Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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Über die Grenze

Vorzeitiges Reiseende. – Nachtlager im Kohlenwagen. – Ein frostiges Erwachen. – Kitschua. – Wandern im Schneesturm. – Sibirien unter 15 Grad südl. Breite. – La Quiaca. – Unter Landsleuten. – Hohe Politik. – »Wie denken Sie über Poincaré?« – Der wohltätige Türke. – Grenzrevision. – Ein Hiobsbote. – »Bei uns in Spanien –«. – Zwischen den Karawanen. – Giftige Indianer. – Von Eseln, Mauleseln, Lamas und Daniel Defoe.

Wüstenfahrt in dunkler Nacht – –

Der Zug rumpelte jetzt in schneller Fahrt über die Ebene. Blitzschnell glitten die Telegraphenstangen und die Meilensteine vorbei: Meile um Meile.

»La Quiaca!« ertönte da plötzlich die Stimme des Schaffners. »Levántese amigo, La Quiaca, La Quiaca!«

Das wirkte wie ein elektrischer Schlag. Im Nu hatte ich meine Siebensachen zusammengerafft und befand mich schon draußen zwischen den Gleisen. Schlaftrunken rieb ich mir die Augen. La Quiaca – hatte er nicht La Quiaca gerufen? Aber das konnte doch unmöglich der Ort meiner Sehnsucht sein! Nichts als ein paar tote Gleise inmitten der offenen Pampa. Der grelle Pfiff der Lokomotive schreckte mich aus meinen Gedanken auf. Puffend und fauchend hatte der Zug seinen Weg nach Norden fortgesetzt, und nur die beiden grünen Endlichter schauten wie zwei tückische Augen in die pechschwarze Nacht.

»Hasta mañana señor!« hörte ich aus der Ferne eine höhnisch lachende Stimme, »auf Wiedersehen in La Quiaca!« Der Spitzbube! Er mochte wohl eine Kontrolle an der Endstation befürchten und hatte mich darum in dieser Wildnis ausgesetzt. Wütend setzte ich mich auf eine der kalten Schienen und malte mir aus, was ich wohl mit dem Kerl anfangen würde, wenn er mir demnächst in La Quiaca wieder unter die Finger käme. Doch damit war nichts getan. Ich mußte sehen, wo ich eine Unterkunft für die Nacht finden konnte, denn es war eine jener bitterkalten Hochgebirgsnächte, in denen der Himmel schwarz ist wie chinesische Tusche und die Sterne unheimlich funkeln und flimmern. Nachdem das Auge sich etwas an die umgebende Dunkelheit gewöhnt hatte, gewahrte ich in einiger Entfernung die Umrisse eines kleinen Hauses; offenbar eine Art Stationsgebäude. Vollständig dunkel und ausgestorben stand es da. Das einzige Lebewesen war ein großer Hund vor der Tür, der von Zeit zu Zeit ein Unheil verkündendes Grollen vernehmen ließ. Ich habe immer eine gewisse Ehrfurcht vor Hunden gehabt, namentlich wenn sie bei Nacht und Nebel ihre Zähne zeigen und mit gurgelnden Tönen ihre schlechte Laune verraten. Deshalb hielt ich mich in achtungsvoller Entfernung von dem Haus. Nachdem ich eine ganze Schachtel Streichhölzer vergebens abgebrannt hatte, gelang es mir endlich, den Namen der Station zu entziffern – Pumahuasi. Hastig blätterte ich in meinem Fahrplan – es waren nur noch fünfundzwanzig Kilometer bis La Quiaca. Ich durfte mit meinem Tagewerk zufrieden sein.

Der Anblick einiger einsam und verlassen auf den Gleisen umherstehenden Eisenbahnwagen legte den Gedanken an ein Nachtquartier nahe. – Ein Königreich für einen schönen, sauberen, winddichten Packwagen; so einen eleganten »side-door pullman«, wie man in Nordamerika zu sagen pflegt. Nichts von alledem war hier zu sehen. Nur offene Flachwagen, die nicht mehr Schutz vor dem Wetter boten, als etwa das windumheulte Dach eines Wolkenkratzers in Commercestreet in Chicago. Mit einem Seufzer breitete ich meinen Poncho in einem schmutzigen Kohlenwagen aus, wo ich mich vom Nachtwind langsam in den Schlaf singen ließ.

Et à leur reveil
O reveil plein d'horreur!

konnte ich mit Racine sagen. Ein tolles Schneegestöber fegte über die Pampa, und der hartgefrorene Poncho war über und über mit einer dicken Schneekruste bedeckt. Nicht minder steif gefroren waren die Glieder. Kurzum, es war eine höchst unerquickliche Lage und gewiß hätte es noch lange gedauert, ehe ich Energie genug gefunden, um meine Betäubung abzuschütteln, wenn nicht ein gar verlockendes Feuer aus dem Hofe des Stationsgebäudes zu mir herüber geleuchtet hätte.

Etwa ein Dutzend Indianer hockten um das Feuer und hielten die frosterstarrten Hände über die wärmende Flamme. Unbeweglich saßen sie da; zwölf knallrote Ponchos mit darauf gestülptem Sombrero. Weiter war nichts von ihnen zu sehen. Als aber der weiße Fremdling in ihren Kreis hineingeschneit kam, wurden sie plötzlich lebendig. »Gringo!« ging es von Mund zu Mund.

Einer stand auf und kam auf mich zu. Er faßte mich nicht eben sanft am Ärmel und grinste über das ganze Gesicht mit so viel Grazie, als bei seinen verwitterten Zügen überhaupt möglich war. Dann setzte er sich wieder hin und die anderen zupften mich am Ärmel. Ich nahm das für eine Einladung und setzte mich zu ihnen ans Feuer. Während es nun in meinem Teekessel lustig brodelte und ich selbst meine erstarrten Lebensgeister über der wärmenden Flamme auftaute, wurden die Indianer nicht müde, mich anzustarren. – Ein Gringo am Lagerfeuer! Leidenschaftlich erörterten sie das Ereignis in der landesüblichen Kitschuasprache, bei der die Gebärden und Grimassen offenbar die Hauptsache sind. Kein Wort verstand ich von dem Kauderwelsch, aber aus den mißgünstigen Blicken ihrer grünschillernden Augen konnte ich unschwer erkennen, daß es nicht gerade Liebenswürdigkeiten waren, die sie mir zudachten. Vergebens bot ich mein bestes Kastilianisch auf, um ihnen begreiflich zu machen, daß ich die Harmlosigkeit selber war; aber auf alle meine Reden und Beschwörungen kam nur immer die eine Antwort: »no sabe, no sabe!«

Endlich schien die Beratung bis zu einem gewissen Grade der Beschlußfähigkeit herangereift zu sein. Ein kleines, vertrocknetes Männchen wie der Zwerg im Märchen, wandte sich direkt an mich mit einer wohlgesetzten Rede im reinsten Kitschua, während die anderen sich in erwartungsvolles Schweigen hüllten. Als ich darauf nicht reagierte, setzte ein anderer die Rede fort und so ging es weiter die Reihe herum. Als das alles nichts half, kam der Zwerg, der zuerst gesprochen hatte, auf mich zu und zupfte mich am Ärmel. »La Quiaca, La Quiaca!« sagte er mit weinerlicher Stimme, und wies dabei mit dem schmutzigen Finger nach Norden, wo der Schienenstrang sich in der grauen Pampa verlor. Das war das Paßwort für die anderen. Alle sprangen auf einmal auf und zeigten nach Norden. »La Quiaca, La Quiaca!«

Die Aufforderung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sobald ich meinen Tee getrunken hatte, brach ich auf und setzte auf dem Bahndamm die Reise nach La Quiaca fort. Der Wind war inzwischen noch mehr aufgefrischt und führte neben dem Schnee noch ganze Wolken von Flugsand mit. Fein wie Staub und hart wie Glas kamen die Schneekörner herangejagt und bohrten sich in die Haut wie spitze Nadeln, während der Flugsand sich allenthalben in Mund, Nase und Ohren festsetzte.

Es war ein unsagbar mühseliges Wandern! Frei und offen breitete sich die Landschaft nach allen Himmelsrichtungen aus und nirgendwo in der weiten Runde war etwas zu entdecken, das einen wirksamen Schutz gegen die Wut des Sturmes gewährte. Nur von Zeit zu Zeit, wenn eine wilde Bö die Schnee- und Staubwolken besonders dick vor sich herjagte, preßte ich krampfhaft den Kopf gegen die Leeseite einer Telegraphenstange, um so wenigstens für einige kümmerliche Sekunden die Illusion eines Schutzes zu genießen. Stumpfsinnig tappte ich weiter, ohne zu denken, zu hoffen, oder zu fürchten – weiter – weiter – –

Erst gegen Abend ließ die Wut des Sturmes nach, und das weiche Licht der untergehenden Sonne begann durch den dichten Schleier hindurchzuscheinen. Ringsum breitete sich noch immer die Wildnis von Sand und Steinen, untermischt mit dürren Gräsern, die da und dort in kümmerlichen Büschen im Sand der Steppe vegetierten. In einer Talmulde lagen etliche Roggenfelder, umgeben von dicken Steinwällen zum Schutz gegen die Winde, und an einem Abhang zog sich eine Ansiedlung von armseligen Lehmhütten hin. Ein kleiner, struppiger, mottenzerfressener Esel, der sich an den dürren Gräsern zwischen den Gleisen gütlich tat, stimmte ein mißtönendes Klagelied an. Gerade so hatte ich mir immer, nach Sven Hedins Zeichnungen, eine Landschaft im fernen Tibet vorgestellt. Doch nein, wo hatte ich selbst schon einmal ähnliches gesehen? Es war wohl weit am anderen Ende der Erde, an der Ostküste Sibiriens, wohin mich vor Jahren ein böses Geschick, oder sagen wir lieber: mein eigener Unverstand, verschlagen hatte.

Dieselbe traurige Umgebung, dieselben armseligen Lehmhütten, derselbe kalte Wind, der darüber hinfegte. Sibirien unter fünfzehn Grad südlicher Breite! Ich war ganz zerknirscht.

Ein einsamer Reiter kam die staubige Straße entlang; dem Aussehen nach wohl einer der vielen »Türken«, die sich dort in der Gegend niedergelassen haben. Finster genug schaute er herab von der Höhe seines Maultieres, aber er war doch wenigstens ein Mensch und kein vertiertes Geschöpf wie die Indianer. Und er sprach auch nicht diese greuliche Kitschuasprache, sondern ein halbwegs verständliches Spanisch.

»Amigo!« rief ich ihn an, als er nahe genug herbeigekommen war, »können Sie mir sagen, wie weit noch der Weg ist bis La Quiaca?«

Ungnädig runzelte der »Türke« die Stirn und schaute mich eine ganze Weile mit bösen Augen an.

»La Quiaca?« sagte er mit spöttischer Gebärde. »Ja, haben Sie denn keine Augen? Das hier ist doch La Quiaca!«

»So, so,« sagte ich zu mir selbst. Ich hatte es mir ein bißchen anders vorgestellt, dieses Mekka aller meiner Träume der letzten Wochen.

Der Ort gewann auch nicht bei näherer Betrachtung. Im Gegenteil! Dieses La Quiaca ist entschieden einer der unwirtlichsten Erdenwinkel, die ich je gesehen habe. Und das will viel heißen. Nur ein einziger, verkümmerter Baum stand einsam und verlassen an einer Ecke der Plaza, und der war von einem Zaun umgeben und bis fast zur Krone hinauf sorgsam eingehüllt, damit die kalten Winde ihm nicht noch vollends den Garaus machen konnten. Ein niedriges, weißgetünchtes Haus im »Schatten« dieses Baumes trug den anspruchsvollen Namen »Hotel International«. Es war das erste und einzige Hotel am Platze und deshalb mußte ich schon notgedrungen mich und meine paar Pesos der Gnade dieses Hotelwirts ausliefern. Nach den vorhergegangenen Erfahrungen verspürte ich nicht die geringste Lust, noch eine weitere Nacht bei »Mutter Grün« zu verbringen.

Eine wohltätige Wärme schlug mir aus der offenen Tür der Gaststube entgegen. In einer Zimmerecke stand sogar ein Stück Hausrat, das ich bisher in den Häusern Südamerikas vergeblich gesucht hatte, nämlich ein richtiger, brummender, singender, warmer, molliger Ofen. Und daneben saß der dicke, blonde Wirt, der eben – nein, es war keine optische Täuschung – die Wochenausgabe der »Deutschen La-Plata-Zeitung« studierte. Die Tatsache, daß sich noch ein anderer Landsmann nach La Quiaca verirren konnte, schien ihn nicht im geringsten zu erstaunen.

»Nu hären Sie mal, mein Kutester,« redete er mich in unverkennbar sächsischem Tonfall an, »was denken Sie bloß von die Marokkogeschichte?«

»Aber, bester Herr, was soll ich davon denken?«

»Und dieser Monsieur Delcassé?«

»Der Delcassé?«

»Und der Poincaré?«

»Von Poincaré habe ich noch nie etwas gehört.«

»Ja Menschenskind, wo haben Sie denn gesteckt in der letzten Woche? Die ganze Welt ist ja voll davon. Es gibt Krieg! Na, einmal muß es ja doch losgehen. Ich habe meine fünfundfünfzig Jahre auf dem Rücken, und meine Knochen sind schon ein bißchen eingerostet. Aber wenn ich ein junger Kerl wäre wie Sie –« und dann folgte eine Kette von Kraftworten, die mindestens drei Druckzeilen einnehmen würde. Er holte die »Prensa«, die »Argentina«, die »Nacion«, die »Razon«, und andere argentinische und bolivianische Zeitungen herbei, an Hand deren er mir die augenblickliche politische Lage auseinandersetzte. Bald kamen noch einige Deutsche hinzu, die dort bei der Eisenbahn angestellt waren. Aber der übliche Skat wollte nicht recht in Gang kommen, denn das große Ereignis gab Stoff zum Politisieren und zum Entfachen der Begeisterung, die sich in patriotischen Liedern Luft machte. Wie seltsam es klang dort oben in den schwarzen Bergen:

Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand,
Blüh' im Glanze dieses Glückes
Blühe, deutsches Vaterland.

Ich aber konnte damals der marokkanischen Frage kein richtiges Interesse abgewinnen. Ich hörte nur immer den Sturmwind an den Fenstern rütteln und dachte mit Grausen an den morgigen Reisetag. –

Am nächsten Morgen, als ich meine Siebensachen für die Weiterreise packte, gab mir mein liebenswürdiger Wirt noch allerlei nützliche Winke mit auf den Weg.

»Wenn Sie einem guten Rat zugänglich wären, würde ich Ihnen vorschlagen, sofort wieder zurückzufahren,« sagte er mit spöttischem Lächeln, »ich würde gern mit einem der Zugführer reden, damit er Sie mitnimmt. Es ist besser, wenn Sie sich die bolivianischen Pläne gleich aus dem Kopf schlagen, denn dort drüben werden Sie es doch nicht lange aushalten.«

»Ich will aber doch gar nicht in Bolivien bleiben, sondern nach Antofagasta an der chilenischen Küste.«

»Ja, selbstverständlich nach Antofagasta!« lachte er. »Das habe ich schon oft gehört. Fast jede Woche bekomme ich Besuch von Landsleuten, die in der Welt herumreisen, und alle wollen sie nach Chile, nach Peru, nach Ecuador und weiß der Himmel, wo sonst noch hin. Aber nach vierzehn Tagen kommen sie wieder über die Grenze und sind froh, wenn ich ihnen einen Freipaß nach Tucuman verschaffe. Haben Sie sich schon einmal klargemacht, daß es noch ein verteufelt langer Weg ist bis Antofagasta? Gleich jenseits des kleinen Baches an der anderen Seite La Quiacas ist die bolivianische Grenze, und von dort geht der Weg – oder was man hierzulande einen Weg nennt – geradewegs nach Norden bis Tupiza und von dort über die »Sierra Santa Barbara« nach Uyuni, der Station an der Eisenbahn, die von Antofagasta nach La Paz führt. Es sind reichlich vierhundert Kilometer, die Sie bis dahin zu laufen haben, mein Lieber! Und das alles über Stock und Stein, über Berge und durch Flüsse, die Sie durchwaten müssen, denn Brücken gibt es keine.«

»Und wie steht's mit dem Übernachten?« fragte ich ahnungsvoll.

»Das ist gerade das Schlimmste bei der Sache,« fuhr er fort, »übernachten kann man nur in den »Tambos«, das sind kleine rußige Schutzhütten, die von der Regierung am Wege errichtet sind. Sie stehen immer etwa vierzig bis fünfzig Kilometer voneinander, und wer die Entfernung an einem Tag nicht zurücklegen kann, der muß noch ein Stück von der Nacht zu Hilfe nehmen oder aber in der barbarischen Kälte erfrieren. Für Fußgänger ist man hierzulande nicht eingerichtet. – Und dann die Puna, die Puna, – wissen Sie, was Puna ist?«

»Nein.«

»Das werden Sie noch frühe genug herausfinden. Die Puna ist eben die Puna; so eine Art Mittelding zwischen der Seekrankheit und einer doppelseitigen Lungenentzündung. Wenn sie aufs Herz schlägt, dann muß man ins Gras beißen. Das kommt dort oben alle Tage vor. Beschreiben kann man das nicht, aber bis Sie erst einmal an der Sierra Santa Barbara, in fünftausend Meter Meereshöhe sind, werden Sie's schon selbst herausgefunden haben. – Darum überlegen Sie sich's noch einmal mit der Reise! Nein? Nun dann gehen Sie meinetwegen bis ans Ende der Welt, Sie unverständiges Stück Eigensinn! Aber sehen Sie zu, daß Sie den Weg nicht verfehlen, sonst landen Sie unversehens in Potosi oder Cochabamba. – Bis Tupiza ist er nicht zu verfehlen. Das ist ein hübsches Städtchen, hundert Kilometer von hier. Wie ich noch jung gewesen bin, habe ich den Weg oft in zwei Tagen gemacht.«

Noch andere Unterweisungen gab mir der besorgte Landsmann, und als ich endlich wieder draußen auf der Landstraße stand, da wirbelte es in meinem Kopfe von neuen Namen: Tupiza, Uyuni, Cochabamba, Potosi – eine ganze Welt hatte sich vor mir aufgetan. Eben war ich dabei, mir das Gehörte noch einmal im Kopf zurechtzulegen, als jemand eiligst auf mich zukam. Es war kein anderer als der Türke, dem ich tags zuvor hoch zu Roß begegnet war.

»Guten Tag, Freundchen,« rief er mir schon von weitem zu, »wollen Sie vielleicht noch einkaufen für die Reise? Tabak – Seife – Büchsenfleisch – ein hübsches Pañuelo – ein Poncho? Es ist die letzte Gelegenheit, denn drüben über der Grenze ist alles noch einmal so teuer. – Aber was sehe ich, Caballero! Mit den Schuhen wollen Sie durch Bolivien reisen? Damit kommen Sie unter Garantie keine drei Tage weit. – Nehmen Sie bei mir prima Ware – direkt von Buenos Aires – paßt Ihnen wie angegossen!«

Und ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte er mich in einen großen Kramladen geschleppt, in dem in buntem Durcheinander, wie in einem orientalischen Bazar, alle Schätze der beiden Welten, von der Wanduhr bis zu einer Schachtel Sunlightseife feilgeboten waren.

Im Handumdrehen hatte er mir ein Paar wirklich annehmbarer, guter Schuhe verkauft.

»Und was bin ich Ihnen schuldig?« fragte ich.

»Oh, die bekommen Sie ganz umsonst, ich tue immer gern einem armen Wanderer einen Gefallen. – Kann ich vielleicht sonst noch etwas für Sie tun? Haben Sie schon Ihre Pesos umgewechselt?«

Wahrhaftig, daran hatte ich noch gar nicht gedacht! Wenn ich nach Bolivien reiste, mußte ich doch zuerst meine argentinischen Pesos los werden. Dienstfertig nahm der Türke meine fünfundzwanzig Pesos in Empfang und gab mir dafür die gleiche Anzahl Bolivianos, ohne aber dabei das kleine Disagio von zehn vom Hundert in Rechnung zu bringen. Die Schuhe hatten sich also doch einigermaßen bezahlt gemacht. Wie sagt doch der Amerikaner? Charity begins at home. – –

»Beehren Sie mich bald wieder!« hörte ich den Türken noch hinter mir rufen, während ich mit großen Schritten in den heraufdämmernden Tag hineinmarschierte.

Der Morgen hatte die Prophezeiungen des vorhergehenden Tages zuschanden gemacht. Der Wind war völlig ausgestorben und ein ruhiger, klarer Wintermorgen lag über der Landschaft. Kerzengerade stieg der Rauch aus den Hütten in die Höhe und zog sich dann in dünnen, bläulichen Streifen am Himmel hin. Wo aber der Sturm über Nacht den Schnee zusammengefegt hatte, da glitzerte und funkelte es wie von tausend Diamanten im Scheine der Morgensonne, die blutigrot hinter den schwarzen Bergen hervorgekrochen kam. Die hartgefrorene Erde klang metallisch unter den Füßen. Kurzum: ein Tag, der für eine lange Fußwanderung wie geschaffen war.

Etwas unheimlich wurde mir doch zumute, als ich über das dünne Eis des Grenzflüßchens schwankte und dann einen steilen Abhang hinauf im vielgeschmähten Land Bolivien anlangte. Kaum war ich oben, als ein Zollbeamter in blauer Uniform und mit einem dunklen Indianergesicht sich meiner annahm.

»Wohin?« fragte er nicht gerade gnädig.

»Nach Bolivien.«

»Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen. – Beruf?«

»Mechaniker.«

»Natürlich Mechaniker! Seit Wochen ist keiner mehr über die Grenze gekommen, der nicht Mechaniker gewesen wäre. Vorher waren alle Ingenieure. Nächstens werden es vielleicht Buchhalter sein.«

»Wünschen der Herr Inspektor vielleicht meine Papiere zu sehen?« fragte ich mit einem kühnen Griff nach meiner nicht vorhandenen Brieftasche.

»Nein!« rief der Inspektor mit beschwörender Gebärde, »verschonen Sie mich, Caballero! Gehen Sie ruhig weiter und lassen Sie sich's gut gehen in Bolivien.«

Ähnlich wie drüben auf der anderen Seite von La Quiaca führte auch hier der Weg über eine leicht gewellte, mit vereinzelten Grasbüscheln bestandene Pampa, auf der zuweilen ein bockiges Lama mit grotesken Sprüngen davoneilte, oder ein kleiner Esel sich mitten auf der Straße aufpflanzte, der den fremden Wanderer mit sanften, intelligenten Augen betrachtete. Sonst war in der weiten Runde kein Lebewesen und keine Spur einer menschlichen Tätigkeit zu erblicken. Ringsum, so weit das Auge reichte, breitete sich eine kahle, unwirtliche Landschaft, über der das dumpfe, unheimliche Schweigen der Wildnis brütete.

Erst als die Sonne sich zu neigen begann, bemerkte ich einen Wanderer, der mir auf meinem Wege entgegenkam. Der Ärmste schien sehr müde und hungrig, und da er, mehr an seinen Gesichtszügen als an seiner braungebrannten Hautfarbe als Gringo erkenntlich war, hatte ich Mitleid mit ihm und lud ihn zu »einer Tasse Tee«, eine Aufforderung, die ich nicht zu wiederholen brauchte. Schnell scharrte ich etwas trockenen Lamamist zusammen und röstete auf dem damit entzündeten Feuer die Hammelkeule, die mein freundlicher und fürsorglicher Wirt mir auf den Weg mitgegeben hatte, zusammen mit einer Blechdose, in der das Teewasser gekocht wurde.

Allen diesen Vorbereitungen sah mein seltsamer Gast mit stumpfer Gleichgültigkeit zu. Selbst der Duft des saftigen Hammelbratens verlockte ihn nicht. Er machte den Eindruck eines von Hunger und Müdigkeit gänzlich gebrochenen Menschen. Nur von dem heißen Tee konnte er nicht genug bekommen und dieser begann denn auch allmählich seine Zunge zu lösen.

»Nun sagen Sie mir ehrlich,« hob er unvermittelt an in reinstem Kastilianisch, das den geborenen Spanier verriet, »kann man mir das ansehen, daß ich vor drei Monaten noch ein Gentleman – ein Caballero gewesen bin?«

Verwundert betrachtete ich ihn mir von oben bis unten. Nein, beim besten Willen konnte man ihm das nicht ansehen. Wie er so dasaß mit den zerrissenen Kleidern, dem bleichen, eingefallenen Gesicht und den wirren Haaren, war er vielmehr ein Bild des wandelnden Elends.

»Und doch bin ich ein Caballero gewesen,« fuhr er fort in wohlgesetzter Rede, »ein Caballero mit amerikanischen Patentschuhen und einem Panamahut. Aber kaum war ich im ersten Dorf dieses Affenlandes angelangt, da hat mir der Polizeikommissar die amerikanischen Schuhe weggenommen, und der Bürgermeister hat den Panamahut behalten.«

»Der Bürgermeister?« rief ich voller Entsetzen.

»Jawohl, der Bürgermeister! Amigo, Sie haben noch keine Ahnung davon, was man in Bolivien erleben kann! Bei uns in Spanien nimmt man's ja auch nicht so genau, und die Polizei ist auch immer dort zur Stelle, wo es etwas zu verdienen gibt, aber den Hut vom Kopf und die Schuhe von den Füßen stiehlt man nicht, – nein, dazu ist man doch zu sehr Caballero!«

Das war auch ganz meine Ansicht, und da ich nichts Passendes zu antworten wußte, sahen wir eine Weile in das verlöschende Feuer, bis der andere den Faden seiner Gedanken wieder aufnahm.

»Können Sie halbgekochte Maiskörner essen?« fragte er dann weiter.

»Wenn's sein muß, warum nicht?«

»Um so besser, wenn Sie's können. Bei uns füttert man damit die Schweine. – Haben Sie schon einmal Tschitscha getrunken?«

»Noch nie davon gehört.«

»Nun, das ist alles, was man hierzulande bekommt! Mais und Tschitscha, Tschitscha und Mais. Und immer bar bezahlen, denn umsonst ist der Tod in Bolivien. Für eine Schüssel Mais mußte ich meinen Poncho zurücklassen und für eine Flasche Tschitscha den Rock, und als ich gar nichts mehr zu verkaufen oder zu verschenken hatte, haben diese kitschuasprechenden Teufel mich bei Nacht und Nebel mit den Hunden von der Tür gejagt. Ein Wunder, daß ich bei der sibirischen Kälte nicht längst schon in der Pampa erfroren bin.

»Aber nun ist es genug,« fuhr er fort mit Tränen der Wut in den Augen, »genug Bolivien für mich! Seit zwei Tagen bin ich ohne Aufenthalt fünfzehn Leguas gelaufen, und ich will nicht ruhen, ehe ich die Grenze des freien Argentinien erreicht und dieses ungastliche Land mit einem Fluch und einem Steinwurf hinter mir gelassen habe! – Wieviele Leguas sind es noch bis Tucuman?«

Noch manches berichtete er in seiner wirren, zusammenhanglosen Art von seiner bolivianischen Odyssee. Er war ein spanischer Matrose, der vor einem halben Jahr von einem Segelschiff in Antofagasta weggelaufen war und in umgekehrter Richtung genau dieselbe Reise hinter sich hatte, die ich eben erst zu unternehmen gedachte. Aber außer dem Klagelied von Ach und Weh war keine vernünftige Auskunft von ihm zu erlangen, und so machten wir uns bald wieder auf den Weg, ein jeder nach seiner Richtung.

Dieses erste Zusammentreffen auf bolivianischer Erde gab doch Anlaß zum Nachdenken. Na, Gott sei Dank, wegen der Lackschuhe brauchte ich mich nicht vor dem Polizeibeamten zu verstecken, und ein eitler Bürgermeister würde bei mir vergeblich nach einem Panamahut suchen. Um meinen neuen Poncho war mir allerdings bange, und ich beschloß, ihn in Zukunft vor dem Zusammentreffen mit einem Vertreter der Obrigkeit nach Möglichkeit in Sicherheit zu bringen.

Gegen Abend begann es auf der Landstraße lebendiger zu werden. Eingehüllt in große gelbe Staubwolken zogen lange Karawanen mit Hunderten von Lasttieren vorüber, begleitet von zwei bis drei indianischen Treibern, die hoch zu Maultier hinterdrein ritten. Finstere, unheimlich aussehende Gesellen! Über der Schulter trugen sie den lose herunterhängenden Poncho aus buntem, hausgewebtem Stoff, der bis zur wohlgefüllten Satteltasche reichte, in der sie den gerösteten Mais als Mundvorrat für die Reise aufbewahrten. Auf dem Kopf der hohe, zuckerhutartige Hut und darunter ein dunkles, hartes, wie aus Stein gemeißeltes Gesicht. Höflich waren sie bis zur Übertreibung. Beim Vorüberreiten lüfteten sie den Sombrero mit einer Verbeugung, die jedem Salonlöwen zur Ehre gereicht hätte: »Buenos dias, señor

Aber in dem stechenden Blick ihrer tückischen Augen stand doch deutlich zu lesen: »Ha, Gringo, wenn ich nur könnte, wie ich wollte!«

Und konnten sie das etwa nicht? Was wäre einfacher gewesen, als daß sie mir mit dem langen Cuchillo, das sie stets im Gürtel trugen, den Garaus gemacht und mein Gebein irgendwo im Sande verscharrt hätten. Niemand hätte je davon erfahren. Nur die Schakale hätten darob einen Klagegesang angestimmt, und der Wüstenwind dazu ein Sterbelied gesungen. Ein toter Gringo am Wege! Weg damit! Die Toten erzählen keine Geschichten.

Noch heute überläuft mich zuweilen eine Gänsehaut, wenn ich mir das alles noch einmal vergegenwärtige.

Doch man ließ mich ruhig meines Weges ziehen. Längst schon hat jahrhundertelange Bedrückung den Geist dieses einst so stolzen und selbstbewußten Volkes gebrochen, und sie haben sich in ihr Schicksal finden gelernt wie der Löwe, der sich knurrend der Peitsche des Bändigers fügt. Sie haben gelernt, den Haß gegen die Gringos im tiefsten Herzen zu vergraben und über die Lippen kommt nur das devote: »Buenos dias, señor caballero

Allerlei Lasttiere werden bei solchen Karawanen verwendet. Am beliebtesten ist der Maulesel, weil er wegen seiner Kraft und Schnelligkeit bei weitem am leistungsfähigsten ist. Da aber eine Maultierkarawane ein großer Luxus ist, sieht man weit öfter den bescheidenen Bruder Langohr auf der bolivianischen Landstraße. Das Tragtier erster Güte in jenen Gegenden ist jedoch das Lama.

Ein gar eigentümliches Lebewesen ist so ein Lama. Wollte man seine Art und Unart ausführlich behandeln und dabei eine Durchleuchtung seines verwickelten Seelenlebens vornehmen, so müßte man ein ganzes Buch ausfüllen und käme doch nie zu Ende damit. Seine vornehmste Charaktereigenschaft ist wohl seine Bedürfnislosigkeit. Dem Besitzer verursacht es in der Regel keine andern Unkosten, als den mäßigen Anschaffungspreis, denn keine Weide ist so spärlich, als daß nicht ein Lama darauf seinen Unterhalt finden könnte. Einige bittere Gräser am Wege genügen vollkommen für seine Bedürfnisse. Und wenn auch diese fehlen, so kann es ruhig ein paar Tage hungern, ohne Schaden zu leiden an seiner Gesundheit. Das sind aber auch die einzigen Vorzüge des Lamas. Im übrigen ist es ein störrisches, bissiges, eigensinniges, schwer zu behandelndes Geschöpf, das bei der Arbeit nur in beschränktem Maße zu gebrauchen ist. Bepackt man seinen breiten wolligen Rücken mit Lasten von mehr als einem Quintal, gleich fünfzig Pfund, so gibt es durch Spucken und bockige Gebärden seinem Mißfallen Ausdruck, und man kann sicher sein, daß es kurz vor dem Ziel am Wege liegen bleiben wird. Und das Lama ein Reittier! O, Daniel Defoe!

Es blieb mir indes nicht viel Zeit zu derartigen zoologischen Betrachtungen. Fünfzig Kilometer auf bolivianischer Landstraße sind noch einmal so lang wie irgendwo sonst auf der Erde. Mit entmutigender Regelmäßigkeit zogen sich die flachen Bodenwellen durch das Land. Kaum war man über eine weg, so baute sich in der Ferne wieder eine andere auf, die der eben überwundenen so ähnlich sah wie ein Ei dem anderen. Mittags stand die Sonne senkrecht über dem Kopfe und brannte erbarmungslos auf das graue, schattenlose Land. Grau, grau war ringsum die Steppe. Dürre Grasbüschel vegetierten auf losen Sanddünen. Öde und Einsamkeit brütete unter dem stahlblauen Himmel. Alt und grau und verwittert schien alles unter dem harten Licht des grellen Tages. Schon malte der Abend seine Farben in der Ferne. Die Finsternis hockte in den Ecken und die kurze Dämmerung der Tropen zitterte am Himmel. Vereinzelte Sterne begannen vorwitzig herauszuschauen wie kleine Glasperlen aus dem schwarzen Sammetkleid der sinkenden Nacht. Ich fing an müde zu werden von der langen Wanderung. Die Steine der Straße wurden immer härter, und der Sand immer tiefer. Weiter und weiter wanderte ich durch die Dunkelheit der mondlosen Nacht und noch immer war kein Tambo zu sehen.

 


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