden organisiert, Spione ausgesandt, und war der Verbleib des Diebesguts ermittelt, so wurde je nach Art und Kraft des neuen Besitzers entweder Bitten oder offene Gewalt oder List beschlossen. Ja, diese Sommerferien hatten auch noch das Gute zur Folge, daß wir vier Geschwister plötzlich einen Heerbann bildeten. Wie uns die Ferien den Eltern näherbrachten, so schufen sie auch zwischen uns Geschwistern, wenigstens gegen die Umwelt, Einigkeit. In Berlin waren wir Vier zwei getrennte Großmächte gewesen, wir verbündeten uns eins mit dem andern gegen diese zwei übrigen oder auch drei gegen eines, zu bestimmten Zwecken und Zielen. Aber war das Ziel erreicht, so erlosch das Bündnis sofort, und wenn ich eben noch an der Seite von Itzenplitz gegen Fiete und Ede gekämpft hatte, so konnte ich schon eine halbe Stunde später einen räuberischen Überfall an Edes Seite gegen meine älteste Schwester unternehmen.

Hier in Graal war das ganz anders. Wollten wir etwas erreichen, mußten wir zusammenhalten. Zu Vieren waren wir eine Großmacht, mit der anzubinden auch der frechste Berliner »Straßenjunge« (die tiefste bei uns mögliche Einschätzung) sich sehr wohl überlegte. Die Frage des Oberkommandos war zweifellos immer schwierig, und Gehorsam war schwer zu erreichen, da jedes lieber befahl als gehorchte. Aber im allgemeinen ergab sich schon während des Kriegsrates, wer bei den Einzelaktionen Führer sein mußte: wer nämlich den besten Rat gab.

Mutter waren natürlich diese Kämpfe völlig verhaßt, jede Prügelei schickte sich einfach nicht für uns, aber man brauchte ja wirklich nicht die Schlachten im Angesicht schwacher Weiber zu schlagen! Die Dünen waren weit und einsam, und auch beim Waten fand sich leicht einmal die Gelegenheit, einen auf der Schwarzen Liste Stehenden plötzlich auf Grund zu setzen. Im allgemeinen waren Reklamationen der Herrn Eltern untereinander auch bei erwiesenen Schandtaten der Sprößlinge nicht üblich. Jede Familie hielt sich am liebsten allein, man »kannte die Leute doch nicht so!«, allem Anschein nach waren sie »nichts wirklich Feines«, am besten ließ man sich mit niemandem ein!

Fünfhundertundfünfundachtzig Stunden scheinen am ersten Ferientag eine endlose Zeit, aber wie rasch sind sie dahingeschwunden! Schon sagen wir manchmal: »Nächste Woche müssen wir nach Haus«, schon fordert uns Vater bei den Spaziergängen manchmal auf: »Seht euch dies genau an, Kinder! In diesem Jahre werden wir es kaum wieder zu sehen kriegen!«, und die Forderung, regelmäßig Schularbeiten zu machen, wird seltener gestellt. Beide Eltern sind geneigt, ein Auge zuzudrücken und uns den Ferienrest in vollen Zügen genießen zu lassen. Noch einmal wird besprochen, ob wir in diesem Jahr wirklich eine Segelbootfahrt mit Fischer Beider machen sollen. Vier Kinder bitten – wie jedes Jahr – sehr darum, aber es wird doch wieder nichts daraus: die gefürchtete Seekrankheit könnte vielleicht sogar eine pünktliche Rückreise unmöglich machen. (Täte sie es doch!)

»Im nächsten Jahr vielleicht, Kinder! Es ist wirklich zu spät geworden diesmal! Denkt doch, wenn Mutter nicht packen könnte! Mutter wird so leicht seekrank. Also im nächsten Jahr – denke ich ...«

Worauf Mutter vorsichtig hinzusetzt: »Wenn wir im nächsten Jahr wieder hierher fahren. Es ist doch alles viel teurer geworden seit letztem Jahr. Ich habe mehr Haushaltsgeld als in Berlin verbraucht. Und ich glaube nicht, daß wir unsere Zimmer noch einmal zum alten Preis bekommen werden. Die haben mir schon so was angedeutet ...«

Die letzten Tage, die allerletzten Tage! Jedes von uns hat ein Bedürfnis, sich abzusondern, heimlich und ganz allein geliebte Stellen aufzusuchen. Ich weiß da eine kleine Lichtung im Kiefernhochwald, zu der gehe ich nun. Es ist heiß, fast Mittagstunde. Ich werfe mich auf den trockenen Waldboden, lege den Kopf zurück und blinzele mit halb geschlossenen Lidern in die strahlende Höhe. Über mir ist ein großer Kiefernast, zwischen den Nadeln, zwischen den Seitenzweigen sehe ich das Himmelsblau. Es flimmert vor Hitze. Eine kleine weiße Wolke steht darin, regungslos.

Wieder meine ich, das dumpfe Sommersummen des Waldes zu hören, es schwillt an und ab wie das Atmen in meiner Brust, wie das Meer es tut, und wie der Wind bläst, es schwillt und sinkt wie alles Lebendige. Mehr nicht? Nein, sonst nichts. Nur Stille und ein fern dahinstreichendes Sausen. Meine Glieder werden schlaff, sie scheinen von der Sonne gelöst, sie möchten hineinwachsen in den sommerwarmen Sand. Eltern und Geschwister, Schule und die Stadt Berlin sind nicht mehr, nur der Sommer, in dessen Wärme ich mich fühle, von dem ich ein Teil bin, in dem ich ganz aufgehen möchte!

Dann sitzen wir wieder im Zug, der uns heimwärts trägt. Heimwärts? Berlin ist kein Heim, Berlin ist nur ein Wohnort, ein Aufenthalt, nie ein Heim. Aber seltsam, je weiter uns das Rollen des Zuges von unserer Sommerfrische entfernt, um so leichter trennen sich die Gedanken von dem zurückbleibenden Ferienglück, wenden sich der Stadt zu. Ich denke daran, wie lange ich meine Bücher nicht in der Hand gehabt habe. In den Ferien ist mir eingefallen, daß ich sie nach einem ganz neuen Prinzip ordnen könnte, nicht alphabetisch nach Verfassernamen, sondern nach dem Inhalt: Entdeckungsreisen für sich, Märchen für sich. Indianergeschichten für sich. Ich sehne mich plötzlich danach, sie zu ordnen, und plötzlich fällt mir auch ein, daß ich vor den Ferien ein neues Buch zu lesen anfing. Endlich kann ich es zu Ende lesen!

Und ich werde morgen alle Freunde und Bekannten besuchen, denn morgen ist noch kein Schultag. Vater ist nicht dafür, am allerletzten Tag zu fahren. Die Kinder müssen doch auch Zeit haben, sich wieder einzugewöhnen, ehe die Schule anfängt! Ich werde also von den andern hören, was sie in den Ferien erlebten, und ich werde ihnen meine Erlebnisse erzählen. Ich beginne, mir zurechtzulegen, was erzählenswert erscheint.

Diesmal ist es kein Problem, eine Gepäckdroschke zu finden, wir brauchen nicht lange herumzulaufen. Die Koffer und der Bettsack wandern nach oben, und jetzt darf ich auf dem Bock sitzen, es geht alles nach der Gerechtigkeit. Zwischen meinen Beinen steht das rosa lackierte Blecheimerchen vom Strand. Ede und ich haben es noch am letzten Abend mit Muscheln gefüllt, nachdem Vater die Überführung von drei halbtoten Fischchen zur Begründung eines Aquariums in Berlin verboten hatte.

Ich sehe auf die Muscheln, ich sehe auf die Straße ... Es ist erst Nachmittag, und die Sonne scheint, aber das Licht kommt mir blaß vor. Eine Häuserreihe liegt im Schatten und sieht grau und düster aus. Aber auch die im Licht liegende zeigt nicht so sehr Helligkeit wie mitleidslos entblößte Schäden in Putz und Farbe. Ein Unbehagen befällt mich, eben habe ich mich noch auf das Heimkommen gefreut, aber nun will etwas Düsteres Einzug in mir halten! Ich sehe wieder auf die Muscheln ...

Minna und Herr Markuleit stehen vor der Tür. Wir sind pünktlich gekommen, und wir werden pünktlich erwartet, alles bekommt nun wieder seine gewohnte Ordnung. Kaum ist die erste Begrüßung vorbei, so gehe ich stracks in mein Zimmer. Ich ziehe die Tür leise hinter mir zu und betrachte es. Es ist so ungewohnt ... Natürlich hat Minna hier unterdes groß reingemacht, es riecht nach Bohnerwachs und Schmierseife. Ein Stuhl steht falsch, und schon von der Tür aus kann ich sehen, daß meine Bücher kunterbunt im Regal stehen. Minna hat kein Verhältnis zu Büchern. Bismarcks Bild hängt schief ...

Aber das alles ist es nicht ...

Sondern es ist sonderbar ... Es ist fast, als lehne meine Stube mich ab, als wolle sie nichts von mir wissen ... Ich sehe zu dem Sessel hin, der vor meinem Schreibsekretär steht. Das Kissen ist zusammengedrückt, als habe eben einer darin gesessen, und dieser Eine ist mir feindlich gesinnt, das spüre ich! Ja, es ist wirklich sonderbar – was war es doch, das ich fühlte, als ich beim Ferienbeginn durch den Tiergarten fuhr? Ich versuche, mich zu erinnern. War es nicht damals so, als hätte ich mich selbst zurückgelassen, als sähe ich mich selbst mit einem Buch in der Hand am Fenster stehen?

Ich sehe scheu zum Fenster hin, aber da steht niemand. Und doch ist jemand hier! In den ganzen Ferien habe ich dieses andere Ich nie gespürt, ich habe nicht einmal daran gedacht! Doch nun, eben heimgekommen, begrüßt er mich, mit seiner kalten, ablehnenden Feindschaft, so empfängt er mich. Schon als in der Invalidenstraße das Licht fahl wurde, fühlte ich sein Kommen.

Und nun muß ich wieder mit ihm leben, ein ganzes langes Jahr hindurch, bis zu den nächsten großen Ferien! Und manchmal wird er ich selbst sein, so daß ich mein eigener Feind werde! Wie soll ich das ertragen –? Und niemand, dem ich davon sprechen kann! Keiner, der ein Wort davon verstehen würde!

Ich habe die Tür leise wieder hinter mir zugezogen. Im Augenblick war ich nicht mutig genug, den Kampf mit der feindlichen Atmosphäre meines Zimmers aufzunehmen. Ich überlege, wohin ich jetzt soll. Dann fallen mir meine Kaninchen ein, drei zutrauliche Tiere mit Schnobernasen, die mich lieben!

Ich stürze in den Keller hinunter, ich laufe auf die verlatteten Kisten zu. Aber die Kisten sind leer, ein wenig fauliges Stroh liegt darin, ein gelb gewordenes Kohlblatt, ein Mohrrübenende, an dem ich noch die Zahnspuren von Mucki sehe.

Langsam gehe ich über den Hinterhof zu der Portierloge. »Herr Markuleit«, sage ich und versuche, mutig auszusehen. »Wo sind denn meine Kaninchen?«

»Deine Karnickel, Junge? Die sind futsch!« Herr Markuleit pfeift, um auszudrücken, wie sehr sie futsch sind. »Die Läuse haben se halb uffjefressen! Da hab' ick's deinem Vater jeschrieben, und der hat mir wieda jeschrieben, ick soll se man vakoofen. Eins zwanzig hab' ick für se jekriegt im Kleinen Tierzoo in der Winterfeldstraße. Nich mehr, weil se so verlaust waren. Hier is det Jeld. Junge, kiek bloß nich so belämmert ...«

»Danke, Herr Markuleit«, sage ich. »Behalten Sie das Geld nur für Ihre Mühe ...«

Langsam gehe ich über den Hof wieder zum Keller. Ich setze mich auf eine Kiste und starre in die leeren Kaninchenställe. Langsam füllen sich meine Augen mit Tränen. Aber ich kann nicht richtig weinen, es ist alles so trostlos ...

Die Ferien sind zu Ende ....


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