Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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Im Reiche der Puna

Mühsames Wandern. – Eine Gegend nach Jules Vernes Geschmack. – Die Puna. – Verirrt. – Der Schneeberg als Landmarke. – Unter Christen und Gringos. – Unheimliche Reisegefährten. – Endlich an der Eisenbahn. – Ungnädiger Empfang. – Im »Kalabus«. – Der Gringo als Malermeister. – Allerlei Zukunftspläne. – Auf nach Antofagasta.

Zehn Tage brauchte ich, um die dreihundert Kilometer lange Strecke von Tupiza bis Uyuni zurückzulegen; zehn lange und mühselige Tage, an die ich heute noch manchmal mit Grausen zurückdenke.

Anfangs ging der Weg durch ein schönes, mit Maisfeldern und Obstgärten bestandenes Tal, auf einer leidlich guten, von zahlreichen Karawanen belebten Straße. Sie brachten Silbererze von den berühmten Minen von Potosi, die schon zu Zeiten Karls V. so viel von dem edlen Metall geliefert hatten, daß man damit eine Brücke übers Weltmeer bis nach Spanien hätte schlagen können. Bald aber bog die Straße von Potosi nach Osten ab und es wurde einsam in dem engen Tal, in dem ich auf mühsamer Straße über wildes Geröll meinen Weg fortsetzte. Ein kleiner Fluß mit eiskaltem Wasser versperrte mit seinen Schlangenwindungen alle Augenblicke den Weg. Wohl zehnmal am Tage mußte ich die Kleider ausziehen und durch das kalte, reißende Wasser, über Steine, die so spitz waren wie Dolche, den Flußübergang bewerkstelligen. Kein Wunder, daß nach solchen Kasteiungen meine Füße bald in einem Zustand waren, der den Neid eines Mekkapilgers erweckt hätte.

Je weiter flußaufwärts ich kam, desto enger wurde das Tal, bis es stellenweise zu einer Schlucht zusammenschrumpfte, umsäumt von kulissenartig überhängenden Felsen, an denen große, bläulich schimmernde Eismassen klebten. Wie finster und unheimlich es dort unten war! Kein frischer Luftzug kam herein, um die dumpfe, muffige Kellerluft zu verscheuchen, kein Sonnenstrahl hatte in dieser dämmernden Finsternis etwas zu suchen. Es war, als ob man durch eine jener phantastischen, unterirdischen Höhlen wanderte, von denen Jules Verne zu erzählen weiß.

In seinem oberen Lauf war das Tal beinahe unbewohnt. Nur ab und zu traf man inmitten kümmerlicher Felder eine meist verlassene Indianerhütte, in der man Unterkunft finden konnte; denn die Nächte waren bitter kalt. Schon ziemlich weit am Oberlauf, wo ein kleiner Nebenfluß einmündete und das Tal einen weiten Kessel bildet, stand sogar ein richtiges Dorf. Aber es lag völlig tot und ausgestorben da und nicht so viel als eine verirrte Katze zeugte von dem Leben, das sich früher hier abgespielt hatte. Die Überreste eines halb eingefallenen Kirchturms ragten schwarz und gespensterhaft in die Luft und von den Häusern standen meist nur noch die vier Wände; denn in diesem holzarmen Lande waren die Dachbalken schon längst eine Beute vorüberziehender Reisender geworden. Auch ich vergriff mich an einem alten Lattenzaun, der mir Brennmaterial liefern mußte und kochte eine Tasse Tee inmitten der öden Fensterhöhlen des toten Dorfes. Dann machte ich mich schleunigst davon.

Nur noch selten traf ich Karawanen, denn die Hauptverkehrsstraße nach Potosi zweigte schon hinter Tupiza ab, und was seinen Weg nach Norden nimmt, das sind nur die Karawanen, die den Verkehr mit den Zinnminen von Santa Barbara vermitteln. Von Zeit zu Zeit zogen sie in langen Trupps vorüber und mir war, als ob die indianischen Treiber, die hinterdrein ritten, noch finsterer und unwirscher waren, als die anderen, die ich drunten auf dem Wege nach La Quiaca angetroffen hatte. Und wie die Menschen, so wurde auch das umgebende Land mit jedem Tage rauher und finsterer. Steine, Steine und noch einmal Steine. Der Fluß, der mir in seinem Unterlauf so manche schwere Stunde bereitet hatte, war zu einem kleinen Gebirgsbach zusammengeschrumpft, der stellenweise mit einer dicken Eiskruste überzogen war, unter der das wilde Wasser mit gurgelndem Ungestüm talabwärts rauschte.

Das erleichterte natürlich das Fortkommen ganz außerordentlich, aber ganz unmerklich hatte sich inzwischen ein Hindernis bemerkbar gemacht, das tausendmal schlimmer war wie alle steinigen Wege Boliviens. Erst beachtete ich es gar nicht, aber als es von Tag zu Tag fühlbarer wurde, fing es an, mich zu ängstigen.

Ja, was war denn das? Hatte ich das Laufen und Bergsteigen verlernt, daß ich mich nach jedem Kilometer mit klopfendem Herzen und ausgepumpten Lungen auf einen Stein setzen mußte? Woher kam das Nasenbluten? Und woher die wütenden Kopfschmerzen? War ich am Ende gar krank geworden? Oder – war das die Puna? Die vielgefürchtete Bergkrankheit, von der ich schon drunten in Argentinien mit ungläubiger Seele erzählen hörte? Nun hatte ich endlich einen kleinen Vorgeschmack davon. Später habe ich sie noch besser kennen gelernt. Die Seekrankheit ist etwas Entsetzliches, aber ihre Qualen erblassen vor den Schrecken der Puna; – wenn man in der Nacht auf einmal vergebens nach Atem ringt, wenn das Blut in fiebernder Bewegung nach dem Kopfe drängt und man dann mit entsetzlichen Angstgefühlen aus dem Schlafe fährt. –

Mir war, als ob ich eine halbe Ewigkeit in dem finsteren Tale zugebracht hätte, als sich endlich die Berge zu beiden Seiten abzuflachen begannen und schließlich der Blick mit einem Gefühl der Erlösung in endlose Fernen schweifen konnte, bis weit nach Norden, wo die Schneekuppe der Sierra Santa Barbara wie ein Zuckerhut über dem welligen Hochland thronte.

Am Ausgang des Tals sollte ich nach den Versicherungen eines Indianers, den ich unterwegs angetroffen hatte, den Tambo finden, aber weit und breit war nichts davon zu sehen, obwohl die zahlreichen Lamas, die sich an den dürren Gräsern gütlich taten, auf die Nähe menschlicher Behausungen schließen ließen.

Während des ganzen Nachmittags marschierte ich weiter, so schwer es mir in der dünnen Luft auch wurde, und hielt in allen Richtungen eifrig Ausschau nach der ersehnten Herberge. Es war ein trübseliges Wandern. Nie in meinem Leben ist mir die Stille der Wildnis so drückend zu Bewußtsein gekommen wie dort. Mir würde ganz unheimlich zumute, wie ich das weite Laub vor mir sah, ohne auf Meilen in der Runde die Spur eines Menschen zu entdecken. Ich kam mir vor, als ob ich nach einer vernichtenden Katastrophe allein von allen Menschen auf dieser Erde zurückgeblieben wäre.

Doch plötzlich, als die Sonne schon hinter den Hügeln im Westen verschwunden war und ihre letzten weichen Strahlen tausend Farben auf den abendlichen Himmel malten, tauchte die Gestalt eines Reiters auf, die sich in kaum dreihundert Metern Entfernung gespensterhaft von dem hellen Hintergrund abhob. Aber all mein Rufen und Winken machte weder auf Roß noch Reiter den geringsten Eindruck. Wohl eine halbe Minute blieb der seltsame Reiter stehen, um dann ebenso geisterhaft zu verschwinden. Es war, als ob die Pampa ihn verschlungen hätte. Noch heute weiß ich nicht, ob es ein Reiter in Fleisch und Blut oder aber nur die Ausgeburt einer überhitzten Phantasie gewesen ist. Aber eine noch größere Enttäuschung wartete meiner. Wie ich mich vor dem Dunkelwerden noch einmal genau nach allen Richtungen umsah, da überlief es mich eiskalt. War ich an jenem Teich nicht schon heute vormittag vorübergekommen? Und das? Das war ja – weiß der Kuckuck – dieselbe Feuerstelle, an der ich noch um Mittag meinen Tee gekocht hatte! Eine leere Schachtel schwedischer Streichhölzer und eine Nummer der »Prensa« aus Buenos Aires, die ich zu Anfeuerzwecken benutzt hatte, ließen keinen Raum für irgendwelche Zweifel.

Zuerst war ich wie versteinert vor Erstaunen und schaute eine Weile geistesabwesend auf die Bescherung.

Ah ihr, die ihr immer im Lande der Wegweiser gelebt habt, ihr wißt nicht, wie einem zumute sein kann, wenn man sich in der Wildnis verlaufen hat!

Ganz plötzlich kam die Nacht herangehuscht; eine trübe, dunstige, sternlose Nacht, die alles weitere Suchen nach einem Unterkommen unmöglich machte.

Mutlos und ärgerlich, den Kopf voll wirrer Gedanken, legte ich mich neben die Feuerstätte, wo mich die Müdigkeit gar bald überwältigte. Aber schon nach wenigen Minuten schreckte ich wieder auf, wie auf einer bösen Tat ertappt. Schlafen? Nur das nicht! Wenn ich den nächsten Morgen erleben wollte, so mußte ich Herr werden über diese bleierne Müdigkeit! Stundenlang tappte ich zwecklos in der Finsternis umher, während die dünne Luft kalt und scharf wie Messer über die Pampa fegte. Trotzdem ich mich nach Möglichkeit in den Poncho wickelte, waren die Glieder bald kalt und steif wie Eisklumpen, während der Kopf, nach dem das heiße Blut preßte, sich wie ein Feuerball anfühlte. Mit jeder Stunde machte die Puna sich stärker bemerkbar, und ich mußte alle meine Willenskraft aufbieten, um nicht am Wege liegen zu bleiben, einerlei, ob es am Morgen noch ein Aufstehen gab oder nicht. Nach einer Weile kam der Mond hinter den Hügeln hervor und machte wenigstens der pechschwarzen Finsternis ein Ende; aber wie er sein bleiches Licht über die Wildnis goß, da erschien sie noch kälter als zuvor.

Ich glaubte ein Menschenalter durchlebt zu haben, als endlich das weiße Mondlicht vor den ersten Strahlen des heraufdämmernden Tages zu erblassen begann. Es geht nichts über Licht und Sonne, um die gesunkenen Lebensgeister eines übernächtigen Wanderers zu wecken! Sobald es hell genug geworden war, machte ich mich daran, die Reiseroute auszusuchen, die ich mir zwischen den Fieberschauern der langen Nacht zurecht gelegt hatte. Es war mir eingefallen, daß ich in der Sierra Santa Barbara eine schöne Landmarke auf meinem Wege nach Uyuni hatte, und demgemäß suchte ich mir in dem Irrgarten von Esel- und Lamaspuren diejenige aus, die in ungefähr gerader Richtung nach der im Norden deutlich sichtbaren Schneekuppe führte.

Und siehe da! Ein gutes Geschick hatte mich geführt! Es war noch nicht Mittag geworden, als in einer Mulde, etwas abseits vom Wege, eine Lehmhütte auftauchte. Eine alte, verwitterte Indianerfrau mit einer Schar schmutziger Kinder wohnte in dem Haus. Aber meine menschenhungrige Seele begrüßte sie wie alte Bekannte. Glücklicherweise verstand die alte Frau etwas Spanisch und war auch sonst recht zugänglich. Sie kochte mir eine Maissuppe und briet eine Hammelkeule auf ausgekörnten Maiskolben. Dafür bedankte ich mich mit einer Tasse Tee, worüber sie jedoch die Nase rümpfte. Von Bezahlung wollte sie erst recht nichts wissen.

»Oh no, señor!« sagte sie mit der Miene einer Sünderin, die der leibhaftige Satan selber verführen wollte. Und dabei deutete sie mit der Hand nach dem Kreuz, das über dem Dach des Hauses befestigt war.

»Somos christianos! Wir sind Christen! Wir dürfen nichts verkaufen. Nur verschenken. Die Christen sind alle, alle gute Menschen, die einander nur Gutes tun!«

Der ahnungsvolle Engel, der!

Wohl gestärkt und von neuer Liebe für die bösen Mitmenschen erfüllt, setzte ich meine Reise fort. Zu beiden Seiten des Weges, der nun wieder über eine halbwegs gangbare Straße führte, zeigten sich ab und zu einige Lehmhütten, und auf dem Dach einer jeden war ein Kreuz genagelt, das ich fortan stets mit Andacht als ein Zeichen wahrhaftiger Nächstenliebe betrachtete.

Bald hatte ich jedoch auch diese kümmerlichen Vorboten einer beginnenden Besiedelung hinter mir gelassen, und ringsum herrschte wieder unumschränkt die schweigende Wildnis. Wieder war die Sonne untergegangen, ohne daß ich in der weiten Runde ein Haus oder einen Tambo entdeckt hätte. Wieder tappte ich mutlos durch die pechschwarze Finsternis, den Kopf voll weltschmerzlicher Gedanken, als sich weit draußen in der Pampa lautes Hundegebell vernehmen ließ. Nur ein wüstes, heiseres, ungereimtes Bellen war es, aber in meinen Ohren klang es wie süße Musik. Vorsichtig ging ich ihm nach, bis ich in einer Talsenkung ein helles Lagerfeuer gewahrte, in dessen flackerndem, rotglühendem Schein sich die Umrisse einer Anzahl weißer Zelte abhoben. Gerade war ich vor dem großen, hell erleuchteten Zelte in der Mitte des Lagers angelangt, als mich eine Meute zähnefletschender Hunde umringte, deren Gebell einen hünenhaften Neger mit langem, knochigem Gesicht auf die Bildfläche rief. Er trug eine weiße Mütze und eine einigermaßen weiße Schürze. In der einen Hand hatte er einen mächtigen Kochlöffel und in der anderen blitzte etwas, das offenbar weniger friedlichen Zwecken diente.

In holprigem Spanisch mit ausgeprägt englischem Akzent rief er mir etwas zu, wovon ich kein Wort verstand. Als er aber merkte, wie ich auf gut Englisch mit den Hunden fluchte, da verzog sich sein finsteres Gesicht zu einem breiten Grinsen.

»Oh golly white man!« sagte er mit der singenden Stimme des amerikanischen Niggers, »fast hätte ich dich totgeschossen! Warum hast du nicht gleich gesagt, daß du ein Gringo bist? Komm' nur herein. Das Nachtessen ist gerade fertig.«

Damit führte er mich in das große, geräumige Zelt, wo duftende Bratengerüche um den matten Schein einer qualmenden Lampe schwebten. Zwei Gringos saßen am Herdfeuer. Der eine war ein rothaariger Irländer und der andere ein junger deutscher Matrose, der drunten in Iquique von seinem Schiff weggelaufen war, um die bolivianischen Goldminen zu entdecken, die er aber bis jetzt nicht gefunden hatte, wie er mir treuherzig versicherte. Im Hintergrunde des Zeltes aber saß auf leeren Konservenkisten eine Gesellschaft von Südamerikanern aller Schattierungen, die zu einer Vermessungsexpedition gehörten.

Sie waren gerade am Politisieren, und wenn Südamerikaner am Politisieren sind, so ist es immer am sichersten, wenn man ihnen aus einiger Entfernung zuhört. Ein dunkelhäutiger peruanischer Cholo war eben dabei, die Nachteile der verschiedenen Nachbarländer seines Vaterlandes aufzuzählen.

»Geht mir weg mit eurem Ekuador!« sagte er mit seiner scharfen Stimme, die an sich schon wie eine Beleidigung klang. »Wie ich noch jung und dumm war, wie einer von euch, da habe ich dort ein ganzes Jahr auf einer Zuckerplantage gearbeitet für einen Peso im Tag!«

»Und freie Verpflegung!« ergänzte ein ihm gegenübersitzender Ekuadorianer, auf den jedenfalls die Rede gemünzt war.

»Ja, und eine feine Verpflegung!« fuhr der Peruaner höhnisch fort. »Wißt ihr, was uns der Majordomo geantwortet hat, als wir uns einmal darüber beklagt haben? ›Freßt Zuckerrohr, ihr Kanaillen, wenn ihr nicht verhungern wollt.‹ Ihr könnt mir glauben oder nicht; aber geweint habe ich vor einem Gringokapitän in Guayaquil, damit er mich wieder mit fortnähme, denn wenn ich gewartet hätte, bis ich im Besitz des Reisegelds gewesen, so wäre ich heute noch Peon auf den Zuckerplantagen im glorreichen Lande Ekuador!«

Durch diese Rede fühlte der Ekuadorianer sich tief verletzt. Hitzig sprang er auf, und es schien, als ob die langen Cuchillos in diesem Streit das letzte Wort sprechen sollten, als gerade noch zur rechten Zeit ein Bolivianer von draußen hereinkam, worauf sie dann gemeinschaftlich auf Bolivien schimpften.

Der Deutsche hörte kopfschüttelnd dem Redeschwall der anderen zu. »Wat die Kerls nur immer to snacken hebben,« fragte er mißtrauisch, während der Irländer einige respektswidrige Bemerkungen zwischen den Zähnen zerknirschte. Die armen Kerle taten mir leid, denn ihre Lage war nichts weniger als beneidenswert. Keiner von ihnen verstand auch nur ein Wort, das nicht zu seiner Muttersprache gehörte. Kitschua war ihnen ein Buch mit sieben Siegeln so gut wie die spanische Sprache, und da der Irländer kein Deutsch und der Deutsche kein Englisch sprach, so konnten sie sich auch untereinander nicht verständigen. Im Grunde genommen waren sie beide nicht besser daran wie jemand, den ein böses Geschick plötzlich der Sprache beraubt hat. Solch widernatürlicher Zustand muß auf die Dauer auch für den von Natur schweigsamsten Menschen unerträglich werden, und es wird bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Zeit kommen, da das lange zurückgehaltene Redebedürfnis sich in einer Explosion von Worten entladet.

Ich brauchte nur zuzuhören, während die anderen schwatzten. Bis spät in die Nacht hinein saßen wir um den Teekessel in dem Küchenzelt, während draußen die Hunde bellten und aus weiter Ferne das Heulen der Schakale wie ein Echo aus der schweigenden Wildnis kam. Wie das bei alten Seeleuten nicht weiter verwunderlich, nahm das Gespräch unversehens eine nautische Wendung. Wir schwatzten von stolzen Seglern und von blaunasigen Schiffskapitänen, von rothaarigen Heuerbasen an der Hamburger Wasserkante, von wildem Kap Hornwetter und rauschenden Passatwinden in lauen Tropennächten; von Antwerpen, von Dublin, von Liverpool, von Kapstadt, von Kalkutta und von so manchem anderen Erdenwinkel, wo es so viel schöner war wie im Lande Bolivien. Zwanglos glitt die Unterhaltung auf das Gebiet des Ewigweiblichen hinüber. Bei dieser Wendung schaute der lange Negerkoch von seinen schmutzigen Tellern auf und mischte sich in die Unterhaltung in einem hausgebrauten Esperanto aus Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Kitschua.

»Nein, es ist nichts mit den Liebespulvern,« sagte er mit Kennermiene, »alles nur Mätzchen, mit denen die Quacksalber den Dummen das Geld aus der Tasche locken. Die Augen sind es, mit denen man Eindruck macht. Die Augen – und das, was man so den Magnetismus nennt. Das könnt ihr mir glauben, denn ich kenne mich aus auf dem Gebiet. Ich bin schon auf Freiersfüßen gegangen, wie ihr noch an eurer Mutter Schürze gehangen habt. Weiße, braune, gelbe und alle Sorten von farbigen Damen habe ich unglücklich gemacht. Einmal – das war in Fleetstreet in Liverpool – habe ich mir für Sixpence ein Buch gekauft, in dem alles darin steht.«

Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße aus der schwarzen Höhle herausschaute.

»Ja, da schaut ihr! Das ist eine Kunst, die sich nicht von heute auf morgen lernt! Und mancher lernt's nie.

»Da ist z. B. Rosi in der »American Bar« zu Antofagasta. Die hat es bisher immer nur mit den Kapitänen und den Steuerleuten und allenfalls noch mit den hochnäsigen Ingenieuren aus der Pampa zu tun gehabt; aber wie ich gekommen bin, ich mit meinen Schwarzkünsten und fünfzig Pfund Abrechnung von dem amerikanischen Küstenschoner, da hat sie allen anderen den Laufpaß gegeben und es gab in ganz Antofagasta keinen solchen Mann wie Nigger Jones. – Aber nach drei Wochen kam einer von Valparaiso – ein dicker, fetter, aufgeblasener alter Frosch von etwa sechzig Jahren, der keine Haare und keine Zähne mehr hatte – der hat mit den Pesos nur so um sich geworfen. Für Goldringe und Perlenketten und dergleichen Teufelszeug, womit man Eindruck macht bei den Frauenzimmern, war ihm kein Preis zu hoch, und eines Tages ist sie in einem seidenen Kleid an seiner Seite an mir vorübergerauscht, als ob es auf der ganzen Welt keine Niggers gäbe. Gegen einen vollen Geldbeutel, müßt ihr wissen, kommen eben alle Künste nicht auf. Der hat seinen eigenen Magnetismus.«

* * *

Nur noch zwei Tagemärsche trennten mich von Uyuni; zwei lange, lange Tagereisen durch eine wüste, eintönige Gegend voll Sand und Sonne. Bei Tage lag die glühende Luft über der Pampa und nach Sonnenuntergang fegte sie kalt und messerscharf durch die tote Landschaft. Still und tot war alles ringsum. Außer einem vereinzelten Lama, das sich an den spärlichen Grasbüscheln gütlich tat und sich bei meinem Herannahen mit grotesken Sprüngen wie ein leibhaftiges Gespenst davonmachte, war ich während des ganzen Tages keinem lebenden Wesen begegnet, bis ich gegen Abend zwei einsame Wanderer bemerkte, die gleichfalls in nördlicher Richtung marschierten. Sie gingen zu Fuß – also waren es Gringos. Noch vor Sonnenuntergang hatte ich sie eingeholt, als sie sich gerade ein Lager für die Nacht zurechtmachten. Meine Vermutung hatte mich nicht getäuscht. Es waren zwei Polen; der eine ein kleiner, untersetzt gebauter Mann mit dem wohlbekannten, breiten, etwas stumpfsinnig anmutenden Polackengesicht, der andere lang und dürr wie eine Hopfenstange. Er hatte große, lebendige Augen, ein bleiches Gesicht mit scharfen Zügen, einen spitzen Van-Dyke-Bart und eine kühn geschwungene Nase in der Art des Don Quixote. Er war entschieden der intelligentere von beiden. Er sprach fließend Spanisch und ein ganz erträgliches Deutsch.

»Sind wir auch gekommen von Tucuman,« sagte er, als er gehört hatte, woher ich kam, »aber nix Eisenbahn! Immer mit die Füße. Haben wir getippelt tausend Kilometer in zwei Monaten.«

»Und wo geht jetzt die Reise hin?« fragte ich, überwältigt von Erstaunen über solche Leistung.

»Geht sich immer weiter nach Norden, Herr, nach La Paz und von dort nach Peru, nach Ekuador, nach Panama und Mexiko und dann nach den Vereinigten Staaten.«

Hier machte er eine Kunstpause, um sich an meiner Bestürzung über seine panamerikanischen Reisepläne zu weiden. Dann fuhr er fort wie einer, der mit sich und seinen Plänen längst ins reine gekommen ist.

»Jawoll, ist sich große Reise, aber habe ich mir mal vorgenommen, werde ich auch durchsetzen. Bin ich gekommen vor fünf Jahren mit Hamburg-Amerikalinie nach Ellis-Island. Hat mich Einwanderungskommissar wieder retour geschickt. Werde ich nun kommen durch die Hintertür zu Onkel Sam.«

»Aber werden Sie auch den Weg nicht verlieren?« wagte ich schüchtern einzuwenden.

Als ob der Weltreisende auf diese Bemerkung schon vorbereitet gewesen wäre, zog er aus seiner Rocktasche eine aus einem Schulatlas herausgerissene Landkarte des amerikanischen Festlands im Maßstabe von etwa 1:50 000 000 hervor.

»Werde ich nicht verlieren den Weg,« rief er triumphierend, »habe ich Karte!«

Noch manches erzählte mir dieser sonderbare Ritter Don Quixote, während sein Sancho Pansa eifrig dabei war, trockene Reiser und den umherliegenden Lamamist als Brennstoff für ein Lagerfeuer zu sammeln.

»Is sich ein armseliges Land, dieses Bolivien,« sagte er, indem er seinen Rucksack öffnete, der bis oben hin mit großen Stücken von sonderbar rötlichem Fleisch gefüllt war. »Seit drei Tagen haben wir nichts mehr gegessen, aber nun haben wir wieder Fleisch genug für eine ganze Woche.«

Dann schaute er sich aufmerksam nach allen Richtungen um, ob kein unberufener Hörer in der Nähe sei, und fuhr mit halblauter Stimme fort:

»Wir haben nämlich heute mittag einen umgebracht. Wladimir ist ihm von hinten um den Hals gefallen und ich habe ihm das Messer zwischen die Rippen gestoßen!«

Stolz zeigte er mir sein langes, scharfes Messer, an dem noch die Blutspuren klebten.

Was? Menschenblut? War ich hier in eine Gesellschaft blutrünstiger Menschenfresser geraten – oder wollten diese Kunden mich zum Narren halten? Mich überlief es eiskalt, während ich den beiden zuschaute, wie sie das Fleisch in Stücke schnitten und mit Hilfe eines spitzen Stocks einen Spießbraten improvisierten.

Plötzlich ließ Wladimir den Spieß mitsamt dem Braten ins Feuer fallen. Gespannt horchte er auf. Mit halblauter Stimme rief er seinem Kollegen etwas zu in der polnischen Sprache und verschwand mit drei Sätzen in der Finsternis.

»Seien Sie ganz still,« flüsterte mir der Don Quixote ins Ohr, während er sein großes Messer am Rockärmel abwischte, »kommt sich wieder einer!«

Eine Weile lauschten wir in atemloser Spannung, bis plötzlich mit wildem Ungestüm ein – Lama über das Feuer setzte. Hinterher Wladimir mit einem hausgemachten Lasso und der Don Quixote mit dem gezückten Messer. Im Nu war es wieder in der Finsternis verschwunden, und die beiden Jäger kehrten atemlos zurück und besahen mit traurigen Mienen den verbrannten Braten.

Ich brauche wohl nicht erst zu versichern, daß mir bei dieser Aufklärung des Rätsels ein Stein vom Herzen gefallen ist, aber man wird es verstehen, daß ich an jenem Abend dem Lamabraten keinen Geschmack abgewinnen konnte. – Am nächsten Morgen machte ich mich frühzeitig auf den Weg, um noch am selben Tage Uyuni zu erreichen. Es war ein langer, mühseliger Weg über eine Ebene, die sich flach wie ein Pfannkuchen nach Norden und Westen in endlose Ferne erstreckte. Das war die Wüste, wie sie im Buch steht!

Kein Strauch, kein Grashalm ringsum. Sand, nichts als Sand und Steine und in der Ferne weite Salz- und Salpeterfelder, die das grelle Sonnenlicht zurückwarfen. Nichts in der weiten Runde deutete auf die Nähe menschlicher Ansiedelungen, bis auf einmal weit draußen in der Wüste – ja, wahrhaftig, es war kein Zweifel! – der grelle Pfiff einer Lokomotive die Stille der Wildnis zerriß. – Der Pfiff der Lokomotive! Hinter mir lag das wildeste Bolivien, und von dort drüben winkte die Zivilisation!

Bald tauchten in der Ferne die Häuser von Uyuni auf. Buntbemalte Bretterhütten, die sich als grelle rote und grüne Farbenflecken vom Sand der Wüste abhoben. Gleich das erste Haus, an dem ich vorüberkam, war ein Wirtshaus. Ein richtiger bolivianischer Tschitschaausschank mit einer Tangogarnitur an den Wänden und einer Schüssel gerösteter Maiskolben auf dem Ladentisch. Der Teufel muß mich geritten haben, daß ich dort hineinging, um ein Glas Tschitscha zu trinken.

Der Wirt – ein massiver Riese mit einem Galgengesicht – musterte mich mißtrauisch und warf dazwischen einen vielsagenden Blick nach einer Gruppe grünäugiger Indianer, die im düsteren Hintergrund hinter ihren Tschitschaflaschen kauerten.

»No hay chicha!« sagte er ungnädig.

»Dann geben Sie mir etwas von dem, was die andern Caballeros trinken,« meinte ich harmlos.

Aber damit schienen die Caballeros nicht einverstanden.

»No hay chicha por chilenos!« riefen sie wie aus einem Munde. »Kein Tschitscha für Chilenen!«

Als naives Menschenkind suchte ich den Irrtum aufzuklären. Natürlich war ich kein Chilene. Meines Wissens hatte ich sogar in meinem Leben noch keinen Chilenen zu Gesicht bekommen. Der schwarze Verdacht konnte mich also gar nicht treffen. Aber gerade so gut hätte ich mich mit den Tschitschaflaschen selber herumzanken können. Ehe ich mich's versah, war einer der unheimlichen Kunden auf mich losgesprungen und stolperte dabei über den Tisch. Klirrend gingen die Tschitschaflaschen in Scherben. Die gerösteten Maiskolben kollerten über das ganze Zimmer, ein aufgeschrecktes Huhn flog gackernd zum Fenster hinaus, und ein bunter Fächer von der Tangogarnitur lag zerrissen am Boden.

Die Verwirrung benützte ich, um schleunigst das Weite zu suchen. Schnell wie der Blitz war ich aus der Tür und lief davon, so schnell mich die Beine trugen. Aber das Auge des Gesetzes wacht auch in Bolivien. Als ich eben um die Ecke bog, hätte ich um ein Haar einen zufällig des Weges kommenden Schutzmann umgerannt.

»Ca–r–r–amba!« schimpfte er, »Sie scheinen's ja eilig zu haben!« Dann zog er umständlich sein Notizbuch, um meine Personalien aufzunehmen; genau so, wie sein Kollege auf der Friedrichstraße es in ähnlichem Falle tun wurde. Das gab meinen Verfolgern Zeit, mich einzuholen. Sie waren inzwischen zu einer stattlichen Volksmenge angewachsen, die sich ziemlich aufgeregt gebärdete. »Dieser chilenische Hund hat Bolivien beleidigt!« schrien sie im Chor. Es war wie bei einer jener tollen Verfolgungsszenen, die wir im Kino bewundern.

»Woher kommen Sie?« fragte der Schutzmann mit gewichtiger Amtsmiene.

»Von Argentinien.«

»Und wohin wollen Sie nun?«

»Nach Antofagasta.«

Das Wort war noch nicht ganz über meine Lippen gekommen, als ein einziger Schrei der Entrüstung den Umherstehenden entfuhr. Der Schutzmann aber sagte kein Wort weiter, sondern nahm mich beim Rockärmel und führte mich ab nach der Polizeiwache.

Warum hatte ich auch daran nicht gedacht! Der Name Antofagasta hat in den Ohren eines jeden echten Bolivianers einen üblen Beigeschmack. Einstmals war diese Stadt der einzige Seehafen Boliviens gewesen; aber dann kam der große Krieg, in dem die verhaßten Chilenen ihnen das Tor zum Weltmeer verschlossen. Ein Menschenalter war schon beinahe darüber hingegangen, aber der alte Haß brannte immer noch weiter, wie ich jetzt zu meinem Leidwesen am eigenen Leib erfahren mußte.

Es war kein gemütliches Gefängnis, in das man mich geführt hatte. Die Tambos längs der Landstraße waren Hotels neben dieser Spelunke. Es gab weder Türen noch Fenster, ja nicht einmal ein Dach, um die Illusion einer menschlichen Behausung hervorzurufen. Nichts als ein kahler, schattenloser Hof voll Schutt und Gerümpel; ein einziger staubiger, schmieriger, übelduftender Abfallhaufen, umgeben von einer hohen Lehmmauer. Unzählige Schmeißfliegen durchschwirrten mit unheimlichem Summen die heiße, verpestete Luft, die von den senkrechten Sonnenstrahlen in flimmernder Bewegung gehalten wurde.

Außer mir befanden sich noch ein halbes Dutzend anderer Insassen dort. Tief in ihre bunten Decken gehüllt lagen sie in einer Ecke des Hofes und rührten sich nicht. Auch mir wurde bei Anbruch der Dunkelheit eine solche Decke zugeworfen, aber nachdem ich sie mir etwas näher angesehen hatte, verzichtete ich und lief die ganze Nacht auf und ab, um mich vor der Kälte zu schützen, die sich scharf wie tausend Nadeln vom klaren Nachthimmel herniedersenkte.

Am nächsten Morgen gab es eine Schüssel Mais, und um Mittag eine rote Pfeffersuppe. Endlos lang war dieser Tag. Ich glaubte Wochen durchlebt zu haben, als gegen Abend der Schutzmann, der mich so glorreich verhaftet hatte, auf der Bildfläche erschien. Mit ihm kam ein wohlgekleideter Herr mit einem Gesicht wie ein delphisches Orakel: »Und das soll ein Chileno sein?« sagte er kopfschüttelnd, »wenn das kein Gringo ist, dann habe ich noch keinen gesehen! Lassen Sie den Mann laufen!« Damit war ich entlassen.

Draußen auf der Straße hielt mich der elegante Herr noch einmal an.

»Sabe pintar?« Ob ich malen könnte? Natürlich konnte ich das, und er schien auch ganz davon überzeugt, denn in jenen Gegenden gilt jeder Gringo als geborener Maler, weil es sich meist um weggelaufene Seeleute handelt, die mit dem Farbenquast einigermaßen umzugehen verstehen.

»Ich bin nämlich der Herr Kommissar,« fuhr er fort, indem er sich mit gewichtiger Miene in die Brust warf, »ich suche jemand, der mir die Municipalidad neu anstreichen könnte. Hundert Bolivianos zahle ich, und das Material stellt die Stadt. Vielleicht finden Sie noch einige Gringos, die Ihnen helfen können.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Sogleich machte ich mich auf die Suche nach Arbeitskräften. Während des ganzen Tages durchstöberte ich alle Winkel des kleinen Städtchens. Es war ein stiller, windloser Tag; die Hitze lag schwer und drückend, wie ein brütendes Ungeheuer in den Straßen. Der Schweiß lief in Strömen aus allen Poren, aber so sehr ich mich auch umschaute, einen arbeitslosen Gringo fand ich nicht, mit Ausnahme eines zerlumpten, ausgekochten englischen Strandläufers, der auf der Treppe zum Bahnhof mitten in der grellen Sonnenhitze vor sich hinträumte. Man konnte ihm ansehen, daß er schon müde zur Welt gekommen und seither immer arbeitslos gewesen war. »Was soll ich denn auf der Munizipalidad?« fragte er mißtrauisch, »wohl gar ar-bei-ten? Das hätte ich zu Hause auch tun können; dazu braucht man nicht nach Uyuni zu kommen.«

Schon hatte ich meine Hoffnung ganz aufgegeben, als bei sinkender Nacht die beiden polnischen »Menschenfresser« aus der Pampa hereingewalzt kamen. Die waren gleich mit Feuereifer bei der Sache. Wenn man sie reden hörte, so konnte man meinen, sie verstünden sich aufs Häusermalen so gut wie auf das Schlachten der Lamas in der Pampa. Nachdem wir noch einen Indianer zur Herbeischaffung des Materials angeworben hatten, war die Mannschaft vollständig. Am nächsten Morgen machte ich mich frühzeitig an die Arbeit und mischte nach bestem Wissen und Gewissen die Farben mit dem Terpentinöl und dem Leinöl, wie ich es an Bord Schiff den Bootsleuten abgesehen hatte. Etwas bange war mir doch vor meiner neugewordenen Würde eines Malermeisters, aber als gegen Abend der vornehme und bis zur Sündhaftigkeit elegante Herr Kommissar auf der Bildfläche erschien, sprach er sich vollauf befriedigt über den Fortgang der Arbeit aus.

Von nun an besuchte uns der Kommissar mehrmals am Tage. Morgens erschien er gewöhnlich in Gehrock und Zylinder, mit gelben Glacéhandschuhen, mittags ganz in Weiß, mit weißem Tennisanzug, weißen Leinenschuhen, weißem Strohhut und himmelblauer Krawatte von unmöglichen Dimensionen. Abends kam er gewöhnlich nochmals in einem gemusterten Straßenanzug von der letzten Eleganz.

»Also aus Alemania kommen Sie?« fragte er eines Tages, »ja, ja, ich habe schon viel von dem Lande gehört! Es ist eine Provinz von Inglaterra.«

»Aber solche Eisenbahnen wie bei uns gibt es bei euch doch nicht,« meinte er ein andermal mit einem stolzen Blick auf die Eisenbahnschienen mit ihrer Fünfundsiebzig-Zentimeter-Spurweite, »es sind die schnellsten der Welt. Sie laufen wie's Donnerwetter! Wenn's sein muß bis vierzig Kilometer in der Stunde!« Einmal versuchte ich ihm auseinanderzusetzen, daß es bei uns auch noch allerlei gäbe, das sich mit Bolivien messen könnte. Aber damit hatte ich keinen Erfolg. »Warum sind Sie denn nicht dort geblieben?« meinte er kopfschüttelnd.

Ja, warum denn eigentlich nicht! – –

* * *

Alles in allem war der Mal-Kontrakt ein Hereinfall. Als nach acht Tagen die Arbeit beendet war und das große Haus sich in dem Glanze seines neuen Anstrichs sonnte, blieben mir gerade noch fünf Bolivianos Reinverdienst als Zins, Unternehmergewinn und Arbeitslohn übrig für all die Mühe und Arbeit, die mir die Sache gekostet hatte. Ich hätte gut daran getan, meinen gänzlichen Mangel an Begabung für einen business-man einzusehen, und mich nicht weiter um Kontrakte und dergleichen zu bemühen, aber wenn die Bestie Blut geleckt hat – –

Mit dem Malen – auch mit der bescheidenen Kunst des Häuseranmalens – geht es nicht anders als mit anderen Künsten. Mit dem Dichten, mit dem Singen, mit dem Musizieren oder auch mit dem vielgeschmähten Handwerk der Schriftstellerei. Hat man erst einmal seine Kunst darin versucht, so ist es schwer, wieder davon abzulassen, ob man auch noch so viel Reue darüber empfinde. Exemplum docet.

Drei Tage lang lief ich in der Stadt umher und betrachtete jedes Haus mit der Kennermiene eines routinierten Malermeisters. – Ja, die bedurften alle dringend eines neuen Anstriches. Schwarz und schmutzig und verkommen sahen sie aus, und die Ölfarbe an den Bretterwänden (soweit man sie unter der grauen Staubschicht überhaupt noch erkennen konnte) war hart und rissig geworden in der Sonne. Aber da war kein Hausbesitzer, der von meinen Diensten Gebrauch machen wollte. – »Das Haus anstreichen? Que esperanza! Wo denken Sie hin, Caballero! In drei Tagen ist es doch wieder so schmutzig wie zuvor.«

Die Logik hatte schon etwas für sich. Von allen Städten, die ich je gesehen habe, ist Uyuni die staubigste. Inmitten einer endlosen Wüste, die sich flach wie ein unermeßliches Tempelhofer Paradefeld nach allen Richtungen ausdehnt, ziehen sich ein paar Straßenzüge, umsäumt von buntbemalten Bretterhäusern, als ob der wilde Wüstenwind in seiner Laune sie hier zusammengefegt hätte. Bei Tag ist es heiß wie in einem Backofen und bei Nacht kalt wie ein Eiskeller. Wenn das Wetter windstill ist, so haben die Bewohner von Uyuni einen Festtag. Meist aber weht der Wind den Sand durch die Straßen, und es bläst ein Unwetter, das sich nicht selten zu wilden Böen steigert. Dann kommt der Pampero herangefegt. Er kommt wie ein Wetter beim Jüngsten Gericht. Er kommt über Salzfelder und Sanddünen. Salz und Sand und Steine wirbelt er vor sich her in gelben Wolken, die die Sonne verfinstern. Nichts, aber auch gar nichts ist hier, das an das keimende Leben der Erde gemahnt. Es gibt Leute, die in diesen Salzwüsten alt und grau geworden sind, ohne je einen Baum, einen Strauch, ja auch nur einen Grashalm gesehen zu haben. – Aber für solche Menschen gibt es wohl keine Strafe im zukünftigen Leben. Sie haben sie hienieden schon vorweg genommen.

Doch Uyuni ist der Platz zum Geldverdienen; das Eldorado der Abenteurer. Was immer von den Strandläufern an der Westküste über ein Durchschnittsmaß von Unternehmungsgeist verfügt, das kommt mit der Zeit nach Uyuni, oder Oruro oder irgendeiner der anderen Barackenstädte an der Antofagastabahn in der bolivianischen Wüste. Da wird man bald heimisch. Man macht in Politik, man spekuliert in Bauplätzen und Minenaktien, man schließt fromm und gottesfürchtig Kontrakte ab über die Anlage von Eisenbahnen und Telegraphenlinien; man stolziert einher in Reithosen und Ledergamaschen und einem breitkrempigen Cowboyhut, man raucht eine kurze Pfeife »english style«, man trinkt viel Whisky mit wenig Soda und vor allem: man pokert. – Wie gesagt: jeder Gringo in Uyuni ist ein Unternehmer. Das verlangt schon das Standesbewußtsein. Auch mir hing der Himmel voll lockender Verheißungen und Versprechungen, und wer weiß: Hätte ich mehr Geduld und Ausdauer gezeigt und einen besseren Blick für die unbegrenzten Möglichkeiten, die hier auf der Straße lagen, so wäre ich heute schon ein Krösus wie jener vielbesungene Onkel aus Südamerika. Aber, wie schon gesagt, ich fürchte fast, ich bin verdorben für einen Busineßmann.

Ein jeder von den Herrschaften, die sich auf der Veranda des ersten und einzigen Hotels am Platze in den Sesseln räkelten und auf die Köpfe der vorübergehenden grauen Ärmlichkeit in den Straßen spuckten, versprach mir Berge und Wunder. Ein Schwede wollte mir den Untervertrag für den Bau einer Abteilung einer neuen Bahnlinie übertragen, ein Mexikaner suchte einen Verwalter für seine Kupfermine, weil er selber mit dem Lesen und Schreiben auf gespanntem Fuße lebte, und ein langer Yankee hätte es gern gesehen, wenn ich als Strohmann für seine neue Gründung im Salpeterbezirk eingetreten wäre.

Doch in Uyuni ist es nicht anders als anderswo: Versprechungen sind billig wie die Brombeeren. Mir waren sie bereits zuwider geworden. Das Uyuni, das ich mir drüben in Argentinien in meiner Phantasie vorgestellt hatte, das Uyuni, um dessentwillen ich wochenlang willig beinahe übermenschliche Anstrengungen und Entbehrungen erduldet hatte, sah in der rauhen Wirklichkeit erheblich nüchterner aus.

Drei Tage stellenlos in Uyuni sind so viel wie deren sechs in der Hölle. Fort, nur fort aus dieser Wüste! Einmal wieder Bäume möchte ich sehen, und bunte Blumen und grüne Wiesen und fließendes Wasser. Dort draußen, weit im Westen schauten blaue Berge gar verlockend herüber; die Berge von Chile. Dahinter lag die Pampa mit ihren Salpeterminen und noch weiter draußen im fernen Westen – ja, da lag das Meer! Aber bis dorthin waren es noch mehrere hundert Kilometer, durch trostlose Wüste und heulende Einöde, und wie – wie sollte man dort hinkommen, wenn man nur noch drei Bolivianos in der Tasche hatte und die Eisenbahnzüge alle nur bei hellichtem Tage fuhren, so daß die Gelegenheit zum Schwarzfahren nicht eben glänzend war?

Während des ganzen Tages hatte ich über das Problem nachgedacht, und nachts konnte ich darüber keinen Schlaf finden. Draußen in der Gaststube der Fonda tanzten die Leute eine Cueca und die Mandoline spielte dazu eine eintönige Weise. Betrunkene Peone zankten sich über den Karten, und der Esel im Hofe schrie mißtönig in die fröstelnde Nacht. Ich achtete nicht auf den Lärm. Ich dachte nur immer an das blaue Meer und an die vielen Kilometer und an die drei Bolivianos, die ich in der Tasche hatte, und konnte nicht darauf kommen, wie ich die drei Punkte miteinander in Beziehung bringen sollte. Und dennoch war mir, als ob der Boden unter den Füßen brenne, als ob ich keinen Augenblick länger hier bleiben könnte. Wilder wie je war die Wanderlust über mich gekommen. Ein kleiner Hoffnungsstrahl blieb mir immerhin. Die Wirtsfrau hatte mir erzählt, sie kenne einen Landsmann von mir, der allabendlich in ihrem Gasthaus verkehre. Er sei Lokomotivführer an der Antofagastabahn und würde mich wohl mitnehmen, wenn ich ihm ein gutes Wort gäbe. Das hatte sie schon vor drei Tagen erzählt, und der Glaube an diesen deutschen Lokomotivführer fing an wankend zu werden. Man soll jedoch nichts so weit wegwerfen, weil man es dann weit wieder herholen muß. –

Es war wohl schon gegen Mitternacht, als jene sagenhafte Persönlichkeit richtig hereingeschneit kam. Ein junger Deutschösterreicher aus Triest, dem man es ansehen konnte, daß er dieses irdische Dasein nicht allzuschwer nahm. »Servus, Landsmann!« sagte er, indem er mir ein Glas Wein reichte. Dann setzte er sich auf den Bettrand, und wir fingen an zu schwatzen, als ob das niemals anders gewesen wäre. Man wird schnell bekannt in Bolivien.

»Jetzt bin ich der einzige Deutsche hier an der Eisenbahn, seit mein Kamerad nach La Paz hinaufgemacht hat,« sagte er wehmütig, »du mußt hier bleiben und mir Gesellschaft leisten. Auf der ganzen Welt haben es die Lokomotivführer nicht so schön wie hier. Dreihundertfünfzig Bolivianos bekommt man im Monat.«

»Aber ich habe doch keine Ahnung vom Lokomotivführen.«

»Als ob's darauf ankäme! Meinst du etwa, ich hätte eine Ahnung gehabt, als ich angefangen habe? Da arbeitet man erst vierzehn Tage in der Maschinenhalle und sieht zu, wie die anderen es machen, und wenn man so ungefähr weiß, wie's gemacht wird, dann fährt man einfach los! Furchtbar einfach! Jetzt ist gerade die beste Gelegenheit. Dem Kollegen von der Rangiermaschine – einem verfluchten Hiesigen – haben sie auf den Ersten gekündigt, weil er eine Herde Lamas totgefahren hat. Da kannst du gleich seine Stelle einnehmen.«

Jawohl, furchtbar einfach! Es dauerte eine Weile, ehe ich ihm verständlich gemacht hatte, daß ich unter den gegebenen Verhältnissen als Lokomotivführer doch wohl ein verfehlter Beruf wäre.

»Mir geht's ja gerade so,« bekannte er schließlich. »Ich habe längst genug von dem Affenlande, aber der Chef will mich nicht gehen lassen, weil ich vierteljährliche Kündigung habe. Aber eines Tages werde ich ihm die Karre in den Dreck fahren. Es laufen noch mehr Lamaherden herum, in die man hineinfahren kann!«

Ich erzählte ihm von meinen Nöten wegen der Reise; daß ich nicht Reisegeld genug hätte, daß in der Nacht keine Güterzüge vorbeikämen, mit denen man sich fortschmuggeln könnte, und daß es wohl am besten wäre, wenn ich als richtiger Fahrgast die Reise bis zur nächsten oder übernächsten Station bezahlte, um von dort mein Glück auf andere Weise zu versuchen.

»Aber i bitt schön!« rief der Österreicher aus, »mir san doch in Bolivien! Da zahlen nur die Dummen. Für fünf Bolivianos kannst du hier die ganze Eisenbahn kaufen. Du wirst doch den reichen englischen Aktionären nichts schenken wollen? Laß doch lieber einem armen Bolsero etwas zukommen. Für drei Pesos nimmt er dich mit bis ans Ende der Welt, wenn's sein muß. – Und wenn du auch das nicht ausgeben willst, dann ist das noch lange kein Grund zum Bezahlen. Man fährt eben so weit, bis sie einen hinauswerfen.«

Im übrigen meinte er, daß man nichts Dümmeres tun könnte, als nach der Küste hinunterzureisen. Dort drunten gäbe es mehr Hungerleider als irgendwo sonst auf der Erde. Die kratzten einander die Augen aus um das bißchen Arbeit und Verdienst. In den Salpeterwerken schauten sie eine Ziege für zehnmal mehr an als einen Menschen. Ganz Chile sei eine Räuberhöhle. Dagegen Bolivien! Das sei noch ein Land für einen unternehmenden jungen Mann. –

Wir schwatzten noch die ganze Nacht hindurch und machten große Pläne wie Schulbuben an einem Sommertag, bis der dämmernde Morgen den anderen zur Arbeit rief. Später habe ich ihn drunten an der Küste noch einmal gesehen unter anderen Verhältnissen. In eine Herde Lamas war er nicht gefahren, aber seine Stelle hatte er doch verloren und keinen roten Cent mehr hatte er in der Tasche. –

Drei Stunden später fuhr ich mit dem Schnellzug nach Westen. Für vierzig Kilometer war ich jedenfalls gut, denn so weit war es bis zur nächsten Station.

»Su boleto!« sagte der Schaffner.

»No tengo!« antwortete ich grob. Und dann setzte ich ihm auseinander, daß ich nur mit knapper Not noch den Zug erreichte und es mir deshalb nicht möglich war, die Fahrkarte rechtzeitig am Schalter zu erwerben. Aber – sei es, daß diese Entschuldigung zu ungewöhnlich oder schon gar zu verbraucht war – der Beamte zeigte sich als unangenehmer Mensch und meldete den Fall beim Vorstand der nächsten Station. Ohne die weitere Entwicklung der Angelegenheit abzuwarten, fuhr der Zug wieder davon und ließ mich mit langem Gesicht auf der einsamen Station zurück, in einer Gegend, die man nicht als Wüste bezeichnen kann, ohne diesen Begriff über Gebühr herabzusetzen. Was dem Kerl einfiel, mich hier an die Luft zu setzen! Unerhört anmaßend, einfach skandalös fand ich das Benehmen. So ein kleinlicher Pedant! So ein Wortklauber und Sittlichkeitsfanatiker! Ich fand das – um es einmal auf englisch zu sagen – einfach nicht fair!

Hier war nichts zu sehen als ein großes Vakuum an alledem, was mit solchen Begriffen wie Zivilisation und dergleichen zusammenhängt.

Nichts als eine einsame, grün angestrichene Bretterbude inmitten der grauen, salzigen Wüste. Still und tot alles ringsum, und das Ticken des Telegraphenapparats, das aus dem offenen Fenster ins Freie drang, war eine halbe Meile weit zu hören. Glücklicherweise war der Verwalter der Station ein umgänglicher Herr, der die ganze Angelegenheit mehr als Scherz und als willkommene Abwechslung in seinem eintönigen Dasein betrachtete.

»Die Sache wird Ihnen teuer zu stehen kommen,« sagte er zu mir, »außer dem doppelten Fahrpreis haben Sie noch zehn Pesos Strafe zu bezahlen. Zusammen fünfzehn Pesos.«

»So viel Geld habe ich ja gar nicht,« gab ich zur Antwort. »Und überhaupt – glauben Sie, daß ich von Uyuni bis hierher schwarz gefahren wäre, wenn ich den Preis für eine Fahrkarte übrig gehabt hätte?«

Das schien dem Beamten einzuleuchten. Eine Weile schaute er mich zweifelnd an und wußte nicht, ob er sich ärgern sollte oder nicht.

»Caramba!« rief er schon halb belustigt, »diese Gringos haben doch eine unerhörte Portion Frechheit. Aber was fangen wir jetzt mit dem Menschen an? Hier behalten können wir ihn nicht. Müssen schon sehen, wie wir ihn weiter schaffen? Madre dios! Der Fall ist nicht übel!«

Und er und sein Assistent lachten, daß ihnen die Tränen in die Augen traten.

Es traf sich gut, daß gerade ein Güterzug auf der Station stand, um das Vorbeifahren des Personenzuges abzuwarten. Der Verwalter beredete die Sache mit dem Zugführer, der auch ein Einsehen hatte, und so setzte ich denn auf dem grünspanbedeckten Kupfererz eines schwerbeladenen Wagens die Reise nach der Küste fort. –

Weiter und weiter ging es durch die endlose Wüste; bald über weite Flächen von losem Flugsand, bald über Steine und Geröll, bald wieder vorbei an ausgetrockneten Salzseen, über deren weißem Spiegel die dünne Luft in zitternden Wellen tanzte. Dann tauchten in der Ferne blaue Berge auf. Ein mächtiger, schneebedeckter Bergkegel schob sich nahe an die Bahnlinie heran.

Dünne blaue Rauchfahnen entstiegen seinem Krater. Andere, gewaltige Vulkane standen schwarz und unheimlich im Süden und Westen in der Richtung nach der Küste. Dicht vor einer größeren Station mit ausgedehnten Maschinenhallen huschte ein langer Pfahl mit einem bunt bemalten Schild neben dem Bahndamm vorüber. Die chilenische Grenze.

Das also war Chile!

Nach allem, was ich bis dahin von dem Lande wußte, hatte ich es mir etwas freundlicher und anheimelnder vorgestellt; und vor allem etwas grüner und lebendiger.

Wie heißt es doch in der chilenischen Nationalhymne?

»Y tus campos con flores bordados – – –«

 


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