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Mutter

Ob einer eine glückliche oder traurige Kindheit erlebt, liegt nicht immer nur an ihm allein. Hier ist nicht jeder seines Glückes Schmied. Eltern und Umwelt können viel dazutun und davon wegnehmen. Bei mir waren alle Vorbedingungen für die glücklichste Jugendzeit gegeben: ich hatte die liebevollsten Eltern von der Welt, gutartige Geschwister, und ich war doch ein griesgrämiger verstimmter Bengel, der sich gerne absonderte. Das lag an mir allein. Mutter aber, die einen sanften und freundlichen Charakter hatte, wäre für eine schöne Kindheit vorausbestimmt gewesen und hatte sie doch nie. Aber das lag nicht an ihr, das lag an ihrem Pflegevater!

Ich habe es schon erzählt, daß Großmutter nach dem Tode ihres Mannes meine Mutter aus dem Hause geben mußte. Sie kam zu Onkel Pfeifer, der ein Witwer war, er hatte einmal eine Schwester Großmutters geheiratet. Eine andere, unverheiratet gebliebene Schwester von Großmutter führte nun dem Witwer den Haushalt. Onkel Pfeifer – er wurde bei uns nie anders genannt, ich weiß heute noch nicht seinen Vornamen – war kein schlechter Mann, aber er war ein launischer Mann, und das ist fast ebenso schlimm. Er hatte nie Kinder gehabt, er hatte auch keine Vorliebe für Kinder – und das ist fast noch schlimmer. Er war aber auch seit vielen Jahren und Jahrzehnten Notar und Justizrat in dem kleinen Landstädtchen, er kannte alles und alle, er wußte alle Geheimnisse, und so beherrschte er alle – und das war das Allerschlimmste!

Im Grunde habe ich den Eindruck, daß der Onkel Pfeifer – ich habe ihn noch persönlich kennengelernt – gar kein schlimmer Mensch war. Im Grunde ist er wohl sogar eine Mimose gewesen, aber er hat sich sein Leben lang mit Drachenblut ernährt, und eine mit Drachenblut ernährte Mimose ist etwas Fürchterliches! Er war immer beleidigt und verstand nie, daß andere beleidigt sein konnten. Er redete allen in alles hinein – vertrug aber nicht die geringste Einmischung in seine eigenen Angelegenheiten. Er hatte das Beste, und er wußte alles – aber die andern hatten nichts, wußten nichts, konnten nichts! Er liebte es, sich Späßchen mit andern zu erlauben, und recht derbe oft dazu – war aber ohne allen Humor, wenn nur der kleinste Spaß mit ihm gemacht wurde. Er war nachtragend auf Jahre hinaus – verachtete aber andere, die nicht sofort bereit waren, zu vergeben und zu vergessen. Er hielt die Italiener für ein entartetes Volk, weil sie Tomaten aßen und noch dazu roh! Er war der Ansicht, daß Stiefeletten mit Gummizug die einzige anständige Fußbekleidung für Herren seien – kurz, er war ein Menschenalter hindurch nicht aus seinem verschollenen Städtchen herausgekommen. Er war der Nabel der Welt, leider ein zu Entzündungen neigender Nabel. Und, wie gesagt, eine mit Drachenblut genährte Mimose – ich finde keinen besseren Vergleich.

Und nun wurde er noch Pflegevater von Mutter. Er nahm sie, die damals acht Jahre alt war, bei der Hand und führte die Verschüchterte, Verängstigte, vom Tode ihres Vaters und von der Trennung von Mutter und Geschwistern noch Mitgenommene an der Hand durch die Stadt zu der Höheren Töchterschule von Fräulein Mittenzwey. Er brachte sie während des Unterrichts in die vollbesetzte Klasse und sprach: »Hier habt ihr das kleine Gewackel!«

Dann ging er, sich den Bauch vor Lachen haltend. Meine Mutter freilich lachte nicht, sondern weinte, denn die Klasse begrüßte sie mit Hallo! Diese Neue hatte sofort ihren Spitznamen weg, noch nach Jahren mußte sie oft wegwerfend hören: »Ach, du bist nur das kleine Gewackel!«

Der Onkel ging heim oder auf sein Büro, was weiß ich, und weil ihm ein Scherz so gut gelungen war, versuchte er es gleich mit einem zweiten. Er hielt ein altes, ihm wohlbekanntes Fräulein an und flüsterte ihm zu: »Fräulein Kirchhoff, die Jacke, die Sie da anhaben, ist aber gestohlen! Die kenn' ich! In zehn Minuten ist sie auf meinem Büro!«

Und er machte, daß er weiterkam, wieder sich vor Lachen schüttelnd. Jetzt begnügte er sich damit, erst einmal hinter jedem jungen weiblichen Wesen zu flüstern: »Fräulein, es blitzt!«, was immer einen kleinen Schreckensschrei zur Folge hatte. Denn damals trugen die Damen noch lange Röcke, die hinten zugemacht wurden. Manchmal sprangen die Knöpfe auf oder waren nicht ordentlich geschlossen, dann »blitzte« der weiße Unterrock durch.

Kurz vor seinem Büro ging der Onkel dann noch in eine Weinhandlung und bestellte auf Rechnung von Herrn Stadtrat Bösicke, zu dem er für diesen Abend eingeladen war, zwanzig Flaschen vom besten Burgunder. Denn Herr Bösicke war bekannt dafür, daß er seinen Gästen nur mäßige Weine zu trinken gab, und der Onkel meinte, der Stadtrat werde ihm dankbar für den Hinweis sein, daß seine Gäste auch Besseres zu schätzen wußten. Aber darin irrte der Onkel ...

Dann verschwand Herr Notar Pfeifer auf seinem Büro und herrschte tyrannisch über seine Klienten, die genau das zu tun hatten, was er wollte, sonst führte er ihre Prozesse schlecht. Und er war mit den Klienten böse, wenn sie nicht folgsam waren, und er war mit den Richtern böse, wenn ihr Urteilsspruch anders ausfiel, als er erwartete, und er war mit der Tante böse, wenn Fleisch auf den Tisch kam und er hatte sich auf Fisch gefreut (in der ganzen Stadt gab es an dem Tage keine Fische, aber das war ihm egal, er war doch böse!). Und mit Mutter war er überhaupt immer böse ...

Es war wirklich seltsam, daß dieser Mann bei alledem ein ausgesprochen gutherziger Mann war, er war bloß von einer krankhaften Empfindlichkeit. Er lernte meine Mutter aufrichtig lieben, er tat alles für sie, was man für Kinder tun kann – natürlich nach seinem Kopf! –, aber er war der Alpdruck ihrer ganzen Kinderjahre, er machte ihr das Leben zur Hölle. Mutter hatte immer Angst vor ihm, sie wußte nie, was Onkel übelnahm und was ihm gefallen würde (er wußte es ja selbst nicht!). Sie hatte ein kleines liebebedürftiges Herz, sie sehnte sich nach ihrer immer freundlichen Mutter, nach den Geschwistern – aber schon daß sie sich sehnte, daß sie Heimweh hatte, war schon wieder eine Beleidigung! Der Onkel und sein Haus waren hundertmal besser als die jämmerliche Rübekuhle zu Celle, in der die Großmutter nun wohnte – was hatte sie sich da zu sehnen!

Mutter versuchte es mit Freundinnen – aber das hatte auch bald ein Ende. Mutter sagte: »Onkel, ich bin zu Gustchen Fröbel eingeladen. Darf ich nicht mal ohne Schürze zur Gesellschaft gehen? Alle andern Kinder haben keine um!«

Worauf der Onkel sagte: »Liebes Kind, ich würde es dir ja gerne erlauben, aber es wäre gegen mein Prinzip. Meine Mutter hat auch immer eine Schürze umgehabt – und was soll überhaupt die ganze Besucherei?! Einladen in mein Haus darfst du die Kinder doch nicht. Du bist schon allein laut genug und machst alles kaputt, und überhaupt ist es bei uns am allerschönsten!«

Mutter hätte ja nun die Schürze bei Fröbels heimlich abbinden können, aber das wagte sie nicht. Im Städtchen kam immer alles herum, und außerdem war der Onkel sehr wohl imstande, plötzlich als Revisor auf der Kindergesellschaft zu erscheinen! So ging sie nur selten zu den andern, und bald, als das große Unglück passiert war, hörte es mit allen Besuchen und mit allen Spielen bei andern Kindern überhaupt auf.

Das große Unglück aber kam so: Mutter war in allen Schulfächern die Erste, nur im Turnen war sie ein völliger Versager. Das wußten ihre Mitschülerinnen sehr wohl, und als Mutter bei einer Kindergesellschaft »dran« war beim Pfänderspiel, war für sie ein Stuhl auf den Tisch gestellt und auf den Stuhl noch eine Fußbank. Mutter sollte diesen Turm ersteigen und von seiner Zinne ein Gedicht aufsagen.

Sie klomm mit Zittern und Zagen, sie wußte, es würde schiefgehen, aber konnte sie sich weigern –?! Und schon ging es schief! Mutter stürzte mit ihrem Turm in einen großen Spiegel, der natürlich in Scherben ging. Sie zerschnitt sich das Gesicht, die Kinder schrien schrecklich, Große liefen herbei, hoben Mutter auf. Als sie sie aber näher betrachteten, sahen sie, daß Mutter nicht einmal im Gesicht am schlimmsten verletzt war, sondern daß eine Pulsader am Arm zerschnitten war.

Der Arm wurde notdürftig abgebunden, und es wurde zum Arzt geschickt. Alles zitterte, aber nicht so sehr um das Leben meiner Mutter als vor dem Zorn von Justizrat Pfeifer. Der Arzt – es gab nur einen – war über Land zu einer Geburt, er wurde erst spät zurückerwartet. Da Eile not tat, wurde ein mutiger Assessor ermittelt, der bei mancher Paukerei das Nähen von Schnittwunden gesehen und am eigenen Leibe erlebt hatte. Er nähte Mutters Wunde, mit einer richtigen Nähnadel und mit richtigem Zwirn, von Asepsis keine Spur! Natürlich eiterte jeder Faden prompt heraus, meine Mutter muß einiges an Schmerzen ausgestanden haben!

Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war der Onkel, der zur Strafe – was hatte die Unselige eigentlich verbrochen? – auf den Glockenschlag ein Vierteljahr lang nicht ein einziges Wort mit ihr sprach! Wie er aber mit den Gastgebern und dem so unbedacht hilfreichen Assessor abrechnete, entzieht sich – gottlob! – meiner Kenntnis! Aber abgerechnet hat er mit ihnen, das ist sicher!

So lebte denn Mutter ganz allein in dem großen Hause bei den beiden alten Leuten. Zum Glück war ein Garten dahinter, und wenn es auch nur ein sehr gebändigter Garten war, in dem sie nie vom Wege gehen, nie eine Blume abbrechen durfte, so gab er doch ein wenig Licht und das Gefühl größerer Freiheit. Nach vielem Betteln erreichte Mutter, daß ihr Tante ein Springseil schenkte, trotz vieler Bedenken wegen des Anstandes und der Wildheit. Das Springseil war Mutters ganze Freude, aber eines Tages war es verschwunden, irgendwie verlegt oder verloren!

Mutter bekam es nach endlosem, aber vergeblichem Suchen mit der Angst, sicher würde sie von dem Onkel oder der Tante nach dem Springseil gefragt werden – und wenn sie gestehen mußte, daß sie es verloren hatte, würden die Folgen fürchterlich sein! Trotzdem Mutter nie Geld haben durfte, besaß sie doch in aller Heimlichkeit einen Groschen, den ihr der Arzt wegen mutigen Verhaltens beim Zahnziehen geschenkt hatte. Nach schweren Kämpfen entschloß sich Mutter, so kühn zu sein und ein neues Seil zu kaufen. Sie schlich sich aus dem Garten ins Städtchen, was natürlich streng verboten war, und verlangte beim Kaufmann ein Springseil.

Aber hier ergab sich eine neue Schwierigkeit. Es gab wohl Springseile, aber nur mit roten Griffen, und Mutter hatte doch eines mit grünen Griffen besessen! Mutter zögerte lange, aber schließlich entschloß sie sich: ein Springseil war besser als keines, und so kaufte sie es. Sie benutzte es nur vorsichtig und in einigem Abstand vom Hause, grade nur so, daß man von der Veranda noch sehen konnte, sie hatte eines, und kein Vorzeigen verlangte!

Aber nun geschah das Allerschrecklichste: Mutter fand ihr altes Seil mit den grünen Griffen wieder! Was sollte sie nun tun? Wie sollte sie dem gestrengen Onkel den Besitz von zwei Springseilen erklären? Mutter versuchte es mit dem Verstecken, aber kein Versteck erschien ihr sicher genug. Endlich entschloß sie sich, das verräterische Springseil aus der Welt zu schaffen, diesen Zeugen ihrer Schandtat zu ermorden oder vielmehr zu ertränken!

Wieder schlich sie in die Stadt und warf das Seil, als niemand in der Nähe war, in die Helde, ein Flüßchen, das die Stadt durchschleicht. Aber o Entsetzen! Das Seil ging nicht unter, das Seil schwamm! Wenn es nun aufgefischt wurde, wenn nach dem Verlierer gefahndet wurde, wenn der Polizist zum Onkel kam (Onkel hatte immer so viel mit dem Polizisten zu tun!), wenn der Onkel das Wort »Springseil« hörte, wenn er sie dazurief: sie würde sich ja beim ersten Worte schon verraten! Nächtelang schlief Mutter nicht vor Angst!

Vielleicht scheint es manchem Leser auf der einen Seite etwas töricht von meiner Mutter, nicht zu wissen, daß aus Hanf und Holz bestehende Seile schwimmen können, auf der andern Seite aber ein bißchen sehr findig, gleich an die Helde als Grabstätte des Seils zu denken. Darum sei gesagt, daß Mutter auf die besagte Helde von anderer Seite hingewiesen war, mit einem gewissen Nachdruck sogar, und daß sie dieses Flüßchen schon öfter in Gebrauch genommen hatte.

Zu den meiner Mutter völlig verhaßten Bräuchen des Hauses Pfeifer gehörte es auch, daß ihr jeden Morgen in die Schule eine trockene, möglichst altbackene Semmel mitgegeben wurde. Aus irgendwelchen Gründen, die mir völlig undurchsichtig sind, wurde das für ein besonders gesundes Frühstück gehalten – für die Jugend natürlich. Ich nehme an, der Onkel Pfeifer hat besser gefrühstückt. Mutter haßte diese trockenen Semmeln, sie waren zäh wie Schuhleder. In der Schule waren sie nicht loszuwerden, so brachte sie die Semmeln wieder nach Haus und versteckte sie oben auf ihrem Kleiderschrank. Jeden Tag kam eine neue hinzu, und mit der Zeit wurden es ziemlich viele. Mit der Zeit entdeckte sie auch die Tante und war entsetzt über diese Heimlichkeiten und solchen Ungehorsam!

Nach eingehender Beratung bekam Mutter nun diese uralten Dinger als Abendbrot, in Milch eingeweicht, was wieder außerordentlich gesund und bekömmlich war, meiner Mutter Neigung zu diesen Brötchen aber nicht vermehrte. Jeden Abend saß sie mit Tränen vor dem blauen Schüsselchen, in dem sie aufgeweicht waren, würgte und schluckte und durfte doch nicht eher aufhören, bis sie aufgegessen waren.

Ein Gedanke allein tröstete die Mutter: die Semmeln mußten eines Tages alle sein. Das war nun freilich ein Fehlschluß, denn wie stand es mit den Morgensemmeln in der Schule –? Die abendlichen Exerzitien hatten Mutters Vorliebe für diese Kost nicht gesteigert, sie mochte die Dinger weder trocken noch eingeweicht essen, wiederum brachte Mutter die Semmeln nach Haus. Da der Kleiderschrank versagt hatte, war sie auf die Suche nach einem neuen, ganz sicheren Versteck gegangen und hatte auch eines gefunden: sie legte die Semmeln in eine unbenutzte Kommodenschublade des Gastzimmers.

Aber eines Tages sollte die Unbenutzte doch benutzt werden, die Semmeln wurden wiederum entdeckt, und das Entsetzen über eine so hartnäckige Unfolgsamkeit war noch größer! Eine nie endende Schar blauer Milchschüsselchen winkte der Mutter, die Abendmahlzeiten waren völlig trostlos und der Widerwille gegen die Morgensemmeln ganz unüberwindlich. Aus eigener Kraft hätte sich Mutter aus dieser schrecklichen Lage nie befreien können, dazu war sie schon viel zu verängstigt. Aber da war ein altes mürrisches Wesen im Hause, fast stumm, das seit Urzeiten die Zimmer reinmachte, kochte, mit einem ausdruckslosen Holzgesicht alle Launen des Onkels ertrug und überhaupt eine noch etwas herbere Ausgabe unserer alten Minna gewesen zu sein scheint.

Dies alte Mädchen tat eines Tages, als selbst sie Hartgewöhnte den Jammer nicht mehr ansehen konnte, den Mund auf und sprach zu meiner Mutter: »Süh mal süh, Lowising! Wenn du zur Schule gehst, da mußt du doch über die Helde. Und wenn du was nicht essen kannst, so kuckst du übers Geländer. So sicher wie ein Kleiderschrank oder eine Kommode ist die Helde immer.«

Trotzdem dies Orakel etwas delphisch klang (was übrigens alle guten Orakel tun müssen), verstand Mutter den Rat, und es gab von nun an keine trockenen Frühstückssemmeln mehr. Und später, wie schon berichtet, war eine Zuflucht für Springseile mit falschen Handgriffen schon bekannt.

Mutter erinnert sich, in ihrer ganzen Kinderzeit nur noch einmal Geld besessen zu haben, wahrscheinlich von einem Ferienbesuch in der Rübekuhle her, und zwar die stattliche Summe von fünf Pfennigen. Tagelang beschäftigte sie der Gedanke, wie sie dieses Kapital anlegen sollte, denn es mußte rasch aus dem Hause, soviel war klar. Wurde es bei ihr gefunden, so gab es nicht nur ein Strafgericht für sie, sondern auch einen strengen Brief an die Mutter in der Rübekuhle, und das durfte nie geschehen!

Nach langem Schwanken entschloß sich Mutter für einen Windbeutel, ein mit Schlagsahne gefülltes Gebäck, das in jenen guten Zeiten noch für fünf Pfennige zu erwerben war. Kaum ward dieser Entschluß gefaßt, so wurde auch die Sehnsucht nach dem Windbeutel übermächtig in Mutter. Schnell huschte sie zum Bäcker, kaufte den Windbeutel, war auch schon wieder im Garten, versteckte sich hinter den Stachelbeeren und aß ihn auf.

Wie er ihr geschmeckt hat, dessen erinnert sich Mutter nicht mehr, aber das weiß sie noch genau, daß sie viele Wochen hindurch in einer ständigen Angst lebte, ihre Schandtat könne ans Licht kommen. Sie war so unbesonnen gewesen, zum Bäcker der Familie zu gehen, und wenn sie nun mit Onkel und Tante beim Spaziergang am Laden vorüberkam und der Bäcker grüßte höflich und wechselte wohl auch ein paar Worte mit dem allmächtigen Justizrat, so las sie schon immer die Frage auf seinen Lippen: »Nun, Lowise, wie hat dir denn mein Windbeutel geschmeckt?«

Diese Spaziergänge mit Onkel und Tante waren etwas ganz Fürchterliches. Meist ging der Onkel voran, gemessenen Schrittes, denn er war klein und recht rundlichen Leibes. An seiner Rockklappe trug er einen Knipser, mit dem er seinen Panamahut, sobald die letzten Häuser der Stadt vorüberwaren, vor der Brust hängend festknipste. Der Onkel hatte dazu ein – leicht schwitzendes – Löwenhaupt mit einer gewaltigen grauen Mähne. Mit dröhnender Stimme sprach er fast jeden Vorübergehenden an und sagte ihm etwas, meist nichts Angenehmes.

Ihm folgten seine beiden kleinen Weiblein. Kamen sie in die Nähe der kleinen Badeanstalt, so fragte der Onkel, der stark kurzsichtig war, unbekümmert um etwaiges Publikum: »Louise, baden die Mannsen oder die Weibsen?«

»Die Männer, Onkel Pfeifer!« sagte die Mutter.

»Dann Augen links weg!« kommandierte der Onkel und achtete genau darauf, daß der Befehl auch befolgt wurde.

Manchmal überkam es dann den Onkel, hinter seinen beiden Weibern zu gehen und aufzupassen, ob sie auch schicklich schritten! Die Tante ging hierbei keineswegs leer aus, mal trug sie ihren Spitzenschal zu faltig, mal wirbelte sie zuviel Staub auf, aber der Haupttext wurde doch stets meiner Mutter gelesen: »Louise, geh grade! – Louise, schlenkere nicht so mit den Armen! – Louise, mach die Augen auf, eben bist du an einen Stein gestoßen!«

So ging es unermüdlich, und zwar mit lautester Stimme, ob nun Leute vorübergingen oder nicht. Es war das reine Spießrutenlaufen. Die Gesichter der Entgegenkommenden fingen schon an zu schmunzeln, wenn sie den stadtbekannten Tyrannen in Ausübung seiner Herrscherrechte sahen, verdüsterten sich aber oft auch sehr rasch, wenn sie im Vorbeigehen einen kleinen Stich abbekamen.

Nach Ansicht des Onkels hatte Mutter vor allem eine verhängnisvolle Neigung, den rechten Fuß einwärts zu setzen. »Du gehst ja schon wieder über den großen rechten Zeh, Louise!« rief dann der Onkel entrüstet. »Ich habe es dir schon hundertmal gesagt ... aber warte ...«

Und der Onkel fing an, schallend nach einer selbsterfundenen Melodie zu singen: »Der rechte Fuß geht einwärts – bei einer gewissen Person! Der rechte Fuß geht einwärts – bei einer gewissen Person!«

Weiter ging es nie, aber meiner Mutter genügte schon dies vollkommen. Sie wußte manchmal wirklich nicht mehr, wie sie weitergehen sollte, jede Bewegung, die sie machte, war falsch – am liebsten hätte sie sich auf den Weg hingesetzt und wäre keinen Schritt weitergegangen. Am schlimmsten aber wurde es, wenn der Onkel neben ihr herging und ihr ausmalte, wie in Kürze ihr rechter Fuß operiert werden würde. Er ersparte ihr keine blutige Einzelheit, sprach vom Knochendurchsägen, Nähen (Mutter in bester Erinnerung), Messern und ähnlichem.

Schließlich kam man dann doch zur Fischerhütte, dem Ausflugslokal des Städtchens. Da mußte Mutter dann die ganze Zeit sittsam auf einem Stühlchen sitzen und nähen, sticken oder stricken, während ihre Schulkameradinnen in nächster Nähe lustig schreiend herumspielten und nur manchmal halb mit Mitleid, halb mit Spott auf das kleine Gewackel blickten. Das waren dann bittere Stunden, und sicher hat Mutter da oft gedacht: Warum haben die's so gut und ich gar nicht? Warum dürfen die alles tun und ich nie was? – Fragen, auf die natürlich keine Antwort zu finden war. Daß Mutter dabei aber nicht verbitterte, sondern immer sanft und freundlich blieb und nicht einmal die Lebensfreude verlor, das war bestimmt kein Verdienst des Onkels.

Am nächsten Tag in der Schule wurde dann Mutter noch weidlich von ihren Kameradinnen aufgezogen wegen ihres Musterdaseins. Kinder sind ja grausam, sie dachten nie daran, daß Mutter so sein mußte, daß sie sehr gerne anders gewesen wäre. Mutter hatte keine Freundin in der Schule, sie durfte ja keine haben, der Onkel wollte es nicht. Und Mutter mußte immer die Klassenerste sein, der Onkel wollte es so. Einmal, ein einziges Mal hatte Mutter in der Schule gelacht und war darum drei Plätze runtergekommen, dem Onkel schien der Weltuntergang nahe zu sein, so stellte er sich an.

Da Mutter häufig wegen Krankheit fehlen mußte, war es gar nicht einmal so leicht, diesen ersten Platz ständig zu behaupten, sie war so oft »nicht dagewesen«! Im allgemeinen brauchte sie das Versäumte nur aus den Büchern nachzulernen. Aber da war zum Beispiel der Religionsunterricht, der an dem Institut des Fräulein Mittenzwey für die höheren Töchter der besseren Stände in etwas seltsamer Weise gegeben wurde. Im allgemeinen beschränkte er sich auf so unentbehrliches Wissensgut wie das Aufsagen der Bücher Alten und Neuen Testamentes vorwärts und rückwärts, und zwar ohne Stottern und Atemholen. Auch mußten die Schülerinnen die Stämme Israels, die vier großen und zwölf kleinen Propheten ebenso runterrasseln können wie die zwölf Söhne Jacobs und die zwölf Jünger Christi.

Fräulein Mittenzwey war sehr streng, besonders den Religionsunterricht kontrollierte sie häufig, und die Lehrerinnen wurden dabei ebenso nach den fünf Hauptstücken gefragt wie die Schülerinnen. Genau wie die wurden sie erbarmungslos abgekanzelt, wenn sie einmal stockten. Eine besondere Spezialität von Fräulein Mittenzwey aber war es, richtige Reihen von Fragen und Antworten einzupauken, die immer in der gleichen Reihenfolge abgefragt wurden. Dies war nicht leicht nachzulernen, denn es fand sich nirgendwo aufgeschrieben, war ein Originalgewächs von Fräulein Mittenzwey. Als Mutter einmal gefehlt hatte, hörte sie bei ihrer Wiederkunft dies Frage- und Antwortspiel:

»Warum mußte Jesus Christus als Mensch geboren werden?«

»Um die Menschen zu erlösen!«

»Warum müssen die Menschen erlöst werden?«

»Wegen der Erbse!«

Mutter erschien das vollkommen rätselhaft, aber zu fragen wagte sie nicht, und als sie selbst dabei herankam, antwortete auch sie nach kurzem Zögern: »Wegen der Erbse!«

Da nickte Fräulein Mittenzwey befriedigt!

Mutter grübelte lange über dieser Erbse. Irgendwie schien sie ihr mit jener Erbse zusammenzuhängen, auf der die Prinzessin in dem Andersenschen Märchen liegt, aber ganz klar wurde es ihr nicht. Schließlich spielten ja auch Apfel und Taube recht rätselhafte Rollen im Religionsunterricht. Erst viel später ist es meiner Mutter klargeworden, daß die Erbse die Erbsünde war.

Ja, meine Mutter war viel krank, und vor allem hatte sie es mit dem Halse zu tun. Ein Arzt wurde für so etwas nicht bemüht. Ein probates Hausmittel war es, um den Hals ein Stück Speck zu wickeln, das unbedingt so lange liegen bleiben mußte, bis die Halsschmerzen fort waren. Unterdes fing der Speck lustig zu riechen an, aber das half ihm gar nichts, liegen bleiben mußte er! Nach kurzer Zeit verbot sich ein Schulbesuch schon aus geruchlichen Gründen.

Dann kam die Tante auf die Idee, daß Mutter zu wenig Unterwäsche trage (Tante hätte die Unterwäsche von jungen Damen heutiger Tage sehen sollen!). Es wurden sofort dicke flanellene Unterhosen angeschafft und Mutter angezogen, sie reichten ihr bis über die Knie und hatten unten eine schöne rote Häkelkante. Aber sie kratzten auch, Mutter fand es unmöglich, sie zu tragen. Ich nehme an, dies war zu einer Zeit, da Mutter schon sehr eingelebt bei Onkel Pfeifer war, sonst könnte ich die Vermessenheit ihres Handelns nicht verstehen. Auf dem Schulweg kam Mutter nämlich an einer Scheune vorbei, und in diese Scheune schlüpfte sie nun regelmäßig und zog die kratzigen Dinger aus. Und Onkel und Tante gerieten in die lebhafteste Verwunderung, daß Mutter sich in den schönen warmen Flanellbuxen noch häufiger erkältete!

Schließlich wurde doch der Arzt gerufen. Er erklärte Mutter für bleichsüchtig und verordnete Eisen, Lebertran und Solbäder. Das Eisenpräparat zu nehmen ging noch an, es war irgendwie mit Rotwein gekreuzt oder schmeckte doch so. Der Lebertran aber war schlimm, und Mutter mußte dreimal am Tage je drei Teelöffel von ihm nehmen. Onkel Pfeifer war natürlich entrüstet, daß Mutter das teure Zeug nicht mit Begeisterung nahm, sondern sich nach jedem Löffel schüttelte. Da erfand der Onkel, daß Mutter nach jedem Löffel dreimal um den Eßtisch laufen mußte, um ihr das Schütteln abzugewöhnen! Und das mußte sie auch tun, wenn Gäste am Tisch waren, ja, Onkel führte sogar noch Besucher extra zu dieser Schau, um ihnen zu zeigen, wie seine Pflegetochter Lebertran einnahm!

Das Schlimmste aber war das Bad! Onkel besaß zwar ein Badezimmer, aber es war ein nie benutzter, eiskalter, feuchter Raum, vollgestellt mit altem Gerümpel. Die gekachelte Wanne war in den Boden eingelassen, und das warme Wasser mußte aus der Küche herzugetragen werden. Aber es gab nie genug warmes Wasser, oder es wurde in dieser Grabkammer sofort kalt. Meine Mutter mußte eine Viertelstunde in diesem Bad aushalten, sie wurde sofort blau und klapperte mit den Zähnen und allen Knochen! Aber Solbäder waren ja gesund, der Doktor hatte es selbst gesagt! Der einzige Trost war, daß Mutter hinterher sofort in ihr Bett durfte und belegte Brote bekam, die sie sonst nie kriegte!

Und die Jahre gingen dahin, und Mutter wurde über alledem achtzehn, und alles schien nie ein Ende nehmen zu wollen. Da kam Vater als Amtsgerichtsrat in die kleine Stadt, er war sechsunddreißig Jahre alt und noch immer Junggeselle. Die beiden lernten sich kennen, und sie heirateten sich, unter ausdrücklicher Billigung von Onkel Pfeifer. Denn Vater war eine Partie, und Mutter war eine Partie, und da so Partie zu Partie kam, war alles in bester Ordnung.

Es war aber auch wirklich alles in bester Ordnung: Vater nahm Mutter und führte sie aus der Enge in die Weite. Sie, die stets für andere hatte dasein müssen, die nie etwas Eigenes hatte sein und besitzen dürfen, lehrte er, ein Mensch zu werden. Er hatte nie Launen, er wurde selten ungeduldig. Zu Anfang wollte der Haushalt gar nicht recht gehen, Mutter konnte nicht selbständig arbeiten, sie wagte nie einem Mädchen ein Wort zu sagen ...

Aber Vater machte ihr Mut, er half ihr, er tröstete sie, er lobte sie, er lächelte über Mißgeschicke, er tadelte nie ... Er machte einen Menschen aus Mutter, aus ihr, die fast ein Automat geworden wäre ...

Heute ist meine Mutter über achtzig Jahre alt und Vater schon lange tot. Aber wenn von Vater gesprochen wird, so sagt sie heute noch: »Alles, was ich bin, was ich für euch Kinder tun konnte, ist immer von Vater gekommen. Ich glaube, einen Menschen wie Vater wird es nie wieder geben ...«

Und oft glaube ich das auch.


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