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Familienfahrt

Dann ist es endlich soweit!

Obwohl unser Zug vom Stettiner Bahnhof erst gegen acht Uhr fährt, ist die ganze Familie, Vater einschließlich, schon um halb sechs aus den Betten gejagt worden, denn auch die Betten müssen noch eingepackt werden! Während Mutter sie mit der alten Minna in einen ungeheuren Bettsack aus rotem Segeltuch stopft und propft, ist Christa in der Küche damit beschäftigt, Stapel Butterbrote anzuhäufen. Brote mit Wurst. Brote mit Ei. Brote mit kaltem Braten. Brote mit Käse. Aber so eifrig Christa auch schmiert und belegt, die Stapel wollen nicht recht wachsen, denn immer wieder machen wir Kinder einen Einbruch in die Küche und holen uns neue Frühstücksbrote. Unser Appetit ist ebenso ungeheuer wie unsere Aufregung. Nun geht es also wirklich los!

Plötzlich fällt mir ein, daß ich noch mit dem Portier reden muß. Zur Freude aller Hausgenossen rasen Ede und ich morgens um halb sieben die Treppe mit Donnergepolter hinunter und begrüßen den immer recht griesgrämigen, wahren Herren des Hauses. Kein Wunder, daß er griesgrämig ist – er fährt ja nicht an die See, er hat ja keine Ferien!

Zum zehnten Male mindestens lege ich ihm meine Kaninchen ans Herz, ich halte sie unten im Keller. Besonders, daß Mucki auch jeden Abend seine gewohnte Mohrrübe bekommt, ist so wichtig!

Der Portier ist eitel Ablehnung. »Ach, deine ollen Karnickel, die haben ja Lause!«

Ich protestiere gekränkt.

»Und doch haben se Lause! Wenn de keene Oojen nich hast, mußte sie mal mit de Lupe in de Ohren kieken! Det sind schon keene Lause mehr, det is en janzet Lauseleum!«

Nachdem der Portier mich so zerschmettert hat, wendet er sich an meinen Bruder Ede. »Und du mit deinem Hamster! Ick sare dir, ich komme for nischt nich uff! Futtern will ick em woll und ooch Wasser jeben, aber de Kiste is zu schwach, det sare ick dir! Wenn der stiften jeht, ick stifte nich hinterher! Ick nich!«

Wirklich hält Ede seit einem Vierteljahr in seiner Stube einen Hamster, der in einer drahtbespannten Kiste wohnt! Vater weiß offiziell nichts davon, wie Vater offiziell auch nichts von meiner Karnickelei weiß! Aber meine Karnickel sind sanfte anhängliche Tiere, während Edes Hamster, Maxe genannt, ein Ausbund von Bosheit ist. Bisher ist Ede von der Bestie nur angefaucht, angespuckt und gebissen worden, trotzdem hängt er mit tiefer Liebe an diesem Geschöpf. Er bildet sich ein, er werde dem Hamster mit der Zeit das Pfeifen und das Tanzen beibringen – wie einem Murmeltier!

Jetzt versichert Ede dem Portier, daß der Hamster sich in seiner Kiste sehr wohlfühle, er habe noch nicht einen Ausbruchversuch gemacht.

»Ach, red bloß keenen Stuß!« sagt der Portier mürrisch. »Wenn de erst weg bist, wird det Tier sich schon Jedanken machen. Ick hab keene Zeit, bei ihm zu sitzen und ihm Jeschichten zu erzählen, wie schön et in deine Kiste is! Wenn ick und wäre euer Vater, ick erloobte det nich, det jrenzt ja an Tierquälerei, die Karnickel in 'nem dunklen Keller und det Hamsterjeschöpf in 'ne Kiste! Aber mir jeht det nischt an. Ich bin nich im Tierschutz! Aber wat sonst mit die passiert, da bin ick Nante! Det vasteht ihr doch!?!«

Da wir's verstehen mußten und da ein anderer Tierfütterer nicht greifbar war, verstanden wir es auch. Etwas bedrückt stiegen wir die Treppe wieder hinauf. Als ich aber den herrlichen Wirrwarr in der Wohnung sah, vergaß ich sofort meinen Kummer. Der ganze Haushalt war in Auflösung begriffen. Fünf weibliche Wesen rannten – anscheinend ziellos – hin und her, setzten hier etwas ab, trugen dort etwas fort.

Minna rief: »Frau Rat, ich muß noch mal den Schlüssel haben für den großen Schließkorb!«

Fiete trug ein Zigarrenkistchen mit Puppenkleidern herbei und verlangte von Mutter, sie sollten noch in den verschlossenen Koffer. Itzenplitz suchte zwischen Vaters Büchern Reiselektüre. Christa schmierte noch immer Stullen.

Auf der Diele stand Vater und versuchte, das Gepäck zu zählen, ein fruchtloses Beginnen, denn immer wenn er die endgültige Zahl ermittelt zu haben glaubte, wurde ein Stück wieder weggeschleppt und zwei neue kamen hinzu.

»Louise!« rief Vater. »Es wird Zeit, die Gepäckdroschke zu holen! Kann ich Hans jetzt schicken?«

»Einen Augenblick noch, Arthur! Ich muß erst mal nachsehen, ob die Badetücher auch eingepackt sind.«

»Aber beeil dich!« rief Vater mahnend, und nun bestürmten Ede und ich ihn, wer von uns beiden bei dem Kutscher auf dem Bock fahren durfte. Vater wollte mal sehen; er war von dem ungewohnten Trubel bereits ziemlich nervös, wollte aber unbedingt seinen Ruf als glänzender Organisator, bei dem alles wie am Schnürchen geht, aufrechterhalten.

»Ich schicke jetzt Hans!« rief er nach einem neuen Blick auf die Uhr. »Es wird höchste Zeit!«

»Einen Augenblick bitte noch, Arthur! Wir kriegen den Bettsack nicht zu!«

»Lauf los, Hans!« sagte mein Vater leise und machte sich auf den Weg, beim Verschnüren des Bettsackes zu helfen.

Ich lief die Treppen hinunter. Ganz ohne Auftrag schloß sich Ede mir an. Ich mußte es schon dulden, aber lieb war es mir nicht. Es hatte so etwas Pompöses, wenn man allein in einer Droschke fuhr. Zu zweien wirkte es lange nicht so überwältigend.

Es war der erste Tag der großen Ferien. Ganz Berlin, soweit es Kinder hatte und es sich leisten konnte, war im Aufbruch. Wir sahen wohl Gepäckdroschken, aber sie waren alle besetzt. Wir liefen hin und her, wir suchten mit immer größerem Eifer, denn wir wußten, mit welcher Ungeduld der pünktliche Vater auf unsere Rückkehr wartete. Aber es war wie verhext. Leere Droschken sahen wir genug, aber keine, deren Fassungsvermögen unserm Auszug angemessen war. Es mußte durchaus eine Gepäckdroschke sein, also ein schwarzer verschlossener Kasten mit stabilem, von einem Gitter begrenzten Dach, auf das die Mehrzahl der Koffer zusammen mit dem Bettsack getürmt werden konnte.

Endlich erwischten wir am Nollendorfplatz solch Ungetüm. Stolz stiegen wir ein und ließen uns vornehm in die dunkelblauen Kissen zurücksinken. Aber gleich waren wir wieder aufrecht und sahen zu den Fenstern hinaus. Es war erhebend anzuschauen, wieviel schweißtriefende Familienväter, Jungen, Dienstmädchen und Portiers nach Gepäckdroschken liefen.

»Beati possidentes!« sagte ich zu Ede und war stolz, daß er noch nicht so viel Latein konnte, sondern daß ich es ihm übersetzen mußte. »Glücklich, wer da hat!«

Ja, wir waren viel beneidet. Überall standen auf den Bürgersteigen hinter Kofferbastionen Familientrupps. Alte Großmütter winkten unserm Kutscher verzweifelt mit Regenschirmen. Jungens sprangen einfach auf das Trittbrett unserer Droschke und boten dem Kutscher eine Mark extra, wenn er sie fuhr. Wir schlugen sie so lange auf die Finger, bis sie loslassen und abspringen mußten.

Auch Vater stand in der Luitpoldstraße hinter einigen Koffern, hielt nach uns Ausschau und wollte schelten, weil wir so spät kamen. Aber der Kutscher nahm uns in Schutz. »Lassen Se man die Jungens!« sagte er. »Die haben noch Schwein jehabt, det se mir jekriegt haben! Heute jibt's in janz Berlin keine freie Jepäckdroschke. – Na, Herr Portier«, wandte er sich an unsern Hausgewaltigen, der eben mit Minna einen Riesenkoffer heranschleppte, »is det det jrößte Stück? Na, denn wolln wa mal anfangen mit's Bauen!«

Und sie fingen an, den Koffer über Rad und Bock auf das Verdeck hinaufzustemmen. Aus dem Hause kamen immer neue Familienmitglieder mit Gepäckstücken, Plaidrollen, Schirmbündeln, zwischen denen unsere Strandschippen vom Vorjahre steckten. Aber Ede und ich beteiligten uns nicht mehr an der Schlepperei, wir begutachteten »unsere Gäule«. Winnetous berühmter Zucht entstammten sie bestimmt nicht, aber ich war dafür, daß es doch Ostpreußen seien, Ede stimmte für Hannoveraner – eine Ahnung hatten wir beide nicht.

Vater versuchte unterdes das Verstauen des Gepäcks durch Ratschläge zu unterstützen. Aber das Familienhaupt wurde jetzt nicht beachtet, selbst Minna hörte nicht auf seine Worte. So verschwand Vater plötzlich im Haus, um Mutter auf den Trab zu bringen.

Endlich waren alle unten, endlich waren alle Koffer verladen und festgebunden. Endlich saßen alle, ich recht schmollend, denn ich hatte mich in den Wagen zwischen die Schwestern klemmen müssen, während Ede auf dem Bock thronte. Aber auch nicht eigentlich auf dem Bock, sondern auf einigen neben dem Kutscher untergebrachten Koffern: das Fassungsvermögen des Wagenverdecks hatte sich doch als zu gering erwiesen.

Mutter lehnte aus dem Fenster und gab Minna, die erst die Wohnung in Ordnung bringen wollte, ehe sie auf Urlaub ging, jene letzten Ratschläge, die wohl schon vor einigen Jahrtausenden die verreisende Hausfrau ihrer Schaffnerin gegeben hat: »Und sehen Sie, Minna, daß die Wasserleitung nicht tropft. Und der Gashaupthahn muß noch zugemacht werden. Ehe Sie im Speisezimmer einwachsen, reiben Sie die Stelle auf dem Parkett, wo Christa Glut verloren hat, mit Stahlspänen ab. Hänschen holt sich Frau Tieto selbst. Und die Blumen stellen Sie alle zusammen auf den Boden vom Balkon, dann hat es Frau Markuleit einfacher mit dem Gießen. Es wird ja auch einmal regnen. Und vergessen Sie nicht, die Schrippen und die Milch abzubestellen. Und die Zeitung soll der Junge solange bei Eichenbergs abgeben ...«

»Los!« rief Vater dem Kutscher zu, und mit dem Anziehen der Pferde sank Mutter in ihren Sitz zurück.

»Ach, Vater!« rief sie ängstlich. »Ich habe sicher noch was vergessen ... Da war bestimmt noch was ...«

»Wenn noch was ist«, sagte Vater entschlossen, »kannst du ja Frau Tieto eine Karte schreiben. Wir müssen jetzt los, sonst versäumen wir den Zug!«

»Im nächsten Jahre werde ich noch eine Stunde früher aufstehen«, sagte Mutter. »Man wird nie in Ruhe fertig. Ich bin ganz abgehetzt ... Was ich nur vergessen habe? Da war doch noch was!«

Und sie versank in Grübeln.

Unterdes war die Droschke, ächzend und klappernd, die Martin-Luther-Straße hinaufgefahren und bog jetzt auf den Lützowplatz ein. Der lag ganz in der Morgensonne. Auf dem Herkulesbrunnen rauschte und strömte schon die Wasserkunst und blinkte im Licht mit tausend grünen, gelben und blauen Tropfen. Kinder saßen schon in den Sandkisten und spielten. Wir aber würden heute abend schon im Seesand spielen!

Und während der Wagen nun rascher die grüne Hofjägerallee hinunterrollte, kam mir plötzlich alles ganz unwirklich vor. Jawohl, ich saß hier in einer Droschke, ich fuhr mit den Eltern und Geschwistern in die Sommerfrische – aber tat ich das wirklich? Das ein Jahr hindurch gelebte Stadtleben saß so fest in mir, daß dies, was jetzt wirklich geschah, mir ganz unwirklich erschien.

Mir war so seltsam, als sei ich noch zu Haus in der Luitpoldstraße. Ich meinte, mich dort stehen zu sehen in meinem Zimmer, mich und doch nicht mich, denn ich fuhr ja auch hier in einer Droschke durch den Tiergarten! Und es überkam mich, wie es mir schon einige Male – aber nur schwach – geschehen war, daß es eigentlich zwei Hans Fallada gebe, zwei ganz gleiche Hans Fallada, und sie erlebten beide genau das gleiche, aber sie ertrugen es nicht gleich.

Ich hatte schon versucht, diesen Gedanken zu Ende zu denken, aber ich war nicht damit zustande gekommen. Denn wenn es zwei ganz gleiche Hansen gab, so mußten sie bei denselben Eltern in derselben Stadt leben, und nicht nur in derselben Stadt. In der gleichen Straße mußten sie wohnen, im gleichen Haus und – immer mehr verengte sich der Kreis – im gleichen Zimmer. Im gleichen Bett mußten sie schlafen, in der gleichen Haut stecken, mit dem gleichen Munde reden – der andere Hans Fallada mußte also auch in mir sein.

Aber das stimmte nicht, denn ich fühlte ihn nicht in mir, sondern ich sah ihn außer mir. Wohl war er ganz gleich, aber er war doch wieder ein anderer, denn ich konnte ihn mit meinem inneren Auge außerhalb von mir sehen. Er war auch ich, aber er war ein Ich, das nicht ganz so wirklich war wie ich, der hier in einer Droschke fuhr, er war wie ein Schatten oder ein Gespenst. Oder wie ein Doppelgänger.

Manchmal konnte diese Erscheinung etwas sehr Beängstigendes haben, so wenn dieses zweite Ich etwas tat, was mir gar nicht recht war, und mein erstes Ich hatte dafür einzustehen, als habe es dies selbst getan. Aber in diesem Augenblick, eingezwängt in der übervollen Droschke an einem noch frischen Sommermorgen, war es fast erlösend, daß ich dies andere Ich dort in der Wohnung zurückließ, mürrisch und unzufrieden. Ein tiefes Glück überkam mich, daß ich fort von ihm fuhr, in den Sommer hinein, an einen Ort, wo es dieses andere Ich bestimmt nicht gab.

Ich wußte, es würden glückliche Ferien. Ich sah auf die Bäume des Tiergartens, ich sah das Grün und die hellen Kleider, ich war plötzlich so fröhlich wie noch nie. In mir sang es: ‹Ich fahre in die Ferien! Berlin ist erledigt! Ich fahre von der Schule fort! In meinem Zimmer steht der andere Hans Fallada, dessen ich mich immer schämen muß, und ich fahre fort von ihm! Was bin ich glückliche!›

Ein deutliches Mal fühlte ich mich in diesen Jahren ganz im Einklang mit mir. Es gab keine Zerrissenheit, keinen Zweifel mehr ... Ich war wirklich glücklich ...

Wir sind noch manches Mal nach dieser Reise durch Berlin in einer Gepäckdroschke zur Sommerfrische gefahren. Jedesmal habe ich mich dieses Gefühls von damals erinnert. Ich habe versucht, es mir zurückzurufen. Ich habe mir vorgesagt: ‹Ich reise. Ich reise wirklich! Ich fahre in die Ferien! Ich fahre von allem fort!› Aber dieses Gefühl des Wirklich-Unwirklichen ist nie wieder in mir entstanden, nie wieder habe ich das gleiche Glück empfunden.

Auch an jenem Tage schwand es viel zu rasch dahin.

Wir nähern uns nun dem Stettiner Bahnhof. Wir sind nicht mehr nur eine einzelne Gepäckdroschke, wir sind ein ganzer Heerestroß geworden. Aus jeder Querstraße biegen sie in die Invalidenstraße ein.

Fiete und ich liegen halb aus den Fenstern, wir halten Ausschau nach einer noch höher geladenen Droschke, als unsere ist, aber wir entdecken keine, uns gebührt die Palme!

Mutter hat endlich gefunden, was sie vergessen hat: »Im Büfett steht noch ein halber Napfkuchen, ich wollte ihn doch auf die Reise mitnehmen! Ich werde sofort Tatie eine Karte schreiben, daß sie ihn sich holt. Schade –!«

Und Vater gibt etwas nervös seine Instruktionen. »Ihr Kinder bleibt alle bei Mutter! Sie auch, Christa! Louise, du bleibst mit den Kindern in der Halle am Fuß der Treppe. Die Gepäckaufgabe besorge ich allein. Hoffentlich hat sich niemand in unser bestelltes Abteil gesetzt!«

Und wir halten vor dem Stettiner.

»Gepäckträger!« ruft der Vater.

Aber der Stettiner Bahnhof ist ein wallender, wogender Strudel. Vor uns Gepäckdroschken, die halb ausgeladen sind, hinter uns Gepäckdroschken, die abladen wollen und schon zu drängeln beginnen. Und kein Gepäckträger, der auf Vaters Ruf hört!

»Ihr da, macht en bißken dalli, wat?!« ruft der Kutscher hinter uns. »Oder habt ihr Stehplatz bezahlt –?!!«

Vater wirft alle seine Dispositionen um.

»Kutscher, geben Sie die Koffer herunter. Christa, wir beide wollen sehen, daß wir sie ihm abnehmen. Louise, halte die Kinder bei dir und nimm das Handgepäck an dich. Zähle die Stücke!« Wir sind nur Teilchen einer wirbelnden, laufenden, scheltenden, lachenden Menge. Plötzlich stecke ich mit der Nase im Bauch eines Herrn. Der Bauch ist weich. Der Herr hebt mich in die Luft, ruft: »Junge, träume nicht!« und setzt mich auf einen Koffer, von dem ich sofort wieder weggejagt werde, denn es ist nicht unserer.

Papa müht sich im Verein mit Christa an dem Riesenkoffer. Seine Zähne sind zusammengebissen, seine spitzen Schnurrbartenden zittern.

»Achtung, Christa! Setzen Sie den Koffer doch nicht auf den Hund ab!«

Ein »Blauer« drängt sich gemächlich durch das Gewühl, nimmt grade bei uns Posto und sagt, meinem Vater auf die Schulter tippend: »He, Sie! Hier dürfen Sie Ihre Koffer aber nicht abstellen! Der Eingang muß freigehalten werden!«

Ich bin entsetzt, daß mein Vater von einem gewöhnlichen Schutzmann mit »He, Sie!« angesprochen und einfach auf die Schulter getippt wird. Wäre ich der Vater, würde ich mich mit einer großen Gebärde zu erkennen geben: »He, Sie! Ich bin Kammergerichtsrat!«

Aber Vater sagt nur ein wenig verzweifelt: »Es sind gar keine Gepäckträger zu kriegen!«

»Hätten Sie früher aufstehen müssen!« sagt der Schutzmann, ganz unberechtigt, denn wir sind sehr früh aufgestanden. »Jedenfalls müssen die Koffer hier weg! Und das dalli!«

Damit entschwindet der Blaue, ehe ihm Vater noch antworten kann.

Unterdes ist ein kleiner Streit zwischen Mutter und Ede ausgebrochen. Ede soll ein Handköfferchen und ein Schirmpaket tragen, weigert sich aber. Er trägt einen Arm, als sei er frisch geimpft, im Ausschnitt seines Sommermantels und behauptet, ihn sich oben auf der Droschke gestoßen zu haben. Er könnte mit ihm nichts tragen. Mutter will die gestoßene Stelle sehen, aber Ede weigert sich, öffentlich seinen Arm zu entblößen. Er hält sich fern von Mutter. Er kommt mir komisch vor, wie er da seinen Arm im Mantel hält ...

Vater ist verschwunden, und wir müssen ohne männlichen Schutz die Beschimpfungen und Flüche der Kutscher und Mitreisenden ertragen. Ich zittere davor, daß der Blaue zurückkommt und uns noch immer bei diesem Kofferberg findet. Vorsichtshalber schiebe ich mich zwischen andere Leute, ich will lieber nicht zu einer so beschimpften Familie gehören. Aber Mutters scharfes Auge, das ununterbrochen die Küchlein zählt, merkt sofort mein Verschwinden. Sie ruft mich, und ich muß nun direkt neben ihr stehen, im Brennpunkt aller Beschimpfungen. Ich entdecke, daß ich Vater beschuldige, alles verkehrt zu machen. Bei uns geht immer alles schief, was bei andern glatt geht. Die hinter uns haben längst Gepäckträger ...

Jetzt fängt auch der Kutscher an zu rebellieren. Er will und muß fortfahren, er verlangt von Mutter das Fahrgeld. Mutter wagt es ihm nicht ohne Vaters Einverständnis zu geben, vielleicht braucht Vater den Mann noch. Der Kutscher wird immer gröber, statt mich über ihn zu ärgern, schäme ich mich nun auch meiner Mutter ...

Gottlob, da kommt Vater! Er ist begleitet von zwei Gepäckträgern, die einen großen Karren schieben. Vater wirkt etwas bleich und aufgelöst, aber seine Schnurrbartspitzen zittern nicht mehr. Im Umdrehen ist das Gepäck aufgeladen und rollt durch den Eingang. Unterdes hat Vater den Kutscher gelöhnt, der sich sofort aus einem groben in einen höflichen Mann verwandelt hat. Er tippt sogar zum Abschied an seinen Lackzylinder und wünscht uns Glückliche Reise und Gute Erholung.

Wir drängen uns unter Mutters Kommando an die Treppe, die zu den Bahnsteigen hinaufführt. Jedes von uns – außer Ede, der seinen Kopf durchgesetzt hat – trägt mindestens zwei Handgepäckstücke, Christa und Mutter sogar drei oder vier. Am Fuß der Treppe angekommen, wird alles abgesetzt, eine Bastion gebildet – und sofort wieder eingerissen, denn schon wieder werden wir als Verkehrshindernis beschimpft.

Ich klettere zwei oder drei Stufen hoch und halte mich an dem Geländer fest. So erhöht sehe ich auf die brausende Halle hinab, auf dieses endlose, immerfort wechselnde Gewühl von Köpfen. Ich versuche, an der langen Schranke der Gepäckabfertigung Vater zu erkennen unter den Hunderten, die dort in drei, vier Gliedern stehen. Aber das ist ein vergebliches Bemühen. Ungeheure Kofferberge versperren jede Aussicht. Dann blicke ich nach den Schaltern hin. Vor allen Schaltern drängen sich die Leute. Gottlob, dorthin braucht Vater wenigstens nicht. Wir haben schon unsere Fahrkarten, wir haben sogar ein bestelltes Abteil!

Aber wie, wenn sich andere hineingesetzt haben wie im vorigen Jahr? Es gab Schamlose, die rissen einfach den »Bestellt«-Zettel vom Fenster und behaupteten, es hätte nichts daran gestanden. Das führte dann immer zu endlosen, immer erregter werdenden Verhandlungen, denen Vater, wie ich fand, nie gewachsen war. Vater blieb immer leise und höflich, die andern konnten noch so sehr schimpfen. Ich hätte an Vaters Stelle noch doller geschimpft! Ach, es war nicht zu leugnen: so oft wir die manchmal lästig empfundene Ordnung des eigenen Heims verließen, war alles bedroht. Wir galten nichts mehr. Vor unserm uns solchen Respekt einflößenden Vater schien niemand Respekt zu empfinden, alles Sichere war unsicher geworden.

»Hans!« rief die Mutter und – siehe da! – Vater war wieder bei uns! Das Gepäck war aufgegeben. Noch erregt vom eben überstandenen Kampf erzählte Vater, daß es bestimmt noch mit diesem Zug mitkommen würde, die Gepäckträger hätten es ihm fest versprochen. »Und ich gehe, sobald ihr eure Plätze habt, sofort an den Packwagen und passe auf, daß es auch wirklich mitkommt!«

»Hoffentlich!« sagte Mutter mit einem tiefen Seufzer. »Wie sollen wir sonst nächste Nacht schlafen?«

Der Marsch zum Bahnsteig, zum Zuge beginnt. »Bahnsteig sieben!« ruft Vater noch der Mutter zu. Sie macht mit Fiete die Führerin, während Vater mit mir die Nachhut bildet. Es ist aber unmöglich, in geschlossener Formation zu marschieren. Immerzu drängen sich Leute dazwischen. Wir sammeln uns erst wieder am Häuschen des Billettknipsers. Vater zeigt das Fahrscheinheft und läßt uns vorangehen, während er die Häupter seiner Lieben zählt. Plötzlich stößt er einen Schrei aus. »Louise!« ruft er über die Sperre fort. »Wir müssen doch sieben sein und sind nur sechs! Wo ist Eduard?«

»Ede?!« ruft die Mutter. »Ede!! Er war doch vorhin noch da! Hast du ihn denn nicht auf der Treppe gesehen?«

»Ich weiß nicht!« ruft Vater und sieht sich verzweifelt um.

»Los! Los!« ruft der Billettknipser. »Machen Sie hier keine Verstopfungen! Sie müssen die Sperre freimachen!«

»Wann hast du Ede zum letztenmal gesehen?« ruft Vater.

»Ich weiß doch nicht! Als wir zur Treppe gingen, war er noch da – glaube ich!«

»Also jetzt raus oder rein!« wird dem Vater energisch gesagt. »Ihretwegen können wir nicht den ganzen Betrieb stillegen!«

»Ich suche den Jungen!« ruft der Vater wie ein letztes Vermächtnis. »Nehmt immer eure Plätze ein!«

Und er stürzt sich wie ein Schwimmer in die Fluten.

Sehr bedrückt gehen wir den endlosen Zug entlang. Mutter versucht durch Befragen festzustellen, wann wir Ede zum letztenmal gesehen haben, als ob das jetzt noch irgendeine Bedeutung hätte! »Ist denn sein Handkoffer da? Nein? Auch nicht! Ach Gott, der Junge, der Junge! Was er nur immer anstellt! Er wird doch nicht schlechten Leuten in die Hände gefallen sein! Und der arme Vater! Er hat es so gerne, wenn alles still und glatt zugeht! Und heute klappt rein gar nichts ...«

»Mutter«, sage ich. »Hier fangen die Bestellt-Abteile an. Wir wollen mal sehen, ob wir unsern Namen finden.«

Wirklich, wir brauchen gar nicht lange zu suchen, da steht schon unser Name an einer Scheibe.

»Gottlob!« sagt Mutter. »Ist wenigstens das in Ordnung! Und das Abteil scheint auch noch leer zu sein!«

Aber als wir die Tür öffnen, sitzt doch schon jemand drin, und wer kann das anders sein als unser lieber Bruder Ede –?!!

»Edel« ruft die Mutter ganz verblüfft. »Wie kommst du denn hierher?«

»Och!« sagt Ede. »Auf der Treppe haben sie mich egalweg gestoßen. Da hab' ich gedacht, ich geh lieber voraus und halt uns das Abteil frei. Und das war gut, Mutter, dreimal haben hier andere einsteigen wollen!«

»Aber wie bist du denn ohne Karte durch die Sperre gekommen, Ede –?!«

»Och, Mutter«, sagt Ede wieder. »Das war ganz einfach! Ich hab' dem Knipser gesagt, Vater kommt hinterher – und das war nicht gelogen. Vater ist doch hinterhergekommen!«

»Dein Vater ist nicht hinterhergekommen«, sagt die Mutter streng. »Dein Vater sucht dich auf dem ganzen Bahnhof. – Hans, laufe los, und sage Vater ... Nein, du bist noch zu klein. Fiete – nein, besser Itzenplitz – nein, du kannst auch nicht über die Leute wegsehen! Christa, gehen Sie und sagen Herrn Rat ...«

»Ach, Frau Rat, bitte, bitte, lassen Sie mich nicht gehen! Ich verlauf mich sicher und ich find den Herrn Rat bestimmt nicht! Und dann fährt der Zug ab, und ich hab' keine Bekannten in Berlin, und nach der Luitpoldstraße finde ich auch nicht zurück ...«

Sie weint schon.

»Also gehe ich!« sagt Mutter gottergeben. »Aber daß sich keines von euch aus dem Abteil rührt! Und wenn jemand einsteigen will, sagt, daß alle Plätze bezahlt und besetzt sind. Und wenn der Schaffner kommt und die Karten verlangt, sagt ihr, Vater kommt gleich. Und den Vordersitz in der Fensterecke kannst du nicht haben, Ede, den bekommt Vater ...«

Ehe noch der Streit zwischen uns Geschwistern um die Fensterplätze recht in Gang ist, verschwindet Mutter im Gewühl des Bahnsteigs. Wir fühlen uns recht verloren und verlassen. Wenn der Zug nun abfährt, ehe die Eltern kommen? Kein Geld, keine Fahrkarten – was sollen wir denn nur machen?

»Hans!« tuschelt Ede mir geheimnisvoll zu. »Gib mir deinen Fensterplatz, ja –?«

»Ich denke ja gar nicht daran!«

»Doch!« sagt er bittend. »Ich muß ihn einfach haben! – Kuck mal hier runter!«

Und er zeigt unter den Fensterplatz, von dem ihn Mutter vertrieben hat.

Ich sehe darunter, und sofort tönt mir ein bekanntes, aber schwaches Fauchen entgegen. »Hast du wirklich deinen Hamster mitgenommen?« frage ich erstaunt.

»Aber klar doch, Mensch! Ich werde ihn doch dem Markuleit nicht lassen, wo er so dämlich geredet hat! Die ganze Fahrt habe ich ihn vorne im Mantel gehabt, die Schnauze natürlich mit einem Lappen zugebunden. Beißen kann er nicht, aber er kriegt genug Luft!«

»Wenn das Vater merkt –!«

»Och –! Wenn wir erst fahren, schmeißt ihn Vater bestimmt nicht mehr raus! Und wenn ich ihn erst in Graal habe, stört er überhaupt nicht mehr. Ich fang mir 'n Weibchen dazu, und wenn ich Junge kriege, verklopp ich sie an die Tierhandlung. Für junge Hamster gibt's 'ne Masse Geld!«

»Na, denn steck ihn unter meinen Platz!« sage ich entschlossen. »Aber paß auf, daß die Gänse nichts merken, die schnattern sonst gleich los!«

Die Gänse oder die Schwestern waren gottlob völlig damit beschäftigt, aus dem Fenster zu schauen, einerseits nach den Eltern, andererseits nach der Uhr.

»Nur noch acht Minuten!« sagt Itzenplitz. »Wenn sie nicht kommen, habe ich das Kommando. Ich bin die Älteste!«

»Bist du nicht!« sage ich. »Christa ist es!«

»Christa, willst du kommandieren?« fragt Itzenplitz unsere siebzehnjährige Seniorin. »Siehst du, Hans! Sie will gar nicht und sie kann auch nicht. Sie hat ja von nichts eine Ahnung!«

»Und was willst du kommandieren?«

»Daß wir alle noch schnell aussteigen, ehe der Zug abfährt!«

»So! Du bist ja mächtig helle heut!« sage ich mit aller brüderlichen Höflichkeit. »Wo Mutter uns extra verboten hat, aus dem Abteil zu gehen!«

»Aber wir können doch nicht ohne die Eltern fahren!«

»Und warum können wir es nicht? Lassen das Abteil leer fahren, wo Vater es bezahlt hat, und er muß für alle sieben noch einmal nachbezahlen, wo er ganz gut mit Mutter allein uns nachfahren kann. Vielleicht holt er uns vor Gelbensande sogar noch ein, wenn er D-Zug fährt. Ich finde es direkt schick, wenn wir mal allein fahren! Wir würden einen Deebs machen, was Ede –?«

»Natürlich!« echote Ede, der an seinen nun unter meinem Sitz verwahrten Hamster denkt. »Du kannst es mir zehnmal sagen, Itzenplitz, ich steig doch nicht aus, wo Mutter es uns extra verboten hat.«

»Und wir können doch nicht fahren!« springt Fiete jetzt ihrer Schwester bei. »Wir haben ja gar keine Fahrkarten!«

»Nur noch vier Minuten! Sieh mal, die Schaffner fangen schon an, die Türen zuzumachen! Christa, sollen wir fahren oder sollen wir aussteigen?«

»Ich weiß doch nicht!« jammert Christa los. »Aber wenn ich allein mit euch zu fremden Leuten gehen soll, das tue ich nicht! Und allein fahre ich auch nicht mit euch, ihr laßt euch ja doch nie was von mir sagen!«

»Siehst du, Hans«, sagt Itzenplitz triumphierend. »Christa sagt auch, wir müssen aussteigen!«

»Nein, nein, ich steig nicht aus mit euch!« jammert die Heulliese. »Ich geh nicht mit euch unter die vielen Leute! Ihr lauft mir gleich alle weg, und ich steh da und weiß nicht wohin!«

»Ich stelle fest«, verkünde ich, stolz auf meine Geistesschärfe, »daß Christa nicht mitfahren und nicht aussteigen will. Was willst du nun eigentlich, Christa?«

»Ich weiß doch nicht! Warum fragt ihr mich denn immerzu? Aber das sage ich euch, wenn der Herr Rat nicht gleich kommt, dann fahre ich nach Haus! Ich hab's nicht nötig, so in der Welt herumzufahren wie 'ne Waise, ich hab richtige Eltern, bei denen ich bleiben kann!«

Gottseidank kam der Herr Rat mit seiner Rätin nun wirklich gleich. Er war so froh, den Zug doch noch erreicht zu haben, daß Ede nicht mehr als ein paar scherzende Scheltworte abbekam, nebst einem Zupfen am Ohrläppchen. Während Mutter dem Vater seinen Eckplatz gemütlich mit Kissen herrichtete – wir fuhren selbstverständlich Dritter –, während Vater das schwere Tuchjackett mit einem leichten aus Lüster vertauschte und auf den Kopf statt des Filzhutes ein leichtes Käppi setzte, das den schon blaß zwischen licht werdenden Haarsträhnen durchschimmernden Schädel vor Erkältungen schützte, während Itzenplitz schon mit Marlitts Goldelse anfing und Fiete von Christa ihre große Puppe verlangte, die doch auch etwas von der Reise sehen sollte, während Ede ungewohnt steif auf »meinem« Eckplatz saß, die Beine gewissermaßen als Gitter vor dem Versteck des Hamsters, den er mit einem Bindfaden ans Heizrohr gebunden hatte, während ich zum offenen Türfenster hinausschaute – während alledem hatte es auf dem Bahnsteig einen letzten Tumult, ein letztes hastiges Rennen und Schleppen gegeben. Die letzten Türen waren zugeschlagen, die Pfeife des Zugführers hatte geschrillt, und mit lautem Puffen und Dampfausstoßen hatte die Lokomotive unsern Zug in Gang gebracht.

Nun rollte er schon etwas freier, klapperte aber immer noch über Dutzende von Weichen, und ich sah neugierig in all die engen, rauchgeschwärzten Hinterhöfe, die mir bei dieser Ferienfahrt ins Freie besonders abscheulich vorkamen. All die Leute, die in ihnen hausen mußten, schienen mir beklagenswert. Ich begriff fast nicht, daß wir fast ein ganzes Jahr im dritten Stock eines solchen Hauses an der Luitpoldstraße gewohnt hatten!

Nun wurde der Blick etwas freier, ich sah in den Friedhof der Französischen und Hedwigs-Gemeinde und – plötzlich ganz traurig – wendete ich mich ins Abteil zurück und sagte zu Vater: »Wenn wir den Kirchhof wiedersehen, sind die großen Ferien schon vorbei!«

»Und die nächsten sind dir sechs Wochen näher!« lachte Vater und streckte sich behaglich auf seinem Eckplatz aus. »Werde bloß nicht elegisch, mein Sohn, sondern freue dich dessen, was du hast! Das Dunkle der Zukunft, wie auch die unvermeidliche Fünf in deiner nächsten Algebraarbeit, darfst du jetzt ohne Sorge schlummern lassen. Sechs Wochen sind eine mächtig lange Zeit, Hans, und wir wollen sie genießen und uns nicht die Laune verderben lassen.«

Dieses mit einem Blick auf Ede, den Übeltäter.

Eben fuhr stolz in viel rascherem Tempo ein D-Zug an uns vorüber. Ich sah ihm neidisch nach, hatte schon wieder meinen kleinen Kummer über die Vergänglichkeit irdischer Freuden vergessen, und rief: »Ach, Vater, warum fahren wir eigentlich nie D-Zug? Ich würde furchtbar gern mal D-Zug fahren!«

Vater lächelte mit all seinen Augenfältchen. »Aber warum denn, mein Sohn? Du sitzt hier wie dort auf Holz, aber du mußt es teurer bezahlen und hast weniger davon, denn du bist drei Stunden eher am Ziel. Warum sollen wir der Eisenbahn drei Stunden schenken?«

Ich bin nicht einmal sicher, ob nicht Vater wirklich so dachte. Vielleicht war es nicht nur Sparsamkeit, daß er stets mit uns den Personenzug benutzte. Seine ganze Natur war allem Hasten und Hetzen abhold. Er liebte es wirklich, wenn der Zug an jedem kleinen Bahnhof hielt. Dann sah er gemächlich aus dem Fenster zu, wie ein paar Bauersfrauen mit ihren Körben sich beeilten einzusteigen, und zog er den Kopf zurück, hatte er immer eine kleine Beobachtung gemacht, aus der sich ein Geschichtchen spinnen ließ. Ein hastiges Abschiedswort, die schwerwiegende Frage, was die Frauen in ihren Körben gehabt hätten, eine einsame Kuh, die aus dem Türspalt des Güterwagens ihre feuchte Schnauze gesteckt hatte, all dies und tausend anderes gab ihm den Stoff, aus dem er seine Plaudereien spann.

Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein, mein Vater hatte eine besondere Vorliebe für die Bücher von Heinrich Seidel, diesem Behaglichkeitsphilosophen der kleinen Leute, des Alltagsglücks, dessen gar zu billiger Optimismus uns heute schon ein wenig fade schmeckt. Aber wie Seidels Leberecht Hühnchen beim Verzehren eines einzigen Eis sich an dem Gedanken ergötzte, daß er mit diesem einen Ei Hunderte von Hühnergenerationen vom Erdball nur zur Ernährung seines Wanstes tilge (er nannte das Schlampampen) und sich dadurch seine überragende Stellung als fast gottgleicher Mensch bewies, so sog mein so selten von seiner Arbeit fortkommender Vater aus jeder Blume Honig. Jeder Mensch war ihm interessant, jeder Vogelruf freute ihn, und noch auf jedem Schutthaufen entdeckte er Blumen, die niemand sonst sah! Warum sollte er da nicht auch mit besonderem Vergnügen die dritte Klasse eines Personenzuges benutzen –?!

Meine Mutter kam von ihrer Entdeckungsreise zurück. Sie hatte nach der »Örtlichkeit« oder, wie wir Kinder es einfacher nannten, nach dem »Örtchen« gesucht. Wenn man mit vier, eigentlich mit fünf Kindern (denn Christa konnte man wirklich nicht für voll rechnen!) sieben bis acht Stunden auf der Bahn sitzt, war die Frage nach diesem Ort schon brennend. Aber Mutter brachte eben die beruhigendsten Nachrichten.

»Es liegt gleich hier nebenan«, erzählte sie in dem halben Flüsterton der Diskretion, den das Thema gebot. »Wir teilen es nur mit den Leuten aus dem Abteil neben uns, da wird es doch nicht immer besetzt sein. Freilich, sie fahren mit fünf Kindern, und keines ist älter als zehn. Recht nette Leute, Vater, ich habe ein paar Worte mit ihnen geredet, aber die Frau trägt zu viel Schmuck, um wirklich fein zu sein. Sie fahren nach Brunshaupten, schon den fünften Sommer, denke dir! Sie sind sehr zufrieden mit Brunshaupten, Vater, sie sagen, es ist dort alles viel leichter zu kriegen als in Graal. Sie haben dort auch eine Landungsbrücke, so was macht den Kindern doch immer sehr viel Spaß, wenn ein Dampfer kommt, sagen sie. Wirklich angenehme Leute, trotz des vielen Schmucks. Kinder, ihr müßt im Nebenabteil ordentlich grüßen, wenn ihr ‹dahin› geht, hört ihr!«

Ich hörte es, aber ich war nur mit halbem Ohr bei Mutters Bericht über die Abteilnachbarn. Ich dachte an frühere Reisen, als wir noch kleiner waren. Zu den damaligen Zeiten muß noch keinesfalls jeder Bahnwagen über ein Örtchen verfügt haben, und was machte eine unselige Mutter mit ihren Kindern, wenn sie »dahin« müssen und es gibt kein »Dahin«!

Nun, wir fuhren mit einem Gerät, das wir das Gummipötterchen nannten. Wie es zu uns gekommen ist, ob durch Kauf oder Geschenk, das weiß ich nicht mehr. Aber jedenfalls war es da, war Familienbesitz, war sicher einmal nicht billig gewesen, und so blieb es denn auch bei uns, trotz offensichtlicher Fehler in der Konstruktion. Der Erfinder dieses Reisetopfes war nämlich von dem Gedanken beherrscht worden, daß Reisende wenig Platz in ihren Koffern haben. Er hatte also seinen Topf nach dem Prinzip des Chapeau claque konstruiert: auf einen Druck an den beiden Seitenrändern ließ er sich flach zusammenlegen wie solch ein Seidenhut. Drückte man wieder, so sprang er auf, seine derbe graue Gummihaut strammte sich, und er bot willig seine Wölbung – nebenbei ein sehr verlockendes, aber nie erlaubtes Spielzeug für uns Kinder.

Aber der Erfinder hatte nicht bedacht, daß die Benutzer diese Raumersparnis teuer mit großer Unsicherheit bezahlen mußten. Es war ein Reisetopf, Reisen werden aber vorwiegend in nicht stille stehenden Behausungen ausgeführt, sondern meist in Wägen, die sich, mit Rädern versehen, mehr oder weniger schnell fortbewegen. Selbst auf der Eisenbahn, deren Schienen den menschlich denkbar glattesten Weg darstellen, gibt es nicht selten häufig plötzliche Stöße, Schwankungen in Kurven, einen Ruck, den die auf der Lokomotive zu rasch gezogene Bremse auslöste.

Wohlan! Einen mäßigen gleichbleibenden Druck ertrug das Pötterchen willig, besonders dann, wenn sein Benutzer eine längere halb schwebende, halb hockende Stellung einzunehmen wußte. Verstärkte sich der Druck auf die Seitenwände aber plötzlich, hervorgerufen etwa durch das Schleudern des Wagens in einer Kurve, so wurde aus dem Töpfchen ein Chapeau claque. Plötzlich legte es sich zusammen und sein Inhalt ...

Nein, ich muß sagen, ich hatte schon als Kind das Gefühl, es sei ein Pötterchen mit ausgesprochen boshaftem Charakter. Es wartete immer, bis sein Zusammenklappen auch Übles anrichtete. Es ertrug bis dahin auch stärkere Stöße willig, um seinen Benutzer in Sicherheit zu wiegen, ihn zu einem »laisser faire laisser aller« zu verführen – und alle schrien auf!

Meine hart geprüften Eltern hatten sich eine große Gewandtheit im Umgang mit diesem Unhold angeeignet. Sie gaben uns Kindern Hilfestellung. Eines hielt unter dem rechten, eines unter dem linken Arm.

Vater sprach mahnend: »Mach nur schnell, Hans! Ich habe eben aus dem Fenster gesehen, wir haben ein Stück ganz grade Strecke vor uns!«

Und ehe wir uns noch versahen, bremste der Zug oder ging doch in eine Kurve –, und wir schrien alle, alle auf!

Mancher wird fragen, warum meine Eltern nicht nach solchen Erfahrungen das moderne Gummitier verwarfen und zum bewährten emaillierten Blech zurückkehrten, das wohl mehr Platz beanspruchte, dafür aber auch größere Sicherheit bot. Ich weiß es eigentlich auch nicht – aber der Mensch ist wohl so, daß er schließlich auch seine Plagen lieben lernt und ohne sie nicht mehr leben mag. Und dann wurden wir ja auch immer größer, das war nicht zu übersehen. Ein Emailletopf wäre eine Neuanschaffung gewesen, zu Haus hatten wir nur Steingut, das Porzellan genannt wurde und mit Blumen in verschiedener Zusammenstellung geziert war. Mutter sagte: »Es ist ja nur noch dieses eine Jahr, Vater. Dann sind die Kinder groß und können an einer Station auf den Bahnsteig. Und wir werden besser aufpassen ...«

Ja, Pustekuchen, aufpassen! Das Pötterchen paßte viel besser auf. Da haben wir wieder den Salat!

Nun haben wir schon zweimal gefrühstückt, wir haben bereits dreimal so viel gegessen wie sonst zu Haus, und sind alle recht schläfrig oder schlafen auch schon. Mir gegenüber sitzt Christa, auf ihrem Schoß liegt Fietes schlafender Kopf, an ihrer Schulter lehnt Itzenplitz, schlummernd, mit offenem Mund. Christa sitzt steil aufrecht. Als Stab und Stütze hat sie vor sich zwischen den Knien ihren derben, ländlichen Schirm eingepflanzt in den Boden des Abteils. Ihre breiten roten Hände liegen fest auf dem Griff, der einen Vogelkopf darstellt. Aber trotz dieser aufrechten Haltung schläft auch Christa. Sie hat den Mund geschlossen und schnurkelt friedlich durch die Nase.

Ede schläft in seiner Ecke, um sich vor der Sonne zu schützen, hat er sich die Gardine über das Gesicht gelegt. Auch Vater hat die Augen geschlossen und die Beine weit von sich ausgestreckt. Er kann das gut, denn Mutter ist auf einen kleinen Plausch zu den Abteilnachbarn gegangen.

Der Zug fährt unermüdlich. Sein regelmäßiges »Rattata Rattata« bilde ich mir im Einschlafen in »Bald sind wir da – bald sind wir da!« um. Ich blinzle nur noch, ich werde auch sofort hinüber sein.

Aber ganz kann ich doch nicht zur Ruhe kommen. Da ist irgendein Geräusch im Abteil, das mich stört. Es ist ein Geräusch, das hier nicht hergehört. Ich sage mir vor: »Bald sind wir da! Rattata! Hurra!«, aber ich horche dabei schon wieder. Ich mache die Augen wieder auf, die schon fest geschlossen waren. Ich sehe mich um, ich versuche festzustellen, woher dieses ungewohnte Geräusch kommt.

Da sehe ich etwas auf dem Boden des Abteils. Es sitzt da, hat einen Griepsch in den Vorderpfoten und nagt daran, ganz schnell und stoßweise. O Gott, der Hamster! Wir haben ja ganz den Hamster vergessen, Ede wie ich! Der Hamster ist los!

Ich sehe nach Ede hin, aber Ede ist ganz hinter seiner Gardine verschwunden, er schläft tief. Wollte ich einen Versuch machen, ihn zu wecken, würde eher das ganze Abteil wach. Ich kenne das bei Ede. Wir haben schon eine Weckuhr neben ihm aufgebaut, die lauteste Weckuhr des ganzen Hauses, und die haben wir auch noch auf einen umgestülpten Teller gestellt, den Lärm zu erhöhen. Ede schläft immer weiter. Ede ist nur zu wecken, wenn man ihn mit reichlich Wasser begießt oder aus dem Bett auf den Fußboden rollt.

Nein, Ede kann ich nicht wecken, und will es auch nicht. Der Hamster sieht recht possierlich aus. Da ich doch nicht wieder einschlafen kann, sehe ich ihm lieber zu. Die ungewohnte Lebenslage, das Poltern und Rollen des Zuges scheinen unsern Maxe nicht zu stören, er benimmt sich friedlich und vertraut, als säße er vor der Tür seines Baues im heimischen Weizenacker.

Der Apfelgriepsch hat seine Schuldigkeit getan, er ist hinüber. Der Hamster nähert sich Christas Schuhen, beschnüffelt sie, wobei er seine rosaweiße gespaltene Nase rasch über den langen gelben Schneidezähnen auf und ab zieht, und nun hat er entdeckt, daß zwischen Christas Schuhen ein Weg hindurch in das Dunkel unter ihrem Sitz führt! Er benutzt diesen Weg und verschwindet aus meinem Gesichtsfeld.

Eine Weile horche ich. Aber nichts läßt sich vernehmen, nichts geschieht. Es ist ein ausgesprochen langweiliger Hamster, ich habe das Ede schon immer gesagt. Ein Karnickel würde nie so lange tatenlos im Dunkeln sitzen! Der Hamster kann ruhig etwas tun, um mir die langweilig-schläfrige Mittagsstunde zu vertreiben, ich habe seinetwegen meinen Eckplatz an Ede abgetreten!

Ich sehe mich suchend um. Über mir im Gepäcknetz liegt Vaters Stock. Ich hole ihn mir, und nun versuche ich, durch Christas eng beieinander stehende Beine ins Dunkle vorzustoßen. Hell erklingen die Eisenrohre der Heizung, aber ein ärgerliches Fauchen verrät mir, daß ich nicht nur sie getroffen habe. Der Hamster, der ein mutiges Tier ist, erscheint wieder und attackiert meinen Stock. Er sitzt auf den Hinterbeinen, zornig hat er die Zähne entblößt, er schnappt nach dem Stock. Dieses große, braungelbe Dings kann ihn nicht in Schrecken versetzen, es ärgert ihn, er wird immer wütender. Sieh da, diese Handvoll Fett und Fleisch und Zähne möchte den meterlangen Stock einfach verschlingen!

Ich ziehe den Stock vor und zurück, ich berühre den Hamster bald am Kopf, bald an der Brust – wie er sich bläht vor Zorn, wie seine Backentaschen anschwellen! Es ist ein wunderbares Spiel: ich bin ein kleiner Herrgott. Ich bin mit etwas Neuem in diese kleine Hamsterwelt eingebrochen. Aber Maxe gibt sich nicht geschlagen, nein, immer wieder nimmt er den Kampf mit dem nie gesehenen Ungeheuer auf. Er ist nicht feige. Ich aber bin ein milder Herrgott, der Hamster hat keine Ahnung, daß ein einziger Schlag dieses Stockes, gegen den er so verbissen kämpft, seinem kleinen Dasein für immer ein Ende bereiten würde – ich berühre ihn nur sanft ...

Dann lasse ich den Stock sinken. Maxe begreift nicht sofort, daß die Drohung vorbei ist. Mit seinen handförmigen Vorderpfoten schlägt er nach dem Stock, er zerrt an ihm mit den Zähnen ... Aber der Stock bleibt ruhig, er will nicht mehr. So wird auch der Hamster sachte friedlicher, er beschnuppert den Stock: ach, es ist nur so ein blödes totes Stück Holz, wie er es schon draußen auf den Feldern gefunden hat, es hat kein Leben in sich, es ist kein Gegner! Der Hamster dreht dem Stock verächtlich den Rücken.

Nun läuft er schnuppernd durch das Abteil. Wo es geht, bleibt er auf dem Boden, windet sich zwischen all den Schuhen hindurch, wo es nicht anders zu machen ist, überklettert er sie auch. Die Schläfer schlafen fest. Auf seinem Marsch findet der Hamster bald hier, bald dort ein paar Brotkrumen, die wir bei unserm Mahl verloren haben. Jedesmal beriecht er sie erst, dann schiebt er sie in seine Backentaschen.

Nachdem ich ihn als Gott in Zorn versetzt habe, bin ich jetzt gerne bereit, ihn zu füttern, denn sicher hat er Hunger. Aber er hat sich jetzt zu weit von mir entfernt, er ist am andern Ende des Abteils, in Vaters Nähe. Ich beobachte gespannt, was er nun tun wird, denn Vaters ausgestreckte Beine bilden eine Barriere.

Maxe beriecht zuerst Vaters Schuhe. Obwohl er mir den Rücken zukehrt, kann ich deutlich erkennen, wie sehr ihn der Geruch der Stiefelwichse anekelt. Einen Augenblick scheint er zu zögern, dann wendet er sich den Beinkleidern zu. Sie scheinen ihm sympathischer, vielleicht erinnern sie ihn an all das flockige weiche Zeug, das seine Hamsterin einst zum Wochenbett zusammentrug. Einen Augenblick wird meine Spannung riesengroß: der Hamster scheint bereit, in die warme dunkle Höhle von Vaters Hosenbein hineinzusteigen, aber Maxe entschließt sich dann doch anders. Er klettert auf den Fuß. Ich denke natürlich, er will die Barriere nur überqueren, wie er die Schuhe überquert hat, um an die Grenzen seines Reiches zu kommen. Aber Maxe ist von einem Drang zur Höhe erfaßt: er beginnt an Vaters Beinen hochzuklettern.

Es ist ein wahrer Jammer, daß Ede schläft, daß ich keinen Gefährten bei diesem Anblick habe, mit dem ich den Überschwang meiner Gefühle teilen kann. Hinterher wird es mir keiner glauben, daß Maxe an Vaters Beinen hochgeklettert ist, sie werden mich mal wieder ermahnen, meine Phantasie zu zügeln. Aber da ist er! Da ist er im schönsten Sonnenlicht, klar am Tage, ohne alle Phantasie, der Hamster, der an Vaters Bein hochklettert, an einem kammergerichtsrätlichen, freilich mageren Bein!

Vater ist ein leiser Schläfer, zwar erwacht er noch nicht, aber das Kitzeln beunruhigt seinen Schlaf; er bewegt das Bein, nimmt es aus der gestreckten Ruhelage und stellt es aufrecht. Fast wäre Maxe abgestürzt, aber seine Krallen haben sich im Stoff festgeklammert, er sitzt still da, überlegend, was nun eigentlich passiert ist.

Dann setzt er seinen Weg fort. Es gelingt ihm, die überhängende Wand der Kniescheibe zu bezwingen, nun ist er auf dem Knieplateau, sichtlich atemholend. Er überschaut, scheint's, die Landschaft, die sich von hier oben ihm darbietet. Es ist ihm nicht anzusehen, ob sie ihm zusagt, aber jedenfalls ist sein Wissensdurst noch nicht gestillt. Er setzt die Reise fort.

In meines Vaters Schoß liegen friedlich und entspannt die beiden Hände. Es sind sehr kleine, zierliche Hände, ich bewundere sie. Ich habe sie nie schmutzig gesehen, die Nägel waren immer gepflegt, während meine Hände Pfoten waren, und durchaus nicht immer sauber. Vielleicht lockt das Weiß dieser Hände Edes Hamster, vielleicht aber auch Vaters ererbter Siegelring mit dem schönen roten Stein, in den unser Familienwappen geschnitten ist. In vier Feldern sieht man darauf: einen Kesselhaken, ein Gartenhäuschen, auf das eine Baumreihe zuführt, eine Schafschere und den Reiher als Wächter: er hält einen Stein in der Kralle, schläft er ein, wird der Stein ihm auf den andern Fuß fallen und ihn wecken.

Sicher lockt den Hamster der Ring. Er huscht zu den Händen, eine Weile beschaut er sie, hebt die Nase und prüft den Geruch, dann senkt er sie und beschnobert die Hand. Diese Hand macht eine leise abwehrende Bewegung. Der Schläfer hat die Berührung der Nase gespürt, vielleicht meint er, eine Fliege zu verscheuchen.

Der Hamster sitzt sofort in Angriffsstellung da, aber die Hand schläft schon wieder mit dem ganzen Schläfer. Sie kann dem Maxe ganz und gar nicht unsympathisch sein, er schnobert noch einmal – wieder leichte Bewegung der Hand –, dann erklettert sie der Hamster und sieht ins Ärmelloch.

In diesem Augenblick verläßt die Hand ihren Platz und schüttelt sich. Maxe ist in den Schoß gefallen. Die Hand hat ganz blind drei-, viermal zugeschlagen, der Hamster faucht, nun beißt er zu ...

– Und ganz schnell schließe ich die Augen, versinke in tiefen Schlaf ...

Ich höre Vaters Ausruf: »Was ist denn das –?! Ich bin ja gebissen!«

Lauter: »Was ist das? Willst du mal loslassen, du kleine Bestie, du?!«

Ich höre ein leichtes Klacksen auf den Boden des Abteils, ein Quieken von Maxes Stimme, voller wütendem Protest, und nun sagt Vater höchst erstaunt: »Ein Hamster! Ein Hamster hier im Abteil! Gottlob! Ich dachte wahrhaftig schon, es wäre eine Ratte ...«

An den Geräuschen merke ich, daß jetzt die Schwestern und wohl auch Christa erwacht sind, ich aber schlafe fort, und auch Ede scheint geruhig weiter zu schnurkeln.

»Ja, Kinder, ich bin gebissen!« sagt Vater. »Es ist aber nur ein Hamster gewesen. Ich will hoffen, daß er saubere Zähne hatte, sonst bekomme ich noch eine Blutvergiftung. – Nein, ihr könnt ihn nicht sehen, er ist irgendwo unter einen Sitz gekrochen. – Sagt mal, weiß jemand von euch, ob Eduard (siehe da! Schon wieder Eduard statt Ede!) seinen Hamster etwa mitgenommen hat? Aber ich bitte mir aus, daß ihr die Wahrheit sagt!«

»Eduards Hamster? Nein, Vater«, sagt Itzenplitz. »Ich glaube das nicht. Er wollte ihn doch Herrn Markuleit in Pflege geben.«

»Ja, hat er das aber auch getan?«

»Runtergelaufen ist er heute früh noch mit Hans zu Markuleits«, meldet Fiete. »Aber vielleicht, Vater ... Wie wir auf dem Stettiner Bahnhof noch allein im Abteil waren, ohne dich, da hat Ede immerzu mit Hans getuschelt!«

Oh, du Petze, warte nur! Wenn wir erst in Graal sind, setze ich dir so viel Kletten in die Haare!

Vater hat nachgedacht, er ist ja nicht umsonst einmal Untersuchungsrichter gewesen. »Tat Ede nicht auf dem Stettiner so, als hätte er sich den Arm verletzt, trug ihn immer vorne im Mantel? Und nachher hier im Abteil hat er überhaupt nicht mehr über den verletzten Arm geklagt – das sieht Ede so gar nicht ähnlich!«

»Und, Vater, daß Ede voraufgelaufen ist auf den Bahnsteig – da hat er ihn doch sicher hier im Abteil versteckt«, gibt nun auch Itzenplitz ihren Senf dazu. (Auch du wirst noch dein Teil bekommen! Bestimmt packen wir dir einen Regenwurm aufs Butterbrot!)

»Ja«, sagte Vater. »Es scheint immerhin ein begründeter Verdacht vorzuliegen.«

Mit erhobener Stimme: »Ede!«

Schnurkeln.

»Ede!!«

Schnurkeln.

»Ede!!!«

Schnurkeln.

»Itzenplitz, sieh, daß du ihn wachschüttelst. Du darfst ihm ruhig stark auf den Fuß treten. Mein Finger tut ziemlich weh.«

Und lauter: »Und du, mein Sohn Hans, tu ruhig deine Guckäugelein auf! Ich sehe doch, daß du nicht schläfst, du mußt nicht so mit deinen Lidern zucken! – Nun, wie ist es, Hans? Hat Ede seinen Hamster hier ins Abteil gebracht?«

»Welchen Hamster?« frage ich und gähne dabei herzhaft, »Ist hier 'n Hamster? Das ist ja mächtig komisch!«

»Ich warne dich, Hans!« sagt mein Vater liebevoll. »Laß dich nicht in Lügen ein, du warst immer ein schlechter Lügner, wenn du nicht selbst an deine Lügen glaubtest Und diesmal glaubst du nicht daran.«

»Aber ich habe wirklich keine Ahnung, Vater! Ein Hamster –? Ich habe ganz fest geschlafen ...«

Gottlob erlöste mich Ede. Mit einem kombinierten Wut- und Schmerzensschrei fuhr er hinter der Gardine hervor.

»Du bist wohl verrückt geworden –?!!« schrie er seine Schwester Itzenplitz an. »Mich so in den Arm zu kneifen –! Warte mal, ich werde dich noch ganz anders kneifen –!«

»Ede!« sprach Vater streng. »Ede – wo ist dein Hamster?«

Ede warf einen ängstlich-raschen Blick durch das Abteil und schwieg.

»Ede!« fuhr Vater mit erhobener Stimme fort. »Ich frage dich: wo ist dein Hamster –?! Ist er, wie du deiner Mutter versprochen hast, bei Markuleits – oder ist er vielleicht unser Reisekamerad?«

Ede lief immer röter an. Ihm schwante, daß etwas geschehen war. Aber er war ganz unsicher, wie weit er sich schon in Geständnisse einlassen sollte.

»Ede!« rief der Vater jetzt. »Ich frage dich zum drittenmal: wo ist dein Hamster –?!!! Willst du ihn etwa verleugnen –? Sieh dir dies an!« Und Vater wickelte ein blutiges Taschentuch von seinem blutigen Finger. »Eduard, ein Hamster hat mich gebissen – war es vielleicht dein Hamster?!«

»Vater!« sagte Eduard etwas überstürzt. »Mein Hamster beißt keinen. Bestimmt nicht! Hat mich noch nie gebissen! Und Markuleit hat so gemein von ihm geredet, heute früh, sicher hätt' er ihn verhungern lassen. Das ist doch Tierquälerei, und da hab' ich gedacht ...«

»Eduard!« sprach Vater. »Du hast heute bereits mehrfach gelogen. Weder war dein Arm verletzt, noch bist du in dieses Abteil vorausgegangen, um uns die Plätze zu sichern. Es ist nicht empfehlenswert für dich, auf dieser Bahn fortzuschreiten, eine starke Trübung deiner Ferien könnte eintreten. – Ede, sag ganz einfach: du hast uns angeschwindelt?«

»Ja, Vater.«

»War dir klar, daß ich nie erlauben würde, den Hamster auf die Reise mitzunehmen?«

»Ja, Vater.«

»Und ist es etwa keine Tierquälerei, einen Hamster in einer kleinen vergitterten Kiste zu halten? Überlege es dir gut, Ede!«

»Ja, Vater, vielleicht ... Aber er kam mir immer ganz vergnügt vor – für einen Hamster, Vater. Ein bißchen brummig sind die alle ...«

»Mir kam er nicht vergnügt vor«, sagte der Vater und betrachtete seinen Finger. »Ede, du hast eine Viertelstunde Zeit, deine sämtlichen heutigen Vergehen zu tilgen. Du wirst den Hamster einfangen – nein, du allein! Nicht: ihr alle! – und du wirst ihn auf der nächsten Station in Freiheit setzen. Wir halten jetzt nur an ländlichen Orten, da wird dein Hamster sich schon glücklicher fühlen ...«

»Vater«, bat Ede. »Darf ich ihn nicht wenigstens bis Graal mitnehmen? Ich dachte, wenn ich ein Weibchen für ihn fange, würde er sich nicht mehr so einsam fühlen ...«

»Ich weigere mich«, sagte Vater strenge, »ich weigere mich, mir unsern Berliner Haushalt als eine Hamsterhecke zu denken. Mein Kopf weigert sich, meine Phantasie weigert sich, mein ganzes Wesen empört sich dagegen. Du weißt Bescheid Ede! Eine Viertelstunde ...«

Und Vater setzte sich. Er zog seine »Tägliche Rundschau« aus der Tasche und verschwand ganz hinter ihr, zum Zeichen, daß er jede weitere Diskussion über diesen Fall ablehne.

Das sah Ede auch ein. Seufzend beugte er sich unter die Sitze und fing an, den Hamster zu locken. Aber Maxe war verstimmt, er weigerte sich, auf die Stimme seines Herrn zu hören. Blind und taub wie alles Erdgeborene ahnte er nicht, daß diese Stimme ihm zum ersten Male Angenehmes verkündete: die nahe Freiheit. Er beharrte widerborstig in einem äußersten Winkel, wo ihm die Heizrohre einen fast unangreifbaren Schutz boten. Nur sein wütendes Fauchen war zu hören.

Ich bot Ede wortlos Vaters Stock an. Er stocherte, und das Fauchen wurde grimmiger. Dann gab der Hamster seine unhaltbar gewordene Position auf, aber nur, um unter Vaters Platz eine ganz ähnliche zu beziehen. Vater mußte in seiner Lektüre gestört werden. Schließlich erwies sich Vaters Befehl, Ede solle seinen Maxe allein fangen, als unhaltbar. Wir beteiligten uns alle an der Jagd, Vater nicht ausgenommen.

Es ist für sechs Personen nicht ganz leicht, im engen Abteil eines fahrenden Zuges ein zähnefletschendes, rasendes Ungeheuer einzufangen. In der Hauptsache mußte die Jagd auf den Knien durchgeführt werden, nicht zum Vorteil unserer Reisegarderobe, die wir am Morgen fleckenfrei angezogen hatten.

Das fand Mutter auch, als sie von ihrem nachbarlichen Plausch zurückkehrte. Sie stieß einen Schreckensschrei aus, als sie diesen staubaufwirbelnden Tumult sah, mit Stöcken und mit Stangen, den bösen Feind zu fangen ...

»Aber Vater!« rief sie. »Itzenplitz, willst du mal! Fiete, dein Kleid! Hans, laß das, Ede, aber ... Christa, nein, was macht ihr bloß –?!! Wir wundern uns schon immer nebenan über das Gepolter ...«

Vater klärte Mutter auf, indes wir die Jagd fortsetzten. Mutter seufzte tief. »Junge, Junge, was machst du nur immer für Geschichten –!«

Der Zug fuhr langsamer, hielt. Wir warfen einen flüchtigen Blick hinaus: Kiefernwald. Ein kleiner Schuppen nur als Haltestelle.

»Macht doch mal die Tür auf!« rief einer.

Die Tür flog auf.

»Daß aber keiner hinausfällt!« warnte Mutter.

Schon fiel einer, aber es war nur der Hamster, den ein zielgerechter Stoß ins Freie befördert hatte. Einen Augenblick war er unsern Blicken durch die Trittbretter entzogen. Dann sahen wir ihn wieder. Rasch lief er über den gelblich bekiesten Bahnsteig und stutzte einen Augenblick vor dem Lattenzaun. Aber schon hatte er sich durchgezwängt ...

Einen Augenblick sahen wir ihn noch, wie er die Böschung zum Walde hinauflief. Dann verschwand er zwischen Heidekraut und Ginster – in der Freiheit ...

»So, Louise«, sagte Vater und setzte sich wieder behaglich in seine Ecke, während der Zug schon weiter fuhr. »Und jetzt kannst du uns etwas zu Mittag geben. Ich habe von Brathühnchen flüstern gehört. Ich glaube, wir könnten jetzt ungestört essen, falls du nicht deine Karnickel, Hans, noch irgendwo im Hintergrund hältst –?«

Ich protestierte entrüstet.

»Bei euch weiß es nie jemand«, sagte Vater friedlich. »Am besten ist man immer auf das Schlimmste gefaßt und genießt die ruhigen Stunden bis dahin als unverdientes Glück. Meistens pflegst du doch in jeder Sommerfrische mit einem kleinen Unfall zu debütieren, Hans!«


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