Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Onkel und Tanten

Vater hatte einen starken Familiensinn und erwartete von uns Kindern, daß wir uns genau wie er mit Interesse, Ehrfurcht und Liebe der Kenntnis unserer weitverzweigten Verwandtschaft widmeten. Bei meiner Schwester Itzenplitz hatte mein Vater da auch Glück. Sie hatte eine starke mathematische Begabung (die mir ganz abging), und ich behaupte heute noch, daß man, um sich in verwickelten Verwandtschaftsverhältnissen zurechtzufinden, abstrakt denken muß.

Fiete und Ede waren auf diesem Gebiet normal begabt, sie behielten wenigstens, was ihnen öfter erzählt wurde. Ich aber war wieder einmal ein völliger Versager. Fragte Vater mich: »Hans, wie sind wir mit Tante Wike verwandt?«, so erinnerte ich mich vielleicht dunkel, von Tante Wike gehört zu haben, mußte aber bekennen, ohne jede Ahnung zu sein, wie es mit der Berechtigung ihrer Tanten-Ansprüche aussah.

Dann sagte Vater geduldig: »Hans, paß doch nur einmal auf! Es ist ganz einfach. Deine Urgroßmutter und Tante Wikes Mutter waren rechte Kusinen, es ist also ein Verwandtschaftsverhältnis welchen Grades? Aufsteigend oder absteigend?«

Ich verharrte in muffigem Schweigen. Hätte Vater mich aber gefragt: »Du erinnerst dich doch an die Tante mit den weißen Handschuhen?«, so hätte ich sofort Bescheid gewußt. Ich hätte sofort an eine alte, hagere, weißhaarige Dame gedacht, die in dem Städtchen Aurich wohnte und die so fein war, daß sie nur leise lispelnd mit stets gesenkten Augen sprach und tags wie nachts weiße Handschuhe trug. War es Winter und es mußte Torf im Ofen nachgelegt werden, so öffnete sie das Fenster und schüttelte eine Glocke, worauf das Mädchen aus dem Haus von Tante Wikens Bruder gegenüber kam und nachlegte. Denn Tante Wike war nicht wohlhabend genug, sich selbst ein Mädchen zu halten, aber zu fein, Torf nachzulegen. Lieber fror sie.

Die Frau ihres Bruders aber betrachtete Tante Wike zeit ihres Lebens mit einer Mischung von Vorsicht und Mißtrauen, denn sie war »butenländisch«, eine Ausländerin, nämlich aus dem Hannöverschen, das zwar an Ostfriesland grenzt, von den echten Friesen aber so sehr als Ausland angesehen wurde wie etwa die westindischen Inseln oder Liberia.

Am Tage, als ihr Bruder dieses fremde Weib an den Traualtar führte, schrieb Tante Wike in ihr sonst so wortreich geführtes Tagebuch: »O du armes Ostfriesland!« Ich hoffe, es hat sie später ein wenig beruhigt, daß diese Ehe des Bruders kinderlos blieb, so daß weiterreichende böse Folgen für Ostfriesland nicht eintraten.

Gleich bei der Hochzeitstafel hatte übrigens die neue Schwägerin der Tante Wike sofort ihre volle Minderwertigkeit bewiesen. Es war über »Granat« geredet worden, wie man dorten die Nordseekrabben nennt, und die »Neue« hatte gewagt, ein schüchternes Wort für die Ostseekrabben zu sprechen: sie habe sie doch recht wohlschmeckend gefunden. Worauf Tante Wike, in berechtigter Verteidigung heimatlicher Belange, sich majestätisch aufrichtete und mit dem Satz: »Das ist alles borer Unsinn! Nur Granat: ist eßbar!« die Schwägerin zum Verstummen brachte.

Bekanntlich oder auch nicht bekannt ist der echte Ostfriese an drei Eigenschaften zu erkennen: er kennt keine Berge, er streicht sich Butter auf den Napfkuchen, und er läßt alle Türen hinter sich offen. Tante Wike war eine echte Ostfriesin, und so kannte sie nicht nur keine Berge, sondern lehnte auch derartige vermessene Ausbuchtungen der Erdoberfläche als völlig unschicklich ab. Nun kam die neue Schwägerin leider auf die Idee, im Garten des Mannes eine Laube erbauen zu lassen, und um einen wirkungsvollen Überblick über den umhegenden flachen Teller zu bekommen, gab sie dem Gärtner den Auftrag, Erde heranzukarren und einen Hügel aufzuschütten, auf dem die Laube errichtet werden sollte. Diese Vermessenheit erregte bei allen in Aurich Kopfschütteln, Tante Wike aber war einfach empört. Sie weigerte sich ihr ganzes Leben hindurch, diesen Berg zu erklimmen, und behauptete, als sich bei ihrem Bruder schon im frühen Alter von neunzig Jahren die Anzeichen eines beginnenden Herzleidens einstellten, das komme alles nur von dieser ewigen Bergsteigerei! Ich bin selbst noch in jenen Garten geführt und aufgefordert worden, dies achte Weltwunder zu bestaunen. Ich muß aber gestehen, ohne mit der Nase darauf gestoßen zu werden, hätte ich die Niveaudifferenz kaum bemerkt!

Ja, für solche Geschichten – Döneckens nannten wir sie zu Haus – hatte ich Sinn. Sie hafteten sofort in mir, aber im übrigen war die Verwandtschaft – sehr zu Vaters Betrübnis – mir Hebuka. Wie oft hat er, wenn irgendein Besuch in Aussicht stand, mit mir vorher genau eingeübt, wie das Verwandtschaftsverhältnis zusammenhing, wollte er mich dann aber stolz seinem Besuch zur Parade vorführen, versagte ich immer. Und doch hoffte Vater stets von neuem ...

Übrigens waren diese Verwandtschaftsbesuche in Berlin – trotz allen Familiensinns von Vater – oft eine rechte Heimsuchung! Wir hatten kein Fremdenzimmer, und so machte die Unterbringung in unserer Wohnung immer Schwierigkeiten. Ins Hotel zu gehen, wäre nie in Frage gekommen, auch bei recht begüterten Verwandten nicht, das wäre eine Kränkung der Verwandtschaft gewesen! Sie kamen angemeldet, und sie kamen ohne Anmeldung, sie wollten nicht nur schlafen und essen, sie wellten auch Berlin ansehen. Sie kamen aus der Provinz, und sie wollten viel Neues sehen, möglichst alles, was es in Berlin zu sehen gab.

Vater war viel zu beschäftigt, um solche Bärenführerdienste leisten zu können, allenfalls führte er die Besucher einmal abends in den Wintergarten oder in den Zirkus. Mutter aber hatte mit der Mehrarbeit durch den Besuch so viel zu tun, daß sie sich nur für Stunden frei machen konnte. So wurden wir Kinder befohlen, der Tante aus Ülzen oder dem Onkel aus Leer die Herrlichkeiten der Kaiserstadt vorzuführen, was manchmal nicht ganz einfach war. Denn fast alle unsere Besucher waren gegen »das Preußische« sehr kritisch eingestellt und gaben dieser Kritik sofort an Ort und Stelle laut und deutlich ihren Ausdruck.

In Vaters Haus hatten wir nie etwas davon gehört, daß die Hannoveraner mit den Preußen nicht einverstanden waren. Vater war wohl dem Geburtsort nach auch Hannoveraner, der Abstammung nach freilich Friese. Denn mein Großvater war in Ostfriesland geboren, das damals preußisch war, dann aber im bunten Wechsel seines gar nicht so langen Lebens holländisch, westfälisch, wiederum preußisch, hannöversch und endlich zum dritten und letzten Male preußisch wurde. Daher ist es wohl gekommen, daß diese Dinge bei Vater nie ein Problem wurden, er hat immer deutsch empfunden. Als im Jahre 1866 die Annexion Hannovers durch Preußen ausgesprochen und auf öffentlichem Markte in Nienburg verlesen wurde, hat mein Vater ganz naiv mit den preußischen Besatzungstruppen Hurra gerufen, was ihm viele Ohrfeigen seiner Mitbürger eingetragen hat. Ein Jahr später gab es dann für Vater neue Schwierigkeiten in Schulpforta, wo ihn die preußischen Mitschüler als Hannoveraner nicht für voll ansehen wollten.

Wir Heutigen haben keine Ahnung mehr davon, mit welcher Erbitterung die Kleinstaaterei untereinander ausgefochten wurde, wie groß der Haß der einzelnen »Staatsanhänger« untereinander war und wie wenige erst »deutsch« empfanden. Bismarck war der Teufel für jeden braven Hannoveraner, und ich erinnere mich sehr wohl, wie einer meiner Onkel bei einem Ausflug angesichts eines Bismarckturms stolz zu meinem Vater sagte: »Wenn du hingehen willst und ihn anbeten, bitte! Ich tue es nicht!« Worauf Vater nur stumm errötete.

War so oft der harmloseste Onkel- und Tantenbesuch voller Klippen, so erwies sich doch einmal ein hoher, sehr berühmter Besuch als lange nicht so gefahrvoll, wie die Eltern gedacht hatten. Zu den Mitschülern meines Vaters in Pforta hatte auch ein Junge gehört, der später sehr hoch gestiegen und schließlich sogar Minister geworden war. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der alten Schüler aus Pforta ist stets sehr groß gewesen. Sie schreiben einander, sie besuchen einander, und in größeren Städten, wo viele von ihnen sitzen, kommen sie regelmäßig zusammen, um alte Schulerinnerungen auszutauschen. Das waren die sogenannten Pförtnerabende, zu denen Vater auch ging. Als ich noch kleiner war, hat mich das übrigens auf den Verdacht gebracht, daß Vater früher so etwas wie ein Portier gewesen sei. Ich schämte mich dessen sehr, wagte aber nie, mit jemandem davon zu reden, aus Angst, mein Verdacht könne voll bestätigt werden ...

Auch mit diesem hohen Tier war die Verbindung nie ganz abgerissen, und eines Tages hörten wir, daß er uns mit seiner Frau besuchen wollte – wir wohnten damals schon in Leipzig. Des ganzen Hauses bemächtigte sich eine ungeheure Aufregung. Gewaltig wurde gebraten, gebacken und gekocht, Mutter fand keines ihrer Tischtücher gut genug, und es wurde feierlich ohne Rücksicht auf die Kosten ein Damasttischtuch gekauft, das heute noch lebt und Ministertuch heißt. Wir Kinder wurden ganz ungewöhnlich geschrubbt, gestriegelt und gebürstet, bekamen unsere besten Sachen an und wurden dringend ermahnt, nicht unaufgefordert zu sprechen, gradezusitzen und nicht die Ellbogen aufzustützen. Kurz, es war ein Aufstand, als handele es sich um einen wichtigen Lebensabschnitt! Und dabei wollten zwei alte Freunde nur von ihren Schulerinnerungen plaudern!

Vater war noch der Ruhigste von uns allen, aber auch er hatte sorgenvolle Konferenzen mit seinem Weinhändler, und der Anmarsch von Flaschen war beträchtlich. (Es stellte sich dann heraus, daß der hohe Freund am liebsten nur Wasser trank, und da auch Vater ein Wassertrinker war, so wanderten die Flaschen ungekränkt wieder in den Keller, erfüllten dann aber doch nach Jahren bei den Hochzeiten meiner Schwestern ihren Zweck.)

Ich muß offen gestehen, daß der hohe Herr mich gewaltig enttäuschte. Weder trug er eine Uniform, noch hatte er seine Orden und Abzeichen angelegt, sondern er war bloß mit einem schlicht bürgerlichen »Pfeffer-und-Salz«-Anzug bekleidet, in dem er noch dazu durch seine ungewöhnliche Länge und Magerkeit schlaksig wirkte.

Das Mittagsmahl verlief sehr feierlich. Die Freunde sprachen miteinander, aber etwas gezwungen. Über vierzig Jahre waren seit ihrer Schulzeit vergangen, die weißhaarig Gewordenen hätten einander kaum wiedererkannt. Und die Frauen versuchten wenigstens, miteinander zu reden. Da aber die hohe Frau durchaus von Hauswirtschaft und Dienstboten sprechen wollte, Mutter aber Besseres bieten zu müssen meinte und immer wieder von dem neuesten Roman und dem modernen Drama anfing, bekam das Gespräch etwas Unstetes, Flatterhaftes. Wir Kinder sagten gar nichts, wir stützten auch die Ellbogen nicht auf und hielten uns grade – es war wirklich eine höchst langweilige, steife Angelegenheit, nicht der geringsten Aufregung wert!

Das ging so bis zur Speise, deren Art mir nicht mehr erinnerlich ist. Doch wurde in einem Henkeltöpfchen dazu Sauce gereicht, die wir zu Haus übrigens Tunke oder Beiguß zu nennen hatten. (Vater war Mitglied des Deutschen Sprachvereins.) Wir sahen gespannt zu, wie die Frau Minister ihre Speise nahm, jede Bewegung von ihr wurde durch uns Kinder mit Luchsaugen belauert. Man denke doch, die hohe Dame hatte schon bei Kaisers am Tisch gegessen, und das sogar häufig!

Nun kam die Sauce (Tunke!) daran, und unvermeidlich bildete sich an ihrem Ausguß (Schnauze wage ich in so feiner Gesellschaft nicht zu sagen) das bekannte Tröpfchen, das aufs Ministertuch zu laufen drohte. Wir sahen alle aufmerksam hin, in uns allen erhob sich die stumme Frage: Wie löst man in wirklich ganz feinen Kreisen dies Problem?

Unser Gast mochte all diese Blicke auf sich fühlen, unsere Erwartung spüren. Einen Augenblick zögerte sie ... Dann hob sie den Zeigefinger, wischte den Tropfen ab, steckte den Zeigefinger in den Mund und leckte ihn ab. »So macht man es bei uns zu Hause«, sagte sie lächelnd zu Mutter.

Worauf das Eis gebrochen war. Wir alle lächelten, wir rückten auf den Stühlen hin und her, ich stützte den Ellbogen auf, die Unterhaltung der alten Herren bekam Schwung, die Hausfrauen einigten sich auf die Dienstbotenfrage. Die erstaunliche Entdeckung war gemacht, daß auch Minister Menschen waren und wie Menschen dachten und handelten.

Und doch war ich in meinem Innern nicht ganz zufrieden. Ich fand, die Exzellenzenfrau hatte sich um eine klare Entscheidung gedrückt. Bei ihnen zu Haus machte man es so, aber wie machte man es bei Kaisers? Unmöglich zu denken, daß man dort den Tropfen ableckte, aber ebenso unmöglich, ihn sich aufs kaiserliche Tischtuch tropfend vorzustellen! Ich hätte es so gerne gewußt ... Und nun ist es zu spät, Erkundigungen einzuziehen, ich werde es nie wissen!

Doch wollte ich von Tanten und Onkeln reden und war bei der Tante Wike, als ich ganz unvermutet erst in Berliner, dann in Minister-Besuche geriet. Der Bruder jener Tante Wike nun, der eine Butenländische zur Frau nahm, war Onkel Cyriak, ein Landarzt. Und er war zu seiner Zeit ein sehr bekannter Landarzt, seinen neunzigsten Geburtstag feierte die ganze deutsche Ärzteschaft mit und sandte Deputationen zu ihm. Denn er war nicht nur der Nestor der deutschen Ärzte, sondern er praktizierte auch noch immer, unverwüstlich, trotz aller Jungen!

Und wie praktizierte der Alte! In der Hauptsache hatte er Landpraxis, und jeden Tag bestieg er seinen Gaul und ritt bei Sturm, Schnee, Kälte, Hitze, meilenweit über Land. (Es hieß, er ritte jedes Jahr einen Gaul zuschanden, was nun freilich seinen Reitkünsten kein gutes Zeugnis ausstellt!) Wen er unterwegs traf, der bekam gleich kostenlos eine Konsultation.

»Na, wie geht's?« ruft der Onkel Cyriak zum Bauern in seinem Wagen hinüber.

»Na, immer so das gleiche, Herr Sanitätsrat!«

»Hefft Ji noch von dat Smerkrom?«

»Ja.«

»Na, denn smert man wieder! Tjüs!« Und weiter ritt der Onkel.

Einmal wurde er im Winter sehr weit über Land gerufen. Er ritt zu einem Kanal, dort erwartete ihn eine Schute. Das Pferd wurde in einen Stall gestellt, und der Onkel bestieg die Schute. Dort stand ein Stuhl auf dem Deck, der Onkel setzte sich auf den Stuhl und wickelte sich in eine Decke. Lange, lange wurde die Schute getreidelt, dabei passierte aber das Unglück, daß sie gegen irgendein Hindernis stieß. Sie schlug um, und Stuhl, Onkel und Decke fielen in den winterlichen Kanal.

Nun wurde alles schön wieder herausgefischt, der Stuhl in die Schute gesetzt, der Onkel nahm Platz und wickelte sich von neuem in die Decke, in die nasse natürlich, denn eine andere gab es nicht. Worauf die Reise ohne andere Unfälle weiterging.

Nach dem Krankenbesuch wurde die Rückfahrt in der gleichen Weise vorgenommen, sie hatte aber den Vorteil, daß diesmal die Schute nicht kippte und daß die nasse Decke durch eine trockene ersetzt worden war. Die »Butenländische« war entsetzt, als ihr Mann nach Haus kam, er glich eher einem Eiszapfen als einem Manne! Sie wollte ihren Cyriak durchaus ins Bett stecken! Er aber wollte nicht mehr als trockene Wäsche und heißen Tee bewilligen. »Und dann gehen wir gleich ins Konzert Es wäre doch schade, wenn wir unsere Karten verfallen ließen!«

Damals war Onkel Cyriak achtundachtzig Jahre alt, und in nicht minderer Rüstigkeit feierte er seinen neunzigsten Geburtstag. Alle Verwandtschaft war da, auch meine Eltern, Deputationen der Ärzteschaft, die dankbaren Patienten, die Mitbürger. Viele Reden wurden gehalten, aber noch viel mehr wurde getrunken. Und mit allen stieß Onkel Cyriak an, das ließ er sich nicht nehmen. Dann wurde gegessen, und beim Essen wurde wiederum getrunken. Die schon städtisch entarteten Neffen und Nichten schlugen einen kleinen Spaziergang vor, nur um aus der Nähe der Flaschen zu kommen.

Der Onkel stimmte begeistert zu, machte den Führer, und so wurde aus dem kleinen ein großer Spaziergang. Er führte schließlich zu einer Stelle, die auf allen Seiten von hohen Deichen umgeben war. Nach der See zu hat man die weiteste Sicht, nach dem Lande hin schaut man in die Fenster der Fischerhäuser, die eng an den Deich geschmiegt liegen. Bei solchem guten Ausblick war es doch verwunderlich, daß Onkel Cyriak nirgends zu sehen war. Es wurde geschaut und geschaut, aber der Jubilar war nirgends zu entdecken. Bis man ins Fenster des Kruges sah: an der Theke stand der Jubilar und kippte ein paar zum Abgewöhnen!

Wenn ich nicht irre (ich verbitte mir aber von vornherein alle aufklärenden Briefe aus der Verwandtschaft!), wenn ich mich also nicht irre, entstammte Tante Gustchen dem gleichen dauerhaften Zweig der Familie, soweit man einem Zweig entstammen kann. In ihrer Jugend war sie berühmt gewesen ob ihres Gesanges. Sie hatte sechs Schwestern besessen, und ihr Vaterhaus hatte in der ganzen Stadt nur das Haus mit den sieben singenden Töchtern geheißen. Aber während sich ihre Schwestern Männer ersangen, war Tante Gustchen sitzengeblieben und legte sich nun aufs Schrullige, wodurch sie mit der Zeit noch eine leidliche zweite Berühmtheit gewann.

Sie behauptete ständig, schwer krank zu sein, vor allem litt sie an Kopfschmerzen. Dies teilte sie ihrer Umwelt dadurch mit, daß sie ihr Kopfschmerzentuch trug, ein einstens weiß gewesenes Gewebe, das längst alle Farbe und Struktur verloren hatte. Es wurde um die Schläfen geschlungen und hatte am Hinterkopf zwei lange, trübselig herabhängende Zipfel. Ein Ausläufer dieses Tuches ging aber auch unter das Kinn (Kombinationen zwischen Zahn- und Kopfschmerzen traten gelegentlich auch auf und mußten gebührend stärker bedauert werden!), und unter dem Kinn hingen wieder zwei graue Zipfel.

Es war streng verboten, mit Tante Gustchen über anderes als ihre Kopfschmerzen zu reden, wenn sie dieses Tuch trug. Wer das nicht beachtete, gegen den konnte sie recht giftig werden. Wurde es mit den Schmerzen zu schlimm, so legte sich Tante Gustchen ins Bett, und dann hing an ihrer Tür ein Zettel: »Ich liege im Bett und bitte, nicht zu klingeln. Der Schlüssel liegt unter der Matte.«

Dann nahm jeder, der kam, sei es nun der Briefträger, der Bäcker oder ein Besuch, unter der Matte den Türschlüssel hervor und erledigte, ohne sich um Tante Gustchen zu kümmern, in der Wohnung, was er wollte.

Manchmal kam es auch vor, daß aus der Wohnung trotz des Zettels lautes Klavierspiel tönte. Dann war mein Vater gekommen, der in seinen Junggesellenjahren mit ihr oft vierhändig spielte. Vor der Musik hielten auch ihre Kopfschmerzen nicht stand. Mißtraute dann aber jemand, das Klavierspielen hörend, den Worten des Zettels und klingelte doch, so fuhr sie giftig an die Türe, rief: »Kannst du denn nicht lesen, daß ich im Bett liege –?« und schlug die Tür zu, dem andern die Benutzung des Schlüssels freistellend. Und wieder erklangen irgendwelche träumerische Melodien von Schubert oder Schumann.

Am giftigsten aber wurde die Tante, wenn jemand anders behauptete, auch krank zu sein. Sie sah das als einen frevelhaften Eingriff in ihre wohlerworbenen Rechte an. Sie war die Kranke in der Familie! Sie hatte jede Krankheit schon gehabt, und jede schlimmer als jede andere! Als ihre Nichte Frieda ihr erstes Kind bekommen hatte, ging sie triumphierend zu Tante Gustchen und berichtete ihr das Genaueste von der Entbindung. Der Tante Gesicht wurde immer länger und saurer, als sie die Einzelheiten hörte, von schrecklichen Schmerzen einiges hören mußte. Als aber die Nichte schloß: »Siehst du, Tante Gustchen, die Krankheit hast du nun doch noch nicht gehabt! Oder doch –?« da setzte sie die freche Sünderin vor die Türe!

Eines Tages kam Tante Gustchen dann zu dieser Nichte Frieda, die ihr Liebling war, legte ihr Silber auf den Tisch des Hauses und sagte mit Grabesstimme: »Nimm's hin – du erbst es ja doch! Aber das Monogramm darfst du noch nicht ändern!«

Man befragte sie voll Teilnahme, warum sie denn jetzt schon ihre Habe verteile, und sie erklärte kummervoll: »Ich habe heute nacht geträumt, ich sterbe dieses Jahr noch.«

»Ach, Tante Gustchen, das stimmt sicher nicht! Wie war denn der Traum?«

»Ja, ich träumte, ich ging in der Eilenriede spazieren. Da kroch mir ein Käfer über den Weg, er hatte auf jedem Flügel eine 9, und eine Stimme aus dem Himmel sprach dazu: Ssängkangtssäng! Ssängkangtssäng! Und wir haben 1899, und ich werde fünfundfünfzig Jahre alt, also muß ich sterben!«

Vergeblich wurde ihr vorgestellt, der liebe Gott werde doch mit Tante Gustchen nicht Französisch sprechen, und noch dazu so schlechtes Französisch! Es half alles nichts, Tante Gustchen war entschlossen, Gottes Stimme zu folgen und noch in diesem Jahre zu sterben.

Um sie nur zu beruhigen, nahm die Nichte Frieda das Silberzeug. Ja, sie benutzte es schließlich auch, und als einige Monate hingegangen waren, ließ sie auch das Monogramm ändern, denn sie dachte: geschenkt ist geschenkt.

Aber am Heiligen Abend des Jahres 1899 erscheint plötzlich Tante Gustchen bei ihr, und statt ein Geschenk zu bringen, fordert sie ihr Silber zurück: »Es scheint ja nun doch, als sollte ich dieses Jahr noch nicht sterben, und morgen bekomme ich Besuch, da brauche ich mein Silber. Also, liebe Frieda, gib es mir wieder!«

Die liebe Frieda versuchte es erst mit Ausflüchten, mußte dann aber gestehen, daß sie das Monogramm geändert hatte. Tante Gustchen war empört: die Nichte hatte also auf ihren Tod spekuliert! Also war sie gar keine liebe Nichte, sondern eine Erbschleicherin! Tante Gustchen nahm ihr Silberzeug und rauschte ab. Die Nichte Frieda aber sah es nie wieder. Jemand anders in der Familie hat's schließlich geerbt, mit Friedas Monogramm.

Nachweisbar ist Tante Gustchen in ihrem langen Leben nur zweimal krank gewesen. Das eine Mal hatte sie sich auf der Straße bei Glatteis das Bein gebrochen, sie war sofort ins Krankenhaus gebracht worden. Dies Ereignis teilte sie meinem Vater brieflich mit dem Zusatz mit: »Gelobt sei Gott! Ich hatte grade saubere Wäsche an!«

Das andere Mal hatte es Tante Gustchen mit dem Magen. Sie kam wieder ins Krankenhaus und wurde auf eine Probediät von Weißbrot und Tee gesetzt. Aber sie vereitelte die ärztlichen Bemühungen. Sie bestellte bei ihren Besucherinnen, alten Weiblein ihres Schlages, was sie gerne aß: Linsensuppe und Gänseschwarzsauer. Das wurde dann der Heimlichkeit wegen in weiten Steinkruken gebracht und in den Efeu unter ihrem Fenster gehängt. Diese kombinierte Diät ist ihr aber ausgezeichnet bekommen, sie blühte sichtlich auf, und die Ärzte waren sehr stolz auf ihren Heilerfolg. Wozu sie innerlich geschmunzelt haben mag, äußerlich blieb sie in einem weg beim Klagen.

Tante Gustchen war überhaupt sehr für gutes Essen, wenn sie es bei andern bekam. Mußte sie es aus eigenen Mitteln bestreiten, so nahm sie auch mit dem Einfachsten vorlieb. Sie bekam etwa irgendwo bei Freunden einen Sahnenreis zu essen, der sie begeisterte. Sofort ließ sie sich das Rezept geben und lud ihre Nichten zu einem großen Festschmaus ein. Der Reis aber schmeckte unbefriedigend, er schmeckte genau wie gewöhnlicher Milchreis. Tante Gustchen blieb steif und fest dabei, sie habe ihn genau nach dem Rezept gemacht. Ihr müsse mit Vorbedacht ein falsches Rezept gegeben worden sein, um die Geheimnisse des wahrhaften Sahnenreises nicht zu enthüllen. Erst durch hartnäckiges Befragen bekam man heraus, daß sie statt acht Eiern nur eines und statt Sahne einfache Milch genommen hatte. Ich nehme an, Tante Gustchen hat die Ersatzrezepte des Weltkrieges vorausgeahnt.

Als die besagte Nichte Frieda bei der Tante in Gnaden war, wurde sie deswegen noch lange nicht sehr höflich von ihr behandelt. Im Gegenteil, die Nichte war immer der Blitzableiter aller schlechten Launen der Tante. Einmal klagte sie das zu einer Freundin, und da diese Freundin die Tochter eines Jugendgespielen von Tante Gustchen war, verabredeten die beiden, sie wollten den nächsten Besuch bei der Tante gemeinsam machen. Tante Gustchen begrüßte auch die Tochter des Jugendgespielen mit Rührung, sie schwelgte in Erinnerungen. Schließlich zieht das junge Mädchen ein Bild aus der Tasche und zeigt es der Tante: »Das ist mein Vater!«

Tante Gustchen betrachtet das Bild, nickt energisch mit dem Kopf und sagt: »Ja, das ist er! Er sah immer etwas simpel aus!«

Und gab das Bild zurück.

Bei der Nichte Frieda fand sich die Tante auch trotz ihres Geizes bereit, die Hochzeit auszurichten. Damit es aber nicht zu teuer wurde, ging sie nicht mit zur Trauung, sondern wirtschaftete selbst in der Küche. Da klingelt es, sie denkt, es ist der Konditor, der Torte und Eis bringt. Aber es ist ein Freund, der sie auf der Durchreise besuchen will. Tante Gustchen sagt bedauernd: »Das tut mir aber furchtbar leid, ich habe heute grade Hochzeit!«

»Was?!« ruft der Freund schaudernd. »Du, Gustchen –!« schlägt die Tür zu und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Bei dieser Hochzeit gab es auch Hähnchen, die sich Tante Gustchen durch Verbindungen vom Lande besorgt hatte, sehr billig. Aber auch diesen billigen Preis erlegte Tante Gustchen nicht so ohne weiteres. Lange wurde sie wegen des Geldes gemahnt, immer wußte sie neue Ausflüchte. Aber da man ihren Geiz kannte, ließ man schon aus Grundsatz nicht nach, und schließlich mußte Tante Gustchen blechen. Sie legte das Geld hin und sagte wehmütig: »Teure Hähnchen!«

Tante Gustchen hatte auch den Tick, immer die modernsten Errungenschaften in ihrer Wohnung haben zu müssen. Als das Gas aufkam, mußte sie eine Wohnung mit Gas haben, und als das elektrische Licht eingeführt wurde, zog sie wieder um. Das war um so seltsamer, als sie diese Erfindungen der Neuzeit nie in Benutzung nahm. Bis zu ihrem Lebensende hat sie nur die Petroleumlampe benutzt. Auf ihr kochte sie auch, unter Verschmähung des Gasherdes, ihre frugalen Mahlzeiten, zum Beispiel den Fisch und den Tee. In das Teewasser kam dann noch das weich zu kochende Ei, so sparte sie Kalorien.

Aber diese Leidenschaft brachte es mit sich, daß Tante Gustchen ständig umzog. Doch auch diese Umzüge hatten billig zu sein, die Tante war außerordentlich findig in der Ermittlung von billigen Umzugskräften. Einmal zog sie mit den Kellnern vom Zoologischen Garten um – Tante Gustchen wohnte in der Stadt Hannover. Da dieser Umzug aber nur in den Mittag- und Abendpausen der Kellner geschehen konnte, erfolgte er gewissermaßen auf Raten. Eines Mittags hatten die Kellner sich in der Zeit versehen, mußten eiligst zurück in ihren Zoo und ließen die Tante auf offener Straße mit Kisten und Kasten stehen. Sie hielt da auch geduldig bis zum Abend aus – der Umzug war ja so billig! Hinterher stellte sich heraus, daß ein Gutteil ihrer Sachen unauffindbar verschwunden war.

Manchmal mußte die Tante auch etwas schenken, zum Beispiel meiner Schwester Fiete, deren Patentante sie war. Eigentlich erkannte Tante Gustchen diese Patenschaft überhaupt nicht an. Sie sei, als Fiete getauft wurde, auf der Reise nach Amerika zu ihrem Bruder Kaspar gewesen und hätte nicht gedacht, daß Fiete nicht auf ihren Namen Auguste getauft wurde. Das gelte also nicht. Aber einmal kam dann doch ein Geschenk, ein recht schäbiges Mäntelchen, das auch noch zu klein war. Dazu schrieb Tante Gustchen meinen Eltern: »Ada sagt ja, ich muß mal was schenken, aber ärgern tut man sich doch!«

Überhaupt fehlt ihren Geschenken immer was: ein Teppich hatte Motten, der Silberlöffel war gelötet und brach immer wieder entzwei, und die Kuckucksuhr schlug den ganzen Tag nicht, holte um Mitternacht aber alle ausgelassenen Schläge gewissenhaft nach.

Beschäftigt war Tante Gustchen immer, sie hatte an sieben Tagen der Woche nur sieben Kränzchen: das Schwesternkränzchen, das kleine Kusinenkränzchen und das große Kusinenkränzchen, das Missionskränzchen, das Bibelkränzchen und das Stick-, Flick- und Nähkränzchen. Da hatte sie immer ihr »Tun«, bis sie rum war. Aber es war doch immer ein »Dliebliches Beisammensein« gewesen.

Mutter war mit meinen beiden Schwestern auch einmal in Hannover zu Besuch, und keines dieser sieben Kränzchen wurde ihnen erlassen. Für meine Schwestern muß es eine wahre Folter gewesen sein. Vielleicht hatte Tante Gustchen etwas von diesem stummen Protest gespürt, denn eines Tages sagte sie beim Heimweg tröstend: »Djä, morgen gehter djä nun mit eurer Mutter nach dem alten Kenäl. Da kommt die Dlährerin mit. Da könnter euch möl wieder gastig (geistig) unterhalten. Ihr hungert gewiß schon danach.«

Die Schwestern wehrten bescheiden mit Och und Wieso ab, worauf Tante Gustchen ganz zufrieden schloß: »Na dja, djätzt sind djä Färien, da ist dso etwas nich nötig!«

Mir hat Tante Gustchen zur Konfirmation ein Buch mit Goldschnitt geschenkt, das vom Benehmen des reinen Jünglings handelt. Leider ist mir daraus nur in Erinnerung geblieben, daß der reine Jüngling am Sonntag auch reine Wäsche anziehen müsse ... Na djä ...

Tante Gustchen hatte eine sehr eindrucksvolle Art, bei Tisch zu beten. Sie fing ganz hoch an, gewissermaßen auf dem Dach, stieg dann langsam Stockwerk um Stockwerk hinab bis in den Keller, worauf sie sich mit einem immer wieder überraschenden, kühnen Schwung zurück aufs Dach begab, um sofort wieder den Weg in den Keller aufzunehmen. Es klang, als sänge sie. Geschrieben sieht das etwa so aus:

 

Komm        Du!      Und      segne

       Herr, Dje-      unser     was du uns

            su, sa       Gast             bescheret hast.

 

Und der zweite Vers:

 

Bist du       So hat's       Du bist      das Äämen!

        ba uns       nicht Not wahre       Dläbensbrot!

 

Das war äußerst wirkungsvoll, meine Schwestern fanden aber nach einiger Zeit, Tante Gustchen könne ihnen doch einmal aus ihrem reichen Schatz an Gebeten ein anderes preisgeben. Tante Gustchen wollte lange nichts davon wissen, schließlich gab sie doch nach und versprach ein neues ... Die Schwestern waren äußerst gespannt ...

Aber das neue Tischgebet war nur eine Variation des alten. Tante Gustchen betete die beiden ersten Zeilen genau wie sonst, schloß dann fest den Mund und sprach die beiden letzten Zeilen still für sich, mit einem vorwurfsvollen Blick auf die beiden bösen Nichten. Dann war sie wieder auf dem Dach angelangt und rief hell und hoch: »Äämen!!!«

Einmal hat sich mein armer Vater erweichen lassen und hat Tante Gustchen auf eine kleine Harzreise mitgenommen, die er mit Mutter machte. Die Parteien trafen sich in Braunschweig, und es erregte sofort die äußerste Besorgnis der Eltern, daß Tante Gustchen keinerlei Gepäck mit sich führte, und es sollte doch mehrmals übernachtet werden! Fragen wollten sie nicht gerne, denn Tante Gustchen war damals schon stocktaub und gab ihre manchmal recht offenen Erläuterungen mit Stentorstimme ab. Mutter konnte aber am nächsten Morgen Vater beruhigen: Tante Gustchen hatte doch Gepäck mit. Mutter hatte die Tante im Negligé gesehen. Unter dem Rock trug die Tante um den Leib ein Band, an welchem nach den verschiedenen Himmelsrichtungen Bürste, Kamm, Seife und Waschlappen, ja, auch die Zahnbürste befestigt waren: Omnia mea mecum porto.

Übrigens fällt mir jetzt wieder ein, daß Tante Gustchen in Braunschweig doch mit einem Gepäckstück erschien, nämlich mit einem umfangreichen Kuchenpaket. Sie drückte es ohne Umstände meiner schon belasteten Mutter in die Hände: »Den Kuchen ißt du ja doch! Ich kenn' dich doch!«

Nachher aber wachte die Tante mit Argwohn darüber, daß Mutter nicht »naschte«, sondern daß der Kuchen für sie blieb.

In Treseburg war alles mit Ausflüglern überfüllt, nur mit Mühe fanden die drei einen freien Tisch in einer Wirtschaft, und noch größere Mühe machte es, dem überbeschäftigten Kellner eine Speisekarte abzulisten. Alles war gestrichen, es gab nur noch Rindfleisch mit Rosinensauce. Tante Gustchen besichtigte die Karte lange, dann äußerte sie laut und deutlich: »Was, nur Rindfleisch mit Rosinensauce? Auf Rindfleisch mit Rosinensauce hab' ich kein Genieß! Kommt, Kinder!«

Erhob sich und segelte unter allgemeiner Heiterkeit hinaus. Meinem lieben Vater waren solche öffentlichen Szenen immer sehr peinlich. Aus Vorsicht forderte er nun bei der nächsten Wirtschaft zur Besichtigung und Besprechung der ausgehängten Speisekarte auf.

Aber alle Vorsicht nützte meinem Vater gar nichts. Sie hatten an einem sehr heißen Tag den Brocken erstiegen, auf dem es von Menschen wimmelte. Ans Geländer gelehnt, besichtigten sie noch nicht so sehr die Fernsicht, als daß sie den Schweiß von der Stirne trockneten. Da ließ sich plötzlich Tante Gustchen, die durch ihre Taubheit jedes Gefühl für die Lautstärke der eigenen Stimme verloren hatte, schallend vernehmen: »Ich schwitze so! Heute ziehe ich aber meine Flanellhosen aus!«

Vater bekam auf einem unerforschlichen Wege noch auf dem Brocken ein Telegramm, das die Eltern leiderleider zu sofortigem Abbruch der sooo schönen Reise zwang.


 << zurück weiter >>