Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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Ein Küstenbummel

Salzwasser und Teergeruch. – Hohe Politik. – Das vernichtete Deutschland. – An Bord des »Maipó«. – Der magnetische Hahnenkampf. – Ihre Majestät, die Seekrankheit. – Iquique. – Die gestrenge Polizei. – Die Welt durch chinesische Brillen. – Abgebrannt im Seemannsheim. – Auf der »Avanti Savoya«. – Der Millionenkontrakt.– Romantische Arbeit. – Don Felipe, der patriotische Gastwirt. – Wieder in der Pampa. – Der Menschenjäger. – Junin. – Ankunft in Pisagua. – Blumen der Wüste. – Die Drahtseilbahn. – Gefährliche Arbeit. – Peruanische Reisepläne. – Beim deutschen Konsul. – Wieder Seemann. – Heimwärts!

Nun ist mein Garn schon beinahe zu Ende gesponnen. Durch Pampa und Puna bist du mir getreulich gefolgt, und nun wirst du mich wohl nicht im Stiche lassen wollen, wenn wir noch zuletzt ein kleines Ende über die blaue Südsee fahren.

Es war Mittag, als wir in Antofagasta ankamen. Die Hitze tanzte über den Dächern, und die Sonne brannte auf den Sand der Straßen. Eine Weile setzte ich mich auf die Bank auf der Plaza, wo ich so oft mit Michel Angelo gesessen hatte. Die salzige Seebrise rauschte in den Palmkronen, und vom Strande kam der Donner der Brandung wie ein Gruß aus der Ferne. Ein scharfer Teergeruch lag in der Luft. Noch nie hatte mir Antofagasta so gut gefallen wie heute.

Aber es war nicht mehr dasselbe Antofagasta, das wir vor einem Monat so sang- und klanglos verlassen hatten. Eine Atmosphäre nervöser Erwartung lag in der Luft. Irgend etwas war vorgefallen, von dem uns droben in der weltverlassenen Pampa nichts zu Ohren gekommen war. An allen Ecken standen eifrig gestikulierende Menschengruppen und studierten Extrablätter. Schmutzige Gassenbuben rannten wie besessen durch die Straßen und schwenkten die neueste Nummer des »Mercurio«.

»La guerra! La guerra! La guerra franco-alemana!« riefen sie mit gellender Stimme. In den Kaffeehäusern saßen die Studierten und Überstudierten – die »Intellektuellen« mit den langen Haaren und den schwarzen Fingernägeln, die überall auf der Erde die gewerbsmäßigen Deutschenfresser sind, und gossen einen Extrawermuth in den Kaffee und rieben sich schmunzelnd die Hände und belehrten einander mit wichtiger Miene:

Daß nämlich, wie die Dinge liegen,
Die Preußen nächstens Schläge kriegen.

Vor dem deutschen Konsulat standen deutsche Seeleute – Matrosen, Steuerleute und Kapitäne – bunt durcheinander. Und da keiner von diesen ein Wort Spanisch verstand, las ich ihnen die Weisheiten von »Reuter« und »Havas« aus der Zeitung vor. Ewig sehe ich vor mir das Bild eines alten Schiffskapitäns, der sich unter der Menge befand. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, denn Russ' und Franzos schienen ihm nicht im geringsten zu imponieren. Als er aber hörte, daß möglicherweise die Engländer auch mit von der Partie sein würden, da blitzte es auf in seinen blauen Augen.

»Wat! De Engelsmann? – Junge, Junge! darauf heb ik man blos all min Levtid ward!«

Und er gab mir mit seiner Bärentatze einen Klaps auf die Schulter, den ich acht Tage nachher noch spürte.

Aber es war wieder einmal ein falscher Alarm gewesen. Als am nächsten Tage die Zeitungen herauskamen, da schrien die Gassenbuben noch um eine Tonlage lauter, und die Leute gestikulierten womöglich noch mehr als tags zuvor. Der Friede war gesichert. Deutschland vernichtet. England, Frankreich und Rußland hatten die Marokkosache in die Hand genommen und Deutschland eine zerschmetternde Niederlage beigebracht. Die »Deutsche Bank« war bankerott, die Reichsbank hatte ihre Zahlungen eingestellt. Panik. Sturm auf die Sparkassen. Bleiches Entsetzen überall. Revolution! Auf der Hasenheide hatten 100 000 Menschen eine Demonstration veranstaltet, und Liebknecht – der »große Volkstribune« – hatte bei der Gelegenheit eine Rede gehalten, deren Text man Wort für Wort bis nach Chile telegraphiert hatte.

Und warum das alles? Warum dieser entsetzliche Zusammenbruch? Weil – die Russen ihre Guthaben aus den deutschen Banken zurückgezogen hatten!!

So stand es in der Zeitung an jenem gewitterschwülen Novembertag des Jahres 1911. Und wir haben's alle geglaubt. Ist es ein Wunder, wenn man monatelang mit »Reuter«- und »Havas«-Depeschen gefüttert wird, ohne von deutscher Seite ein Wörtchen der Erwiderung zu hören?

Und da kann ich es mir nicht versagen, gerade an dieser Stelle meiner Erinnerungen einen Sprung vom Wege zu tun, der mich geradeswegs hineinführen wird in das Gebiet der hohen Politik:

»Es mögen wohl Menschen und Meerungeheuer getötet werden,« sagt der Apostel Paulus im Römerbriefe, »aber die Zunge kann niemand töten, das unruhige Übel voll tödlichen Gifts.« Schlimmer als die Zungen ist jedoch die Feder, schlimmer als diese die Druckerschwärze, und am schlimmsten der tickende Fernschreiber, der über Länder und Meere hinweg alltäglich die Neuigkeiten verbreitet, die schreiende Gassenbuben in den Straßen ausbrüllen.

Sensation . . . Sensation . . .

Das Wort – zumal das gedruckte und vor allem das telegraphierte – ist in der modernen Zeit im Streite der Völker eine Waffe geworden, die wirksamer ist als alle Kanonen. Wir müssen heute feststellen, daß diese Waffe in den letzten zwanzig Jahren allein im Dienste derjenigen gestanden hat, die heute unsere Feinde sind, und die es verstanden haben, durch eine unablässige Schlammflut von Verleumdungen und Entstellungen den deutschen Namen bis hinein in die entferntesten Erdenwinkel zu vergiften.

Aber das ist wohl nur so eine – wie sagt man doch? – alldeutsch-schwerindustrielle Hetze?

Mag sein. Ein halbes Leben lang habe ich in fremden Ländern die Weltgeschichte durch die Brillen von Reuter und Havas betrachtet, und dabei nie etwas entdeckt, das für Deutschland günstig ausgesehen hätte. Was immer Unangenehmes in unserem Vaterlande passiert, das wird in aller Behaglichkeit breitgetreten, während das Gute und Schöne fein säuberlich totgeschwiegen wird. Hat – um nur ein Beispiel herauszugreifen – ein Zeppelin eine staunenerregende Rekordfahrt gemacht, so werden Reuter und Havas sich in Schweigen hüllen. Will es nun aber das Geschick, daß dieses selbe Luftschiff eines Tages irgendwo verbrennt, so kann man ruhig seinen Kopf darauf wetten, daß am anderen Morgen die Straßen von Antofagasta von dem Ereignis widerhallen.

Ein anderes Beispiel: Ein deutscher Gelehrter entdeckt die Röntgenstrahlen oder sonst etwas Schönes. Havas schweigt. Es werden mit Hilfe dieser Entdeckung aufsehenerregende Heilungen vorgenommen, und noch immer ist Havas stumm. Einige Monate später wird nun diese selbe Röntgenmethode auch im Pasteurinstitut in Paris angewandt, und sofort sind alle Überseekabel lebendig mit der großen Neuigkeit. »Le fameux savant, Monsieur Röntgen.« – Natürlich ein Vertreter der großen Nation!

So ging er durch viele Jahre, der »Krieg vor dem Kriege«, der den deutschen Namen in aller Herren Ländern vergiftete. Deutschland das Land der ideenlosen Unkultur, das Land der Knechtschaft, der Tyrannei, des sklavischen Gehorsams, das Land der Pikelhauben und des Militärstiefels, des morschen, verrotteten Bürokratismus und der nimmer endenden Sittlichkeitsskandale.

Aber hatten wir nicht auch unser Wolff'sches Telegraphenbüro? Gewiß. Es war eine ganz vortreffliche Einrichtung, wäre gewiß noch viel vortrefflicher gewesen, wenn sie nicht einen kleinen Schönheitsfehler gehabt hätte. Sein Hauptaktionär war nämlich – der Baron Reuter!

Weltgeschichtliche Ereignisse greifen mit langen Fingern in die Geschicke jedes einzelnen Menschen ein. Sogar den Strandläufern an der chilenischen Küste stören sie ihre bescheidenen Kreise.

Nun war es am Ende doch nichts mit der Reise nach Australien. – Aber wenigstens von Antofagasta wollten wir fortkommen, ehe die Kriegsfurie über die Meere fegte. So lösten wir denn bei der chilenischen Dampfschiffahrtsgesellschaft Fahrkarten nach dem weiter nördlich gelegenen Salpeterhafen Iquique.

Am frühen Morgen des nächsten Tages ging es schon in See. Es war ein herrlicher Morgen. Weiße Möwen schwebten über der blauen Flut, und der helle Sonnenschein glitzerte über dem Kielwasser des Dampfers. Bald war nur Himmel und Wasser und nur noch ganz in der Ferne, über dem Horizont die dunkle Linie der felsigen Küste zu sehen.

Das Schiff, mit dem wir fuhren, war der »Maipo«; ein alter Kasten. Das verschossene und verblichene Tauwerk schien aus Nelsons Zeiten zu stammen. Die Stachen klapperten, und die Blöcke kreischten, wenn der Wind durch die Takelage fuhr. Ein landwirtschaftlicher Duft kam aus dem Laderaum, wo stampfende Pferde und brüllende Rinder dicht beieinander standen. Auf dem Verdeck sah es aus wie an Bord eines Walfischfängers. Ein buntes Durcheinander von Kisten und Ballen und anderen Verpackungsgelegenheiten. Längs der Steuerbordreeling lagen Säcke mit Zwiebeln und Süßkartoffeln. Vor dem Fockmast standen nasse Heringsfässer neben sauberen Kisten, die nach würzigen Bananen und süßen Ananas dufteten. In anderen Kisten gackerten die Hühner, und vorwitzige Gänse streckten zischend ihre langen Hälse durch den Lattenverschlag. Eine große Eierkiste war aufgebrochen, und der geschäftstüchtige Steward verkaufte den Inhalt für drei Centavos das Stück. Oben auf der Back lagen unter dem Sonnensegel Männer, Frauen, Hunde und Katzen in buntem Durcheinander. Die Weiber thronten auf schmutzigen Kleiderbündeln, und ihre großen schwarzen Augen schauten ausdruckslos in die Weite; die Männer – richtige verwahrloste Rotos von der schlimmsten Sorte – kauerten auf dem Verdeck und spielten mit schmierigen Karten. Ein Caballero mit schmutzigem Stehkragen, knallrotem Poncho und funkelndem Diamantring, der wie ein kleiner Gott zwischen den anderen auf und ab promenierte, fragte mich herablassend nach dem Woher und Wohin.

»Nach Iquique? Und dann nach Peru? Qué diablo! Ja, Freund, sind Sie denn verrückt?«

Inzwischen hatte jemand zwischen den Hühnerkisten einen Hahnenkampf in Gang gesetzt, der die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Rotos unter dem Sonnensegel ließen das Kartenspiel im Stich. Die Weiber sprangen von ihren Kleiderbündeln auf, die rußigen Heizer kamen schweißtriefend aus dem Maschinenraum, und selbst der Kapitän, der eben die Sonne aufnehmen wollte, steckte den Sextanten in die Tasche und eilte zum Schauplatz, wo die beiden Kampfhähne mit gestreckten Hälsen und gesträubtem Gefieder einander gegenüberstanden. Jeder Zoll ein Raufbold.

»Gib's ihm, Kleiner! – Bravo, mein Herzkäfer!« riefen die Rotos ermunternd ihren Schützlingen zu.

Die Nickel- und Kupferstücke rollten über das Verdeck. Dann kamen die schmierigen Pesoscheine aus den Hosentaschen. Immer höher wurden die Wetten. Immer wilder flogen die Federn. –

Der Bolsero kam herbei und verbot den Unfug, worauf wieder jeder seinen Platz unter dem Sonnensegel aufsuchte. Dann begann sich allmählich die lange Dünung des offenen Meeres bemerkbar zu machen. Unter den Rotos fing an die Seekrankheit zu rumoren, und dann – du lieber Gott! – Und dann –

Auf den heißen Tag kam eine kühle, erfrischende Nacht. Eine echte Südseenacht mit all ihrem Zauber. Das südliche Kreuz stand hoch am Himmel. Der Passatwind rauschte im Tauwerk, und im Kielwasser des Dampfers glühte und funkelte das Meeresleuchten wie tausend Diamanten.

Am nächsten Abend kam eine hohe, steile Küste in Sicht, während das Meer ringsum immer seichter wurde. An einzelnen Stellen zogen sich die Brandungsriffe als lange, weiße Streifen durch die blaue Fläche, und da und dort ragten schwarze Klippen aus dem Wasser, auf denen stolze Pinguine, lärmende Möwen und zierliche Kaptauben nisteten. Ein Motorboot kam vom Lande und brachte einen dunkelhäutigen Lotsen an Bord, der uns durch das Gewirr von Riffen und Klippen in eine weite Bai hineinsteuerte. Wir fuhren vorbei an den rußigen Dampfern und den stolzen Segelschiffen, die auf der Reede lagen, bis wir endlich kaum hundert Faden von dem Lande vor Anker gingen. Vor uns lag die Küste so kalt und tot wie drunten in Antofagasta. Auf dem vorgelagerten Flachland breitete sich eine Stadt mit ihren weißen Hauswänden und den flachen Wellblechdächern, von denen der Sonnenschein zurückprallte. Das war Iquique. (Die Engländer sagen: Eikweikwe.)

Wir hatten kaum Anker geworfen, als die »Lancheros« unseren Dampfer überfielen wie ein Heuschreckenschwarm. Die Lancheros sind der Schrecken der Reisenden an der chilenischen Küste. Diese meist baumlangen Rotos stürzen sich wie die Furien auf ihre Opfer und bestehen darauf, sie mit ihrem Boot an Land zu bringen. Meist verlangen sie zunächst zehn Pesos für die Überfahrt, aber es genügt ein entrüstetes »pero hombre . . .«, um ihre Ansprüche auf die Hälfte herunterzuschrauben. Dann wird noch eine Weile gehandelt mit einem großen Aufwand von ciceronischer Beredsamkeit und voluminösen Gesten, bis man endlich für fünfzig Centavos an Land gefahren wird.

Da waren wir endlich in Iquique!

Gleich an der Landungsbrücke empfing uns ein uralter Polizeibeamter in schäbiger Uniform, der uns pflichtschuldig nach dem »Woher« und »Wohin« fragte.

»Wohin?« wandte er sich an mich.

»Nach Iquique.«

»Bueno. – Und Ihre Kompagneros?«

»Die gehen auch nach Iquique.«

»Bueno

Nach solch strengem Verhör durften wir ungehindert unseres Weges ziehen.

Iquique zeigt sich nicht viel anders als Antofagasta. Niedrige Häuser, flache Dächer. Viel Holz und Wellblech. Sand und Sonne. Längs der Hafenfront stand eine Kneipe neben der anderen. An den Straßenecken lungerten die Strandläufer. Ein Heuerbas, der uns für gute Prise halten mochte, kam auf uns zu. »Hallo, boys,« sagte er mit öliger Freundlichkeit, aber ich schaute ihn gar nicht an. Ich dachte an den alten Thomas Murray in der Batteriestraße in San Franzisko. – Ja, und an die drei Jahre auf dem Walfischfänger, die mich diese Bekanntschaft gekostet hatte!

Draußen in der Vorstadt Iquiques, in einem der zahlreichen chinesischen Gasthäuser, fanden wir Unterkunft. Es war ein Gasthaus minderer Güte, mit knarrendem, sägemehlbestreutem Fußboden und wachstuchbezogenen Tischen. Aber es war sauber wie alle chinesischen Gasthäuser. Und vor allem: es war billig. Hier, in dieser Herberge, schien der chinesische Klub von Iquique zu tagen. Allabendlich, wenn die anderen Gäste schon fast alle abgespeist waren, versammelten sich die Söhne des Himmels der ganzen Nachbarschaft und tranken Tee und aßen chinesische Nudeln nach ihrer Sitte mit kleinen Stäbchen, und es war ein Geschnatter, daß man kaum mehr sein eigenes Wort verstand. Da sie aus verschiedenen Gegenden Chinas mit verschiedenen Sprachen stammten, bedienten sie sich eines Tuttifrutti aus Spanisch, Chinesisch und Pidgin-Englisch als Lingua franca. Es war sehr interessant, ihnen zuzuhören. Aus ihren wirren Reden konnte man mehr als aus dem dickleibigsten Kompendium über China und die Chinesen lernen. Meist schimpften sie auf die Japaner. Aber nicht alle. Da war einer, der schon seit zehn Jahren bei einem Landsmann in einer Dampfwäscherei beschäftigt war. Er war ein armer Teufel, und meist hatte er kein Geld, so daß die anderen seinen Tee und seine Nudeln bezahlen mußten. Aber reden konnte er wie ein Buch. Giftige Reden an die chinesische Nation. Die Gringos – so sagte er – die haben ihre Rolle schon beinahe ausgespielt, und mit den Chilenos ginge es auch schon bergab. Dann kämen die gelben Herrschaften an die Reihe. Die Japaner, die machten sich jetzt schon gemächlich breit in Chile. Und hinter ihnen stünden wie eine Wetterwand die Massen der Chinesen. Nur abwarten! Noch ein paar Jahre.

Wenn er diese giftigen Worte hervorsprudelte hinter der unbeweglichen Maske seines Mongolengesichtes, in dem nur die kleinen Schlitzaugen fanatisch flackerten, da erschien er mir jedesmal wie die Fleisch und Bein gewordene gelbe Gefahr. –

Acht Tage lang lauschte ich so allabendlich auf das Geschnatter der Söhne des Himmels; acht Tage lang lief ich unruhig umher in den heißen Straßen der fremden Stadt. Was wollte ich nur in Iquique? Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich es selbst gewußt hätte. Noch nie war ich so unruhig gewesen. Die nimmer endende Brandung des blauen Meeres fing an, mir im Kopfe zu rumoren. Die großen Segelschiffe auf der Reede hatten mir es angetan. Jämmerlich, fade und erbärmlich erschien mir so ein Landrattendasein, wenn ich an die Zeiten dachte, da ich noch in lauen Nächten auf der Luke gelegen, wenn der Passatwind die Segel füllte und der helle Mondschein über dem Kielwasser glitzerte. Das alles konnte noch einmal zur Wahrheit werden, wenn – ja, wenn diese verwünschten Kasten nicht samt und sonders nach Europa bestimmt wären! Und ich wollte, nein ich mußte doch unbedingt nach Australien gehen! Damals, an der Santa Febahn, als ich Abschied nahm von den deutschen Kunden, die nach dem Gran Chaco machten – es war wohl eine Ewigkeit seither vergangen! – hatte sich die Idee zuerst im Kopfe festgesetzt; von da an war sie mit mir gegangen durch die Urwälder und Zuckerrohrfelder und über die Berge Boliviens, bis hinunter zur Küste: Australien – Australien. – Das war die fixe Idee, die mich monatelang besessen hielt. So war es lange immer weiter gegangen von Ort zu Ort, von Land zu Land, und so hatte es mir auch gefallen. Aber nun, da man endlich, endlich am blauen Meere stand, wo die stolzen Schiffe unternehmungslustig auf den unruhigen Wellen schaukelten und alles ringsum von fernen Ländern und von großen Reisen erzählte, da lag man wochen- und monatelang tatenlos am Strande wie ein zerlumpter Strandläufer. Es war, mit einem Wort, zum verzweifeln.

Mit der Reise von Antofagasta nach Iquique war ich aus dem Regen in die Traufe gekommen. Hier wie dort saßen die Strandläufer auf dem Geländer der Landungsbrücke wie die Raben auf dem Zaungitter, und warteten auf Arbeit und beteten im Geheimen, daß sie sie nicht finden würden. Nur war hier ihre Zahl noch größer und von Arbeitsgelegenheit war weit und breit überhaupt nichts zu sehen. Ein dicker Irländer mit einem roten Bart, so lang wie der des Rübezahl, versicherte mir auf Ehrenwort, daß er vor Zeiten als glattrasierter Gentleman von Bord eines norwegischen Seglers weggelaufen sei und seither keinen Streich Arbeit getan hätte, obwohl er täglich seine zehn Stunden auf der Landungsbrücke gewissenhaft absitze und darauf warte. Freilich, nach Europa könne man Schiffe finden, soviel man wolle. »Aber nach Europa! Ha! Ha! da müßte ich erst meinen Verstand ganz versaufen, ehe ich so etwas tue!« Das war die allgemeine Ansicht. Iquique sei das Fegefeuer, aber Europa die Hölle. Und doch: Was blieb am Ende anderes übrig? Die Tage gingen vorüber ohne Ermatten; die Pesos wurden immer weniger, und eines Tages fand ich mich auf dem Pflaster von Iquique ohne einen Centavo in der Tasche; ein Strandläufer wie alle anderen. Das war nun keineswegs verwunderlich. Seit der Landung in Buenos Aires war der Geldmangel chronisch gewesen, aber wenn es auch oftmals knapp und zuweilen sehr knapp hergegangen war, so hatte es doch immer noch ausgereicht für den notwendigsten Unterhalt. Nun aber – ja, nun war ich am Ende meines Lateins, und es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als nach einem Freiquartier Umschau zu halten, wie die anderen Strandläufer. Man kann auch ohne Geld durch die Welt kommen, wenn man sich auskennt. –

In einer schmutzigen, abgelegenen Straße stand ein graues, wenig appetitlich aussehendes Haus, an dem mit großen Buchstaben zu lesen stand:

»British Sailors Home

Nur mit schwerem Herzen konnte ich mich entschließen, dort mein Glück zu versuchen. Immer habe ich einen Widerwillen gehabt gegen Seemannsheime, zumal gegen die britischen. Der Brite ist maßlos stolz auf seine »blue jackets«. Er feiert sie in seinen Festreden, er preist sie in den Geschichtsbüchern, er besingt sie in seinen Liedern, aber in der rauhen Wirklichkeit läßt er sie verkommen. Die Hungerrationen von Hartbrot und Salzfleisch, die zudem noch zumeist in verdorbenem Zustand den Matrosen auf englischen Schiffen verabreicht werden, sind eine Schmach für eine Nation, die ihren Seeleuten ihr ganzes Leben verdankt. Die Bezahlung ist erbärmlicher, als die des geringsten Arbeiters an Land – und nun gar erst die Seemannsheime! Oft schon habe ich mich gefragt, was die wohltätigen Leute, die derartige Einrichtungen in die Welt setzen, sich eigentlich unter einem Seemann vorstellen. Zumeist sehen sie wohl in ihm ein höchst hilfloses und bemitleidenswertes Geschöpf, ein großes, dummes Kind, das um jeden Preis vor den Tücken der bösen Menschen bewahrt werden muß. Kaum ist er der Vormundschaft des Schiffes entlaufen, so will man ihn schon wieder bemuttern und entmündigen für die paar, ach, so seltenen Tage der Freiheit, die er genießen darf in seinem harten Leben. Wenn ich so ein Seemannsheim einzurichten hätte, so würde es jedenfalls erheblich abweichen von dem gewohnten Muster. Ich würde die Seeleute behandeln als das was sie sind: Nämlich als Männer, und zwar ganze Männer, die täglich ihr Leben einsetzen müssen im Kampf ums Dasein. Anstatt der frommen Traktätchen, die unbeachtet auf den Tischen herumliegen und eine muffige Atmosphäre erzwungener Frömmigkeit verbreiten, würde ich eine Bibliothek einrichten mit Büchern, die von Schiffbrüchen und Löwenjagden, von Fahrten und Abenteuern und von den Taten großer Männer nur so trieften. Ich würde – aber ich werde wohl nie in die Versuchung kommen, so etwas in die Wirklichkeit umzusetzen. –

Es war also ein Seemannsheim von der gewohnten Sorte. Durch den kahlen Hausgang, der mit Bildern von dem verlorenen Sohn sinnreich und zweckentsprechend geziert war, gelangte man in einen großen, düsteren Raum mit einem endlos langen Tisch, auf dem fromme Traktate und dicke Erbauungsbücher unordentlich herumlagen. Zwei Schiffsjungen spielten Mühle, und ein alter Strandläufer war mit der Pfeife im Mund schon halb eingeschlafen über einem dicken, mit Eselohren reich geschmückten Zeitschriftenband aus dem vorigen Jahrhundert. Fromme Sprüche an den Wänden ermahnten den Sünder zur Selbstbesinnung.

Der Hausvater – ein unangenehm aussehender Mensch mit einem Gesicht wie ein Preiskämpfer – schien keineswegs erfreut über den Zuwachs seiner Gemeinde. Mürrisch nahm er den Zettel, den ich vom englischen Konsulat mitgebracht hatte, und während er die Personalien in das große Buch eintrug, murmelte er allerlei höchst unheilige Respektswidrigkeiten vor sich hin. »Noch so ein Londoner Tagedieb! Die Sorte ist nicht umzubringen. Wenn es so weitergeht, werden wir bald ganz White Chapel hier haben.«

Acht Tage habe ich in diesem Seemannsheim zugebracht; acht lange und langweilige Tage. Sie waren so gut wie acht Tage im Gefängnis. Tagsüber saßen wir in dem großen Saal an dem langen Tisch und maulten und räsonierten über die Schlechtigkeit der Welt und die der Seemannsheime insbesondere. Gleich in der ersten Stunde nahmen mich ein paar im Hausgang umherlungernde Habituees ins Gebet.

»Was? Spanisch kannst du sprechen?« redete mich ein rothaariger Irländer an, als er hörte, wie ich dem vorübergehenden Hausdiener etwas in seiner Muttersprache zurief. »Spa–nisch! Wirkliches Spanisch! Und da treibst du dich hier herum in dieser Räuberhöhle, wo doch das Geld für dich auf der Straße herumliegt! Mensch, wenn ich Spanisch könnte! In einer Stunde hätte ich die allerschönste Stelle.«

»Als was denn?«

»Natürlich Policeman!«

»Wenn ich aber doch gar kein Chilene bin.«

»Als ob's darauf ankäme! Die Hauptsache ist, daß man Spanisch kann; alles andere findet sich von selbst. Goddam, auf der ganzen Welt gibt es kein so schönes Geschäft, wie Schutzmann in Iquique! Von morgens bis abends kannst du drunten an der Landungsbrücke sitzen und dich von der Sonne bescheinen lassen und wirst noch obendrein dafür bezahlt. Und nachts gibt's Freibier in den Wirtschaften und eine Tasche voll Pesos, wenn du ein bißchen verstehst, im rechten Moment ein Auge zuzudrücken.«

Die anderen, die dabei standen, stimmten alle begeistert bei. Schutzmann – Schutzmann in Iquique! Das sei das einzig wahre Feld der Betätigung für einen smarten und unternehmungslustigen, jungen Mann. Im Augenblick hatte ich selbst Lust, mich auf diesem Gebiet zu versuchen. So vieles war ich schon gewesen in meinem Leben; warum nicht auch einmal Schutzmann? Bei nochmaliger Überlegung kam ich indes zu dem Schluß, daß das unter den gegebenen Verhältnissen doch wohl nicht der richtige Beruf für mich sei. Ich bin dieser Ansicht noch heute, obwohl ich mich manchmal in schwachen Stunden der Zweifel nicht erwehren kann, ob ich nicht damals doch die Gelegenheit meines Lebens verpaßt hätte. –

Das Schlimmste in dieser Anstalt war die Hausordnung. Das Trinken, das Rauchen, das Spielen, das laute Sprechen, ja selbst das Fluchen waren verboten. Desto besser wurde für unser Seelenheil gesorgt. Abends, Punkt neun Uhr, war jedesmal eine endlos lange Andachtsstunde, die wir alle mit Geduld und Ergebung hinnahmen als ein unabwendbares Geschick, das man über sich ergehen lassen muß, weil man arm ist. Nach acht Tagen kannte ich schon fast alle Gesangbuchverse auswendig, denn wir mußten uns an jedem Abend von Anfang bis zu Ende des kleinen Büchleins durchsingen.

Happy day, happy day,
When Jesus washed my sins away –.

Das mußten wir immer zweimal singen, während der Hausvater am Harmonium seine tiefe Baßstimme zum höchsten Diskant hinaufschraubte: »ha – a – a – ppy day –.«

Das Lied vom glücklichen Tag! Dabei war uns keineswegs so gar fröhlich zumute, denn während wir hier saßen und sangen, konnte jeden Augenblick ein bärbeißiger Segelschiffskapitän hereingeschneit kommen und uns allesamt zum britischen Konsul hinüberführen, wo wir für eine Reise um Kap Horn nach Europa anmustern mußten, und davor fürchteten wir uns alle wie vor dem höllischen Feuer. Keinen Augenblick war man sicher vor dieser Gefahr, denn draußen auf der Reede lagen viele Schiffe klar zur Abreise, und die Kapitäne schauten sich die Augen aus nach Seeleuten. Wenn es dem Hausmeister einfiel, einen von uns zu empfehlen, so half keine Widerrede, denn man lebte hier sozusagen auf Kosten der kommenden Vorschußnote. Nach acht Tagen wurde mir die Luft zu dick in dieser Umgebung und ich fand es geraten, mich nach einem anderen Unterkommen umzusehen.

Tief drinnen, im dunkelsten Iquique, wo rote Laternen ein zittriges Licht über die schmutzigen Straßen werfen und die Vergnügungssucht betrunkener Matrosen die Nacht zum Tage macht, stand eine Spelunke, die noch um einen Grad schmutziger war wie die andern, und wo als Wirtin eine schlampige Frauensperson ihres Amtes waltete, die von den Matrosen die »four-eyed woman«, von den Deutschen insbesondere die »Olle mit die vier Laterns« genannt wurde wegen ihrer großen Hornbrille, die in dieser Welt der guten Augen unliebsames Aufsehen erregte. Böse Gesellschaft führte mich zu der Bekanntschaft dieser vieräugigen Dame. Sie gefiel mir gar nicht, denn sie hatte ein Gesicht wie ein Habicht und lange, knochige Finger, die schon ganz hart geworden waren vom Pesoszählen. Aber was sie zu mir sagte, das gefiel mir sehr. Eine Hand wäscht die andere, sagte sie zu mir; wir beide sollten Kabrusche machen für einige Tage. Sie wollte mir eine Stelle verschaffen bei der Auftakelung eines Segelschiffs, das durch den letzten Cyklon arg zugerichtet worden war, und ich sollte dafür an jedem Samstag abend, wenn es Landurlaub gab, die gesamte Mannschaft nach ihrer Spelunke lotsen. Keinen Augenblick besann ich mich, auf diesen Vorschlag einzugehen. Gewiß: sie war der schlimmste Landhaifisch in ganz Iquique; sie war eine Medusa, die die Unerfahrenheit ehrlicher Arbeitsleute ausbeutete; sie verzapfte einen Whisky, der die Menschen zu Tieren machte; sie betrog die Matrosen um ihr schönes Geld; sie pflanzte Batterien von leeren Flaschen vor den betrunkenen Gästen auf und ließ sie dann dafür bezahlen; es gab auf dieser bösen Welt keinen noch so schmutzigen Trick eines ausgekochten Wasserfronthalunken, den sie nicht kannte, – aber das hielt mich alles nicht ab von dem Kompagniegeschäft. Es gibt auf dieser Erde verschiedene Arten von Moral. Die eine ist für die Millionäre, die andere für die braven Bürgersleute, die dritte für die Armen – ja, und dann gibt es wohl auch noch eine, die nur für die Vagabunden und die Strandläufer da ist. –

Mit einem Zettel der Vieräugigen fuhr ich also hinaus nach der weit draußen auf der Reede liegenden »Avanti Savoya«. Das Schiff fuhr die italienische Flagge. Der Kapitän war ein Schottländer, der Steuermann ein Yankee, der Koch ein Franzose und die Mannschaft aus aller Herren Ländern. Die Arbeit war mühsam und gefährlich. Die Stachen, die die Masten und Stengen an ihrem Platze halten sollten, waren größtenteils zerfetzt, und so schwebte man in dem luftigen Gebäude der Takelage wie auf einer venetianischen Schaukel. »Well,« hatte der Steuermann gesagt, als wir uns am Montag an die Arbeit begaben, »'s ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Bei der starken Schlagseite des Schiffes muß man immer ins Wasser fallen, wenn dort oben etwas losreißt. Da hat man immer noch eine Chance, während man bei einer Landung an Deck unbedingt zum Teufel gehen müßte.« Mit dieser tröstlichen Aussicht machten wir uns an die Arbeit und wagten jeden Augenblick unser Leben für lumpige drei Pesos den Tag.

Die meisten Leute liefen gleich wieder am ersten Tage weg, weil ihnen die Risikoprämie doch nicht hoch genug erschien, aber ich – ich dachte nicht daran. Nur nicht gleich wieder auf der Straße liegen! Nur nicht jetzt schon wieder mit den Strandläufern an der Landungsbrücke hocken und in den Tag hineinträumen! Wenn du dich weiter mit denen abgibst – so sagte ich mir – so wird es bergab, bergab mit dir gehen, und eines Tages wirst du ein ebenso verkommenes Wesen sein, wie vielleicht der Bunker-Bill in Antofagasta. Mochte es nun kommen wie es wollte, hier bleiben wollte ich und nicht von dort gehen, bis ich das Fahrgeld zusammen hatte zur Reise nach Callao, von wo, wie man mir erzählte, täglich Schiffe nach Australien fuhren. Denn Australien war mit jedem Tage mehr noch immer das Land meiner Sehnsucht. Ich wollte – nein, ich mußte unbedingt nach Australien fahren!

Ganz gewiß wäre es auch bei diesem löblichen Vorsatz geblieben, wenn nicht eines Tages der Koch, der an Land gewesen war, mir einen Zettel meines Exmalergehilfen Peter gebracht hätte, auf dem von einem Millionenkontrakt geschrieben stand, wobei sich im Handumdrehen ein Vermögen verdienen ließ – ein Vermögen!

Das war natürlich eine Gelegenheit, die wir uns nicht entgehen lassen konnten.

Don Manuel hieß der Mann, der uns den großen Auftrag übertragen sollte. Wir trafen ihn in einem Kohlenhof, wo saubere Bretterstöße neben schwarzen Kohlenhaufen standen. Im Hintergrund des Hofes waren ein paar Arbeiter damit beschäftigt, etwas Ordnung zu bringen in ein Gewirr von rostigem Eisen, zerfetzten Tauen und alten, ausrangierten Blöcken und Taljen. Don Manuel stand dabei und beaufsichtigte die Arbeit. Er war ein stattlicher, wohlgekleideter Herr und würdigte uns kaum eines Blickes. Nachdem die Leute mit der Arbeit fertig waren, wandte er sich schroff an uns. »Kommen Sie mit!« sagte er kurz. Wir folgten ihm zusammen mit einem kleinen Jungen, der Hämmer, Meißel und Brecheisen mit sich schleppte. Ich war nun wirklich gespannt, was aus der Sache werden würde. Es war schon dunkel. Der kühle Abendwind rumorte in den Baumkronen auf der Plaza. Durch eine lange, düstere Straße, die nur da und dort von einer trüben Laterne erleuchtet war, kamen wir bis zum Strand. Es war die Zeit der Ebbe. Das felsige Ufer lag weithin bloß, und ein modriger Duft von Tang und Seegras entstieg den zurückgebliebenen Wassertümpeln. Weit draußen brach sich die silberweiße Brandung an den Klippen, und dahinter lag das endlose Meer wie ein dicker Tintenstrich. Es war eine helle, klare Nacht. Die Sterne standen sonderbar feurig am Himmel wie funkelnde Diamanten auf einem samtenen Kleide. »Juanito, mach die Laterne fertig,« sagte Don Manuel zu dem kleinen Jungen, der mit uns gekommen war, »aber ein bißchen fix. Wir haben nur noch zwei Stunden, bis die Flut zurückkommt.« Der Junge zündete die Laterne an und ging voraus, um uns den Weg zu zeigen. Es ging über scharfkantige Klippen voll von schlüpfrigem Seegras und über spröde Muscheln, an denen die Leuchtkäfer hingen. Juanitos Laterne pendelte zwischen den hellen Wassertümpeln. Plötzlich standen wir vor einem rostigen, halbzerfallenen Wrack, dessen beide auseinandergebrochene Teile fest zwischen den Klippen eingebettet lagen. Durch einen klaffenden Spalt gelangten wir in das Innere des Wracks, wo es einen mit einer Gänsehaut überlaufen konnte. Das Wasser stand mehrere Fuß hoch im Raume. Die Luft war dumpf und muffig wie in einem Keller. Draußen polterte die Brandung gegen die Bordwand.

»Aufgepaßt!« rief der Chilene.

Mit einem schweren Hammer klopfte er gegen einen der eisernen Querbalken, worauf pfannkuchengroße Roststücke lossprangen und plätschernd ins Wasser fielen.

»Schade um das schöne Eisen!« meinte der Chilene, »das liegt nun schon seit zehn Jahren hier, und kein Mensch kümmert sich darum.«

Dann setzte Juanito die Laterne hin, Don Manuel zog den Rock aus und machte sich daran, uns über unsere Arbeit aufzuklären.

»Die Sache ist furchtbar einfach,« sagte er, »hier an Bord und drüben auf dem Ufer stellen wir je eine Handwinde auf und verbinden die beiden mit einem Kabel, an das wir die an Land zu befördernden Eisenstücke schlingen. Haben Sie verstanden?«

»Ja,« sagte ich.

»Bueno,« fuhr der andere fort, »ich zahle Ihnen drei Pesos für den Tag und außerdem einen Peso für jede an Land beförderte Tonne. – Werden Sie zwanzig Tonnen jeden Tag bewältigen können?«

Ob wir das konnten? Zwanzig Tonnen! Dreißig. Nein, vierzig Tonnen sollen täglich über das Kabel wandern! Vierzig Tonnen – vierzig Pesos! Macht den Monat 1200! So viele Pesos hatte noch keiner von uns beiden zusammen gesehen.

Mit dem Feuereifer der neuen Besen machten wir uns am nächsten Tage an die Arbeit. Im Nu war die Kabelbahn hergerichtet und ein paar Chilenos zum Betrieb verpflichtet. Die Eisenplatten begannen sich am Ufer zu häufen. Am Abend kam Don Manuel selbst, um sich vom Fortgang der Arbeit zu überzeugen.

»Zehn Tonnen werden's wohl sein?« wandte er sich an einige nicht minder elegante Herren, die mit ihm gekommen waren. Die aber lachten.

»Qué esperanza! Wo denken Sie hin, Don Manuel! Höchstens drei!«

Es waren wirklich nur drei Tonnen. Am nächsten Tag waren es vier. Dann wieder drei usw. So ging es eine ganze Woche lang. Dann gaben wir die Sache auf als eine verfehlte Spekulation. Der Traum der Millionen war ausgeträumt. –

Doch da habe ich ganz unversehens einen waschechten Caballero mit Lackschuhen und einem Stehkragen in mein Garn versponnen, wo ich doch sonst nur von Vagabunden, Tagedieben und anderem Gelichter zu erzählen weiß. – Wie sagt doch der Irländer? »Shor' I know, it's the likes of me, that knows the likes of you.« Es ist meine Sorte, die deine kennt. So erzähle denn, du geschwätzige Feder, nun auch noch ein wenig von Don Felipe und seinen Gästen.

Don Felipe war ein Italiener und liebte seinen Mammon als ein echter Sohn der apenninischen Halbinsel. Seit Menschengedenken unterhielt er ein »debito de vino« an einer Ecke der Plaza von Iquique, und niemand konnte sich erinnern, daß er je einen durstigen Gast mit einem einzigen Gläschen Caña traktiert hätte. Aber dann brach drüben, über dem großen Wasser, der Tripoliskrieg aus, und der war Don Felipes Verderben. Nun war seine Spelunke von morgens bis abends mit Gästen gefüllt, und keiner bezahlte. Es hatte sich schnell herumgesprochen, daß der Tripoliskrieg die schwache Stelle des Don Felipe war. Hier das Schema, nach dem man dabei zu Werke gehen mußte:

»Guten Tag, Don Felipe.«

»Guten Tag, Caballeros.«

»Geben Sie uns eine Flasche Wein. Aber nichts von dem mendozinischen Gewächs. Echter Xerez zu drei Pesos die Flasche.«

»Bueno

»Und wie steht's mit dem Krieg, Don Felipe?«

»Bueno! bueno! bonissimo!«

»Aber dieser Enver Bei –«

»Pah!«

»Und die Araber –«

»Die fressen wir zum Frühstück.«

»Aber es dauert lange, Don Felipe.«

»Ma, como – como – como vogliamo! Diese Hunde von Arabern gehen um einen ehrlichen Kampf herum wie die Katze um den heißen Brei. Und wenn sie unsere braven Bergsaglieri zu Gesicht bekommen, so huschen sie über den Sand weg wie die Teufel. – Sagen Sie, Caballero, ist das noch eine Art zu kämpfen für Christenmenschen?«

»Ah, Don Felipe! Wenn nun erst die ganze türkische Armee nach Tripolis käme!«

»Ma como! Das wäre uns gerade recht. Die Italiener haben auch ein Herz! Unsere Alpini und Bersaglieri sind die besten Soldaten der Welt. Garibaldi und Vittorio Emanuele haben mehr Siege erfochten als alle anderen Feldherren zusammengenommen. Magenta, Solserino, Montebello –«

»Ja, und Novarra, Custozza, Lissa. Und wie war's denn mit dem General Baratieri in Abessinien?«

»Basta! Basta, carámba! Machen Sie, daß Sie herauskommen aus meinem Lokal!«

»Aber ich wollte doch noch bezahlen, Don Felipe!«

»Behalten Sie gefälligst Ihre paar Batzen! Von Ihrer Sorte nehme ich keinen Centavo!«

Solche und ähnliche Szenen wiederholten sich alle Tage in der Spelunke, und Don Felipe hat manchen Peso in die Verlustliste des tripolitanischen Krieges geschrieben.

Unter dieser lärmenden Schar der Gäste in Don Felipes »debito de vino« machte ich eines Tages die Bekanntschaft eines gar sonderbaren Menschen. Er sprach Spanisch vom reinsten Akzent; er konnte fluchen wie ein Roto aus der Pampa und sah doch aus wie ein richtiger deutscher Handwerksbursche. Er war eben dabei, die ganze Schale seines Spottes über die Landsleute des armen Don Felipe auszugießen, als er meiner ansichtig wurde.

»Kenn' Mathilde!« rief er nach Kundenart, indem er dreimal auf den Tisch schlug, daß die Gläser tanzten, »ja, hab' dich mal nicht so! Ich kenne einen deutschen Kunden, wenn ich ihn sehe!«

Dann ließ er den armen Don Felipe links liegen, setzte sich auf eines der zahlreich umherstehenden Weinfässer und erzählte mir allerlei aus seinem buntbewegten Leben. Er war schon durch ganz Deutschland, Österreich und Italien gewandert. Er hatte im Orient »getippelt« bis hinunter nach Jerusalem. In Kairo hatte er den leibhaftigen angloindischen Vizekönig auf der Straße angefochten, und in Bombay war er Kammerdiener gewesen bei einem diamantensprühenden Radjah. Dann hatte er sich bei einer Gesellschaft von Tausendkünstlern als Schnellmaler, Gedankenleser und Bauchredner produziert, bis das Schicksal ihn eines Tages an die chilenische Küste verschlagen hatte. Hier gefiel es ihm ausgezeichnet. Chile – das war das Land nach seinem Geschmack. Da seien die Leute so gar nicht peinlich. Wer es fertig bringe, ein Eisen halbwegs gerade zu feilen, der arbeite als Mechaniker, und wer nur das kleine Einmaleins herunterleiern könne, der gehe gleich hinaus in die Pampa und schimpfe sich Ingenieur. Überall finde sich leichte und gutbezahlte Arbeit für den, der nicht auf den Kopf und vor allem nicht auf den Mund gefallen sei. In einem Atemzug nannte er mir die Namen von einem Dutzend Salpeterwerke im Hinterland von Iquique, wo man angeblich mit Sehnsucht auf jeden Strandläufer wartete, um ihm eine glänzend bezahlte Stelle anzubieten. Ich war nicht Grünhorn genug, um sein ganzes Gerede für bare Münze zu nehmen, aber selbst bei einem Abzug von neunzig von Hundert blieb noch genug Verlockendes übrig. Da ich aber ohnehin in Iquique nichts mehr zu tun fand und alle Schiffe im Hafen nach Europa verfrachtet waren, machte ich mich von neuem auf die Reise nach dem Innern.

Da war ich nun wieder in der Pampa. – Was ich hier wollte? Ich fing an, darüber nachzudenken, während das Auge unstet umherirrte über das harte, tote Land in seinem nüchternen Kleide von Gelb und Grau. In den Talmulden lagen tiefe Schatten, während das Licht der untergehenden Sonne die Berggipfel vergoldete. An einem Seitengeleise stand eine Bretterhütte, vor der ein bissiger Hund in die Nacht hineinknurrte. Etwas abseits stand auf hohen Pfählen ein Tank für die Lokomotive, von dem dicke, salpetrige Wassertropfen melancholisch herunterfielen. In einer tiefen Mulde neben dem Bahndamm, in der Papierfetzen und leere Konservenbüchsen unordentlich umherlagen, hatte jemand ein Feuer gemacht, dessen roter Schein gar anheimelnd in die dämmernde Finsternis leuchtete. Der Mann, der bei dem Feuer saß, kam mir bekannt vor. Es war kein anderer als jener vielgereiste deutsche Kunde, den ich vor einigen Tagen in Don Felipes Kneipe angetroffen hatte.

Er war gerade dabei, das Nachtessen zu bereiten, und während er umständlich seine Pfeife stopfte, weihte er mich in seine Pläne ein. Er sei auf der Menschenjagd. Zwei Schiffsjungen seien neulich von einem Segelschiff desertiert und ihr Konsul habe ihnen einen Steckbrief hinterher geschickt, weil der Vater – ein reicher Pfeffersack von einem Bremer Senator – fünfhundert Pesos Belohnung auf ihre Ergreifung ausgesetzt habe. Nun werde er hier warten an dieser engen Gasse und sich den Batzen Geld verdienen. Wer gut zu warten verstehe, der verdiene oft in einer halben Stunde mehr, als mancher, der sich eine ganze Woche über mit Arbeit abmühe. Sein ganzes Leben lang habe er noch nicht viel anderes getan, als gewartet.

Ich hörte nur mit halbem Ohr auf sein Gerede, denn draußen zwischen den Felsen und den Sanddünen wehte ein kalter Wind, in der Dunkelheit rumorten allerlei unheimliche Geräusche und es war mir gar nicht wohlig zumute, wenn ich daran dachte, wie es mir ergehen würde, wenn ich nun trotz allem und alledem wieder so ziel- und zwecklos in dieser salzigen, sandigen Einöde umherwandern sollte. Sobald ich meine Suppe aus Reis und Büchsenfleisch an dem Feuer gekocht hatte, marschierte ich weiter in die nachtschwarze Pampa hinein. –

Doch ich will eine lange Geschichte kurz machen.

Tagelang marschierte ich in der Pampa umher. Hunderte von Kilometern über Steine und Geröll durch brennende Tage und eiskalte Nächte. Die entlegensten Salpeterwerke besuchte ich auf der Suche nach Arbeit, aber niemand wollte von meinem Angebot Gebrauch machen.

»Von welchem Schiff kommen Sie denn?« war immer die erste Frage.

»Von gar keinem.«

»Ja, das kennt man schon!«

Die Pampa war überlaufen mit durchgebrannten Seeleuten. Kein Tag verging, ohne daß man einer Horde von ihnen begegnete. Alle Nationen waren vertreten: Engländer, Franzosen, Yankees, Skandinavier. In neunzig Fällen vom Hundert aber waren es Deutsche. Natürlich! Wer anders als ein Deutscher kann selbst hinter einer wüsten chilenischen Felsenküste ein Paradies vermuten?

Bald hatte ich genug von der Pampa und machte mich auf den Weg nach dem Salpeterhafen Junin. Es war ein langer und heißer Weg, der dorthin führte. Stundenlang wanderte ich auf den holprigen Schwellen einer Schmalspurbahn durch die schattenlose Pampa, bis hinter einer Bodenerhebung ein Lagerschuppen auftauchte, vor dem sich die Salpetersäcke zu mächtigen Haufen türmten. Ein paar Eisenbahnwagen standen verstaubt und verlassen auf den Schienen. Zwischen den Geleisen spazierte eine magere Ziege, die sich an den umherliegenden Sackresten und Papierfetzen gütlich tat. Im Westen, weit hinter den Sanddünen, blitzte das blaue Meer, in das eben die Abendsonne in feuriger Majestät hinuntertauchte. Weit unten, in schwindelnder Tiefe, standen entlang eines sandigen Strandes ein paar Schuppen aus Wellblech und ein paar Bretterhütten. Das war Junin.

Entlang der Drahtseilbahn, die von dem auf der Höhe gelegenen Lagerschuppen nach dem Strande führt, kletterte ich den steilen Abhang hinab. Als ich unten ankam, war es schon ganz dunkel. Die einzige Straße, die am Strand hinführte, lag still und finster da. Nur draußen, am Ende der kurzen Landungsbrücke, brannte eine einsame Laterne. Auf der Reede lagen zwei große Segelschiffe, während dicht bei der Landungsbrücke ein schmucker Motorschoner Anker geworfen hatte. Er hieß »Alexander Selkirk« und gehörte nach der Insel Juan Fernandez.

Die Namen erinnerten an den alten Robinson Crusoe, und die steile schwarze Küste in ihrer finsteren Eintönigkeit paßte auch ganz gut in das Bild. Ja, so, gerade so hatte ich mir als kleiner Bube die Robinsoninsel vorgestellt!

In jener Nacht konnte ich lange nicht schlafen. Es gibt Nächte, die der Feind des Schlafes sind. Nächte, in denen die bösen Gedanken wie die Gespenster in allen Ecken hocken und große Fragezeichen aus der Finsternis heraufsteigen.

Lange, lange Stunden saß ich am Strande und starrte über das schwarze Wasser und auf die großen Sterne. Mir war, als ob die Nacht nicht enden wollte. Ich versuchte, nachzudenken über das und jenes, und warum es auf dieser Erde gerade so und nicht ganz anders eingerichtet war; warum ich auf einmal gerade nach Australien reisen wollte, wo es doch so viele andere, schönere Länder gab; warum ich nun schon wieder all die vielen Monate unstet in der Welt umherirrte als ein hungriger, heimatloser Vagabund, warum ich die halbe Zeit nicht satt zu essen hatte, wo auch die ärmsten Peone täglich an vollen Tischen saßen; ja, und warum überhaupt eine Menschenseele ein gar so unruhiges und unberechenbares Wesen ist?

Ich stand am unruhigen Wasser und starrte in die Nacht hinein und konnte auf das alles keine Antwort finden.

Noch vor Tagesanbruch machte ich mich auf den Weg noch dem benachbarten Hafen Pisagua. Die Straße, die hart entlang des Strandes führte, war holperig und ungepflegt und voll scharfer Klippen, an denen man die Schuhe zerreißen konnte. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel. Ein moderiger Geruch von Tang und Seegras lag in der Luft.

Zwischen den schwarzen Klippen lagen allerlei Muscheln und Seesterne, die das verlaufende Meer zurückgelassen hatte. Ich aber schaute nicht links und nicht rechts. Ich dachte nur immer an den einen Peso, den ich noch in der Tasche hatte, und ich versuchte auszurechnen, wie lange ich damit wohl auskommen würde auf dem teuren Pflaster von Pisagua.

Nach einer Weile bog die Straße um eine weit vorspringende Landzunge, wo hoch und trocken das Wrack eines Schoners auf den Felsen saß. Gegen Norden öffnete sich eine weite Bucht, in der vier deutsche Segelschiffe vor Anker lagen. Malerisch im Hintergrund lag das Städtchen Pisagua. Jetzt, wo das Licht der Mittagssonne von den Dächern blitzte und um die kahlen Wände der steil ansteigenden Küste einen Schleier von bunten Farben wob, machte der Ort einen ganz anheimelnden Eindruck. Aber es war wie bei so vielen anderen südlichen Städten. Außen hui und innen pfui. Von ferne bunte Farbenpracht, und aus der Nähe nur Schmutz und Liederlichkeit. Noch nie in allen meinen Wanderungen habe ich ein so schmutziges Nest gesehen wie Pisagua. Kahl und nüchtern, öde und reizlos zieht sich diese Herrlichkeit aus Holz und Wellblech am Abhang der steilen Küste hin. In den Gassen wandern die Straßenhändler mit ihren schwerbepackten Eseln und verkaufen Trinkwasser wie anderwärts die Melonen. Hinter einem schmutzigen Schaufenster in der sonnigen Hauptstraße waren Ansichtskarten feilgeboten, und ich kam auf die Idee, eine solche nach Hause zu schicken. Es waren aber lauter Ansichten von Iquique, Antofagasta, Coquimbo und Valparaiso und zudem »made in Germany«. Von Pisagua selbst war nur eine Ansicht zu haben, und die stellte als einzige Sehenswürdigkeit das Innere des Pestspitals mitsamt seinen Patienten dar. Unter diesen Umständen verzichtete ich lieber auf solchen Gruß aus der Ferne.

Überhaupt: wie kam ich dazu, mein Geld in Ansichtskarten anzulegen, wo nur noch ein einziger lumpiger Peso zwischen mir und dem Nichts stand?

Traurig schlich ich durch die schmutzigen Straßen und dachte darüber nach, was für ein jämmerliches Nest Pisagua sei und wie das Leben auf dieser Erde überhaupt so traurig sei.

Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich nach den Schiffen hinüberschielte, die auf der Reede vor Anker lagen. Die gingen alle nach Deutschland.

Nach Deutschland?

Das kam mir so merkwürdig fremd und unmöglich vor, geradeso wie wenn ich denken wüßte, sie gingen nach dem Mond. Ein Schiffsjunge mit einer riesigen blauen Wollmütze und einem dunkelbraunen Gesicht, aus dem die blauen Augen hell herausleuchteten, erzählte mir allerlei in einem zungenbrechenden Plattdeutsch. Der Kapitän sei ein Tyrann, der Steuermann ein Spitzbube, und gar erst der Koch ein wahrer Seeteufel. Überhaupt habe er sich die christliche Seefahrt ganz anders vorgestellt. Aber das Schiff sei das feinste von ganz Hamburg. Der Kapitän sei manchmal auch ganz nett und sogar der Koch habe zuweilen menschliche Anwandlungen. Überhaupt – man könne nichts besseres tun, als an Bord der »Selene« anmustern, und dazu sei nun die allerbeste Gelegenheit, denn die ganze Mannschaft sei neulich »utgepickt« nach den Salpeterminen.

Ja, das fehlte gerade noch!

Über dem war ein dunkelhäutiger Peruaner dazu gekommen.

»Suchen Sie ein Schiff, Caballero?« redete er mich an.

Ich schaute ihn mißtrauisch an.

»Ein feines Schiff,« fuhr er fort, »und ein nobler Kapitän.«

»Nach Europa –?«

»Wohin denn sonst?«

Da ging ich fort, ohne ein weiteres Wort zu sagen. – Europa! Was wollte ich dort?

»Caballero –«, rief der Peruaner erstaunt. Aber ich ging fort, ohne mich noch einmal umzusehen. Noch in derselben Nacht stieg ich den steilen Küstenhang hinauf, nach der Pampa von Pisagua. Der Weg war nicht zu verfehlen, denn der Mond leuchtete taghell über der Wüste. Bei Tagesanbruch kam ich mitten in der steinigen Wildnis an ein kleines Bahnwärterhäuschen mit einem wunderschönen Garten; über und über bedeckt mit üppigem Grün und leuchtenden tropischen Blumen. Nie wieder haben mir Blumen so gut gefallen, wie hier im Sande der Pampa.

Soll ich nun noch einmal von der Pampa erzählen? Von den langen Märschen auf dem heißen Schienenstrang? Von den bitterkalten Nächten in der schutzlosen Wüste und von harter Arbeit in den salzigen Staubwolken der Calichera? Wochen gingen darüber hin, bis ich eines Tages mit einem Kopf voll Reiseplänen wieder nach Pisagua kam. Diesmal gingen alle meine Gedanken nach Peru. Es war Nacht, und die Lichter standen wie Glühwürmchen am Strande.

Aber die Enttäuschung war groß, als ich mir eine Fahrkarte nach Callao lösen wollte.

»Da müssen Sie sich schon eine Weile gedulden,« sagte der zigarrenrauchende Angestellte, »der Dampfer ist bereits heute nachmittag abgefahren, und der nächste kommt erst wieder in zehn Tagen. Aber, wer weiß – Quien sabe? Es kann auch noch länger dauern.«

Das war ein Strich durch die Rechnung. Was nun? Während ich noch draußen auf der Landungsbrücke saß und gedankenlos dem Glitzern des Wassers und dem Spiele der Möwen zusah und darüber nachzudenken versuchte, was ich nun anfangen sollte in diesem jämmerlichen Neste, da tauchte wie ein Gespenst jener alte Peruaner auf, der mich schon bei meiner Ankunft in Pisagua angeredet hatte. Er begrüßte mich wie einen alten Freund.

»Amigo!« rief er aus, »das freut mich, daß ich Sie wiedersehe! Ja, das habe ich gleich gewußt, daß Sie nicht lange in der Pampa bleiben! Kommen Sie mit. Wir wollen eine Tschitscha trinken.«

Ehe ich wußte wie mir geschah, hatte er mich schon in eine benachbarte Schenke gelotst und von dort in ein Ausrüstungsgeschäft für Seeleute, dessen Inhaber niemand anders war als der deutsche Konsul. Im dunklen Hintergrund des großen Ladens, in dem Seestiefel, Konservenbüchsen und aufgerollte Taue bunt durcheinander standen, saß hinter einer Wolke von bläulichem Tabakdampf ein noch junger Seemann mit einem rötlichen Schnurrbart von martialischer Größe. Das war der Kapitän der Hamburger Bark »Selene«.

Wir wurden bald handelseinig. Ich sollte auf seinem Schiff arbeiten bis der Dampfer fällig war.

Eine Stunde später brachte mich die am Strande wartende Gig an Bord der stolzen Bark »Selene«, die ich sobald nicht wieder verlassen sollte. Es war ein schönes und wohlgehaltenes Schiff. Das Verdeck war weiß wie Schnee. Die frische Politur glänzte von dem Teakholz, und das blanke Messing spiegelte sich in der Sonne, als ob es von reinem Golde wäre. Vom Heck wehte die schwarzweißrote Flagge.

Sie gefiel mir gut, denn es war lange her, seit ich sie nicht mehr so recht aus der Nähe betrachtet hatte.

»Dem Feinde weh, der sie bedroht . . .«

So hat man wohl einstmals gesungen, aber das ist sicher schon lange her. Die neue Zeit will neue Fahnen haben. Rot und Schwarz-rot-gold und was weiß ich, was sonst noch. Ich weiß nur das eine, daß keine je wieder so stolz sein wird wie sie, vor der vier Jahre lang die Erbe gezittert hat. –

Gar öde und traurig sah es im Mannschaftslogis der »Selene« aus. Der größte Teil der Besatzung war »ausgepickt«, und was zurückgeblieben war, das war eine Gesellschaft von ganz jungen Tunichtguten aus Tertia und Sekunda. Geheimratssöhne, Pfarrersöhne, Professorensöhne. – Doch ich will mich nicht zum Sittenrichter aufwerfen über die Professorensöhne. Ich kenne nämlich einen –, aber das hat am Ende nichts zu tun mit der Geschichte.

»Hast du auch den ›Kleinen Kohn‹ schon gesehen?« redete mich einer von den Bengels an.

»Nein. Wer ist denn das?«

»Uns Stürmann!«

Doch da stand der ›Kleine Kohn‹ schon selbst in der Tür; ein kleiner, untersetzt gebauter Mann mit einem eckigen, von einem dichten Bart umrahmten Gesicht.

»Wie heißen Sie?« wandte er sich an mich.

»Kurt Faber.«

»Wie? Was? Woher nur immer die neumodischen Namen kommen! – Kurt – Kurt – Ah!! Koal!«

So hieß ich denn fortan Koal.

»Sie können gleich anfangen mit der Arbeit,« fuhr er fort, »aber ein bißchen fix!«

Ja, da war sie wieder, die deutsche Arbeitswut! Kein süßes Nichtstun mehr! Nichts mehr von dem lieben südamerikanischen »poco-à-poco-manaña-quien sabe-Tempo«.

Wir erledigten täglich ein großes Arbeitspensum. Aus den längsseit liegenden Leichtern wurden die Salpetersäcke mit Hilfe der Handwinde einzeln bis zur halben Höhe der Rahe aufgeheißt, von wo sie wie kleine Mäuse in den unersättlichen Bauch des Schiffes hinunterhüpften. Die Götter wissen wieviel tausend. – Die heißen Decksplanken brannten unter den Füßen, die Tropensonne kochte das Pech in den Siemen. Drunten im Raum arbeiteten die Stevedoren beim Verstauen der Ladung, und was die leisteten, war beinahe übermenschlich. – Oft schon habe ich der Tätigkeit von Leuten zugeschaut, die über ihrer Arbeit selbst zu Maschinen geworden waren: z. B. den Maurern im Yankeelande, wenn sie im Akkord arbeiten, oder den malaiischen Kulis, wenn sie Überstunden machen, oder den Negerweibern in Texas beim Baumwollpflücken, aber alle diese Arbeitstiere können sich nicht messen mit den Stevedoren an der chilenischen Küste.

Männer von herkulischer Gestalt, die mit den zentnerschweren Säcken jonglieren, als ob es Gummibälle wären. Tief unten im Raum, in der heißen, staubigen Luft, die allein schon genügen würde, um einen normalen Menschen um seine fünf Sinne zu bringen, arbeiten sie oft zehn Stunden lang ohne Unterbrechung. Mit dem breiten Rücken fangen sie die herunterkommenden Säcke auf und rennen damit über die anderen Säcke hinweg bis in die entlegensten Winkel des Laderaums, wo sie sich durch eine geschickte Bewegung der Schulter ihrer Last entledigen. Wie der Sack fällt, so bleibt er liegen. Und er liegt immer richtig, denn das ist gerade die Kunst. Da Salpeter eine viel zu schwere Fracht ist, um damit den Raum völlig auszufüllen, müssen die Säcke in einer Pyramide verstaut werden, die vom Boden bis zur Luke reicht. Diese Pyramide muß sehr genau und kunstgerecht errichtet werden, denn da ein Segelschiff auf weiten Reisen oft wochenlang eine starke Schlagseite nach einer bestimmten Richtung hat, muß die Ladung sich verschieben und ein Kentern des Schiffes verursachen, wenn der Schwerpunkt der Pyramide nicht genau im Zentrum liegt. Es werden also, wie man sieht, allerlei Anforderungen an die Stevedore gestellt. Sie verdienen auch ein Heidengeld. Aber es geht alles fort für Wein, Weib und andere Dinge, die in der ganzen Welt vor allem die Herzen der Schiffsarbeiter und der Schauerleute höher schlagen machen.

Doch was wollte ich noch weiter erzählen?

Ja, für den Augenblick war ich müde des unruhigen Lebens.

Quest' avventura,
Que diavolo!
Mai finirà –?

Als wir nach einiger Zeit – am Abend ehe der Dampfer nach Callao fällig war – mit der Arbeit fertig geworden waren, als alle Luken dicht gemacht, die Segel angeschlagen und alles klar zur Abreise war, da setzte ich meinen Namen auf die Musterrolle zur Reise nach Europa.

Noch am selben Abend kam der Steuerbordanker hoch. Wir waren alle froh, daß es nun endlich in See ging. Lustig sangen die Matrosen, während sie bei der Arbeit ums Gangspill marschierten:

Hurra, mein Jung, 's geht heimwärts zu.
Fahr wohl, mein Lieb, fahr wohl.

Am nächsten Morgen glitten wir mit der Flut ins offene Meer hinaus. Bald waren wir vom Lande klar. Pfeifend kam der Passatwind herangefegt. Er riß an den Schotketten und blähte die Segel. Und während unter dem Druck der Leinwand das Schiff leise überholte, zog es in immer schnellerer Fahrt eine weißschäumende Straße durch die blaue Tiefe, die nun für fünf lange Monate unsere Heimat sein sollte. In der Ferne lachte die Sonne über der steilen, finsteren Küste. Die Küste von Südamerika! Ich dachte an all das Sonderbare, das ich dort drüben erlebt hatte, und es machte mich beinahe traurig, wenn ich mir überlegte, daß ich dieses närrische Land so bald nicht wiedersehen würde. Doch wer kann wissen, was das wechselnde Schicksal für ihn in seinem Schoße hält? Vielleicht? Mañana – quien sabe?

Und wie ich hier sitze und darüber nachdenke, wie ich wohl das Tüpfelchen auf das i dieser langen Geschichte setze, da tauchen allerlei verlockende Bilder vor mir auf. Stolze Palmen und zierliche Pfefferbäume. Staubige Pampa und sandige Wüste. Dunkle Orangengärten, wo goldene Früchte leuchten, und weiße Lattenzäune, hinter denen üppige Bananenstauden ihre breiten Blätter recken. Und Menschen sehe ich vor mir. Sonderbare Menschen. Sie tanzen vor meinen Augen und flimmern vorüber. Methusalem und Michel Angelo und Don Felipe und all das andere Gelichter. – Ha! ich muß lachen, wenn ich daran denke! Und ein bißchen ist es mir auch ums Weinen, wenn ich mir vergegenwärtige, daß das alles schon so lange her ist; und ein bißchen ums Fluchen, wenn über diesen alten Erinnerungen das Zigeunerblut lebendig wird und trotz alle- und alledem noch einmal davonjagen möchte über die Länder und Meere.

* * *


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