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Großmutter

Von den vier Großelternteilen, die jedem vom Weibe Geborenen zustehen, hatte der Himmel mir für meine Kinderjahre nur die Mutter meiner Mutter aufgespart. Die drei andern waren schon verstorben, ehe mein Gedächtnis auch nur die Spur einer Erinnerung an sie aufgenommen hatte. Aber dafür hatte es die uns verbliebene Großmutter auch in sich. Sie war eine Großmutter, wie sie eigentlich nur im Märchenbuch steht, es war, als habe sie alle Großelterneigenschaften der dahingegangenen drei in sich versammelt und strahle sie nun unermüdlich aus, in Fürsorge, Geduld und Liebe für alle ihre Enkelkinder, deren sie viele hatte.

Natürlich ist uns Kindern Großmutter immer uralt vorgekommen. Wie alle Kinder konnte ich kaum Unterschiede im Alter sehen, zwischen dreißig, vierzig und fünfzig Jahren sahen mir alle eigentlich gleich alt aus. Aber daß Großmutter uralt war, viel viel älter als Vater und Mutter, das sah ich doch. Sie ist mir in der Erinnerung als eine kleine, rasch bewegliche Frau, immer in Schwarz gekleidet, mit einem Häubchen aus schwarzen Spitzen und schwarzem Schmelz auf dem ach! so dünnen weißen Scheitel. Sie hatte eine helle, hohe Zwitscherstimme – wenn Großmutter sprach, klang es eigentlich immer, als sänge ein Vogel. Erzählte Großmutter Märchen, so wurde ich es schon wegen dieser Stimme nicht müde, ihr zuzuhören.

Später entdeckten wir Kinder, daß Großmutter nicht nur zwitscherte, sondern daß ihre Sprache auch eine andere Färbung hatte als bei allen andern, die wir kannten. Großmutter sprach nämlich Hannöversch, und wenn auch, nach Ansicht der Hannoveraner, sie, nämlich die Hannoveraner, das reinste Deutsch von der Welt sprechen, so war uns Kindern doch ihr spitzes »St« und das »A«, das nicht wie »A« klang, sondern wie eine Mischung aus »A«, »Ae« und »Oe«, eine Quelle unerschöpflicher Erheiterung. Wie oft nahten wir uns bei Spaziergängen nicht der Großmutter mit der Miene scheinheiligster Dienstbereitschaft: »Großmutter, dörfen wir nicht doinen Schöl trögen?«

Und die gute Großmutter, deren Herz nie für den Gedanken Raum hatte, ein Enkelkind könne sich einen Spaß mit ihr erlauben, antwortete ganz freundlich: »Danke, mein lieber Djunge, üch wüll den Schöl doch lüber umbehalten, es üst eun wenüg kühl.«

Worauf der Übeltäter mit verhaltenem Prusten zu seinen Geschwistern zurückkehrte. Wir warteten nur drei Minuten, dann wurde der nächste ausgesandt: »Großmutter, dörf üch vülleicht doinen Schöl trögen?« Und unverändert liebevoll kam der Dank.

Oder wir überboten uns; darin, s–pitz zu s–prechen, wir wurden so s–pitz, daß unsere Zunge immer an einen s–pitzen S–tein s–tieß. Großmutter hörte es gar nicht. Oder, wenn sie es hörte, und sie hörte es vielleicht manchmal doch, so lächelte sie nur darüber; das waren so Kinderspäße, ihre Enkel waren alle Muster an Artigkeit!

Dieses schlichte, einfache, gütige Herz, diese Ahnungslosigkeit von allem Bösen in der Welt sind Großmutters Schutzwehr gewesen gegen all das Schwere, was das Leben ihr brachte. Es gab schließlich nichts Schlechtes und Schweres für sie mehr. Alles konnte ertragen werden, denn niemandem wurde mehr aufgeladen, als er tragen konnte. Daß dies aber bei ihr so sein konnte, das machte ein schlichtes, einfältiges Christentum, das in ihrem Herzen wohnte, ein unerschütterlicher Glaube, daß sich alles doch endlich zum Guten wenden würde. Großmutter hatte jenes Christentum, das nie Worte machte, nie andern lästig fiel, nie muckerisch war. Sie handelte wie eine Christin, aber sie sprach nie von Christentum.

Ihre Tochter, meine beiden Eltern hatten sich der Kirche entfremdet, und wir Kinder waren ihren Spuren gefolgt, vielleicht, sicher hat ihr das Kummer bereitet. Aber sie sprach nicht davon. Gott mochte wissen, warum er dies zuließ; nicht ihre Sache war es, sich einzumischen. Wenn sie bei uns auf Besuch war, gab sie wohl nichts von ihren Gewohnheiten auf, aber alles geschah ganz unauffällig. Unauffällig verschwand sie am Sonntagmorgen zu ihrem Kirchgang, unauffällig neigte sie beim Mittag- und Abendessen den Kopf, faltete die Hände und flüsterte leise ihr Tischgebet. Und ich muß sagen, so geneigt wir Kinder auch waren, über Großmutters kleine Eigentümlichkeiten uns lustig zu machen, so still verhielten wir uns bei ihrem Gebet. Kaum, daß wir dann einmal zu ihr hin zu schielen wagten. Allerdings hätte uns Vater auch auf diesem Gebiet nicht die kleinste Unart durchgelassen. Er gehörte zu jenen Menschen, die einen jeden auf seine Fasson selig werden lassen, und besonders Bevormundung in Glaubenssachen erschien ihm unerträglich. Er hat uns immer so erzogen, daß auch wir die abweichendsten Ansichten anderer achteten, oder, wenn wir sie nicht achten konnten, doch zu ihnen schwiegen.

Großmutter ist sehr alt geworden, wirklich so alt, wie ich sie mir damals als Kind dachte, trotzdem sie in jener Zeit eine Frau in den besten Jahren war. Im Jahre 1838 geboren, hat sie vier Kriege miterlebt: den dänischen, den österreichischen, den französischen, den Weltkrieg. Zu allen diesen Kriegen sind Söhne, Enkel und Urenkel ausgezogen. Sie hat ihnen Briefe geschrieben, sie hat ihnen Päckchen gesandt, sie strickte und backte, und wenn sie fielen, hat Großmutter um sie geweint. Aber sie tröstete sich rasch wieder. Sie hatte so viele sterben sehen, Geschwister und Kinder und Kindeskinder; sie war wohl allein noch aufbewahrt, eine Uralte. Aber wie groß war die Familie geworden, die von ihr ausging! Einundzwanzig Enkel zählte sie und schon zwölf Urenkel. Nein, sie mußte sich nicht ängstigen, die Familie starb nicht aus. Das Blut war noch nicht müde, überall kämpfte es, drang vor, eroberte sich seinen Platz im Leben ...

Es hat mich immer tief gerührt, daß sie, die von einer sehr kümmerlichen Pension als Pastorenwitwe lebte und viel zu stolz war, je eine Unterstützung von ihren Kindern anzunehmen, daß sie, die sich selbst kaum das Nötigste gönnte und sich mit eiserner Sparsamkeit einrichtete, einrichten mußte, daß sie jedem von uns Enkel- und Urenkelkindern zu jedem Geburtstag und zu jedem Weihnachtsfest einen Taler sandte. Es sieht nicht nach viel aus, aber wenn man von dreihundert Talern im Jahre leben muß, und wenn man jedes Jahr zweimal dreißig Postanweisungen über einen Taler ausschreibt, dann ist es viel. Dann ist es viel zuviel, weil es ohne alles Aufheben aus dem Nötigsten geschenkt ist.

»Aber es macht mich doch so glücklich, Louise«, sagte sie, wenn Mutter einmal protestierte. »Wenn ich nicht mehr schenken kann, mag ich auch nicht mehr leben. Und die Kinder sollen doch auch merken, daß sie eine Großmutter haben.«

Vor mir liegen zwei Bilder der Großmutter. Das eine stellt sie als junge Frau, das andere als neunzigjährige Witwe dar. Im Äußern, was die Kleidung angeht, sind die Bilder einander sehr ähnlich. Auf beiden ist Großmutter schwarz gekleidet – sie hat ihr ganzes Leben lang nur Schwarz getragen, anders schickte es sich nicht für eine Pastorenfrau und Witwe. Auch das Häubchen ist beide Male da. Bei der jungen Frau ist es noch eine schwarze, vielfach verschlungene Samtschleife, die oben auf den Haaren sitzt und ein schleierartiges Gewebe festhält, das in den Nacken fällt. Und die altgewordene trägt jenes Häubchen aus schwarzen Spitzen und schwarzem Schmelz, von dem ich schon sprach.

Aber das Gesicht, das Gesicht! Wie das Leben, selbst das schlichteste, demütigste, ganz der Liebe geweihte Leben, ein Gesicht verändern kann! Eine junge Frau mit einem starken Gesicht schaut mich an. Das Kinn ist fest, die nicht kleine Nase grade und bestimmt. Der leicht geschwungene Mund schließt fest die Lippen und hat doch etwas Liebenswürdiges, wie ein verborgenes Lächeln. Nur die Augen sehen ein wenig zu ernst aus. – Und nun das Bild der Greisin daneben, wüßte man es nicht, man glaubte nicht, daß es dasselbe, nur gealterte Gesicht ist. Der Mund hat sich auseinandergezogen, die Lippen sind ganz dünn geworden, das Kinn scheint kürzer und breiter. Es ist, als sei die starke Nase eingesunken, von allen Seiten sind die Falten und Runzeln gekommen, das Leben hat dies Fleisch mit unendlich vielen Furchen immer von neuem durchpflügt. Still Ertragenes, hier spricht es! Geheimer Kummer, hier liegt er am Tag. Verborgene Sorgen, nun sind sie aus dem Innern hervorgekommen! Ungesprochene Worte – der Mund scheint bitter von ihnen geworden. Aber die Augen, und das ist das Hinreißende, die Augen, die in der Jugend so ernst, fast traurig blickten, die Augen lächeln nun! Sie scheinen wohl kleiner geworden unter den schwer hängenden Lidern, über den dicken Wülsten der Tränensäcke, aber sie lächeln mit einer solchen Güte und Liebe, als habe der neunzig Jahre hindurch verschwenderisch ausgestreute Schatz an Liebe sich nicht vermindert, sondern vermehrt. Aus diesen Augen spricht der ewige Triumph des Geistes über das Fleisch, der Liebe über die Vergänglichkeit. Ein uraltes Gesicht, fast schon nicht mehr menschlich, sondern eher der verwitterten, von Flechten überzogenen Rinde alter Bäume gleichend, aber die Augen leuchten wie an jenem ersten Tag, da der Geist sich seiner bewußt ward.

Ein langes Leben liegt dazwischen, zwischen diesen beiden Gesichtern, ein nicht sehr von äußerem Glück begünstigtes Leben. Die Tochter eines Landpastors heiratet wieder einen Landpastor. Glückliche Jahre auf dem Lande, stille, anspruchslose Jahre mit Kindern und Acker und Vieh und einer kleinen armen Gemeinde in der Heide. Aber vielleicht ist dem Mann die Aufgabe zu einfach, er vernimmt einen Ruf. Er will nach Gelle, zu den Letzten der Letzten will er. Er möchte der Seelsorger des Zuchthauses werden.

Er wird gewarnt. Er ist lang aufgeschossen und schwächlich, auf seinen Wangen blühten oft die Kirchhofsrosen, wie man damals noch sagte, aber man sagte es lieber nicht. Er hört nicht, sie ziehen nach Celle, sie wohnen im Zuchthaus. Es gibt ein altes Lied, in dem diese beiden Zeilen stehen:

»In Celle steht ein festes Haus,
Mit unserer Liebe ist es aus ...«

Das feste Haus in Celle hat den Mann nicht halten können, er ging. Aber mit der Liebe war es darum nicht aus, die sechzig Jahre dauernde Witwenschaft beginnt. Als der Mann starb, waren fünf Kinder da, und die Pension war so kärglich! Das Schwerste mußte geschehen und ertragen werden: drei der Kinder kamen aus dem Haus, zu gut gestellten Verwandten, unter ihnen meine Mutter. Mit einem Sohn und einer Tochter blieb die Witwe allein.

Ein Leben war zu Ende, das Frauenleben, die Gefährtin eines Mannes mußte lernen, Witwe zu sein, nur noch für andere zu leben, nie mehr an sich zu denken. Wieviel Wünsche und Hoffnungen mußten da begraben werden! Das alte Gesicht spricht von ihnen. Drei Kinder in der Fremde – wieviel Sehnsucht und Sorgen – auch davon spricht das Gesicht. Stets kaum das nötigste Geld im Hause, wieviel ängstliches, kleines Sparen – auch das weiß das alte Gesicht zu erzählen. Aber das Herz bleibt, die Liebe siegt, aus den Kindern wird etwas. Nun gibt es schon Enkel, und an die Enkel denkt das alte junge Herz anders als an die Kinder –!

Ich habe es immer als eine grausame, als eine sinnlose Härte empfunden, daß dies schlichte Herz nicht friedlich aufhören durfte zu schlagen. Diese stille Fromme glaubte in ihren letzten Lebensmonaten in der Hölle zu sein. Sie litt Schreckliches, Tag und Nacht wurde sie gequält. Gab man ihr einen kühlen Trunk, so schrie sie voller Grauen, es sei ihr glühendes Eisen in den Hals gegossen. Die um sie waren, wurden zu Teufeln, Gott hatte sie verstoßen. Sie war für immer verdammt – für ihre unermeßlichen Sünden. Sie würde nie ihren Mann und ihre Kinder wiedersehen, ewig brannten für sie die Höllenfeuer. Es war eine Erlösung für alle, als sie starb, in ihrem fünfundneunzigsten Lebensjahre. Ich denke, sie wird jetzt ihre Ruhe haben.

Und darum nehme ich auch keinen Anstand, einige Geschichten aus dem Leben Großmutters zu erzählen, die sie in einem heiteren Lichte zeigen, aber nur für andere heiter. Für Großmutter waren es sehr ernste Geschichten; es konnte nach ihrer ganzen Veranlagung nicht anders sein, sie hatte nicht den geringsten Sinn für Humor. Was ein Witz war, hat sie nie verstanden.

Wollten wir Großmutter herausfordern, so bettelten wir sie an, sie möge uns doch die schreckliche Geschichte von der kleinen Elfriede erzählen. Elfriede war das jüngste Töchterchen von Großmutter, zur Zeit, da sich diese Tragödie ereignete, etwa zwei Jahre alt, und sie hatte einen vierjährigen Bruder, der Gotthold hieß. Gotthold, der angehende Mann von vier Jahren, mußte oft für seine viel beschäftigte Mutter Aufsichtspflichten bei seiner Schwester erfüllen. Im allgemeinen unterzog er sich dieser Aufgabe auch gerne und zur Zufriedenheit aller.

Aber an einem Tag unter den Tagen mußte Gotthold feststellen, daß sein Schwesterchen sich naß gemacht hatte. Nun war die Sache so, daß Gotthold sich nicht mehr naß machen durfte, und passierte es ihm doch noch einmal, so gab es Haue! Bei Elfriede, der kaum Zweijährigen, wäre ein Naßmachen grade noch hingegangen, Großmutter hätte wohl ein Auge zugedrückt. Aber das wußte Gotthold nicht, jedenfalls fürchtete er Haue für das Schwesterchen und überlegte, wie er sie vor den Schlägen bewahren könnte.

Es war Winterzeit, im Ofen brannte schon Feuer, die Ofentür war heiß, fast glühend. Gotthold war schon verständig genug, beobachtet zu haben, daß man Nasses mit Wärme trocknet, aber er war noch nicht so verständig, die Natur des zu Trocknenden und den Grad der Wärme in Betracht zu ziehen. Das einzige, an das Gotthold dachte, war, daß er Elfriede vor Schlägen erretten mußte.

So ergriff er sein Schwesterchen und drückte es mit dem Hinterteil fest gegen die heiße Ofentür. Einen Augenblick lang wurde die Wärme noch angenehm empfunden, aber nur einen sehr kurzen Augenblick, dann stieß Elfriede ein durchdringendes Schmerzensgeschrei aus. Gotthold redete ihr aufgeregt zu, daß das Höschen trocknen müsse, daß es sonst Schläge gebe, und drückte Elfriede nur noch fester gegen die Ofentür. Elfriede schrie wie am Spieß, und sie war ja auch nahe daran, von hinten gebraten zu werden!

Gottlob stürzte Großmutter herbei und erlöste die Unselige vom Märtyrerrost. Mit ernster Stimme und mit einem leisen Schlucken in der Kehle erzählte uns Großmutter, daß die arme Elfriede acht Wochen lang auf dem Bauch habe liegen müssen, und daß die Spuren der Ofentür nie ganz verschwunden seien.

Wir Kinder traten uns vor geheimer Wonne die Schienbeine unter dem Tische blau. Wenn aber die mittlerweile sehr erwachsene Tante Elfi, die recht kompakt geworden war, uns besuchte, pirschte sich oft eines von uns Geschwistern in ihre Rückfront und betrachtete sie nachdenklich. Gar zu gerne hätten wir Tante Elfi gebeten, uns einmal die Spuren der Ofentür zu zeigen, gottlob hielt aber ein guter Engel unsere Zungen im Zaum, denn Tante Elfi war sehr für Schicklichkeit! Wir sagten dazu ötepetöte!

Derselbe Onkel Gotthold scheint auch noch in reiferen Jahren sehr für drastische Erziehungsmethoden gewesen zu sein. Nur mit Schauder und Ingrimm hörte ich von seinen Kindern, wie er sie ein für allemal vom Spielen mit Feuer abhielt. Gewiß, der Onkel Gotthold saß auf einer Landpfarre, und das Pfarrhaus war mit Stroh gedeckt, und es gehörte auch noch ein Pfarrhof dazu, mit Scheunen und Viehställen, mit viel Heu und Stroh. Auf all solchen Höfen ist die Angst vor Feuer immer wach. Und alle Kinder spielen in einem gewissen Alter gerne mit Feuer. Wenn aber Onkel Gotthold dieses Alter gekommen glaubte, so rief er das betreffende Kind in sein Zimmer, brannte zwei oder drei Streichhölzer an, hielt ein Fingerchen des Kindes mit eiserner Hand über die Flamme, hatte auch kein Mitleid mit Angst, Geschrei, Brandwunde, sondern sprach: »So, nun weißt du, wie weh es tut, mit Feuer zu spielen. Spiele nie mit Feuer!«

Ich für meinen Teil würde es vorziehen abzubrennen, als meinen Kindern auf diese, milde gesagt drastische Art die Furcht vor dem Feuerspiel beizubringen. Dieses ganze Vorgehen, das der Onkel bei allen seinen sechs Kindern konsequent durchgeführt hat, will mir gar nicht recht zu seinem sonstigen Bilde passen. Denn an sich war er zwar ein großer robuster Mann, ein richtiger Landpastor niedersächsischen Schlages, der noch selber in Stulpenstiefeln seinen Pfarracker pflügte und mit seinen Bauern über Saat und Ernte zu reden wußte wie nur einer, aber dabei war er eigentlich ein fröhlicher, kinderlieber Mann, und gar nicht ganz ohne Humor. Ich denke mir beinahe, daß ein Jugenderlebnis ihm eine fast panische Angst vor Bränden eingeflößt hat, und da dieses Jugenderlebnis wieder mit der Großmutter, also seiner Mutter, zu tun hat, will ich es hier erzählen.

Das war noch in der Zeit, ehe die Großeltern nach Celle in das feste Haus zogen, da sie noch in einer Landpfarre wohnten, die auch mit Stroh gedeckt war. Es ist Mittagszeit, Vater und Mutter und die fünf Kinder sitzen am Tisch und mit ihnen die Knechte und Mägde des Pfarrhofs. Ein Gewitter ist am Himmel, blauschwarz stehen die Wolken vor den Scheiben, und in der Stube wird es immer dunkler, als wolle es Nacht werden.

Aber Großmutter läßt sich dadurch nicht stören: wir sind alle in Gottes Hand. Sie fängt an, aus der ungeheuren Terrine die Suppe aufzukellen. Da wird es blendend hell in der Stube, darauf knattert es wie aus tausend Feuerrohren. Alle sind aufgesprungen, alle schreien: »Das hat eingeschlagen!«

Und schon wird es auch hell im Zimmer, das nach dem Blitzschlag wieder ins Dunkel gesunken war, eine züngelnde, flackernde, rote Helligkeit. »Es brennt bei uns!« schreien sie und stürzen aus dem Haus.

Jawohl, es brannte bei ihnen, das ganze Strohdach ist schon eine flammende Glut. Im Dorf bimmelt die Feuerglocke, aber jeder, der in diese Glut starrt, weiß: da ist nichts mehr zu retten! Und wirklich ist das Haus in kürzester Frist bis auf die Grundmauern niedergebrannt, die Großeltern verloren alles!

Plötzlich aber fangen die in die Glut Starrenden an, einander anzusehen, sich anzustoßen: wo ist die Frau Pastern? In der ersten Aufregung hat niemand auf sie geachtet. Nun merken alle, daß sie fehlt. Sie rufen nach ihr, sie laufen in den Obstgarten, sie starren in die stumpfen, die Glut spiegelnden Scheiben. Es ist schon fast unmöglich, sich dem Hause zu nähern, so stark ist der Gluthauch des Brandes. Aber der Großvater will es doch tun, er ist verzweifelt, er will zurück ins Haus. Großmutter fehlt, die Mutter seiner Kinder ist nicht da!

Seine Knechte versuchen ihn zu halten: »Es ist doch nicht möglich, Herr Paster! Sie kommen nicht 'rein! Und wenn Sie 'reinkommen, kommen Sie nich wieder 'raus! Sehen Sie doch, das Dach fängt schon an zu rutschen! Denken Sie doch an Ihre Kinder, Herr Paster!«

Aber der Großvater will sich nicht halten lassen. Er reißt sich los, und läuft auf das brennende Haus zu ...

Da tritt aus der offenen Tür die Großmutter! Sie hat es gar nicht eilig. Ruhig und bedächtig – das Häubchen sitzt unverrückt auf dem glatt gescheitelten Haar – schreitet sie durch den Gluthauch. Sie muß schon bedächtig gehen, denn sie trägt die große Suppenterrine in beiden Händen!

Sie wird stürmisch begrüßt, sie wird gefeiert, aber Großmutter versteht diese Aufregung nicht. Was kann ihr denn geschehen? Gott holt eine Mutter nicht von ihren fünf unversorgten Kindern fort! Und mit der gleichen Gelassenheit nimmt sie den Brand hin, der all ihr Hab und Gut vernichtet. Es soll so sein – er wird schon wissen, wozu das gut ist!

»Aber Mutter –!« rufen sie. »Was machst du denn mit der Suppenschüssel? Warum bringst du denn die Suppenschüssel mit –?!«

»Ja, Kinder«, antwortet sie mit ihrer hellen, gelassenen Stimme, »wenn wir auch abbrennen, müßt ihr doch zu Mittag essen! Darum habe ich die Suppe mitgebracht.«

Alle freuen sich über die Geistesgegenwart der Frau Pastern, sie denkt doch wirklich an alles, und nie verliert sie die Fassung. Niemand kommt im ersten Augenblick auf den Gedanken, daß es vielleicht richtiger gewesen wäre, das bißchen Geld in der Schreibtischlade zu retten, oder den Kindern ein Mäntelchen gegen den jetzt niederstürzenden Regen mitzubringen. Mittagessen hätten die Pastorsleute in jedem Hofe der Gemeinde bekommen. Nein, Frau Pastern ist geistesgegenwärtig, die Ruhe selbst!

Aber dann erweist es sich, daß Großmutter doch nicht geistesgegenwärtig gewesen war, sie hatte auch die Ruhe verloren. Sie hatte, trotz allen äußeren Scheins, doch kopflos gehandelt ... Der Deckel der Terrine wird abgehoben und ...

Sie werden mittlerweile unter ein schützendes Dach geflohen sein, im Hause war doch nichts mehr zu retten ... Und nun wird also der Deckel von der Terrine abgenommen, und mitten in der schönen hannöverschen Erbsensuppe mit Schwemmklößchen und Schinken schwimmt Großmutters Strickzeug! Ja, da hatte die Frau Pastor so ruhig ausgesehen, so gelassen war sie aus den Flammen geschritten. Aber innerlich war sie völlig durcheinander gewesen, sie hatte gerettet, was ihr unter die Finger kam: aus einem häuslichen Urinstinkt hatte sie das Strickzeug ergriffen und in die Suppe gesteckt!

Oh, wie alle lachten – noch die Enkel lachten über ihre geistesgegenwärtige Großmutter! Großmutter aber lächelte nur, ohne jedes Beleidigtsein, aber auch ohne jede Einsicht in den Humor der Geschichte.

»Und ich habe den Strumpf für euern Großvater doch zu Ende gestrickt!« pflegte sie ganz stolz zu sagen.

»Und die Suppe, Großmutter? Sag doch, was ist aus der Suppe geworden?«

»Ich weiß es nicht mehr, liebe Kinder. Aber ich denke, wir werden sie aufgegessen haben. Es wäre doch schade um die schöne Suppe gewesen!«

Ist meine Vermutung richtig, so wird bei meinem Onkel Gotthold das heitere Erlebnis der geretteten Suppenschüssel weit zurückgetreten sein hinter dem schreckensvollen, daß alles Hab und Gut seiner Eltern in den Flammen aufging. Ich weiß nicht zu sagen, wie es mit ihrer Versicherung bestellt war, aber ich hörte von langen Jahren äußerster Entbehrung sprechen. Es scheint mir sehr wohl möglich, daß solch ein Brand, dem eine endlose Zeit der Not folgt, die diesen Brand nie vergessen läßt, in einem Kind einen so tiefen Eindruck hinterläßt, daß noch der Mann aus purer panischer Angst so handelt, wie es seinem Charakter gar nicht entspricht. Denn ich habe es schon gesagt, mein Onkel Gotthold war wohl ein lauter, aber auch ein fröhlicher Mann, und Fröhlichkeit verträgt sich kaum mit Brutalität. Ich persönlich, sagt meine liebe Mutter, soll ganz seinen Kopf auf meinen Schultern tragen, und der Gedanke ist mir nun ganz unbehaglich, mit dem Gesicht eines Wüterichs in der Welt umherzulaufen. Vielleicht habe ich aus diesem Gefühl heraus eine Erklärung jener Brutalität versucht.

Überhaupt ist die Erinnerung an jenen Onkel Gotthold nicht ganz behaglich. Denn der Onkel ist ein Mensch, der spurlos aus dem Leben verschwunden ist, von dem niemand zu sagen weiß, wann er starb und wo er begraben ist. Er lebte in Kraft und Fröhlichkeit in seiner hannöverschen Landgemeinde, in einem stattlichen, wohl begüterten Dorf, in dem ihn jeder kannte, jeder achtete. Er hatte keinen Feind. Er hatte auch keine Heimlichkeiten – sein Leben lag offen vor aller Augen.

Und dieser Onkel besteigt eines Tages den Zug nach Hannover, zu einer jener Pastorenkonferenzen zu fahren, die, wenn ich mich nicht irre, Synoden genannt werden. Die Teilnahme an diesen Synoden war Pflicht, aber es war eine Pflicht, die mein Onkel nur seufzend erfüllte. Nicht wegen der Reise in die große Stadt, auch nicht wegen des Treffens mit seinen Amtsbrüdern, auch nicht wegen all der Reden, die angehört werden mußten, sondern allein des Herrn Generalsuperintendenten wegen fuhr mein Onkel ungern.

Der Herr Generalsuperintendent war ein lieber alter Herr, mein Onkel hatte nichts gegen ihn, nur war er schon ein bißchen sehr alt. Der Generalsuper mümmelte und speichelte, es war keineswegs empfehlenswert, in seine Rederichtung zu kommen, man hätte sich denn abwischen dürfen – und das durfte man doch nicht, aus Anstand! Und grade so ein alter und schon recht schadhaft gewordener Herr hatte es sich in den Kopf gesetzt, bei jeder Synode all seine Amtsbrüder mit einem Bruderkuß zu begrüßen, genau wie Christus seine Jünger beim Abendmahl geküßt hatte! Jedem seiner Pastoren näherte sich der alte Herr, lächelte greisenhaft freundlich – was nur noch die Maske eines Lächelns ist –, sprach: »Lieber Bruder, Gottes Segen sei mit dir!« und küßte den Bruder mitten auf den Mund!

Mein Onkel schauderte geradezu vor diesem Kuß. Ich habe dabei gesessen, wie er ihn der Tante zu schildern versuchte, aber als das Wort »Sabbern« fiel, erhob sich meine Tante entrüstet und sagte: »Gotthold, du vergißt dich! Und noch dazu vor den Kindern!« und ging.

Da aber mein Onkel das besaß, was man bei uns in Norddeutschland »Schlitzöhrigkeit« nennt, was etwa mit Gerissenheit übersetzt werden kann, so hatte er mit der Zeit eine gewisse Übung darin bekommen, den generalsuperintendentlichen Küssen zu entgehen. Er mischte sich in den dicksten Haufen seiner Amtsbrüder, trat geschäftig bald rechts, bald links, sobald die Kußszene begann, und kam dann der vorgesetzte Seelsorger auf ihn zu mit den salbungsvollen Worten: »Lieber Bruder, Gottes Segen sei mit dir!« – so lächelte der Onkel liebevoll ins Auge des Bruders und sprach mit gleicher Salbung: »Lieber Bruder – wir hatten schon!«

Aber an jenem Tage hatte es mein Onkel nicht nötig, zu solchen kleinen Notlügen seine Zuflucht zu nehmen, denn er ist nie auf der Synode angekommen. Kein Mensch hat je erfahren können, wo mein Onkel aus dem Zuge gestiegen ist, in den viele ihn einsteigen gesehen haben. Es war ein Personenzug, er ging nach Hannover, er hatte nur anderthalb Stunden Fahrzeit, es saßen viele Amtsbrüder und noch mehr bekannte Landleute in dem Zug, aber niemand hat den Onkel von der Minute seines Einsteigens an gesehen. Er ist von diesem Augenblick an verschwunden gewesen, als habe er sich in Rauch aufgelöst. Und der Onkel war ein großer, fast vierschrötiger Mann, keiner, den man leicht hätte übersehen können. Wenn er laut sprach, hörte man ihn am andern Ende des Dorfes. Wenn er ein Dorfmädchen auf seinem Studierzimmer wegen ihrer Sünden ausschalt, mußte die Tante alle ihre Kinder weit vom Hofe fortschicken – Kinder nehmen so leicht etwas an!

Und nie eine Spur von ihm. Nie auch nur der geringste Hinweis, der sonst doch – mit oder ohne Namensnennung – so gern bei solchen Gelegenheiten erfolgt. Keine Liebesgeschichte, kein Lebensüberdruß, keine Existenzsorgen, keine Laster, keine Reisevorbereitungen. Auf seinem Pult lag die Predigt für den kommenden Sonntag, zu drei Vierteln vollendet ... Aber nie ein Zeichen von ihm, ausgelöscht, fort ...

Vielleicht kann man es danach verstehen, daß es mir nicht übermäßig behaglich ist, den Rätseln dieser Welt mit dem Gesicht des verschwundenen Onkels zu begegnen. Niemand ist ganz frei von dem Aberglauben, daß gleiche Gesichter auch gleiche Schicksale bedeuten. Immer wieder liest man in den Zeitungen das Erstaunlichste über die Ähnlichkeit des Lebenslaufs bei Zwillingen. Wie habe ich als Junge darüber gegrübelt, was wohl aus dem Onkel geworden sein möchte! Lange Romane habe ich mir im Einschlafen ausgesponnen – kein Karl May konnte sie phantastischer erdenken! Wie habe ich mit seiner Familie gewartet, Wochen um Wochen, Monate um Monate, auf ein Lebenszeichen – und nie kam eines!

Bis aus den Monaten Jahre geworden waren, bis der Verschollene für tot erklärt war, bis er langsam vergessen wurde ... Nur Großmutter vergaß ihn nicht. »Wer weiß«, wisperte sie manchmal geheimnisvoll zu uns schon groß gewordenen Kindern, »wer weiß ... Aber ich soll nicht darüber reden ... Aber ich fühle es, Gotthold geht es gut, ich werde ihn bestimmt noch wiedersehen.«

Wenn dein Kinderglaube recht behalten hat, Großmutter, dann hast du ihn wiedergesehen, den Gotthold!

Manchmal, in den kleineren Ferien, besuchte Mutter mit einem von uns Kindern die Großmutter in der Stadt Celle, in der sie noch immer lebte. Eigentlich waren diese Besuche für Besucher wie Besuchte eine Last, denn Großmutter hatte nur zwei Stübchen und gar nicht die Mittel, ihre Gäste zu beköstigen. Aber sie hielt hartnäckig darauf, daß jeder Besuch, den sie uns in Berlin machte, auch erwidert wurde. In aller Demut war sie stolz. Sie wollte sich nichts schenken lassen.

Uns Kindern machte es natürlich Spaß, wie wir uns in den beiden winzigen, schon damals ganz altmodischen Stübchen einrichten mußten. Einmal war Knappheit an Schlafgelegenheiten, und so wurde mir auf drei aneinander geschobenen Stühlen eine Bettstatt bereitet. Sie sah recht vertrauenerweckend aus, aber mitten in der Nacht mißbrauchte sie dieses Vertrauen und sandte mich mit Donnergepolter zum Estrich. Den Rest der Feriennächte verbrachte ich dann gleich auf diesem Estrich. Ich fand das herrlich. Jedesmal beim Einschlafen stellte ich mir lebhaft vor, ich liege am Lagerfeuer auf der Prärie, mit wahrer Wonne fühlte ich den Druck der Dielen durch die dünne Unterlage.

Was allerdings das Essen anging, so mußte ich bei Großmutter Entbehrungen leiden, die einem vor seinen indianischen Feinden fliehenden Trapper alle Ehre gemacht hätten. Mutter hatte es mir streng eingeschärft, daß ich auf Großmutters Frage, ob ich auch satt sei, mit einem Ja zu antworten habe. Aber Großmutter hatte mit zunehmendem Alter so sehr jede Erinnerung an das verloren, was ein handfester Jungenshunger verlangt, daß es mit einem bloßen »Ja« nicht getan war.

So schwer es Mutter ankam, sie mußte sich zu kleinen Schwindeleien entschließen, und abends, wenn wir alle im Bett lagen, futterten Mutter und ich heimlich aus einer Bäckertüte und fettigem Schlachterpapier. Es war großartig, Mutter einmal als Gefährtin auf Schleichwegen zu haben. Mutter fand es entschieden nicht so großartig, einmal aus pädagogischen Gründen, zum andern, weil sie nicht gerne ihre Mutter täuschte. Aber was sollte sie tun, da Großmutter mit allem Starrsinn des Alters jeden Zuschuß, auch in Naturalien dargebracht, ablehnte –?! »Ihr seid meine Gäste!« flötete Großmutter empört. »Ich müßte mich ja schämen, wollte ich Geld von euch nehmen!«

Schon der Einkauf dieses zusätzlichen Proviants hatte seine großen Schwierigkeiten, denn Großmutter wurde schon unruhig, wenn sie uns nicht vor Augen hatte. Wir durften eigentlich nie von ihr fort. »Dü kurze Zeut wöllen wür doch röcht was von eunander höben!« sagte Großmutter. Hatten wir dann aber das Banngut wirklich heimlich erworben, fingen die richtigen Schwierigkeiten erst an, denn es mußte nun versteckt werden bis zum Abend, und Großmutter hatte eine ausgezeichnete Nase!

Ich erinnere mich eines Abends, da Großmutter immer wieder unruhig schnuppernd ihre Nase hob: »Üch weiß nücht, üch weiß nücht, es riecht hier so nach Löberwurst!«

Die Leberwurst lag oben auf dem kalten Kachelofen, und wir rochen nichts von ihr. Aber Großmutter roch sie, was mir ein Beweis dafür zu sein scheint, daß auch sie zu diesen Besuchszeiten ungewöhnlichen Hunger litt. Mutter versuchte, Großmutter in ein Gespräch zu verwickeln, aber es half nichts. Großmutter hob schon wieder die Nase: »Üch weiß nücht, üch weiß nücht, es rücht hier doch nach Löberwurst!«

Nun fing die Großmutter an, in der Stube hin und her zu gehen, sie »windete« dabei wie ein Hund auf der Spur. »Üch weiß nücht«, murmelte sie und näherte sich dabei immer mehr dem Ofen.

Meine liebe Mutter stand Todesängste aus. Sie war nun selbst Mutter groß werdender Kinder, aber sie empfand vor ihrer Mutter noch immer denselben Respekt, den wir Kinder – vor Vater hatten. Ich aber amüsierte mich königlich. Dabei war Großmutter, ihrer Natur getreu, ohne den geringsten Argwohn gegen uns, es war nur das seltsame in ihrer Wohnung auftretende Geruchsphänomen, das sie interessierte. Großmutter war schon so nahe am Ofen, daß es zu »brennen« anfing, wie die Kinder bei ihren Suchspielen sagen, da kam Mutter auf den rettenden Gedanken, das Fenster zu öffnen ... Der Geruch verlor sich, und Großmutter setzte sich wieder an ihre Stickerei ...

Aber wir waren noch nicht ganz gerettet. Denn als wir endlich in der Nacht die Großmutter eingeschlafen wähnten und uns an unsere Leberwurst machten, tat sich plötzlich die Tür auf, wie ein Schemen stand Großmutter darin in Nachtjacke und Unterrock und murmelte: »Üch weiß nücht, üch weiß nücht, es riecht schon wieder nach Löberwurst! Schlöft ihr –?«

Wir regten uns nicht, jedes in einer Hand ein Rundstück, was auch Semmel heißt, in der andern die verräterische Leberwurst. Mutter hat mir gestanden, daß sie bereit gewesen wäre, die Leberwurst mit einem einzigen Bissen zu verschlingen, wenn Großmutter auf die Idee gekommen wäre, eine Kerze anzuzünden. Aber dafür war Großmutter zu rücksichtsvoll, sie achtete den Schlaf ihrer Gäste. Wir hörten sie noch eine Weile schnüffeln und brummeln, dann ging die Tür wieder zu, und die Bettstatt nebenan knackte leise. Von da an bestritten wir unsern Zusatzproviant mit nichtriechenden Viktualien.

Wenn nun noch alles, was Großmutter uns auf den Tisch setzte, genießbar gewesen wäre! Aber leider war dem nicht so! Nicht als ob Großmutter eine schlechte Köchin gewesen wäre, ganz im Gegenteil – aber sie war zu sparsam! Eine ganze Zeitlang erschien jeden Morgen auf dem Frühstückstisch eine selbstgekochte Apfelsinenmarmelade in einem Einmachglas, die Mutter schon auf den ersten Blick hin für völlig ungenießbar erklärt hatte. Sie war wirklich vollkommen verschimmelt. Auf Mutters sehr bestimmt abgegebenes Urteil hatte Großmutter nur ängstlich gesagt: »Meinst du, lübes Künd?« und an jenem Tage wurde nichts von dieser Marmelade gegessen.

Als sie am nächsten Morgen doch wieder erschien, war die oberste dicke Schimmelschicht entfernt, aber viel verschlug das nicht, denn die ganze Masse war mit Schimmel durchsetzt. »Du willst das doch nicht essen, Mutter!« rief meine Mutter entsetzt aus, als sich Großmutter eine Brotscheibe damit strich.

»Nur möl versuchen, lübes Künd!« sagte Großmutter beruhigend. »Es wöre doch schöde um dü gute Märmelöde!«

Mutter konnte reden, was sie wollte, Großmutter aß die Marmelade doch! An diesem Morgen hatten Mutter und ich »frei«, denn Großmutter hatte Leibschmerzen. Sie kamen natürlich nicht von der Marmelade, aber wenigstens erschien sie nun nicht mehr auf dem Tisch. Trotzdem wiederholten sich Großmutters Leibschmerzen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit. Schließlich entdeckte Mutter, daß die gute Ahne immer weiter verdorbene Marmelade aß: es sei doch schade um den schönen Zucker und die teuren Apfelsinen, es sei direkt eine Sünde, so etwas Gutes und Teures umkommen zu lassen! Und sie habe auch nur ganz wenig Leibschmerzen dadurch, völlig zum Ertragen ... Der Rest der Marmelade, den Mutter mit ungewohnter Energie vernichtete, war leider nur unbeträchtlich ...

Einmal erkundigte sich auch Großmutter, die gerade beim Kuchenbacken war, bei Mutter, ob dieses Ei hier schlecht sei. Mutter beroch es und erklärte es für völlig verdorben. Großmutter war sehr betrübt. Am Nachmittag dann gab es also Kuchen zum Kaffee, Napfkuchen, wie ich mich noch erinnere. Wir aßen ihn mit Appetit, besonders ich konnte nicht genug davon bekommen. Als wir dann fertig waren und Großmutter die nicht mehr erheblichen Reste des Kuchens hinaustrug, wandte sie sich noch in der Tür um und sagte zu ihrer Tochter mit einem gewissen Triumph: »Und das Ei war doch nicht schlöcht – habt ihr was geschmöckt am Kuchen?«

Sie hatte es doch genommen, und wenn der Kuchen nicht schlecht geschmeckt hatte, so wurde Mutter doch jetzt hinterher ziemlich übel. Das Ei hatte einen gar zu eindringlichen Geruch gehabt!

Über Großmutter wohnte in einer ähnlich winzigen Behausung ein uraltes Fräulein Amélie von Ramsberg, auch eine Tante von uns, wenn auch durch einen Scheffel Erbsen. Die beiden alten Frauchen, die sich zwar nicht vor Tod und Teufel, aber sehr vor Einbrechern fürchteten (was bei ihnen wohl einzubrechen war?!), hatten die seltsamste Alarmvorrichtung erfunden, die sich nur denken läßt. Durch die Decke von Großmutters Flur, die auch der Flurfußboden von Tante Amélie war, hatte man ein Loch gebrochen, und durch dieses Loch lief ein schöner, breiter, in Perlen gestickter Klingelzug, oben wie unten mit einer Glocke versehen. War nun im Erdgeschoß oder im ersten Stock ein Einbrecher in Sicht, so sollte das betroffene Weiblein das andere durch Ziehen des Klingelzuges herbeirufen, eine Einrichtung, deren Zweckmäßigkeit ich schon als Kind bezweifelt habe. Denn es schien mir doch fraglich, ob der Einbrecher der alten Dame die Benutzung des Zuges gestatten würde, auch der Wert der herbeigerufenen Hilfe schien mir recht ungewiß.

Wie es damit aber auch bestellt sein möge, den beiden alten Damen gab ihr Klingelzug ein Gefühl tiefer Sicherheit, und wenn er auch nie bei Einbrechern in Tätigkeit getreten ist, so wurde er doch um so eifriger bei freundnachbarlichem Meinungsaustausch gebraucht. Wie oft habe ich die Großmutter in der dunklen Flurecke stehen sehen, mit ihrer hellen Stimme zur Decke hinaufschreiend, denn Tante Amélie hörte schwer, während von oben die mehr grobe Stimme von Fräulein von Ramsberg, unheimlich verändert durch die passierte Höhlung, herabklang.

Mir selbst war diese Einrichtung oft unheimlich. Denn manchmal geschah es mir, daß ich ahnungslos bei irgendeiner jungenhaften Beschäftigung auf dem Flur zu Gange war, und plötzlich hatte ich das sichere Gefühl, ich wurde durch das Loch in der Decke von zwei mäuseflinken schwarzen Augen beobachtet! Ich hatte mir das Loch auch von oben angesehen, und ich war zum Schluß gekommen, daß solche Beobachtung nur durchführbar war, wenn die Beobachterin sich platterdings auf den Bauch legte. Es war ein grotesker Gedanke, sich Fräulein Amélie von Ramsberg, ganz in Schwarz wie Großmutter, aber sehr steif als Generalstochter und äußerst verhutzelt, auf dem Bauch liegend vorzustellen! Aber da waren die Augen im Loch, eine unleugbare Tatsache! Schließlich betrat ich den Flur nur mit dunkler Gespensterfurcht und wollte nie mehr dort allein sein.

Ich habe nie die leiseste Sympathie für Tante Amélie besessen und Mutter bestimmt auch nicht, aber das befreite uns natürlich nicht von der Verpflichtung, schon am ersten Tage unseres Cellenser Besuches bei ihr Besuch zu machen. Fräulein von Ramsbergs Zimmer waren womöglich noch verschollener, vollgestellter und vollgehäkelter als die Großmutters. Nur an den Wänden zeigte sich ein Unterschied. Während bei der Großmutter das Pastörliche mit einem Einschlag von Bibelsprüchen überwog, herrschte bei Tante Amélie das Militär mit meistens kolorierten Uniformen, untermischt mit Schlachtenbildern und Säbeln.

Tante Amélie saß stocksteif, als habe sie gerade eben einen dieser Säbel verschluckt, in ihrem Sessel, sie gehörte noch zu der alten Generation, die das Anlehnen in einem Stuhl als weichlich verwarf. Auf dem Tisch stand unabänderlich ein Teller mit Anisküchlein, von denen Mutter und ich zu essen hatten. Ich datiere daher meine Abneigung gegen jeden Anisgeruch. Stets hatte ich das Gefühl, die Küchlein müßten etwa ebenso alt sein wie Tante Amélie, so morsch kamen sie mir vor. Ich brachte sie nur schwer hinunter.

Unterdes wurde meine Mutter vernommen. Tante Amélie fragte kurz und militärisch. Sie wollte alles wissen: wieviel Vater verdiente, was seine Aussichten auf Beförderung machten, ob er noch immer keinen Orden hätte, warum nicht, wieviel Haushaltsgeld er Mutter gäbe, ob sie die Wäsche selbst wüsche oder einem dieser wegen ihrer Gewissenlosigkeit bekannten Berliner Waschweiber anvertraue?

Mutter beantwortete alle diese Fragen halb lächelnd, halb befangen; suchte sie aber einer besonders indiskreten durch Ausflüchte zu entgehen, so wurde sofort ihre Verfolgung aufgenommen, sie wurde zu Paaren getrieben und mußte gnadenlos alle Forderungen des Feindes erfüllen.

War Mutter ganz ausgepumpt, so kam ich daran. Das lief etwa so:

»Wie alt bist du, Hans?«

»Elf ...«

»Ich frage dich, wie alt du bist! Elf – was? Monate?«

»Och ... Elf Jahre doch!«

»Siehst du, so mußt du antworten! Da hast du gleich etwas von deiner alten Tante gelernt!« Beiseite zu Mutter: »Ich wundere mich doch sehr, Louise, daß dein Mann nicht auf so etwas sieht!« Wieder zu mir: »Sitz grade, Hans! – Wie bist du in der Schule?«

»Och ...«

»Was meinst du damit?«

»Er kommt ganz gut mit«, sagte meine Mutter, um mir zu helfen.

»Ich danke dir, liebe Louise. Aber es wäre mir lieber, wenn Hans selbst antwortete. Ein deutscher Junge antwortet ohne Furcht, klar und deutlich. Wieviel seid ihr in der Klasse, Hans?«

»Zweiunddreißig.«

»Und der wievielte bist du?«

»Der dreiundzwanzigste.«

»In der schlechteren Hälfte!« sagte die Tante vernichtend. »Das nannte man zu meiner Zeit nicht gut mitkommen, Louise!« Mutter wurde mit einem scharfen Blick bedacht, als habe sie wissentlich versucht, die Tante zu täuschen. Nun kam ich wieder dran. »Was willst du werden, Hans?«

»Och, ich weiß nicht ...«

»Ein Junge von elf Jahren weiß, was er werden will! Was willst du also werden, Hans?«

Da ich wußte, ich würde ihr doch nicht entgehen, sagte ich aufs Geratewohl: »Schornsteinfeger!«

Die Tante hob die Augen zur Decke. »Schornsteinfeger!« sagte sie. »Ich bitte dich, Louise, wie kommt der Junge nur auf solche vulgären Ideen?! Zu meiner Zeit wollten die Jungen Soldat werden, oder sie gingen auf die Universität! Ich habe nie gehört, daß jemand in unserer Familie Schornsteinfeger werden wollte! Es ist monströs, Louise!«

Erst bekam Mutter, dann ich einen empörten Blick. Mutter war ziemlich vernichtet, in ihrer Verwirrung sagte sie zu mir: »Sitz doch still, Hans! Halte deine Beine ruhig!«

»Louise!« schrie Tante fast vor Entsetzen. »Was sagst du –?!«

»Er soll die Beine ruhig halten, Tante Amélie«, antwortete Mutter ganz bestürzt. Sie hatte keine Ahnung, was für ein Verbrechen sie nun wieder begangen hatte.

»Louise!!« rief die Tante noch einmal. Dann milder, fast abgeklärt: »Es muß die Großstadt sein, dieses Sündenbabel, du warst sonst ein braves Kind, Louise.« (Tante Amélie hatte es fertiggebracht, in Mutter das Gefühl zu erwecken, sie sei etwa gleichaltrig mit mir. Immer in Celle verjüngte Mutter sich rapide, wurde wieder zum Kinde.) Tante Amélie fuhr belehrend fort: »Eine wirkliche Dame erwähnt das da unten« – sie deutete mit den Augen auf meine Beine – »am besten gar nicht, Louise. Sie weiß am besten nichts davon, Louise! Muß sie es aber nennen, so sagt sie Piedestal oder allenfalls Ständer ... Hans, halte deine Ständer ruhig, das klingt gebildet, Louise!«

Was war aber ein viertelstündlicher Besuch bei Tante Amélie gegen das zweimal wöchentlich sich ereignende Kaffeekränzchen in einem Garten an der Aller. Dort traf Großmutter »ihre Damen«, wie das hieß, und dort wurden Mutter und ich vorgezeigt, denn Großmutter war sehr stolz auf uns! Zwar der Weg dorthin war für mich als Jungen eine Wonne, denn wir mußten dabei die Aller überschreiten, und das geschah auf einer Pontonbrücke, die die Pfennigbrücke hieß. Jeder, der diese Fußgängerbrücke überschritt, hatte dafür einen Pfennig zu zahlen. Das machte auf mich einen tiefen Eindruck. Ich bestand stets darauf, daß ich für uns drei bezahlte, und zwar in drei einzelnen Pfennigstücken, die ich stolz einem Kriegsinvaliden in die Hand legte.

Ich verstehe es heute eigentlich nicht mehr, warum die Pfennigbrücke mich so begeisterte, daß sie mich sogar mit dem Weg zum Kränzchen aussöhnte. Aber sie führt noch immer über die Aller, und vor ein oder zwei Jahren konnte ich feststellen, daß nun meine eigenen Kinder sie mit derselben Leidenschaft benützen wie einst ich. Die Pfennigbrücke war auch ihnen ein völlig befriedigendes Ziel für Spaziergänge.

War diese Brücke aber erst überschritten, so sank meine Stimmung rasch unter den Nullpunkt. Ich wußte nur zu gut, was mir bevorstand: ein zwei- bis dreistündiges Stillsitzen unter einem guten Dutzend alter Damen, ein gehorsames Antworten, das Trinken von Kaffee, den ich verabscheute. Dazu die Ermahnungen, artig zu sein, klar und deutlich zu antworten, mit einem ganzen Satz, nicht nur mit einem Wort, alle grade anzusehen, und vieles andere noch, was mir Mutter und Großmutter auf diesem Anmarschweg versetzten. Nein, von gehobener Stimmung konnte da keine Rede sein.

Kurz vor der Gartenpforte wurden noch die Schuhe mit einem eigens dafür im Pompadour mitgebrachten Tuche abgestäubt, endlos an Kragen, Tüchern und Häubchen herumgerückt und herumgezupft, und dann erfolgte der Eintritt in den Kaffeegarten. Immer hatte ich die Hoffnung, wir wären die ersten, um der strengen Musterung so vieler Blicke bei der Ankunft zu entgehen, und immer saßen schon sechs oder sieben Damen da, alle begierig, die »Berliner« zu betrachten, Fehler an ihnen zu finden.

Es war ja damals noch nicht so überaus lange her, daß das Königreich Hannover aufgehört hatte, ein selbständiges Königreich zu sein, und in den Besitz Preußens übergegangen war. Alle diese alten Damen hingen noch ihrem alten Königshause an, sie waren »Welfen«, und meine Eltern, die auch gebürtige Hannoveraner waren, galten als Abtrünnige, da Vater im Dienst der verhaßten Preußen tätig war. Dieser Preußenhaß und diese Welfenliebe, die beide mit der alten Generation ausgestorben sind, trieben damals noch seltsame Blüten. Viel bewundert in dem kleinen Kreis wurde ein altes adliges Fräulein, das es nicht hatte ertragen wollen, daß die mit den guten welfischen Farben bemalten Schilderhäuser vor dem Cellenser Schloß preußisch schwarz-weiß bemalt wurden. Sie hatte sie aufgekauft, und sie dienten auf ihrer Diele nun als Kleiderschränke. Das war Welfentreue!

Aber Vater war nicht treu gewesen, und Mutter und ich hatten das nun zu entgelten! Sehr sanft gesprochene, aber sehr spitz gemeinte Bemerkungen fehlten nie, Preußisch war schon schlimm, aber Berlinisch war der Inbegriff alles Verabscheuungswürdigen! Meine sanfte Mutter, die ziemlich hilflos gegen solche Spitzen war, hat bei diesen Kaffeeklätschen nicht weniger ausgestanden als ich, aber sie ertrug es mit Fassung. Sie wußte, es hätte Großmutters Herz gebrochen, wenn sie uns nicht hätte herumzeigen können. Daß die gute Großmutter all diesen Spitzen fremd war, sie überhaupt nicht verstand, brauche ich wohl kaum zu sagen.

Erst wenn alle Damen versammelt waren, wurde nach längerer Beratung der Kaffee bestellt. Jede hatte erst anzugeben, wieviel Tassen sie trinken würde, dies entschied über die Größe der Kanne und des zu zahlenden Anteils. Daß auch hierbei eine gewisse Rangordnung bewahrt wurde und daß die Witwe eines Pastors nicht mehr Kaffee trinken durfte als eine Generalstochter, versteht sich.

Sobald der Kaffee auf dem Tisch stand, wurden alle Pompadours geöffnet, und der Kuchen erschien. Kuchen in einer Wirtschaft zu kaufen, war Frevel, außerdem taugte kein Bäckerkuchen was, selbstgebacken mußte er sein. Jede musterte genau, was die andere hatte und wieviel sie hatte. Ach, ich sah Pompadoure, aus denen nur Bröcklein und Brosamen erschienen! All diese Damen lebten wohl von kleinsten Pensionen, aus milden Familienstiftungen. Sparen war eine Selbstverständlichkeit und Hungern nichts Seltenes. Aber die Fassade wurde gewahrt, ein hungriger Magen war zu ertragen, aber ein nicht ganz einwandfreies Kleid hätte seine Trägerin sofort aus ihrer Kaste ausgestoßen.

Die Vernehmung von Mutter und mir spielte sich in ganz ähnlichen Formen ab wie bei Tante Amélie, nur sind zwölf Untersuchungsrichter eben immer schlimmer als einer! Dann wandte sich die Unterhaltung regelmäßig der Stadt Berlin zu. Nach den Fragen der Damen hatte man den Eindruck, daß Berlin etwa in Innerafrika läge. Die Hörerinnen taten sehr erstaunt, daß man in Berlin etwa so äße und lebte wie in Hannover. Wenn aber Mutter, nun doch in einiger Erregung, behauptete, auch in Berlin gebe es schöne Parks und auch in Berlin finde man Läden mit wirklich eleganten Sachen, so tauschten die Damen Blicke untereinander, voll lächelnden Mitleids, und Tante Amélie sagte: »Wie du es verstehst, liebe Louise. Gott, du bist ja deiner Heimat völlig entfremdet. Du hast so lange nicht mehr etwas wirklich Schönes und Elegantes gesehen!«

Und sie sprachen voller Diskretion von etwas anderem.

Mutter kämpfte dann oft mit Tränen, ich sah es wohl. Aber sie hatte sich zu beherrschen, genau wie ich. Wir waren beide nur unvernünftige Kinder, aber ich sah mit Staunen, daß auch diese alten Damen untereinander sehr genaue Altersunterschiede machten. Auch unter ihnen schien es fast Unmündige zu geben, dabei natürlich meine liebe Großmutter. Das Recht, die andere »Meine Liebe« oder »Mein gutes Kind« anzureden, hatten nur wenige, die Ältesten und die Vornehmsten.

Oh, wie sie mich langweilten mit ihrem Geschnatter! Wie wenig ich ihren liebevoll süßen Worten traute! Und doch haben sie mir auch imponiert, ich hätte nie gewagt, mich offen gegen sie aufzulehnen. Ich ahnte vielleicht schon dunkel, welche Kraft in diesen verbogenen, zerknitterten, skurrilen Existenzen steckte. Kraft, Schweres zu ertragen, Kraft, auch das Liebste zu opfern, Kraft einer unerschütterlichen Überzeugung. Sie war nur fehlgeleitet, diese Kraft, sie hatte keine Aufgaben gefunden in einem leeren, losgelösten Kastendasein. Wenn sie aber gebraucht wurde, war sie immer noch da, diese Kraft!

Manchmal saßen noch andere Kinder mit an dem Kaffeetisch, von andern Damen mitgebracht, furchtbar artige Kinder in fleckenlosen Gewändern, die immer laut und deutlich mit einem ganzen Satz antworteten und nie mit ihren »Ständern« wippten, sie auch nicht um die Stuhlbeine schlangen. Ich haßte diese »Fratzen«, wie ich sie bei mir nannte, heute aber glaube ich, ich bin ihnen ebenso unheimlich artig vorgekommen wie sie mir. Einmal gelang es mir, in einem unbewachten Moment ein kleines Mädchen in rosenrotem Kleid zu einer Flucht zu verführen. Wir liefen Hand in Hand in jenen Teil des Gartens, in dem ein uns streng verbotener Kinderspielplatz war.

Da gab es eine Schaukel und eine Wippe, auch ein Reck und einen Barren. Ich schlug die Schaukel vor, sie wurde aber abgelehnt, meine Begleiterin hatte Angst vor dem Schwindligwerden. Ungefährlicher erschien ihr die Wippe. Ich ließ die Kleine auf dem einen Ende Platz nehmen und zog das andere Ende kräftig herunter, um mich darauf zu setzen. Die kleine Sechsjährige flog wie ein Ball in die Luft, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Sand, der stark mit nichtsandigen, sprich dreckigen Bestandteilen durchsetzt war. Sie schrie, ihr rosenrotes Kleid sah wirklich beklagenswert aus. Ich versuchte, sie zu trösten, aber sie schrie nur immer lauter, riß sich von mir los und lief zum Kaffeetisch zurück. Sie hatte das ganz richtige Gefühl, ihre einzige Rettung würde sein, mich als Verführer hinzustellen. In solchen Lagen treffen weibliche Wesen von Natur schon im frühesten Alter das Richtige.

Da doch alles verdorben war, machte ich noch eine Exkursion in jenen Teil des Gartens, wo die Aller an ihm entlang fließt. Man hat von dort einen prächtigen Blick auf das Stauwehr, über das die Aller hinabstürzt. Ich wußte, auch dieser Platz war mir streng verboten, sowohl der Wassernähe wegen als auch aus dem Vorwand, die feuchte Luft sei ungesund. (Auch Schaukeln war ungesund, auch Laufen, eigentlich jedes kindliche Spiel. Nur grade gehen und sich gemessen bewegen, das geziemte einem Kinde!)

Ich hatte noch nicht lange dagestanden und auf die stürzenden Wasser geschaut, da kam Mutter und legte mir die Hand auf die Schulter. »Ach, Junge!« sagte sie leise. »Was hast du nun wieder getan? Das süße Kleid von Aimée ist ganz verdorben!«

Ich sah wohl, daß Mutter gerötete Augen hatte. »Es tut mir leid, Mutter«, sagte ich darum. »Aber ich konnte wirklich nichts dafür. Die Wippe ging wie ein Blitz in die Luft, und sie hielt sich nicht fest.«

»Immer so unbedacht und wild, Hans!« meinte Mutter leise. Sie fuhr mir durchs Haar. »Na, nun hilft es nichts mehr. Komm zurück zum Kaffeetisch und bitte Frau von Habercron um Verzeihung.«

»Mutter«, sagte ich eifrig, »die haben dich doch auch schon gepiesackt, ich seh es doch! Warum piesacken die dich, wenn ich was ausgefressen habe?! Das sind überhaupt alles alte Scharteken hier. Die haben alle keine Ahnung davon, wie ein Junge manchmal in was reingerät und will es gar nicht. Weißt du was, Mutter, wir laufen einfach beide heimlich weg. Großmutter wird schon unsern Kaffee bezahlen.«

Mutter aber schüttelte nur den Kopf. »Nein, nein, Hans, das geht nicht. Wir würden Großmutter zu sehr betrüben. Und du darfst auch nie so ein häßliches Wort von den Damen gebrauchen. Sie sind alle sehr liebenswürdig und meinen es gut mit dir!«

»Sie meinen es gar nicht gut mit mir, Mutter!« rief ich. »Und das weißt du auch sehr gut. Sie wollen immer bloß zeigen, wie fein sie sind und wie gut alles früher war, und daß wir gar nichts wert sind. Ich kann sie alle nicht ausstehen, außer Großmutter natürlich!«

»O Gott, Junge!« rief Mutter ganz erschrocken aus. »Wie kommst du nur auf so was?! So was darfst du nicht einmal denken! Aber von mir hast du es nicht«, setzte sie nachdenklich hinzu, »und von Vater auch nicht. Ich möchte wohl wissen, woher du dieses Widerspenstige hast! Nein, komm«, brach sie ab. »Und vergiß nicht, um Verzeihung zu bitten! Tu mir die Liebe!«

Auf dem Rückweg kämpften Jungenstolz und Liebe zur Mutter in mir. Schließlich aber siegte die Liebe, trotzdem es mich hart ankam, meinen Stolz so vor einer ganzen Kaffeetafel zu demütigen. Unser Erscheinen wie meine ungeschickte Entschuldigung bei Frau von Habercron wurden mit frostigem Schweigen aufgenommen. Großmutter schnüffelte kummervoll und sagte, auf Zustimmung hoffend: »Er üst aber doch ein lüber Djunge!«

Aber niemand stimmte zu.

»Nun entschuldige dich noch bei Aimée, Hans!« sagte Mutter.

Ich gab dem kleinen verdreckten, rosenroten Äffchen die Pfote und sagte mein Verschen. Während ich dies tat, streckte mir der Fratz triumphierend die Zunge heraus. Die andern konnten es nicht sehen, weil ich vor ihr stand. Ich war völlig davon überzeugt, daß alle Weiber minderwertige Geschöpfe seien, irgendeiner Beachtung durch richtige Jungens nicht wert. (Mutter war natürlich ausgenommen. Aber Mutter war auch kein Weib. Mutter war Mutter!)

Auf dem Heimweg hatte Großmutter schon wieder ihren Kummer überwunden. »Ös war doch ein sehr dlüblicher Nachmittög, Louise!« sagte sie. »Und alle so dlübenswürdig, findest du nicht? – Und dein Djunge wör auch sör nett – er hat ös sücher nücht tun wollen, nücht wahr, mein dlüber Djunge?!«

»Doch!« sagte ich, plötzlich wieder wütend. »Am liebsten hätte ich das kleine Biest in die Aller geschmissen! Sie hat mir die Zunge herausgesteckt!«

Diesmal war Großmutter so ehrlich empört über mich, daß sie einen ganzen Tag nicht mit mir sprach. –

Als Großmutter uns zum letzten Male besuchte, war sie schon Mitte der Achtzig, und wir wohnten nun in Leipzig. Vater war Reichsgerichtsrat geworden. Großmutter hätte nicht Großmutter sein müssen, ohne das lebhafteste Verlangen zu empfinden, solcher Reichsgerichtssitzung einmal zuzuhören. Umsonst stellte ihr mein Vater vor, daß es dabei höchst langweilig zugehe: im allgemeinen träten weder Parteien noch Anwälte auf, alles sei vorher schon schriftlich erledigt, und die Richter säßen gewissermaßen ganz unter sich, prüften nur, ob das Urteil der Vorinstanz den gesetzlichen Bestimmungen entspreche.

Großmutter wußte es besser. Sie würde sich nicht langweilen, und außerdem müsse sie doch einmal ihren Schwiegersohn in der roten Robe eines Reichsgerichtsrates sehen!

Also gab Vater nach und nahm Großmutter eines Tages in das Reichsgericht mit. Im Vorsaal übergab er sie einem Diener mit der Weisung, die alte Dame sicher in den Zuhörerraum des sechsten Strafsenates zu bringen. Dort erwies sich, daß Großmutter wirklich die einzige Zuhörerin war. Sie richtete sich mit Schal und Pompadour gemütlich ein und musterte dabei neugierig den nicht sehr großen Sitzungssaal, der aber mit seiner dunklen Täfelung, den bunt verglasten Fenstern und vor allem mit seiner Atmosphäre aus Strenge, Leere und Widerhall einen tiefen Eindruck auf sie machte.

Grade ihr gegenüber, aber durch die ganze Länge des Saals getrennt, saßen an einem dunklen Tisch sieben alte Herren, und wirklich hatten sie weinrote Seidenroben an und trugen auf dem Kopf Samtbarette von einem dunkleren Rot. Alle waren sie schon weißbärtig und weißhaarig, fast alle trugen Brillen, und alle saßen eigentlich so da, als hätten sie seit Urzeiten schon dort gesessen und würden ewig so weitersitzen. Einige hatten den Kopf in eine Hand gestützt, andere spielten mit Bleistiften oder dem Pincenez. Einer kritzelte, einer hustete, und alle hatten viele Akten vor sich liegen, der aber den höchsten Aktenstoß hatte, brabbelte halblaut den andern was vor.

Großmutter schien das Reichsgericht mit seinen alten weißhaarigen Richtern eine höchst erfreuliche Einrichtung. Es schien ihr den ewigen Bestand des Reiches zu verbürgen, und in solchen leidenschaftslosen Händen mußte das Recht gut aufgehoben sein. Besonders erfreulich aber erschien ihr der Schwiegersohn, er wirkte eigentlich trotz seines weißen Spitz- und Schnurrbartes am jugendlichsten und frischsten, meinte sie, auch stand ihm die rote Robe am besten.

Daß Großmutter nichts von dem, was gesprochen wurde, verstand, störte sie gar nicht. Sie war allgemach in die tauben Jahre gekommen, daran hatte sie sich gewöhnt. Ihre Augen waren noch gut, dem Herrn sei Dank, und sie gaben ihr hier genug zu sehen. Großmutter hatte die Absicht, noch eine ganze Weile sitzen zu bleiben. Im Innern überlegte sie schon, ob es wohl zulässig sei, ihr Strickzeug aus dem Pompadour zu holen und ein bißchen weiter zu stricken. Es würde die Herren bestimmt nicht stören.

Unterdes hatte sich oben an dem Richtertisch die Situation ein wenig verändert. Der Brabbler war verstummt, die Herren hatten jeder ein paar Worte gesagt, etwas war aufgeschrieben worden. Und nun hatte der Herr in der Mitte des Tisches sich erhoben und hatte etwas in den Saal hinein gesagt, eigentlich nach Großmutter hin. Großmutter überlegte rasch, was das wohl zu bedeuten habe, vielleicht hatte der Schwiegersohn den Herren ihre Anwesenheit verraten, und sie war von ihnen begrüßt worden. Für alle Fälle machte Großmutter einen Knicks und setzte sich wieder.

Was aber der Vorsitzende des Senats in Wahrheit gesagt hatte, war dies: »Ich schließe die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit aus.«

Denn eine »Sache« war eben beendet, eine neue sollte daran kommen, irgendein Vergehen gegen Paragraph 175 oder Paragraph 176 des Strafgesetzbuches. Die Öffentlichkeit war auszuschließen, Großmutter war die Öffentlichkeit, Großmutter sollte gehen. Aber Großmutter, die nichts von allem verstanden hatte, blieb. Sie war sehr zufrieden, daß sie doch ins Reichsgericht gegangen war, sie lächelte ...

Die Herren Richter saßen abwartend da, ob die Alte dort unten sich endlich entschließen würde zu gehen. Es kam so selten vor, daß bei einer der üblichen Sitzungen ein Zuhörer anwesend war, daß nicht einmal ein Gerichtsdiener zur Hand war, meist blieben die Herren unter sich. Und mein guter Vater hatte plötzlich Hemmungen, seinen Kollegen zu gestehen, daß das alte Weiblein dort unten seine Schwiegermutter sei ...

Nun erhob sich der Senatsvorsitzende noch einmal und wiederholte mit fast drohender Stimme den Spruch von der auszuschließenden Öffentlichkeit. Meine Großmutter erhob sich gleichfalls, machte wiederum einen Knicks und blieb abwartend stehen, wie weit die Ovationen noch gehen sollten, denn auch der Richter stand noch immer. Der Vorsitzende, der annahm, die Alte werde jetzt abziehen, setzte sich wieder. A tempo setzte sich auch die Großmutter!

Jetzt begann der Richtertisch sich zu erregen. Die einen waren der Ansicht, die Alte müsse verrückt sein, die andern ...

Mein Vater, der eingesehen hatte, daß Versteckspielen hier nichts mehr half, hatte sich von hinten dem Vorsitzenden genähert und hatte ihm ins Ohr geflüstert, daß dies die Großmutter seines Hauses und daß sie dazu ein wenig taub sei ...

Der Vorsitzende, der auch nicht mehr gut hörte, besonders wenn ihm ins Ohr geflüstert wurde, rief entrüstet: »Sie haben ganz recht, Kollege. Sie könnte schon dreimal Großmutter sein und will sich hier an Unsittlichkeitsgeschichten ergötzen! Ich lasse die Alte 'rauswerfen, wenn sie nicht gleich geht!«

Und nochmals aufstehend verfügte er mit Donnerstimme die Räumung des Saals wegen Gefährdung der Sittlichkeit. Großmutter erschien dies nun doch etwas übertrieben, aber nochmals stand sie auf und knickste, wenn auch nur verwirrt.

Der Vorsitzende war nahe an einem Ausbruch, da hielt mein Vater ihm einen Zettel vor die Augen: »Meine Schwiegermutter! Stocktaub!«

Sofort glätteten sich die Züge des Zürnenden, der Harthörige freute sich, eine Stocktaube gefunden zu haben. Sofort wurde nach einem Diener geklingelt und die Großmutter in aller Freundlichkeit aus dem Saal geführt. Da es nahe an der Mittagszeit war, machte sich Großmutter keine weiteren Gedanken über diese Exmittierung. Sie kam sehr vergnügt zu Haus an und erzählte uns beim Mittagessen, wie interessant es im Reichsgericht gewesen sei, und wie höflich sich die Herren zu ihr benommen hätten.

Wie aber ward ihr, als mein heimgekehrter Vater ihr beim Abendessen den wahren Verlauf der Geschichte berichtete. Mein Vater hatte unterdes jede Hemmung überwunden und fand die Geschichte nur äußerst amüsant. Großmutter aber war völlig gebrochen. So war sie auf ihre alten Tage noch in den Geruch der Sittenlosigkeit geraten! Sieben, nein, sechs alte Herren hatten sie im Verdacht gehabt, »so eine« zu sein! Dreimal war sie aufgefordert, den Saal zu verlassen, und nun hatte sie die öffentliche Sittlichkeit gefährdet!

Vergeblich suchte ihr Vater darzustellen, daß alles längst aufgeklärt sei, daß niemand sie ernstlich in einem so ehrenrührigen Verdacht gehabt habe! Großmutter flog am ganzen Leibe und weinte. In der Nacht konnte sie nicht schlafen. Mit dem Frühesten am nächsten Morgen drang sie an Vaters Bett vor und verlangte die Adressen der sechs Herren: sie wollte sie sofort aufsuchen, sich entschuldigen und alles erklären.

Als ihr dies ernst verboten wurde, entschloß sie sich zu schreiben. Aber Vater verwarf auch das und bat sie, sich doch zu beruhigen. Großmutter aber blieb noch länger verstört. Auf der Straße schrak sie beim Anblick älterer weißbehaarter Herren zusammen und behauptete, der habe sie so »komisch« angesehen. Sicher sei er vom Reichsgericht. Wenn ein Kollege Vaters zu Besuch kam, schloß sie sich in ihrem Gastzimmerchen ein. Sie überwand nur schwer diesen Makel auf ihrem reinen Leben. Noch lange hörte sie nicht gerne vom Reichsgericht sprechen.

Vater bereute es tief, sie so verstört zu haben. »Es ist seltsam«, konnte er zu Mutter sagen, »wie gering in deiner Familie der Sinn für Humor entwickelt ist. In meiner Familie würde man über so was nur lachen!«

Mutter, die sehr gut wußte, wie peinlich dem Vater auch nur die kleinste »Blamage« war, zog es vor zu schweigen.


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