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Familienbräuche

Es gibt Steckenpferde, die nur den einzelnen befallen, es gibt aber auch Steckenpferde, von denen ganze Familien heimgesucht werden. In unserer Familie haben alle bevorzugt ein und dasselbe Steckenpferd geritten, das war die Leidenschaft für Bücher. Dies Steckenpferd ritten wir alle zur Vollendung. Vater wie Mutter, Schwestern und Brüder. Als wir noch sehr klein waren, hatten wir doch schon ein Bücherbrett für unsere Bilderbücher, und dies Brett wuchs mit uns, es wurde zum Regal, dann holte es uns ein und wuchs uns über den Kopf. So sparsam Vater auch war, ein gutes Buch zu kaufen, reute ihn nie; ein Buch zu verschenken, freute ihn ebenso wie den Beschenkten.

Da Vater auf Ordnung hielt, wurde es in unserm Hause nie so schlimm wie bei einem Manne, den ich in späteren Jahren kennenlernte und der ein wahrer Büchernarr war. Ihn freute es schon, Bücher zu besitzen, er mußte sie nicht etwa auch lesen. Er füllte sein ganzes, nicht ungeräumiges Haus mit Büchern, für die Menschen war keine bleibende Stätte mehr darin. Die Bücher breiteten sich über das ganze Haus aus wie die Wasserpest in einem Teich.

Seine Frau focht manchen wackeren Streit mit dem Narren, aber sie unterlag immer. Die Bücher verdrängten sie aus Kleider- und Wäscheschränken, sie lagen unter den Betten und auf allen Tischen, sie häuften sich auf den Teppichen, sie besetzten jeden Stuhl. Die Frau brauchte nur einmal einkaufen zu gehen, so hatten die Bücher schon wieder eine Position erobert.

Als sie einmal bei ihrer Heimkehr auch die Speisekammer von Büchern besetzt und erste Vortrupps schon in den Küchenschrank eingedrungen sah, gab sie den Kampf auf und verließ das Haus. Ich weiß nicht, ob ihr Mann dies schon gemerkt hat, er besaß die seltene Fähigkeit, nur von Brot und Äpfeln zu leben. Ich denke ihn mir gerne, wie er allmählich von seinen Büchern begraben wird. In tausend Jahren wird man ihn vielleicht platt gedrückt, aber wohl mumifiziert unter einem Berg von Broschüren finden, die immer noch darauf warten, von ihm gelesen zu werden.

Von solchen Ausartungen eines an sich löblichen Steckenpferdes konnte in unserer Familie nicht die Rede sein. Bei uns wurden Bücher nicht nur gesammelt, sondern auch gelesen. Um sie zu diesem Zweck jederzeit auffinden zu können, mußten sie in Reihen übersichtlich aufgestellt werden. Schon Doppelreihen waren verpönt, so sehr auch Platzmangel wie Tiefe mancher Regale dazu verlocken mochte. Das Auge mußte alle Schätze stets vor sich haben, es genügte nicht, sie im Dunkel hinter einer andern Bücherreihe vegetierend zu wissen. Auch Bücher hinter Glas oder gar hinter Schranktüren durften nicht sein, ein Buch wollte nicht gesucht werden, es mußte für die Hand bereit stehen. Alle diese Leitsätze der Bücheraufstellung waren vom Vater praktisch erprobt, er konnte auch sehr fließend darüber sprechen, wie Bücher zu ordnen seien ...

Infolge dieser etwas weitläufigen Aufstellung breiteten sich auch bei uns die Bücher allmählich über die ganze Wohnung aus, es gab in jedem Zimmer welche, und mein Auge hat sich von Kind auf so daran gewöhnt, daß mir noch heute ein Zimmer ohne Bücher nicht so sehr nackt wie vielmehr unbekleidet vorkommt. Vater besaß – sein juristisches Rüstzeug nicht gerechnet, das auch beträchtlich war – etwa dreitausend Bände, Itzenplitz reichte an die tausend, Fiete, die das Steckenpferd am wenigsten leidenschaftlich ritt, etwa vierhundert, ich, obwohl drei Jahre jünger, etwa ebensoviel, und der kleine Ede auch schon über zweihundert Bände. Da also etwa fünftausend Bände in unserer Berliner Wohnung versammelt waren, so konnte es vorkommen, daß trotz aller Ordnung manchmal das eine oder andere grade begehrte Buch nicht sofort gefunden wurde. Man beruhigte sich dann im allgemeinen damit, daß irgendein anderes Familienmitglied das Buch wohl grade lese, und fand es denn auch nach kürzerer oder längerer Zeit wieder an seinem Platze vor.

Zu einem gewissen Zeitpunkt unseres Berliner Aufenthaltes aber nahmen diese Fehlstellen in unser aller Regalen einen derartigen Umfang an, daß die Bücherreihen wie durch Zahnlückigkeit entstellt aussahen. Jedes wunderte sich, fragte bei den andern herum und fand doch keinen Leser der fehlenden Bände. In einem abendlichen Kolloquium mit dem Vater wurde unzweifelhaft festgestellt, daß Bücher regelmäßig verschwanden und ebenso regelmäßig wieder heimkehrten, ohne daß über den Ort, wo sie sich während ihrer Abwesenheit aufhielten, das geringste festzustellen war.

Unsere beiden Hausgeister zu verdächtigen, lag nicht der geringste Anlaß vor, denn einmal waren sie schon lange Jahre bei uns, während die Bücherreisen erst seit kurzer Zeit in größerem Umfang stattfanden. Zum andern aber waren Minna und Charlotte Büchern ausgesprochen abgeneigt, schon weil sie beim Reinmachen unendliche Mehrarbeit verursachten. Unsere sämtlichen Freunde und Freundinnen wurden ohne Unterschied von Alter und Konfession unter die schärfste Kontrolle gestellt, aber ohne jedes Ergebnis: Die Bücher entflogen und kehrten heim in ihren Schlag wie die Tauben. Wo am Abend noch eine lückenlose Reihe gestanden hatte, gab es am Morgen Mankos; je mehr wir aufpaßten, um so weniger fanden wir, um so rätselvoller wurde die Geschichte. Fast hätten wir schon an Geister geglaubt. Gewisse Vorlieben waren feststellbar, zum Beispiel, daß der geheime Leser Romane bevorzugte, Geschichtliches nur selten nahm, Klassiker aber nie ... Doch führte das alles nicht weiter, sondern verwirrte uns eigentlich nur noch mehr ...

Wir waren alle, Vater und Mutter eingerechnet, schon in heftige Erregung geraten. Die Frühmeldungen von den Bücherregalen beschäftigten uns am Frühstückstisch. Beim Mittagessen ergingen wir uns in den ausschweifendsten Vermutungen, und das Abendessen verdarb die Befürchtung vor dem, was morgen fehlen würde. Es war eine wirklich erregende Zeit, geheimnisvoll wie kein Kriminalroman, und die Schularbeiten litten darunter. Vater sah ein, daß ein Ende gemacht werden mußte, er hätte nur auch gerne gewußt, wie –?

Da fand zu guter Stunde Itzenplitz, die unbestrittene Rekordleserin der Familie, in Gustav Freytags Ahnen, dritter Band: Die Brüder vom deutschen Hause, einen Zettel dieses Inhalts:

Werte Frau Brüning!

Dies ist mir zu fromm! Das nächste Mal lieber wieder was mit Liebe, am liebsten französisch.

Ihre Anna Bemeyer

Itzenplitz trug den Zettel eiligst zum Vater. Wer Anna Bemeyer war, war uns allen völlig unbewußt. Frau Brüning aber kannten wir, wenn wir sie auch nur selten sahen, denn sie war unsere Frühaufwartung, die von halb sechs bis halb acht Uhr der Charlotte beim Reinmachen half.

Vater strich den Zettel mit gerunzelter Stirn glatt und sagte: »Na schön, Itzenplitz, wir werden ja sehen ... Sprich aber noch mit niemandem davon!«

Worauf Itzenplitz stracks zu uns enteilte und uns von dem Zettel berichtete.

Es ist wohl unnötig zu sagen, daß wir Kinder am nächsten Morgen alle um halb sechs Uhr nicht nur wach, sondern auch schon in den Kleidern waren. Wir wagten uns aber nicht so recht aus unsern Stuben, spähten nur durch die Türritzen und sahen die statiöse Frau Brüning mit Teppichroller und Bohnerbesen in Vaters Arbeitszimmer verschwinden. Sie trug ein graues Tuch über den Haaren.

Die nächste Bewegung auf dem Kriegsschauplatz war das Auftauchen von Mutter, fünfviertel Stunden vor ihrer gewohnten Zeit, ein Zeichen, daß heute früh die Schlacht wirklich geschlagen werden sollte. Zu unserer Enttäuschung ging sie aber nicht in das Arbeitszimmer, sondern verschwand in der Küchenregion. Ede und ich berieten eifrig, ob es tunlich sei, jetzt noch in Vaters Zimmer Horchposten zu beziehen, es erschien aber untunlich.

Kurz vor sechs Uhr erschien dann Vater, völlig angekleidet, vier Stunden vor seiner gewohnten Zeit. Wir hielten den Atem an und beobachteten ihn, wie er vor dem Spiegel auf dem Flur haltmachte, an seiner Krawatte rückte, dann leise hüstelte und mit zögerndem Schritt zu seinem Arbeitszimmer ging. Die Tür schloß sich hinter ihm.

Wir warteten zwei, vielleicht sogar fünf Minuten. Dann hielten wir es nicht länger aus, sondern schlichen an Vaters Tür. Hierbei begegneten wir den Schwestern, die sich von der andern Seite in gleicher Absicht heranpirschten. Vier Ohren legten sich an die Tür. Aber, ach! sie war, wie wir wohl wußten, im Interesse von Vaters Arbeitsruhe gepolstert, kein Laut drang zu uns. Doch verharrten wir immerhin so lange an dieser Tür, um von Mutter überrascht zu werden. Mit leisen Worten verwies sie uns das Schmähliche unseres Tuns und schickte uns in unsere Zimmer zurück. Wir sahen sie gerade noch in Vaters Zimmer eintreten, und erst jetzt fiel uns auf, daß sie einen Stoß Bücher unter dem Arm trug.

Lange, lange Zeit verging. Für Kinder ist Warten immer etwas Schreckliches. Was nicht sofort geschieht, geschieht nie, und nun gar Warten in einem solchen Moment, nachdem wir schon Wochen auf die Lösung des Rätsels gewartet hatten! Charlotte erschien und erkundigte sich etwas pikiert nach dem Verbleib Frau Brünings. Wie sie ihre Arbeit schaffen solle?

Wir waren froh, ein Opfer gefunden zu haben, deuteten geheimnisvoll vieles an, das wir nicht wußten, und hatten die Freude, Charlotte völlig verwirrt an ihre Arbeit zurückkehren zu sehen.

Dann endlich, kurz nach halb sieben, öffnete sich die Tür von Vaters Arbeitszimmer! In ihr erschien zuerst Frau Brüning. Das graue Kopftuch hatte seinen Sitz im Haar verlassen und wurde jetzt vor das Gesicht gehalten. Trotzdem sah und vor allem hörte man, daß seine Besitzerin heulte. Dann erschien Vater. Er sagte ernst: »Also heute noch, Frau Brüning! Unbedingt heute noch!«

Stärker schluchzend öffnete Frau Brüning sich die Vordertür und ging die Herrschaftstreppe hinab. Die Tür hinter ihr blieb offen. Wir waren entsetzt über diese Verletzung der Hausordnung! Wenn der Portier Markuleit sie auf der Vordertreppe ertappte, würde sie einiges zu hören bekommen! Denn die Lieblingsbeschäftigung Markuleits, die er mit vielen Kollegen damals teilte, war es, seiner Ansicht nach unwürdige Personen von der Herrschaftstreppe herunterzujagen und die Lieferantentreppe hinaufzuschicken!

Vater stand einen Augenblick auf dem Flur, stampfte mit dem Fuß auf und rief: »Teufel! Teufel!« Dann ging er zur Vordertür und schloß sie. (Wir verschlangen ihn mit unsern Augen.) Nun wandte sich Vater wieder seinem Arbeitszimmer zu. Er war schon fast darin verschwunden, da drehte er sich noch einmal um und rief ganz heiter: »Na, kommt nur hervor, ihr Strabanter! Glaubt ihr, ich hätte eure Schöpfe und eure Augen nicht gesehen?!«

Wir brachen in Lachen aus. Wir begriffen sofort, daß Vater uns eben mit seinem »Teufel! Teufel!« eine kleine Komödie vorgespielt hatte. Zugleich aber begriffen wir auch, daß Frau Brünings Verbrechen nicht so schwer sein konnte, wie nach ihrem starken Weinen zu schließen gewesen war. Und so war es auch wirklich. Frau Brüning, die selbst gerne Bücher las, hatte damit begonnen, sich einiges für ihren Privatbedarf ohne unser Vorwissen zu entleihen. Dies sparte ihr auch Geld, denn nun konnte sie ihr Abonnement in der Leihbibliothek abbestellen. Allmählich ging sie dazu über, auch ihre Freundschaft und Bekanntschaft mit Büchern zu versorgen. Der Kreis ihrer Leser breitete sich aus, das Besorgen der Bücher machte eine gewisse Arbeit, was war natürlicher, als daß Frau Brüning sich diese Arbeit bezahlen ließ –?!

»Ja«, sagte Vater lächelnd. »Es ist nicht zu leugnen, daß Frau Brüning eine gewisse, wenn auch irregeleitete Geschäftstüchtigkeit besitzt. Sie selbst hat mir zwar versichert, daß sie in der Woche nicht mehr als eine Mark eingenommen hat. Da sie aber allein heute neun Bände zurückbrachte und da sie, ihrer eigenen Angabe nach, fünf Pfennige Leihgebühr pro Band erhob, sie wird aber, wie ich vermute, einen Groschen genommen haben, so hat sie wohl drei bis fünf Mark in der Woche mit unsern Büchern verdient!«

»Das Geld muß sie aber an uns abliefern, Vater!« rief Ede, und ich war seiner Ansicht.

»Nein, danke, mein Sohn!« sagte Vater kurz. »Ich bin froh, wenn sie heute noch die fehlenden Bücher bringt, womit ihre Tätigkeit in unserm Hause beendigt ist.« Vater sah zu Mutter hinüber. »Ich fürchte, Louise, du verlierst eine tüchtige Kraft.«

»Zu tüchtig!« lächelte Mutter. »Ich finde schon jemand anders. Und jetzt werde ich einen Besen ergreifen, sonst schafft Charlotte ihre Arbeit nicht.«

»Der eine Gedanke aber tröstet mich«, sagte Vater nachdenklich. »All diese Leser haben aus unserer Leihbibliothek nicht ein schlechtes Buch bekommen. Damit stehen wir hoch über der ganzen Konkurrenz. Denn was da jene Bemeyer von französischen Büchern schreibt, so leugne ich nicht, den Dumas mit seinen drei Musketieren zu besitzen, auch einige Maupassant, doch halte ich diese Bücher nicht für verderblich. – Unsere Mutter aber bitten wir«, schloß der Vater, »bei der nächsten Aufwartung auf das ganz Unliterarische zu sehen. Lieber noch das tollste Berlinisch, aber keine illegitimen Bücherentleihungen mehr!«

Der gute, ahnungslose Vater! Hätte er gewußt, daß sein eifrigster illegitimer Bücherentleiher in der Gestalt seines Sohnes Hans vor ihm stand! Zu jener Zeit war ich nämlich der ewig gleichen Kost der Indianer- und Abenteuerbücher müde geworden. Kein Präriebrand konnte mich noch begeistern, kein Mustang war mir wild genug, mich zu erregen – und was die Lebensgefahr anbelangt, in der die Helden ständig schwebten, so hatte mich mein Vater von aller Angst um sie gründlich geheilt.

Als ich nämlich einst um einen Helden zitterte und nur noch um fünf Minuten Aufschub mit dem Zubettgehen bettelte, um doch noch zu erfahren, ob er leben oder sterben würde – da nahm Vater das Buch lächelnd in die Hand, wies auf das dicke Seitenpaket, das noch ungelesen vor mir lag, und sagte: »Noch zweihundertfünfzig Seiten – und der Held soll jetzt schon sterben? Was will denn der Verfasser auf den restlichen zweihundertfünfzig Seiten erzählen? Das Begräbnis?«

Dies leuchtete mir ein, so daß ich von Stund an, sobald mein Herz in Anteilnahme zu klopfen anfing, den restlichen Umfang des Buches abschätzte, und sofort war das Herz wieder ruhig!

Vielleicht war dies eine sehr nüchterne Weise, mich von meiner allmählich ausartenden Vorliebe für Abenteuergeschichten zu heilen. Aber sie half. Und nun suchte mein Geist andere Betätigungsfelder, und da ich Vaters literarischen Geschmack, seit er mir den Karl May verboten hatte, mißtraute, so ging ich auf eigene Faust in seiner Bibliothek auf Entdeckungsreisen. Übrigens Karl May – es ist mir heute noch unverständlich, warum mein sanfter, nicht gerne etwas verbietender Vater eine so tiefe Abneigung grade gegen diesen Autor hatte. Er war darin unerbittlich. Wir durften uns nie einen Karl May ausleihen, und als Onkel Albert dem Ede und mir ein paar Bände May geschenkt hatte, mußten wir sie beim Familienbuchhändler in schicklichere Lektüre umtauschen.

Vater hat damit nur erreicht, daß meine Liebe zu Karl May immer weiter unter der Asche schwelte. Als ich dann ein Mann geworden war und ein bißchen Geld hatte, habe ich mir alle fünfundsechzig Bände Karl May auf einmal gekauft. Während ich dies schreibe, stehen sie grüngolden aufmarschiert in der Höhe meines rechten Knöchels. Ich habe sie nun alle gelesen, nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Jetzt bin ich gesättigt von Karl May, ich werde sie kaum wieder lesen. Aber nun schlüpft mein Ältester in den Ferien hier herauf und holt sich einen Band nach dem andern, bettelt vor dem Schlafengehen um fünf Minuten Aufschub – alles dasselbe und doch alles ganz anders. Denn ich hindere ihn nicht, ich raube ihm auch nicht die Illusion, der Held befinde sich wirklich in tödlicher Gefahr – ich will doch einmal gegen Vater recht behalten!

Wie gesagt: da die kommunen Abenteuerbücher schal geworden waren und Karl May mir nicht gereicht wurde, ging ich selbst auf Entdeckungsreisen. Was da offen in Vaters Regalen stand, reizte mich nicht so sehr. Aber es gab auch gewisse Kästen in den unteren Fächern dieser Regale ... Auf ihnen stand öfter der Name Frankreich, England, Amerika, vereinzelt auch Ungarn, Italien, Schweden, Norwegen ... Hier hatte Vater die Heftchen und Hefte der Universalbibliothek untergebracht, die sich in ihren Broschüren nur schlecht auf einem Bücherbrett ausnahmen.

Diese Kästen waren eine wahre Fundgrube für mich! Mit elf oder zwölf Jahren geriet ich auf Flaubert und Zola, auf Daudet und Maupassant! Das Erotische verstand ich nicht, darüber las ich hinweg, aber welch eine ungeahnte Welt eröffnete sich mir da! Ich hatte nie gedacht, daß Romane so sein könnten! Stücke aus dem Leben nämlich, wirkliches Leben, das sich jeden Augenblick auf dieser Erde abspielen konnte! Alles, was ich bisher gelesen hatte, und ich hatte es gläubig gelesen, hatte doch etwas Unwirkliches gehabt, es war mehr den Märchen meiner Kindheit als dem Leben verwandt gewesen. Es mußte sehr weit von der Luitpoldstraße entfernt spielen, um einen Schimmer von Glaubhaftigkeit zu bekommen.

Das hatte ich stets dunkel gefühlt, ohne es mir klarmachen zu können. Sie hatten nicht satt gemacht, weder Herz noch Hirn, diese Abenteuergeschichten! Aber das hier, diese neue Welt –! Ich muß es schon damals gefühlt haben, daß man so »möglich« schreiben müsse, um »wirklich« zu wirken. Diese Bücher gingen glatt in mich ein. Ich las jedes nicht nur einmal, ich las es mehrere Male. Daher kommt es wohl, da sie so fest in mir saßen, daß ich sie allmählich überwand. Zola ist mir heute unerträglich, Daudet scheint mir fade, Flaubert bewundere ich, aber ich habe meine Lektion von ihm gelernt und lese ihn nicht mehr – aber jeder dieser Autoren hat seine Spuren in mir hinterlassen.

Ich erinnere mich sehr wohl meiner Begeisterung, als ich Dumas' »Drei Musketiere« entdeckte. Das war auch eine Abenteuergeschichte, aber sie war nicht nur ausgedacht, sie war auch möglich.

Und dann, als mir im englischen Kasten Stevensons Schatzinsel in die Hände fiel! Als ich Charles Dickens entdeckte, dessen Copperfield ich heute noch wieder und wieder lese, immer mit dem alten Entzücken. Seite um Seite könnte ich füllen mit diesen Erinnerungen an die Bücher, die ich damals entdeckte, die immer weiter in mir leben! Und dann die Russen: Rodion Raskolnikoff, Die Brüder Karamasoff!

Meine Leser werden finden, daß ich etwas reichlich früh mit dieser Lektüre begann, meine Eltern hätten das auch gefunden. Es hätte meiner Mutter Herz erschreckt, ihren ältesten, ach so jungen Sohn über der Lektüre von Maupassants Frivolitäten zu finden. Das habe ich ahnungsvoller Knabe natürlich recht gut gewußt, und so las ich nur in diesen Reclam-Bändchen, wenn ich mich ganz sicher wußte, also am frühesten Morgen. Ich bin zeit meines Lebens ein schlechter Schläfer gewesen, und meist war ich schon als Junge vor vier Uhr wach. Dann schlich ich auf leisen nackten Sohlen in Vaters Zimmer und kehrte reich beladen in mein Bett zurück. Und las ... Und las ...

Später, als ich entdeckt hatte, daß mein Vater nie diese Kästen auf ihren Bestand kontrollierte – sie gehörten einer vergangenen Leseepoche von ihm an –, später wurde ich frecher: ich hielt mir unter der Matratze meines Bettes immer ein größeres Lager dieser Bände. Es war ein beruhigendes Gefühl, sich abends beim Einschlafen zu sagen, daß man für den kommenden Morgen bereits verproviantiert war. Heute hat meine gute Frau mich darüber aufgeklärt, daß diese stets unentdeckt gebliebene Schmökerbibliothek unter der Matratze den Reinmachekünsten des elterlichen Hauses kein gutes Zeugnis ausstelle: zu einem richtigen Bettmachen gehöre auch ein Wenden der Matratzen. Ich hoffe danach, daß dies heute in meinem eigenen Hause regelmäßig geschieht, aber ich sage noch in dieser Stunde Minna, Christa, Charlotte, und wie sie sonst alle hießen, meinen Segen und Dank, daß es im elterlichen Hause nicht geschehen ist!

Es konnte gar nicht anders sein: durch eine so intensive Leserei mußte die Schule zu kurz kommen. Meistens nahm ich nur ziemlich schläfrig am Unterricht teil, und wachte ich einmal auf, so dachte ich nur an das Gelesene oder wie es nun weitergehen würde. Einmal, ein einziges Mal winkte mir die Aussicht, daß ich durch meine Lektüre auch in der Schule Lorbeeren ernten konnte. Das war, als unser Geschichtslehrer vom Aufstand der Tiroler erzählte, wobei auch der Name Jürg Jenatsch fiel ... Ich horchte auf. Professor Friedrichs fragte, uns alle musternd: »Weiß vielleicht einer von euch, welcher Dichter uns diesen Aufstand geschildert hat –?«

Ich sah um mich, ich war der einzige, der es wußte. Stolz fuhr ich aus meiner Bank und schrie: »Cordinand Ferdinand Meyer!«

Ein brüllendes Gelächter war der Erfolg, den ich einheimste. Sogar Professor Friedrichs lächelte milde. »Zwar nicht Cordinand Ferdinand« – neue Gelächtersalve –, »sondern Conrad Ferdinand Meyer.«

Nun hieß ich eine Weile in der Klasse nur der Cordinand.

Also ich las und las. – Aber in unserer Familie war es so bestellt, daß man das Verbum »Lesen« in allen Formen konjugieren konnte, es stimmte immer. Ich lese, du lasest, er wird lesen, sie haben gelesen – immer stimmte es! Nur die Befehlsform anzuwenden war ganz unnötig: »Lies und Leset« brauchten nicht angewendet zu werden, wir taten es auch so.

Aber ich war ein reiner Waisenknabe in meinen Leseleistungen gegen meine Schwester Itzenplitz. Sie brach jeden Rekord im Lesen. Wenn ich morgens um vier Uhr in Vaters Arbeitszimmer schlich, um mich neu mit Lektüre zu verproviantieren, traf ich sie dort manchmal. Im Nachtgewand stand sie auf einem Stuhl, in der einen Hand hatte sie ein geöffnetes Buch, in der andern eine fast heruntergebrannte Kerze. Sie hatte es nicht so gut wie ich, ihr Schlafzimmer lag direkt neben dem der Eltern, und das verbot alles nächtliche Lesen, denn Mutter hatte feine Ohren. Wenn ich ihr aber vorschlug, sich doch wenigstens in einen Sessel zu setzen, sah sie mich nur bleich und frösterig über die Seiten ihres Buches weg an, sagte »Och!« und war wieder in ihre Lektüre versunken.

Als diese selbe Schwester einmal die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium mit Glanz bestanden hatte, durfte sie zur Belohnung mit einer Tante nach Italien fahren. Am Tage vor der Abreise gab meine Mutter ihr streng auf, endlich ihren Koffer zu packen. Itzenplitz versprach es, aber kurz vor dem Abendessen fand Mutter sie verloren in einem Buch, in dem Koffer lagen nur ein paar vereinzelte Wäschestücke. Mutter war entrüstet, es gab eine tüchtige Abreibung, und Itzenplitz mußte ihr in die Hand versprechen, nicht eher wieder ein Buch anzurühren, bis der Koffer gepackt war.

Als aber Mutter um halb elf zum Gute-Nacht-Sagen zu ihr kam, fand sie ihre älteste Tochter auf dem Boden neben dem Koffer sitzen und Zeitungen lesen. Es waren uralte Zeitungen, es hatten Schuhe in sie eingepackt werden sollen. Aber ein Wort hatte die Aufmerksamkeit von Itzenplitz gefesselt, sie hatte zu lesen angefangen, und wenn sie erst im Lesen war, vergaß sie Zeit und Ort und alle zu packenden Koffer. In dieser Nacht flossen noch Tränen, und beinahe wäre die Italienreise am Einwickelpapier gescheitert. Die Mutter prophezeite ihrer Tochter düster, sie werde in ihrem Leben noch einmal an dieser elenden Leserei scheitern, sie werde alle guten Gelegenheiten darüber verpassen ...

Itzenplitz ist nicht gescheitert (worüber sich niemand mehr freut als meine Mutter!), und ich glaube, sie hat auch nicht viel verpaßt, trotzdem sie sich nie des süßen Giftes starker Lektüre entwöhnt hat. Heute hat sie Mann und Kind, und wenn ich sie einmal besuche, geht Itzenplitz gleich in die Küche, um uns etwas Gutes zu kochen, denn sie weiß, wie verfressen ich bin. Nach einer Weile sagt dann mein geduldiger Schwager freundlich: »Ich glaube, wir müssen mal nach meiner Frau sehen ...«

Und da sehen wir sie denn wirklich, sie steht am Herd, das Wasser kocht, aber Itzenplitz merkt es nicht. Sie hat in der einen Hand einen Löffel, in der andern ein Buch, aber nur das Buch fesselt sie. Noch heute bringt es Itzenplitz nicht über sich, mit einer Zeitung Feuer im Ofen zu entfachen, ohne diese Zeitung erst auf ihren Inhalt geprüft zu haben.

Das hat natürlich einige Unbequemlichkeiten im Haushalt zur Folge, aber mein Schwager ist nicht nur ein geduldiger, sondern auch ein weiser Mann. Er weiß, was unter den Schattenseiten einer Tugend zu verstehen ist. Denn Itzenplitz weiß alles, und sie hat immer etwas zu erzählen. Sie liest ein Kochbuch mit derselben Hingabe wie eine Abhandlung über den Meskalinrausch. Sie saugt aus jeder Blüte Honig, selbst aus den übelriechenden, wie Vater schon früher von ihr sagte.

Noch bleibt mir im Hinblick auf das Familiensteckenpferd von einer nicht sehr schönen Gewohnheit in unserm Hause zu sprechen: keines von uns suchte einen gewissen Ort auf, ohne sich vorher mit einem Buch zu bewaffnen. Wohl hatten wir in Berlin zwei solche stillen Stätten, aber da unser Haushalt, die dienstbaren Geister eingerechnet, acht Personen zählte, war doch stets Knappheit an passender Sitzgelegenheit. Wie oft wurde verzweifelt an einer Tür gerüttelt, flehentliche Bitten wurden geflüstert, Verwünschungen zum Himmel gesandt: alles umsonst. Jedes Familienmitglied huldigte dem Satz »J'y suis, j'y reste«. Jedes wußte nur zu gut, daß der Bettler und Rüttler, war er erst drinnen und der andere draußen, mit derselben Beharrlichkeit weiter sitzen und weiter lesen würde.

Noch heute muß ich im Gedanken daran lächeln, wenn ich meinen Vater, im grauen Hausjäckchen, einen Band Reichsgerichtsentscheidungen unter dem Arm, an jenen Ort verschwinden sah. Denn Vater gab sich dort keineswegs nur entspannender Lektüre hin, es wurde dort ganz ernst gearbeitet. Waren die Verhältnisse unhaltbar geworden, so wurde, meist auf Mutters Anregung hin, die diesem Lesen am wenigsten frönte, ein Verbot erlassen, mit Büchern »dorthin« zu gehen. Aber es half meist nur wenig, da aus Sparsamkeitsgründen auf dem Klo zerschnittenes und gebündeltes Zeitungspapier hing. Es war ein reizvolles Spiel, diese Zeitungsstücke wieder zusammenzusetzen und zu versuchen, sie fortlaufend zu lesen. In leichter Abänderung eines ärztlichen Fachausdruckes hieß dieser Ort bei uns auch »locus minoris resistentiae«.

(Ich möchte übrigens allen meinen Lesern, die mich etwa besuchen wollen oder eine Einladung an mich beabsichtigen, mitteilen, daß ich durch den Einfluß meiner Frau von dieser Art des Leselasters völlig geheilt bin.)

Außer dem Büchersteckenpferd ritt mein Vater aber noch ein zweites, das war die Musik. Die Musik, besonders in der Form des von ihm geübten Klavierspiels, war seine größte Freude, seine Entspannung, sein Trost, seine Gefährtin in einsamen Jahren. Mein Vater soll ein ausgezeichneter Klavierspieler gewesen sein, und Mutter, die eigentlich nur das übliche Klimpern der höheren Tochter gelernt hatte, entwickelte sich unter seiner Führung in den langen Jahren ihrer Ehe immer mehr, wenn sie auch Vater nie ganz erreichte.

Manchmal wurde er ungeduldig bei ihrem Vierhändig-Spielen. Ich sehe ihn noch, wie er den Kopf immer energischer hin und her bewegte, um ihr Tempo anzufeuern, wie er zu zählen anfing: »Eine, zweie, dreie, viere. Eine, zweie, dreie, viere ...«, und wie meine Mutter sich bemühte, seinen Anforderungen gerecht zu werden, die Lippen fest geschlossen, ein leises Rot auf den Wangen.

Aber dann ihre Freude, wenn Vater nach einer Bachschen Fuge etwa anerkennend sagte: »Das hast du ganz großartig gespielt, Louise.«

Wie in allem, so wollte auch in der Musik meine Mutter teilhaben an dem, was ihn freute. Jahraus, jahrein, jeden Tag, ob Alltag, ob Sonntag, setzten sich meine Eltern nachmittags um fünf Uhr an den Flügel und spielten bis sechs vierhändig. Das war so unumstößlich, daß wir Kinder in diese Zeit schon ganz gewohnheitsmäßig unsere Abrechnungen untereinander legten, um diese Stunde waren wir vor Eingriffen von oben her sicher.

Der Flügel, ein echter Steinway, ein wahres Prachtexemplar, war weit über der sonstigen Lebenshaltung meines Vaters. Wie er zu ihm gekommen ist – denn er hat ihn schon als junger Assessor aus eigenen Mitteln gekauft –, ist auch eine Geschichte. Wie eben gesagt, war Vater damals Assessor in einem kleinen hannöverschen Landstädtchen. Die Gegend war damals von einer bösen Seuche ergriffen, die auch ich später einmal im Thüringischen erlebte: die Höfe brannten zu leicht. Schien eine Scheune baufällig, ein Wohnhaus eines andern Daches zu bedürfen, so brannte es dort über kurz oder lang, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Brandkassen mußten zahlen und zahlen, bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Hat sich eine solche Krankheit in einem Bezirk erst einmal eingefressen, so hilft nur Abschreckung durch Verhängen von drakonischen Strafen, durch Statuieren eines Exempels.

Aber ehe ein Exempel statuiert werden kann, muß ein Übeltäter gefaßt sein. Und die Brandstifter gingen zu jener, nun fast siebzig Jahre zurückliegenden Zeit mit der äußersten Gerissenheit vor. Die Brandkassen setzten eine Belohnung aus, sie verdoppelten, sie vervierfachten, bis sie die damals horrende Höhe von tausend Talern erreicht hatte, aber es blieb alles umsonst, kein Brandstifter wurde gefaßt ...

Nun gut, zu jener Zeit und in jener Gegend geht Vater spazieren. Er liebte sein ganzes Leben hindurch die weiten und besonders die einsamen Spaziergänge. Er hat immer all seinen Scharfsinn aufgewendet, um Wege zu finden, die niemand ging. Also auch an jenem Tage, einem drückend heißen Sommer- und Sonntage, geht mein Vater auf Feldrainen und Wiesenkanten fern allen Menschen auf dem flachen Lande spazieren. Allmählich wird das Licht der Sonne fahl, am Horizont türmt sich immer höher blauschwarzes Gewölk, in der Ferne fängt es an, erst leise, rasch immer lauter zu grummeln und zu brummeln. Vater sieht sich nach einem Unterkommen, das ihm vor dem aufziehenden Gewitter Schutz bietet, um. In der Ferne entdeckt er die Strohdächer eines einsam liegenden Gehöftes. Erst langsam, dann immer schneller schlägt er den Weg nach dem Hof ein.

Grade als das Gewitter mit dem ersten fürchterlichen Schlag über seinem Kopf losgebrochen ist, als die ersten Tropfen fallen, betritt Vater den Hof. Er hält sich nicht erst lange mit Umsehen auf, er öffnet die Tür und steht auf der Diele, dem »Pesel« des Hauses. Man kennt solchen Pesel. Er nimmt fast zwei Drittel des Hauses ein, links steht das Rindvieh, rechts die Pferde, darüber, durch eine Luke erreichbar, liegt der Heuboden. Im Hintergrund, nach dem Pesel zu offen, ist die Küche mit der Feuerstätte, daran erst schließen sich die wenigen Stuben des Hauses.

Auf diesen Pesel tritt als überraschender Gast mein Vater und bleibt erstarrt stehen. Denn auf dem Pesel stehen alle Hausgenossen mit Betten, Hausgerät, Kisten beladen. Zwei Mädchen halten die Kühe schon bereit, ein Bursche die Pferde – alle wenden Vater plötzlich erschreckte, starr werdende Gesichter zu. Und in eben diesem Augenblick erscheint auch in der Heubodenluke der Herr des Hofes, er ruft hinunter: »Jetzt brennt's all tüchtig!«

Mein Vater war in dem Augenblick eingetreten, als das Feuer angelegt war!

Es war – für alle – ein recht unangenehmer Moment, als dem Landwirt klar wurde, daß ein Besuch auf dem Pesel stand, und was für ein Besuch! Denn der Assessor des Amtsgerichts war wohlbekannt. Mein Vater versicherte uns, es sei eine der schlimmsten Minuten seines Lebens gewesen, und einen Augenblick habe er gezweifelt, ob er lebend den Pesel verlassen würde. Aber diese Minute ging vorüber, mein Vater war ein mutiger und energischer Mann, und die Leute, wenn sie auch Brandstifter waren, waren doch keine Mörder.

Mein Vater legte die Hand auf die Schulter des Mannes und erklärte ihn für verhaftet. Und ohne den Leuten erst Zeit zum Besinnen zu lassen, führte er den Verhafteten fort in die Stadt, durch Regen und Gewitter, von Blitzen umzuckt! Es ist wohl ein schlimmer Weg für alle beide gewesen, für den Führer wie für den Verhafteten. Denn mein Vater wußte wohl, wie Schweres dem Manne bevorstand, daß seine Strafe hart, sehr hart ausfallen würde, und der Mann wußte das auch. Er verlegte sich aufs Bitten und Flehen, es habe doch keiner gesehen als der Assessor, der Assessor wolle doch nicht Weib und Kind unglücklich machen. Mein Vater war ein sanfter und gütiger Mann, aber hier konnte es kein Schwanken geben, eine Pflicht mußte getan, eine Seuche ausgerottet werden ...

An die ausgesetzte Belohnung aber wird mein Vater auf diesem Wege kaum gedacht haben, zu viel anderes bewegte ihm Herz und Hirn. Vater war ein junger Mensch, in der Achtung vor dem Alter war er erzogen worden. Es ist schwer, gegen einen Alten hart zu sein, wenn man noch jung ist, ihn bitten zu hören und »Nein« zu sagen. Die Belohnung kam erst später, und es ist bezeichnend für Vaters wenig entwickelten Erwerbssinn, daß er sie lange nicht nehmen wollte. Erst als es ihm seine Vorgesetzten befahlen, tat er es. Und verwandelte das Geld in den Steinway-Flügel, der sein ganzes Leben hindurch seine größte, seine dauerndste Freude blieb.

Gelang es aber dem Vater, seiner Frau eine immer stärker werdende Neigung zur Musik einzuflößen, so hatte er mit uns Kindern weniger Glück. Jedes von uns bekam Klavierunterricht, und keines kam über die erbärmlichste Stümperei hinaus. (Außer Ede, von dem noch berichtet wird.) Was speziell mich anging, so war ich der größte Versager. Ich konnte nie einen Ton vom andern unterscheiden, und auf dringenden Wunsch des Gesanglehrers wurde ich vom Gesangunterricht für ewige Zeiten befreit, da, wenn ich nur zu singen anfing, die ganze Klasse schon aus dem Takt geriet. Wirklich habe ich auch heute noch keinen richtigen Ton in der Kehle, und ich pfeife zwar gerne, besonders Volkslieder, aber für mich ganz allein, fern allen Menschen. Ich möchte gerne in meinem Bett sterben ...

Aber Vater gab so leicht den Mut nicht auf. Er war unermüdlich in seinen Versuchen, uns die Liebe zur Musik einzuimpfen. Nach dem Abendessen kam stets die ganze Familie in seinem Zimmer zusammen. Zuerst spielte uns Vater mit Mutter eine halbe Stunde lang etwas vor, dann wurde von ihm vorgelesen. Ich ruchloser Knabe habe diese Zeit des Vorspielens meist dazu benutzt, um noch unerledigte Schularbeiten zu machen. Das ging sehr gut, denn die Eltern kehrten uns am Flügel den Rücken. Man mußte nur auf den Moment passen, wenn das Stück zu Ende ging; hierin erwarb ich mir eine gewisse Routine, die mir noch heute beim Plattenwechsel zugute kommt.

Denn seit Vater tot ist, finde ich langsam einen Weg zur Musik. Solange er lebte, glaubte ich, musikalisch ein Idiot zu sein, außerdem konnte ich Musik »überhaupt nicht ausstehen«. Das hängt damit zusammen, daß ich lange Jahre »böse« auf Vater war. Weil ich ihm zürnte, lehnte ich auch das, was er am meisten liebte, ab. Aber das ist ein trübes Kapitel, nur mit Schmerz und Reue denke ich daran zurück, will aber nichts darüber erzählen.

Vater wählte für dieses Vorspielen immer leichtere Musik, was er nämlich so leichter nannte: den Lohengrin, Schumann, Schubert, allenfalls auch noch den Freischütz. Ein Mann, der mehr von Musik versteht als ich, hat mir später einmal gesagt, daß Vater eigentlich gar nicht musikalisch gewesen sei, er sei mehr Mathematiker als Musikant gewesen. Wie in der Geometrie eine Figur konstruiert wird, so habe mein Vater in der Musik die Konstruktion, den kunstvollen Auf- und Abbau mehr geschätzt als den Klang, das eigentlich Musikhafte. Wie gesagt, davon verstehe ich nichts. Aber mir scheint doch, als wenn Vater für uns Kinder ein wenig gar zu schwierige Themen auswählte. Ich erinnere mich noch, daß ich einmal, bei meinen Schularbeiten sitzend, aufmerksamer als sonst ins Nebenzimmer lauschte, wo Vater und Mutter am Flügel saßen. Das gefiel sogar mir, was sie da spielten. »Heut hast du mal was Hübsches gespielt, Vater!« sagte ich nachher anerkennend.

»Was habe ich doch für einen Sohn!« rief Vater in komischer Verzweiflung und griff sich ins Haar. »Ich kann jahrelang das Herrlichste von Bach und Beethoven spielen, er hört es gar nicht. Hört es einfach nicht!! Aber ich brauche nur einmal solch einen Schmarren von Suppé zu klimpern, und sofort ist er ganz Ohr! Es ist zum Verzweifeln!«

Als wir später in Leipzig wohnten, ging Vater jeden Freitagabend zur Motette in die Thomaskirche. Da er noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, mich wenigstens ein bißchen zur Musik zu bekehren, mußte ich ihn oft begleiten.

In der Kirche war es ziemlich dunkel, denn am Freitagabend war nur »Probe«, darum wurde wohl an Licht gespart. Nur des Dekorums halber sprach der Pastor nach der Motette ein kurzes Gebet.

Wir setzten uns auf eine der langen Kirchenbänke, meistens zu früh, denn Vater wollte nicht einen Ton versäumen. So sah ich sie denn alle ankommen, die sich an jedem Freitag hier versammelten, um sich den Gesang des Knabenchors anzuhören. Viele Gestalten kannte ich bald vom Ansehen, mit solcher Regelmäßigkeit kamen sie. Sie setzten sich immer auf die gleichen Plätze und blieben dort unbeweglich sitzen, in Erwartung des Orgelvorspiels. Es waren seltsame Gestalten darunter, verschollene Figuren, wie ausgelöschte Gesichter, schlecht und gut Gekleidetes nebeneinander, aber kaum Jugend. Fast alles waren alte Leute, und das männliche Element überwog.

Ich erinnere mich noch an einen weißhaarigen Alten, der Sommer wie Winter in einer ganz verschossenen Samtjacke kam, aber Sommer wie Winter steckte eine Blume im Knopfloch dieser Jacke. Ein anderer Alter wurde von zwei greisen Mädchen eher hereingetragen als geführt. Sie setzten ihn auf seinen Platz und verließen dann immer sofort die Kirche. Aus welchen Stuben, aus welchen Lebensformen kamen sie da zusammen, einmal vereint unter Menschen, die das gleiche wie sie, diese alt gewordenen Einsamen, fühlten!

Dann setzte die Orgel ein, und sofort begann auch meine Angst. Ich sah nichts anderes mehr, ich konnte nichts hören von Orgel und Gesang, ich mußte immerzu Vater beobachten. Und richtig, nun war es wieder soweit: Vater weinte! Ich fand es ganz schrecklich, daß Vater weinte. Große blanke Tropfen rollten langsam seitlich seiner Nase herunter und verschwanden im Schnurrbart. Immer, wenn Vater die Motette hörte, mußte er weinen. Es war wohl Glück, das ihn weinen machte, es war Freude über dies reine Stück Schönheit, das der Erde noch geblieben ist.

Aber ich dummer Bengel fand es nur beschämend. Ich schämte mich Vaters, daß er so weinte. Ich hatte eine Todesangst, einer meiner Schulgefährten könne in der Kirche sein und könne mich sitzen sehen neben meinem Vater, der weinte! Ich wäre doch vor dem ganzen Gymnasium blamiert gewesen! Es beruhigte mich gar nicht, daß viele so weinten. Ich achtete auch nicht darauf, daß hier niemand die andern beobachtete, ich schämte mich nur und hoffte, es möchte doch bald zu Ende sein. Ich, mit dessen vielen Schwächen Vater eine so unendliche Geduld hatte, war so unduldsam gegen Vater!

Diese Besuche in der Motette nahmen mir den letzten Rest von Aufmerksamkeit für die Musik. Ich fand hundert Ausflüchte, um mich von diesen Freitagwegen zu drücken. Vater sah schließlich auch ein, daß ich unheilbar war, und bat nicht mehr um meine Begleitung. Statt meiner nahm er meinen Bruder Ede mit. Siehe da! Ede hatte sich entwickelt, er war das einzige von Vaters Kindern geworden, das nicht ungern am Klavier saß, das auch einmal mit Vater ein Wort über Musik sprach. Danach sehnte sich Vater bestimmt, er wußte so viel von Musik, und wir andern Kinder wollten nie etwas davon hören. Und nun ging Ede mit Vater in die Motette.

Ich sah es, wir alle sahen es, der kleine, früher etwas ruppige und rüde Ede wurde immer mehr zum Liebling der Eltern. Und seltsam, wir neideten ihm das überhaupt nicht, wir fanden es ganz in der Ordnung. Denn Ede war nicht etwa durch betonte Musterhaftigkeit oder Schmeichelei zu dieser bevorzugten Stellung gekommen, sondern weil er sich genau so gab, wie er war. Und er war anständig und verläßlich. Er war gar kein Musterknabe, ja, er war nicht einmal ein so besonders guter Schüler, aber den Dummheiten, die er machte, fehlte so ganz der Zug Verhängnis und Unbegreiflichkeit, der meinen Torheiten anhaftete. Wenn meine Eltern Ede anschauten, so wußten sie: er wird seinen Weg machen, man kann ihn ruhig gewähren lassen. Sahen sie aber auf mich, mußten sie denken: hoffentlich wird mal etwas aus ihm, man wird sehr auf ihn aufpassen müssen.

Vor allem aber hatte nie jemand von uns drei andern Geschwistern das leiseste Neidgefühl auf Ede, weil wir sahen, er merkte seine Vorzugsstellung im Herzen der Eltern gar nicht. Er liebte uns alle so gleichmäßig und stark, daß er nie darauf kam, Liebe könne auch Unterschiede machen. Und wir liebten ihn ebenso wie die Eltern, auch in unsern Herzen nahm er eine Vorzugsstellung ein.

So hatte Vater spät noch einen Gefährten aus der jungen Generation gefunden. Die Schwestern gingen aus dem Haus, auch ich zog ins Weite. Ede blieb bei den Eltern, sie lebten sich ganz auf ihn ein. Vater empfand nicht einmal Betrübnis, als auch Ede schon früh erklärte, er wolle keinesfalls Jurist werden, sondern Arzt. Wenn Ede so sprach, war es in Ordnung, denn Ede wußte, was er wollte, ich aber wollte alle Tage etwas anderes. So wurde Ede die große Hoffnung der ganzen Familie. Ede war Vaters und Mutters Stolz ...

Dann kam der Weltkrieg, und Ede meldete sich, kaum daß er siebzehn geworden war, freiwillig. Er hat den ganzen Krieg an der Westfront mitgemacht, immer im flandrischen Dreck, immer im Grabenkrieg. Selten kam er auf Urlaub. Dann zeigten sich die Eltern voller Stolz mit ihrem jungen Offizier, voller Stolz und Bangen, denn die Verlustziffer der Regimenter in jenem Abschnitt war sehr hoch. Aber davon sprach Ede nicht, er sprach überhaupt nicht von draußen. Am liebsten erzählte er von der Zukunft. Er hatte während eines Urlaubs sein Notabitur gebaut, und später kam irgendeine Bestimmung, nach der er sich schon immatrikulieren lassen konnte. Er ging zur Universität und ließ sich bei der medizinischen Fakultät einschreiben.

Es war sein glücklichster Tag im ganzen Krieg. Er führte seine Eltern zu einem kleinen Essen in ein Weinrestaurant, und wenn das Essen auch nur dürftig war, seine Stimmung war so übermütig, daß er die bekümmerten, vom Krieg alt und grau gewordenen Eltern mitriß. Er spielte den Arzt, er hatte es schon geschafft, er war ein großer, berühmter Arzt geworden. Er ließ sich von Vater konsultieren. Er produzierte den blühendsten Blödsinn über Gallenleiden, erlaubte Vater sofort die längst verbotene lange Pfeife und versprach ihm neunundneunzig Lebensjahre. Er riß die Eltern so mit sich, daß auch sie daran glaubten, daß sie für gewiß ansahen, was er vor ihnen fabulierte, daß sie den Krieg im Schützengraben und das Trommelfeuer vergaßen, mit der langen, langen Todesangst um diesen Sohn.

Dann fuhr er wieder hinaus. Ich brachte ihn zur Bahn. Je mehr wir uns dem Bahnhof näherten, um so stiller wurde er. Da war schon der Urlauberzug, häßlich, verdreckt, heruntergekommen, wie damals 1918 alles aussah. Er nahm kurzen Abschied, saß dann still im Abteil, ohne den Kopf nach mir zu wenden. Vielleicht dachte er, ich sei schon gegangen. Ich sehe ihn da sitzen, eigentlich noch blutjung, einundzwanzig Jahre alt, und den vollen jugendlichen Mund, der doch schon fest geschlossen ist, mit dem kleinen bitteren Falten der Enttäuschung im Winkel.

Plötzlich steht er auf, geht ans Fenster, sieht mich an, ernst. Dann sagt er: »Wenn etwas passiert – mit mir, denke daran, daß du den Eltern Freude machst, Hans. Denke daran!«

Der Zug fährt, er sieht mich fest an. Ohne Zittern und Zagen. Keiner von uns hat ihn je wiedergesehen. Er war der liebste Bruder, er war aber auch der anständigste Mann, den ich in meinem Leben getroffen habe. Die Eltern haben seinen Verlust nie verwunden ...

Aber das alles war viel, viel später. Damals schien bei uns noch die Sonne. Wir waren noch Kinder, und wenn jetzt die Sonne nicht mehr scheint, so wird bald die winterliche Dunkelheit durch den Weihnachtsbaum erhellt werden. Überall, wo Kinder sind, ist das Weihnachtsfest schön, ich finde natürlich, zu Haus bei uns war es am allerschönsten! Das Hauptverdienst daran trägt sicher der Vater, er hatte eine so liebenswürdig geheimnisvolle Art, unsere Erwartung zu steigern, uns ein bißchen zu foppen und zu necken.

In Berlin halten die Weihnachtsbäume zeitig ihren Einzug auf Straßen und Plätzen. Dann fangen wir Kinder an, Vater zu drängen, daß er auch einen Baum besorgt. Zuerst verschanzt sich Vater dahinter, daß das überhaupt nicht seine Sache sei, sondern die des Weihnachtsmanns. Natürlich kommt er damit bei uns nicht mehr durch, selbst Ede glaubt nicht mehr an diese Figur, seit beim letzten Fest Herrn Markuleits, unseres Portiers, Schuhe unter Vaters umgedrehtem Gehpelz erkannt wurden. Nein, Vater soll machen und einen Baum kaufen. Auf dem Winterfeldtplatz gab es die schönsten.

Schließlich versprach Vater, sich umzusehen, in diesen Tagen habe er aber noch nicht recht Zeit dafür. Doch wir ließen nicht nach mit Drängen. Schließlich ging Vater, und wir alle erwarteten seine Rückkehr mit Spannung. Natürlich kam er leer zurück. Das hatten wir auch nicht anders erwartet, denn Vater kaufte nie etwas sofort. Er erkundigte sich erst überall, wo er es am billigsten bekäme. Aber Vater kam auch recht niedergedrückt heim: die Weihnachtsbäume waren in diesem Jahre unerschwinglich teuer! Er hatte uns doch recht verstanden, wir wollten wieder einen Baum vom Fußboden bis zur Decke –? Nun also, so etwas hatte er sich schon gedacht, aber solche Bäume gab es nicht unter neun Mark, und mehr als fünf wolle er keinesfalls anlegen ... Wenn wir uns freilich mit einem auf den Tisch gestellten Bäumlein begnügen wollten –?

Wir schrien Protest. Es gelang dem Vater immer wieder, unsere Leidenschaft und unsern Zweifel zu erregen, obwohl sich alljährlich das gleiche Spiel wiederholte. Wir wußten ja, daß Vater wirklich sehr sparsam war, es war ja möglich, daß Weihnachtsbäume in diesem Jahre besonders teuer waren!

Von nun an kam Vater fast alltäglich mit neuen Geschichten über Weihnachtsbäume heim. Und diese Geschichten klangen so echt, mit ihren drastischen Berolinismen, daß wir immer sicherer wurden, Vater war wirklich auf der Suche nach einem Tannenbaum, hatte aber noch keinen gefunden.

Er erzählte uns, wie er am Viktoria-Luise-Platz beinahe, beinahe einen herrlichen Baum gekauft hatte, als er im letzten Augenblick merkte, daß die meisten seiner Zweige nicht an ihm gewachsen, sondern in eingebohrte Löcher gesteckt waren. Vater berichtete von windschiefen Tannenbäumen und von solchen, die jetzt schon nadelten, und von krummen Bäumen. Am Bayrischen Platz hatte Vater einen Baum fast schon gekauft, er und der Händler waren nur noch um fünfundzwanzig Pfennige auseinander, da war ein Wagen vorgefahren, eine Damenstimme hatte gerufen: »Den Baum will ich!« und fast aus Vaters Händen wurde der Baum zum Wagen getragen.

Vater tat sehr geheimnisvoll wegen der Käuferin. Er ließ es für möglich erscheinen, daß es vielleicht eine Prinzessin vom kaiserlichen Hof gewesen sei, oder auch eine Hofdame, und er stellte uns vor, daß nun vielleicht des Kronprinzen Kinder mit »unserer Tanne« Weihnachten feierten!

Das versetzte unserer Phantasie einen Schwung, aber es verhalf uns immer noch nicht zu einer Tanne. Und das Fest zog näher und näher. Unser Drängen wurde heftiger. Aber nun wurde Vater plötzlich gleichmütig: er habe diese ewige Lauferei nach Tannenbäumen satt, sie würden auch noch immer teurer. Nein, nun werde er bis zum 24. Dezember warten, wenige Stunden vor dem Heiligen Abend gingen die Händler immer mit ihren Preisen herunter, um den Rest loszuwerden. Freilich riskiere man, daß dann alles fort sei, aber er, Vater, nehme lieber ein solches Risiko in den Kauf, als daß er Wucherpreise zahle.

Wenn Vater so redete, schielte ich immer nach den Fältchen um seine Augen. Sie waren im allgemeinen sichere Anzeiger für Ernst oder Scherz. Aber Vater wußte selbst sehr gut, daß solche Anzeiger in seinem Gesicht saßen, beherrschte oder verbarg sie – kurz, er brachte uns alle in Unsicherheit. Wir suchten die ganze Wohnung ab, wir stiegen auf den Boden und in den Keller, wir fanden keine Tanne, wir verzweifelten.

(Einmal ist es mir bei einer solchen Nachsuche geschehen, daß ich auf Mutters Versteck stieß, in dem sie alle unsere Weihnachtsgeschenke verheimlichte. Ich konnte meiner Neugierde nicht widerstehen und sah sie alle an. Ich habe nie ein kläglicheres, freudloseres Weihnachtsfest als dies erlebt. Ich mußte noch Freude und Überraschung heucheln, und dabei war mir zum Heulen zumute! Von da an habe ich in der Weihnachtszeit meine Augen hartnäckig von jedem Paket, es mochte das harmloseste sein, fortgewendet.)

Also war es ausgemacht und beschlossen, Vater würde den Baum erst wenige Stunden vor der Bescherung kaufen. Wir waren von Angst erfüllt. Mit Kummer sahen wir die Bestände an Weihnachtsbäumen dahinschwinden, wir flehten Vater an, aber Vater schien unerbittlich.

Dafür hatte er ein neues Spiel erfunden, er ließ uns unsere Geschenke raten. Jeder bekam ein Rätsel auf, wie dieses: »Es ist rund und aus Holz. Aber es ist auch eckig und aus Metall. Es ist neu und doch über tausend Jahre alt. Es ist leicht und doch schwer. Das bekommst du zu Weihnachten, Hans!«

Da konnte man lange raten! Mutter zwar schrie manchmal Weh und Ach. »Das ist zu leicht, Vater. Das muß er ja raten! Du nimmst ihm ja die Vorfreude!«

Aber Vater war seiner Sache sicher, und ich erinnere mich wirklich nicht eines einzigen Males, daß ich ein Geschenk erraten hätte.

Unter all diesen Vorbereitungen nahte das Fest. Am 24. Dezember stand Vater ungewohnt früh auf und zog sich mit Mutter ins Weihnachtszimmer, wie nun sein Arbeitszimmer hieß, zurück. Über Weihnachten ruhte alle Arbeit bei ihm. Da wollte er seine Familie ganz für sich haben. Für alle Fälle versuchten wir die Schlüssellöcher, trotzdem wir Vaters Vorsicht kannten: er verhängte sie immer zuerst. Geheimnisvoll verdeckte Gegenstände wurden durch die Wohnung getragen. Alle lächelten, sogar die meist brummige Minna.

Der Vormittag ging für uns Kinder noch so einigermaßen hin. Meist waren wir mit unsern Geschenken für Eltern und Geschwister noch nicht fertig. Mit Eifer wurde laubgesägt, kerbgeschnitzt, spruchgebrannt, gehäkelt und gestickt, und was es da alles sonst noch für Beschäftigungen gab, durch die man in damaligen Zeiten die Wohnungen immer mit Scheuel und Greuel anfüllte.

Zum Mittagessen gab es immer Rindfleisch mit Brühkartoffeln. Mutter vertrat den Standpunkt, daß wir uns noch früh genug den Magen verderben würden und vorher nicht einfach genug essen könnten. Nach dem Essen aber stieg unsere Spannung so sehr, daß wir eine Pest wurden, aus lauter Kribbligkeit und Erwartung brachen ständig Streitigkeiten zwischen uns aus. Schließlich jagte uns Vater auf die Straße mit dem Machtwort, nicht vor sechs Uhr nach Haus zu kommen, eher fange die Bescherung doch nicht an.

Meist trennten wir vier Geschwister uns sofort, wenn wir auf die Straße kamen. Die Schwestern gingen für sich, und ich machte mich mit Ede auf, um die schon hundertmal besichtigten Schaufenster der Spielwarenläden noch einmal anzusehen. Da stellten wir dann fest, was mittlerweile aus den Schaufenstern genommen war, und machten Pläne für das, was wir uns zum nächsten Weihnachtsfest wünschen wollten. Aber die Zeit wurde uns sehr lang, es schien überhaupt nicht dunkel werden zu wollen, und sonst kam die Dämmerung immer so schnell!

Wir gingen und gingen, aber die Zeit verging nicht. Dann kamen wir auf das Spiel, auf den Granitplatten des Bürgersteigs so zu gehen, daß nie auf eine Ritze getreten wurde. Auch durfte man auf jeden Stein nur einmal treten. Gelang es, so bis zur nächsten Straßenecke zu kommen, so wurde ein Lieblingswunsch erfüllt. Dies war also unser Orakel, und es war gar nicht so leicht! Denn manche Steine waren für unsere Kinderbeine sehr breit, auch verlangten entgegenkommende Erwachsene, daß wir ihnen den Weg frei machten, und neben den Granitplatten lag Kleinpflaster – dann ade Lieblingswunsch!

Schließlich war es doch dämmrig geworden. Wir warteten so lange, bis in irgendeinem Fenster der erste Baum brannte, dann stürzten wir nach Haus mit dem Geschrei: »Die Weihnachtsbäume brennen schon überall! Warum geht's denn bei uns noch nicht los?!«

Meist waren die Schwestern kurz vor uns eingetroffen oder kamen gleich hinterher, und meist waren die Eltern dann auch soweit, und wir brauchten nicht länger am Spieße zu zappeln, wie Vater das nannte.

Ich erinnere mich aber auch, daß ich einmal direkt vor der Bescherung noch zu einem Kaufmann in die Martin-Luther-Straße geschickt wurde, um Tomatenmark einzukaufen. Tomatenmark, oder wie man damals noch sagte: Tomatenpüree war zu jener Zeit noch eine teure Sache. Es wurde in kurzen gedrungenen Flaschen verkauft, und die Flasche kostete eine Mark.

Ich bekam also eine Mark in die Hand gedrückt und zog los. Es war ein schneidend kalter Wintertag, und ich war schon von dem vorhergehenden Straßenlaufen ganz durchkältet, so lief ich, so rasch ich nur konnte, zum Kaufmann. Meine Hände waren starr, und die Flasche in ihnen, mit der ich aus dem Laden trat, schien sie noch mehr zu durchkälten. Ich klemmte sie also unter den Arm, steckte die Hände in die Manteltaschen und machte, daß ich nach Haus kam. Kurz vor dem Ziel aber geschah das Unglück: die Flasche glitt unter meinem Arm hervor, klax! machte sie, und ein blutroter Fleck breitete sich rasch auf dem Schnee aus. Ich stand angedonnert davor ...

Nun waren die Eltern gar nicht »so«, ein derartiger Unglücksfall hätte mir nicht mehr als einen leichten Vorwurf und die Mahnung, doch endlich etwas besser aufzupassen, eingetragen. Aber die Festvorfreude, die Ungeduld, schnell zur Bescherung zu kommen, oder auch der Frost in allen Gliedern – ich bin immer ein Frostpeter gewesen – müssen mich völlig verwirrt haben. Ich stand wie gelähmt vor dem roten Fleck im Schnee, bohrte die Knöchel in die Augen und fing jämmerlich an zu weinen.

Trotzdem es in dieser Stunde vor der Bescherung eigentlich alle eilig hatten, sammelte sich bald ein kleiner Kreis um mich, denn zuzusehen hat der Berliner immer Zeit. Vom milden Trost bis zur urwüchsigen Veräppelung fehlte mir bald nichts. Ich erinnere mich noch, daß mir ein besonders hartnäckiger Witzbold immer wieder die Hand auf den Kopf legte und mich zwingen wollte, das Zeug aufzulecken: »Freut sich Mutta doch, det de's wenigstens im Bauche hast!«

Wäre ich nicht so eng umstanden gewesen, hätte ich mich längst auf die Beine gemacht, aber so erschien die Situation ziemlich hoffnungslos.

Plötzlich fragte eine etwas schleppende Stimme: »Was heulste, Junge?«

Ein Mann drängte sich in den Kreis. Ich sah hoch und erkannte ihn, mein geheimes Idol! Er besah den roten Tümpel. »Tomatenpüree, was?« fragte er militärisch kurz. Ich nickte nur. »Kostet wieviel?« Ich schluchzte: »Eine Mark!«

»Hier hast 'ne Mark, Jung«, sagte er. »Weil heute Weihnachten ist. Laß die Pulle aber nicht noch mal fallen!«

Und damit machte er nur den Weg frei, und ich schoß wie ein Pfeil, noch immer etwas schluchzend, in die Martin-Luther-Straße.

Der Gedanke, daß mir grade mein geheimes Idol diese Mark geschenkt hatte, machte mich so glücklich, daß darüber im Augenblick sogar die Festfreude zurücktrat. Ich liebte diesen Mann schon lange aus der Ferne, ich bewunderte ihn, trotzdem er zweifelsfrei ein Mann und kein Herr war, ein Unterschied, den wir Kinder sehr genau machen lernten. Er mußte in einem der Häuser in unserer Nähe wohnen, und wenn wir auf der Straße spielten, sah ich ihn im Sommer wie im Winter zwischen fünf und sechs Uhr vorübergehen. Dann sah ich ihn so lange an, wie es nur irgend ging.

Er trug eine Uniform, er war aber bestimmt nichts Militärisches, wahrscheinlich eher ein städtischer Beamter. Er ging ganz grade, den Kopf etwas im Nacken, und die Augen in dem fahlen Gesicht halb geschlossen. Mit diesen halb geschlossenen Augen und einer Miene gleichgültiger Kennerschaft musterte er alle vorübergehenden Mädchen und Frauen, und trotzdem ich noch ein völliges Kind war, merkte ich doch, daß dieses Mustern auf viele einen Eindruck machte. Sie drehten sich oft nach ihm um, er sich aber nie. Ich habe ihn auch nie mit einem weiblichen Wesen gesehen, er ging immer allein. Er wird wohl einer jener gewissenlosen Frauenjäger gewesen sein, die nur im Dunkeln auf Beute ausgehen, ein wahres Ekel.

Aber damals war er mein Idol, und zwar vor allem wegen seiner Kopfhaltung und der halb geschlossenen Lider. Zu einer gewissen Zeit war meine Bewunderung für ihn so sehr gestiegen, daß ich mir vor dem Spiegel diese Kopfhaltung und diesen Blick einübte. Das hatte seine gewissen Schwierigkeiten, denn wenn ich die Lider wirklich halb schloß, konnte ich mich im Spiegel nicht recht erkennen. Aber schließlich war ich mit dem Ergebnis meiner Übungen zufrieden und beschloß, damit vor ein größeres Publikum zu gehen.

Im Hause verbot sich das, Vater hielt etwas auf grade Haltung und offenen Blick. Auch ist die Familie ein schlechtes Publikum für außergewöhnliche Leistungen: der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande.

Also ging ich auf die Straße und promenierte dort auf und ab, in eben jener einstudierten Haltung: den Kopf zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen, die Hände aber hatte ich auf den Rücken gelegt und stolzierte so auf und ab. Ich erregte nicht ganz das Aufsehen, das ich erwartet hatte. So verstärkte ich meine zuerst nur schüchtern angenommene Pose zur vollen Wirkung – und plötzlich schlug ein Herr auf meine Schulter: »Junge, schlaf nur nicht auf der Straße ein!« schrie er. »Mach gefälligst die Augen auf!«

Es war eine bittere Enttäuschung, und mit einem Schlage gab ich alle Versuche auf, ebenso dämonisch zu wirken wie jener Uniformierte. Aber meiner Verehrung für ihn tat dies keinen Eintrag, im Gegenteil, sie wurde eher noch glühender. Man kann sich danach denken, mit welchem Glück es mich erfüllte, daß grade mein Idol mir eine Mark geschenkt hatte. Ich flog wie von Engelfittichen getragen fort und heim. Ich nehme an, diesmal habe ich das Tomatenmark heil nach Haus gebracht, und die Bescherung konnte ihren Anfang nehmen.

Für die letzte Viertelstunde scheuchte Vater auch noch Mutter aus dem Weihnachtszimmer. Er baute ihr noch rasch seine Geschenke auf, auch war es sein eifersüchtig verteidigtes Vorrecht, die Lichter am Baum zu entzünden. In fliegender Hast warf Mutter sich in Gala, wobei sie noch uns auf Sauberkeit und Ordnung prüfte.

Nun versammelten wir uns schon alle erwartungsvoll auf dem Flur, die Herzen schlugen schneller, die Hoffnungen wurden immer ausschweifender. Ich ertappe mich dabei, daß ich vor lauter Aufregung die Fäuste fest geballt habe und immerzu vor mich hinflüstere: »Au Backe! Au Backe! Au Backe!« Auch Edes Lippen bewegten sich stumm, ich weiß schon, er sagt sich noch einmal das Weihnachtsgedicht auf, das er gleich wird deklamieren müssen ... Nun, in diesem spannendsten Moment, werde ich von der Mutter in die Küche geschickt, um die alte Minna zur Eile anzutreiben. Christa ist längst hier ...

Minna ist noch beim Haarmachen. Ihr dunkles spärliches Haar steht in lauter kurzen Mäuseschwänzchen steil vom Kopfe ab. Jedes Schwänzchen wird sorgfältig mit Ochsenpfotenfett, einer Stangenpomade, eingerieben. Ich flehe Minna an, sich zu beeilen, obwohl ich aus Erfahrung weiß, daß jedes Hetzen bei Minna nur die Wirkung hat, sie noch zu verlangsamen, und kehre zu Mutter zurück, um ihr Bericht zu erstatten. Mutter entscheidet, daß wir auf Minna warten müssen. Aus dem Bescherungszimmer klingt eine rauhe Stimme: »Seid ihr auch alle artig?«

Wir brüllen begeistert: »Ja!«

Die Stimme fragt weiter: »Habt ihr euch auch alle die Zähne geputzt?«

Wir brüllen ebenso begeistert: »Nein!«

Und die Stimme fragt zum dritten Male: »Seid ihr denn auch alle fertig?«

Wir brüllen eiligst wieder ein »Ja!«, aber Mutter fügt hastig hinzu: »Wir müssen noch auf Minna warten!«

»Na, denn wartet man!« ruft die Stimme, und hinter der Tür wird es wieder still.

Aber der Geruch von brennenden Kerzen und Tannennadeln hat sich doch auf dem Flur verbreitet. Unsere Aufregung kann nun nicht mehr höher steigen. Ich tanze auf einem Bein wie ein Irrwisch umher, Ede sieht bleich vor Aufregung aus. Plötzlich geht er, fast finster vor Entschlossenheit, auf Christa zu, nimmt ihre Hand und küßt sie!

Christa wird puterrot und reißt ihm ihre Hand fort. Wir andern brechen in ein verblüfftes Lachen aus.

»Warum hast du das denn bloß gemacht, Ede?« ruft Mutter verwundert.

»Nur so!« antwortet er ohne alle Verlegenheit. »Irgend etwas muß man doch tun, und mir war grade so! Man wird ja verrückt vor lauter Warten!«

Nach diesen abgerissen hervorgestoßenen Sätzchen stellt er sich neben mich und haut mich mit der geballten Faust auf den Bizeps. Alle Vorbedingungen für die schönste Keilerei sind gegeben, aber ...

Aber da erscheint endlich Minna! Ich finde, ihr glatt an den Schädel geschmiertes Haar sieht nicht anders aus als sonst, darum hätte sie uns wirklich nicht so lange warten lassen müssen!

Mutter ruft: »Vater, wir sind soweit!« und fast augenblicklich ertönt das silberne Bimmeln, eines kleinen Glöckchens. Sofort nehmen wir Aufstellung, und zwar ist nach dem Alter anzutreten, was auch genau der Größe entspricht. Wir stehen hintereinander wie die Orgelpfeifen, nur die zu kurz geratene Minna zwischen Christa und der Mutter stört ...

Die Tür zum Bescherungszimmer fliegt auf, eine strahlende Helligkeit begrüßt uns. Geführt von Ede rücken wir im Gänsemarsch ein. Vater, am Flügel sitzend, sieht uns mit einem glücklichen Lächeln entgegen.

Nach geheiligtem Gesetz dürfen wir weder rechts noch links schauen, wir haben schnurstracks auf den Baum loszumarschieren und vor ihm Aufstellung zu nehmen, nach dem Satz: erst kommt die Pflicht, dann das Vergnügen. Die Pflichterfüllung aber besteht darin, daß Vater nach einem kurzen Vorspiel das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht« spielt, nun setzen wir ein, und es wird gesungen. Das heißt, wir sind natürlich nicht wir, ich brumme nur so mit, und auch das gebe ich gleich wieder auf: die klettern ja auf alle Gipfel!

Unterdes mustere ich den Baum. Jawohl, es ist doch wieder ein Weihnachtsbaum geworden, wie er sein soll, vom Fußboden bis zur Decke. Vater hat uns also doch wieder reingelegt, denn diesen Baum hat er bestimmt nicht erst in der letzten Stunde gekauft! Wo er ihn nur so lange versteckt haben mag?! Im nächsten Jahre falle ich aber bestimmt nicht wieder darauf rein!

Der Baum trägt all den bunten Schmuck, den wir seit unsern frühesten Kindertagen kennen, Gold und Silber, bunte Papierketten, allerlei geometrische Figuren in Rhombengestalt, Vielecke, bei denen jede Seite anders bunt ist, Erzeugnisse unserer Pappklebereien an langen Winterabenden. Dazu uralter wächserner Schmuck noch aus Vaters Elternhaus, zart bemalte Engelchen und vor allem ein Kanarienvogel in grünem Ring, den Mutter jedes Jahr von neuem verbannt wissen will, denn es fehlt ihm die ganze Hinterfront. Aber Vater besteht mit uns Kindern auf seiner Anwesenheit er gehört zu unsern Weihnachten. Dazu aber trägt der Baum in Fülle bunte Zuckerringe und Brezeln, schwarze Schokoladenfiguren, vergoldete Nüsse. Siehe da, nichts ist vergessen, auch die traditionellen Knallbonbons entdecke ich, mit denen wir bei der Baumplünderung Silvesterabend das neue Jahr einschießen werden!

Der Gesang ist beendet, Vater tritt in unsern Kreis und sagt ermunternd: »Nun los, Ede, nur Mut!«

Und Ede fängt nach kurzem Räuspern an, sein Weihnachtsgedicht aufzusagen. Es dauert nicht lange, und nun bin ich daran. Mein Teil ist die Weihnachtsgeschichte: »Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzet würde ...« Ich weiß eigentlich gar nicht, wieso gerade ich immer dazu kam, an der Weihnachtsgeschichte kleben zu bleiben, die andern hatten es mit ihren kürzeren Verschen viel bequemer. Die Annahme, daß meine Eltern schon damals erkannt hatten, ich eigne mich mehr für Prosa als für Lyrik, scheint mir doch etwas gewagt.

Ich erledigte meine Geschichte glatt, und nun sind die Schwestern dran. Gottlob gibt es auch bei ihnen keine Schwierigkeiten. Einmal nämlich war Fiete zu faul gewesen, ein Weihnachtsgedicht zu lernen, und hatte einfach das letzte in der Schule gelernte Gedicht als Ersatz geliefert. Es war das schöne Bürgersche »Lenore fuhr ums Morgenrot«, worunter ich mir damals Lenore auf dem Wagen des Sonnengottes um das Morgenrot herumfahrend dachte. Aber so schön dies Gedicht auch sein mochte, es hatte einige Erregung, Tränen, Verzögerung der Bescherung gegeben ... Gottlob war Heiliger Abend, an dem alles verziehen und vergeben wird!

Während die Schwestern aufsagen, schiele ich doch schon nach den Tischen. Ich möchte doch wenigstens sehen, wo mein Tisch steht, damit ich ihn nachher gleich finde. Im vorigen Jahr stand er beim Ofen. Aber beim ersten Umherschauen blendet mich eine solche Fülle von weißen Tischtüchern, Kerzchen, Bücherreihen, bunt lackiertem Zeug auf jedem Tisch, daß ich überhaupt keine Einzelheiten sehe. Und schon ist Vater hinter mir, dreht meinen Kopf wieder zum Baum und flüstert: »Willst du wohl mal nicht schielen! Alle Geschenke fliegen fort, wenn du schielst!«

Das glaubte ich nun freilich nicht mehr, aber es schien mir doch weise, Vaters Aufforderung zu folgen.

Gottlob ist Itzenplitz jetzt endlich auch fertig. Was hat sie eigentlich aufgesagt? Ich habe kein Wort gehört! Nun gehen wir bei allen umher, allen wünschen wir ein Fröhliches Weihnachtsfest, von den Eltern bekommen wir einen Kuß, und nun ertönt endlich, endlich, endlich der Ruf: »Und jetzt sucht sich jeder seinen Tisch!«

Einen Augenblick Verwirrung, Durcheinanderlaufen – und Stille! Tiefe Stille!

Jeder steht fast atemlos vor seinem Tisch. Noch wird nichts angefaßt, nur geschaut. Also, da ist er nun wirklich, der lang ersehnte Anker-Brückenbaukasten. Endlich werde ich Cäsar seine Brücke über den Rhein schlagen lassen können. Und da steht Hagenbecks »Leben mit meinen Tieren«. Und daneben, wahrhaftig! ein Nansen, mein erster Nansen! Gott, ich werde zu lesen haben in diesen Weihnachtstagen  ... Und da, in runden Holzschachteln, römische Legionen, Germanen und wirklich auch griechische Streitwagen! Ich werde eine Schlacht schlagen können –! Ich atme tief auf! Gott, ist das alles schön! Sie sind alle so gut zu mir, und ich bin oft so ruppig! Aber von jetzt an wird alles ganz anders werden, ich will ihnen nur noch Freude machen! Und aufgeregt fange ich an, die Bleisoldaten Schicht für Schicht aus den Schachteln zu nehmen ...

Die Stille im Bescherungszimmer ist einem freudigen Lärm gewichen, überall wird gezeigt, gerufen ... Schon wird hin und her gelaufen, die Schwestern haben einen ersten Überblick gewonnen und sind nun neugierig ... Vater und Mutter lassen sich bald an diesem, bald an jenem Tische sehen. Mutter besteht darauf, daß wir auch das »Nützliche« würdigen: neue Unterhosen oder einen Anzug. Aber das Nützliche ist uns egal, Unterhosen hätten wir sowieso haben müssen, Unterhosen sind nicht Weihnachten, aber Bleisoldaten sind es! Ein bunter Teller ist es, der überquillt von Süßigkeiten. Mit scharfem Blick mustere ich die Anzahl der Apfelsinen und Mandarinen auf dem Teller. Es sind beruhigend wenig, die Hauptsache besteht aus guter solider Leckerei zum Magenverderben. Und als Reserve ist da immer noch der Weihnachtsbaum mit seinem Behang. Es ist zwar verboten, an seine Süßigkeiten vor Silvester, vor der Plünderung zu gehen, aber jedes Stück kennt Vater doch nicht, und in der Weihnachtszeit sind alle Verbote gelockert

Das Ergebnis war regelmäßig, da die Geschwister ebenso dachten, daß am Silvesterabend die Vorderseite des Baums einen freilich nur spärlichen Paradebehang aufwies. Die Rückseite aber war ratzekahl. Worüber sich Vater ebenso regelmäßig ärgerte, aber nur mäßig, nur weihnachtlich.

Plötzlich tönt ein verzweifeltes Schluchzen durch den Raum. Wir alle fahren hoch und starren. Es ist Christa, die zum erstenmal das Weihnachtsfest fern dem elterlichen Haus verlebt. Der Kummer und die Freude im Verein haben sie überwältigt ...

»Ach, ich bin ja so unglücklich! Ach, wenn ich doch zu Haus sein könnte! Ach, Frau Rat, Sie meinen es ja so gut, und die Nachthemden sind viel zu schön für mich, aber wenn ich sie doch nur für fünf Minuten meiner Mutter zeigen könnte! Ach, ich habe ja alles gar nicht verdient! Nein, ich habe es nicht Frau Rat! Den Saucenrest in der letzten Woche, den Frau Rat so gesucht hat, den habe ich genascht! Und zwei Kalbsbratenscheiben habe ich auch gegessen! Aber sonst nichts, sonst bestimmt nichts! Und nun soll ich wirklich das schöne Nachthemd anziehen – nein, ich bin ja so unglücklich!«

Das Schluchzen verlor sich in der Ferne, Mutter führte die Gebrochene in stillere, für Beichten geeignetere Räume ab.

Haben wir nun alles gesehen? Können wir nun anfangen mit Spielen und Naschen und Lesen? Nein, denn nun fängt die Bescherung noch einmal an! Wir haben ja so viele Tanten und Onkel: was die sich zum Weihnachtsfest für uns ausgedacht haben, liegt noch säuberlich verpackt in Paketen, wie sie der Postbote brachte, unter Vaters Schreibtisch. Wir versammeln uns um Vater, auch Mutter ist wieder da, die Mädchen sind in der Küche und legen die letzte Hand an das Abendessen, es fängt nun an die Bescherung nach der Bescherung, die Festfreude in der Festfreude.

Aber das geht nicht so schnell, denn bei Vater muß alles ordentlich zugehen, mit Bedächtigkeit. Er nimmt das erste Paket, er verkündet: »Von Tante Hermine und Onkel Peter«, und vorsichtig fängt er an, den Bindfaden aufzuknoten. In diesem Hause darf nie ein Bindfaden aufgeschnitten werden, alles wird verknüppert, und sei es aus noch so vielen Enden gestückt, mit dicken Knoten verunziert. Zappelig sehen wir Kinder zu. Der Knoten will ja gar nicht aufgehen. Aber Vater hat die Ruhe, wenn wir sie nicht haben. Kunstvoll schlingt er jetzt aus dem abgelösten Bindfaden ein Gebilde, das wir den »Rettungsring« nennen. »Ede, den Bindfadenkasten«, ruft Vater, und Ede trägt ihn herzu. Der Rettungsring wird zu andern schon gesammelten gelegt, bereit zur nächsten Benutzung. Das Packpapier wird methodisch zusammengelegt – und der darunter sichtbare Karton ist noch einmal verschnürt!

Wir Kinder verzweifeln fast vor Ungeduld. Nochmaliges Knüppern und Zusammenrollen. Nun aber wird der Deckel vom Karton abgenommen – und auf dem weißen, alles verhüllenden Seidenpapier liegt der Weihnachtsbrief.

Ein nochmaliger langer Aufenthalt, erst wird der Brief vorgelesen, ehe das Paket ausgepackt wird. Und manche Briefe sind sehr lang, fast ebenso lang wie langweilig, finden wenigstens wir Kinder.

Aber endlich ist es dann soweit. Es wird ausgepackt, es wird verteilt. Die einen freuen sich, die andern versuchen, ihre Enttäuschung zu verbergen. Es ist oft nicht leicht für die Onkel und Tanten, das Rechte zu treffen. Die uns länger nicht besucht haben, halten uns noch für die reinen Babies, sie haben keine Ahnung, wie wir zugenommen haben an Weisheit und Verstand ...

Der leere Karton wird beiseite gesetzt, die Geschenke zu den Tischen getragen, und nun kommt ein neuer Karton an die Reihe.

»Von Onkel Albert!« verkündet der Vater.

So geht es langsam durch zehn oder zwölf Pakete, unsere Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Aber vielleicht ist es grade das, was Vater mit dieser übertriebenen Langsamkeit erreichen will: wir sollen warten lernen. »Kinder dürfen nicht gierig sein!« Dies war ein Fundamentalsatz unserer Erziehung. (Ich dachte damals oft, wenn ich ihn hörte: also dürfen die großen Leute gierig sein? Die haben's aber gut!) »Sei bloß nicht so gierig«, diese Mahnung ist mir hundert-, tausendmal in meiner Jugend zugerufen worden.

Aber die Gierigste von uns allen war unbestreitbar unsere Schwester Fiete. Vor allem konnte sie sich nie vor Kuchen und süßen Speisen bezähmen. Wenn Mutter sie auf irgendeinen Besuch mitnahm, so gierte Fiete ewig nach dem Kuchen, und wenn sie nicht reden durfte, so bettelten ihre Augen so deutlich, daß sich jede Gastgeberin ihrer erbarmte.

Mutter war ganz verzweifelt darüber und beschloß, daß endlich ein Exempel statuiert werden müsse. Das Gieren müsse ein Ende nehmen. Also verabredete sie mit der nächsten Gastgeberin, bei der sie mit Fiete auftauchen wollte, daß Fiete unter keinen Umständen ein Stück Kuchen haben sollte. Sie müsse einsehen lernen, daß es auch einmal so gehe.

Auf dem Hinweg wurde Fiete wiederum eingeschärft, daß sie nicht betteln dürfe, keine Blicke zu werfen habe, daß sie ruhig sitzen solle, kurzum, daß sie musterhaft artig zu sein habe.

Es ging alles auch wunderbar, Fiete bekam keinen Kuchen und gierte doch nicht. Man stand auf, man sagte einander Lebewohl, man stand schon an der Tür, da machte Fiete kehrt, lief an den Kaffeetisch, pflanzte alle fünf Finger in die Torte und rief: »Adieu, Kuchen!«

Soviel über das Abgewöhnen kindlichen Gierens.

Schließlich ging auch das Pakete-Auspacken zu Ende. Unsere Tische konnten schon alle Geschenke nicht mehr fassen, sie wurden schon darunter gesetzt, und ganz ehrlich seufzte ich einmal: »Es ist ja alles viel zuviel!« Meine Eltern seufzten auch und dachten dasselbe. Es kam eben durch die ausgebreitete, geschenkfreudige Verwandtschaft. Die Eltern waren gar nicht für die übertriebene Schenkerei, sie hielten sich in ganz bestimmten Grenzen. Für jedes Kind hatte Vater eine Summe ausgeworfen, die Mutter bei ihren Einkäufen nicht überschreiten sollte, darauf sah Vater sehr.

Diese kleine Pedanterie Vaters hat einmal meinem Bruder Ede und mir ein ganzes Weihnachtsfest verdorben. Das kam so: Ich hatte mich dem Drama zugewendet und hatte mir ein Puppentheater gewünscht, mit der Dekoration zum Freischütz. Schon lange, ehe Weihnachten war, hatte ich mir ausgedacht, wie wunderbar ich die Wolfsschlucht ausstatten wollte. Der Mond sollte transparent gemacht werden und mittels einer hinter ihm angebrachten Kerze richtig scheinen, auch war bereits im voraus Magnesium für Blitze beschafft. Ede hatte sich Bleifiguren zum Robinson Crusoe gewünscht.

Schon beim Aufsagen der Gedichte hatte ich die ragende Proszeniumswand des Puppentheaters entdeckt, mein Herz war freudig bewegt. Sobald wir das »Aufsagen« hinter uns hatten, stürzte ich zu »meinem Theater«. Jawohl, da war es, und grade die Dekoration zur Wolfsschlucht war aufgestellt. Ich betrachtete sie, starr vor Entzücken, sie übertraf alle meine Erwartungen!

Da aber war Vater hinter mir und sagte: »Nein, Hans, das ist nicht dein Tisch. Das ist Edes Tisch! Du bekommst den Robinson Crusoe!« Und als er mein bestürztes Gesicht sah, setzte er erklärend hinzu: »Sieh mal, Hans, du bist beim letzten Weihnachtsfest ein bißchen zu gut weggekommen und der Ede zu schlecht. Das Puppentheater ist viel teurer als die Bleifiguren, das muß also Ede bekommen ...«

Und er führte mich von der Wolfsschlucht fort zu dem albernen Robinson.

Wie gesagt, ein völlig verdorbenes Fest! Wir Brüder konnten schlecht unsere Enttäuschung verbergen, wollten es wohl auch gar nicht und rührten unsere Geschenke überhaupt nicht an. Dafür schielten wir um so intensiver zum Tisch, des andern. Mein guter Vater sah das wohl und fing an, sich erst gelinde, dann kräftig zu ärgern. Ein paar energische Scheltworte konnten unsere Festfreude auch nicht heben. Schließlich bekamen wir den dienstlichen Befehl, gefälligst nicht zu maulen, sondern mit unsern Geschenken zu spielen. Wir taten es mit so herausfordernder Lieblosigkeit, daß Vater uns zornentbrannt ins Bett steckte. Manchmal verlor eben auch er die Geduld – und hatte nun auch sein verdorbenes Fest!

Oft bin ich später gefragt worden, warum wir Brüder die Geschenke nicht einfach nach dem Fest untereinander austauschten. Aber wer so fragt, kennt unsern Vater nicht. Grade weil wir am Festabend gemuckst und getrotzt hatten, sah er darauf und kontrollierte es auch, daß nach seinem Befehl gehandelt wurde. So gütig und geduldig er auch war, so empfindlich war er doch auch gegen jede Auflehnung, und wo er gar etwas wie Gehorsamsverweigerung spürte, wurde er unerbittlich. Gehorsam mußte sein, das war ein Grundsatz bei ihm, an dem nicht gerüttelt werden durfte.

In solchen Fällen war er dann auch taub gegen alle Fürbitten der Mutter, die nach Frauenart nicht viel von Prinzipien hielt, sondern lebensklüger vom einzelnen Fall ausging. Für Vater war die Sache sehr einfach: ich hatte das vorige Mal zu viel bekommen, also bekam ich jetzt wenig, das mußte der Dümmste verstehen. Auf den Gedanken, daß es uns Kindern ganz gleich war, wieviel Geld ein Geschenk kostete, ist er leider nicht gekommen. Für Ede war das teuere Puppentheater nicht eine Mark wert, der Robinson aber viele hunderte, wenn man Freude überhaupt in Geld ausdrücken kann ...

Es waren dies eben die Schattenseiten von Vaters großer Sparsamkeit und Genauigkeit. So kraß wie in diesem einen Falle haben wir sie freilich sonst nie zu fühlen bekommen. Aber ich weiß doch noch, daß es manchmal kleine Differenzen zwischen Vater und Mutter wegen des Haushaltsgeldes gab. Mutter war mit den Jahren eine wahre Künstlerin geworden, sich »einzurichten«. Aber Vater hatte sich einen Jahresvoranschlag gemacht, in dem alles bis auf das kleinste berücksichtigt war, im Monat war soundso viel vom Gehalt zurückzulegen. Jede Nachforderung zwang ihn nun, seine Pläne umzustoßen, zur Bank zu gehen, vom »Ersparten« etwas abzuheben, alles Dinge, die ihn aufs äußerste beunruhigten. »Wir wollen doch vorwärtskommen«, klagte er dann.

Wenn Mutter dann antwortete, so müßten wir eben auf Logierbesuch verzichten, blieb er dabei, es müsse sich doch einrichten lassen, wo sechs satt würden, fänden auch sieben ihr Brot, ein Satz, dessen Richtigkeit jede Hausfrau bezweifelt.

Wahrscheinlich infolge dieser genauen Rechnerei von Vater hatte sich bei uns Kindern der Mythos gebildet, Vater habe seit unserer Geburt jeden Pfennig für jedes einzelne von uns angeschrieben, und wer mehr als die andern bekommen habe, dem werde das dermaleinst vom Erbteil abgezogen. Dieses sagenhafte Kontobuch spielte in den Gesprächen und Gedanken von uns Kindern eine große Rolle. Es hatte aber sein Gutes: wir wurden nie neidisch aufeinander. Bekam Fiete ein neues Kleid und paradierte damit vor Itzenplitz, so sagte die nur wegwerfend: »Das wird dir ja doch von deinem Erbteil abgezogen!«

Fiete antwortete dann zwar: »Na laß doch! Das ist ja noch so lange hin!« aber es dämpfte doch den Stolz.

Natürlich hat dies sagenhafte Kontobuch nie existiert, trotzdem wir noch als große Menschen ein ganz klein bißchen daran glaubten und uns bei Vaters Tode danach umsahen. Vater hatte ganz im Gegenteil verfügt, daß wir Geschwister ganz gleichmäßig erben sollten, ohne Rücksicht darauf, was eines »vorweg« empfangen hätte. Aber an sich glaube ich noch heute: hätte Vater nur die nötige Zeit gehabt, er hätte ein solches Buch schon führen können. Er war dazu sehr wohl imstande. Nicht um uns am Ende Mehrsummen abzuziehen, sondern um der Gerechtigkeit willen. Keines von seinen Kindern sollte je denken, es habe etwas vor den andern voraus. –

Doch war dieses gar zu ausgerechnete Weihnachtsfest eine einzige Ausnahme unter vielen, vielen durch nichts getrübten. Wenn wir dann fertig beschert und ausgepackt hatten, ging es zum Essen. Wir Kinder freilich folgten an diesem Abend nur ungern dem Ruf zu Tisch, wir hätten viel lieber weiter mit unsern Spielsachen gespielt und unsern Hunger von den bunten Tellern gestillt.

Aber das wurde natürlich nicht geduldet. In weiser Voraussicht gab es am Heiligen Abend stets Heringssalat, Mutter meinte, vor soviel Süßigkeiten sei etwas Saures das Beste! Schließlich aßen wir doch alle mit gesundem Appetit von den vielen schönen Sachen, und die Begeisterung schlug hohe Wellen. Immerzu wurde davon gesprochen, was jeder von seinen Geschenken besonders mochte, ein Kind ließ kaum das andere zu Worte kommen, jedes wollte den Eltern etwas von seiner Freude erzählen.

Aber vor allem wurde Vater gefragt, was denn nun seine Rätsel zu bedeuten hätten, ich hatte die Lösung des meinen auf dem Tisch nicht finden können und bildete mir nun ein, Vater habe noch ein besonderes Geschenk in der Hinterhand.

»Das ist doch so leicht, Hans«, sagte Vater. »Deine Zinnsoldaten sind eckig, aber die Schachtel um sie ist rund. Sie ist auch leicht, und die Soldaten sind schwer. Römische Legionäre hat es vor tausend Jahren gegeben, und doch besitzt du sie heute. – Na, das zu raten war doch wirklich kein Kunststück, Hans!«

Und das fand ich nun auch.

Dann kam noch der lange Abend, an dem wir bis zehn aufbleiben durften. Während wir uns mit unsern Sachen abgaben – Itzenplitz las natürlich schon, als müsse sie ihre sämtlichen Bücher noch an diesem Weihnachtsabend durchrasen – saß Vater am Flügel und spielte einiges von den neuen Noten durch, die Mutter ihm geschenkt hatte. Mutter aber erschien nur zu kurzen Besuchen im Bescherungszimmer, denn in der Küche wurde noch gewaltig gearbeitet. Die weihnachtliche Gans für den nächsten Tag wurde vorbereitet und überhaupt so viel wie möglich vorgekocht, denn die Mädchen sollten es in den beiden nächsten Tagen auch leichter haben.

Dann ging es ins Bett. Bücher mitzunehmen war verboten, aber irgendein besonders geliebtes Spielzeug durfte sich jedes auf den Stuhl vor seinem Bett stellen. Und dann das Erwachen am nächsten Morgen! Dies Gefühl, aufzuwachen und zu wissen: heute ist wirklich Weihnachten. Wovon wir seit einem Vierteljahr geredet, auf was wir so lange schon gehofft hatten, nun war es wirklich da!

Noch im Hemd schlich man in die Weihnachtsstube, aber so früh man auch kam, meistens war schon ein anderes da. Da saß man denn, fror ein bißchen (denn es war noch nicht geheizt) und betrachtete mit ruhigem Besitzerstolz die neuen Schätze. Dazu wurde von den Tellern genascht; war man aber ganz schamlos, schlich man auch schon an die Rückseite des Baumes und schonte die eigenen Vorräte.

Am Vormittag dann ging das Besuchen los. Alle Jungen besuchten einander, alle Mädchen besuchten einander, es war ein ständiges Kommen und Gehen, ein ohrenbetäubendes Geschnatter. Offiziell erfolgten diese Besuche, um einander ein frohes Fest zu wünschen, in Wirklichkeit wurden die Geschenke angesehen, verglichen, gebilligt oder verworfen.

Der arme Vater aber war ohne bleibende Stätte. Er trug es mit Sanftmut und sah nur selten und kurz in seine Akten. Der zweite Weihnachtstag verlief schon nicht mehr ganz so ungetrübt, denn der Vormittag mußte den ersten Dankbriefen gewidmet werden. »Man kann nicht früh genug damit anfangen«, sagte Vater mahnend. »Sie haben euch ja pünktlich zum Weihnachtsfest die Pakete gesandt, nun dankt ihnen auch pünktlich und wünscht ihnen Glück zum neuen Jahr!«

Diese Dankbriefe waren eine schreckliche Quälerei. Wir erfuhren es wieder einmal, daß es kein ganz reines Glück auf Erden gebe; zehn bis zwölf Pakete bekommen zu haben, war sehr angenehm gewesen, aber nun bedeutet das für jeden von uns zehn bis zwölf Dankbriefe! Ich entwickelte hohe Fähigkeiten, meine Buchstaben sehr groß zu schreiben. Auch schrieb ich der ganzen Verwandtschaft den gleichen Brief, immer von der Besorgnis erfüllt, sie könnten es doch merken. Ich hatte so eine Idee, die Onkel und Tanten tauschten diese wertvollen Schriftstücke untereinander aus!


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