Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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An den Ufern des Parana

Ankunft in Rosario. – Die Fonda XX Settembre. – Trabajo! – An der Wasserkante. – Wie die Reise nach Kapstadt zur Fahrt nach Cordoba wurde. – Auf der Estancia. – Der mißliebige »Gringo«. – Fieber. – Die Zeiten werden immer schlimmer. – Fabrikarbeiter. – Eine südamerikanische Kundenpenne. – Etwas von Methusalem und anderem Gelichter.

Vor vielen Jahren habe ich einmal auf Long Island auf einer Farm gearbeitet. Ich war damals noch ein hübscher und zugänglicher Junge, und da ich außerdem ein gar so junges und unerfahrenes Grünhorn war, fühlte sich der alte Farmer für all mein Tun und Lassen verantwortlich wie für das seines eigenen Kindes. Oftmals, wenn wir draußen auf dem Maisfeld unter den schattigen Zaunhecken vor der Mittagshitze Zuflucht gesucht hatten und dabei den sauren Apfelwein aus dem kalten Kruge tranken, packte er allerlei hausbackene Lebensweisheit aus. Er hatte die den Landleuten eigene Kunst, mit wenig Worten viel zu sagen. Viele seiner Aussprüche habe ich bis heute behalten, aber nur wenige habe ich beherzigt.

»Jeder Narr kann Geld verdienen,« pflegte er zu sagen, »aber das Zusammenhalten – das ist die Kunst.«

So ist es. Was haben die Narren von ihrem Geld? Nutzlos verzetteln sie es da und dort für Dinge, mit denen sie nichts anfangen können. Sie tragen die Nase hoch und klimpern mit den paar Batzen in der Hosentasche. Und wenn sie ganz große Narren sind, so erzählen sie den lieben Freunden von ihrem Reichtum, damit diese ihnen helfen mögen, das Geld an den Mann zu bringen. Und am Ende haben sie weder Geld noch Freunde und erheben alsdann ein großes Geschrei über die Schlechtigkeit der Welt und der Menschen.

Ich selber habe Menschen kennen gelernt, die es so machen. –

Im letzten Kapitel habe ich von einem schönen Hotel erzählt, von einem wunderhübschen Patio und einem sehr gedankenlosen Menschen, der dort unter dem Schatten der duftenden Oleander beim plätschernden Springbrunnen den Don Quixote las und darüber Zeit und Stunde vergaß. – Ach, es war nur eine kurze Herrlichkeit! Nun fuhr ich im Schnellzug nach Rosario und zählte die Pesos in meiner Brieftasche. Jeden der schmutzigen Scheine glättete ich säuberlich und legte ihn sorglich beiseite. Dreimal zählte ich meine Barschaft, aber es wollte und wollte nicht mehr werden als etwa dreißig Pesos. Lumpige dreißig Pesos! Das konnte mich bei größter Sparsamkeit etwa drei Wochen lang über Wasser halten, und es war sehr fraglich, ob sich bis dahin etwas für mich finden würde; denn nach allem, was man hörte, waren die Zeiten schlecht, und die Arbeitslosen lagen zu Tausenden auf den Straßen. Mißmutig schaute ich zum Fenster hinaus auf die vorüberhuschende Landschaft, auf die großen Viehherden in den dürren Weiden und auf die gelben Stoppelfelder, die sich endlos in der Ebene erstreckten. Grau und kalt schien mir die Welt selbst in diesem Lande des blauen Himmels und der brennenden Sonne. Während ich noch diesen trüben Gedanken nachhing, fuhr der Zug über holperige Weichen; die weißen Häuser der Vorstadt wuchsen aus der flachen Ebene heraus. Schon liefen wir in die Bahnhofshalle von Rosario ein.

Ich hatte keine Mühe, ein »populäres Gasthaus« ausfindig zu machen, denn es wimmelte von Fondas, Posadas und Osterias, vor denen Scharen von Spaniern und Italienern herumlungerten, die ebenso heruntergekommen aussahen, wie ich selber. Bescheiden nahm ich mit einem italienischen Gasthaus vorlieb, das selbst in dieser ärmlichen Umgebung noch etwas zweitklassig aussah, dem Ristorante XX Settembre. In dem sehr großen Speisesaal lag das Sägmehl fingerdick auf dem Boden. An der Wand hing ein von Tabakrauch geschwärztes Garibaldibild, eine grün-weiß-rote Fahne und ein Freiheitsengel, der aussah wie ein Schlangenmensch. Brotkrumen und Rotweinflecken bedeckten die rissigen Wachstuchüberzüge auf den langen Tischen. Zerlumpte Italiener saßen Kopf an Kopf und löffelten ihre Polenta und hielten dazu ihre Zungen in schnatternder Bewegung. Über allem lag aber ein dicker Dunst von blauem Tabakrauch, von billigem Rotwein und widerlich duftenden Speiseresten. Das alles war nicht sehr einladend; aber wer eine empfindliche Nase hat, der gehe lieber gar nicht erst auf die Wanderschaft.

Ich setzte mich an einen der langen Tische, zwischen einen dunkelhäutigen Spanier und einen italienischen Gassenjungen, der eben erst von drüben gekommen war und nun aus lauter Heimweh dicke Tränen in seine Polenta weinte. Ein Kellner in einer schmutzigen Jacke, die einmal weiß gewesen war, setzte mir ohne weiteres eine Schüssel Polenta vor, dazu ein PucheroPuchero = stark gepfeffertes Fleischgericht, ähnlich dem ungarischen Gulasch. und ein Beefsteak, das in seiner Größe noch erheblich über den Rand des Tellers hinausragte. Alles das ausgiebig gewürzt mit einem Viertelliter Öl und einer Handvoll von dem roten spanischen Pfeffer, der gleich dem höllischen Feuer in den Eingeweiden brennt. Über dem Essen war es stockdunkel geworden. Die Gäste hatten sich verzogen, und die Pikkolos waren dabei, die Stühle auf den Tisch zu stellen. »Ein bißchen fix da!« fuhr mich einer an, »mach' daß du fertig wirst. Wir machen hier keine Überstunden.«

Trotzdem ich sehr müde war, wollte es in jener Nacht mit dem Schlafen nicht recht gelingen. Das »Schlafzimmer« war ein düsterer Bretterverschlag ohne Fenster noch sonst irgend welche Ventilationsvorrichtung. Eine dicke, verpestete Luft nahm einem fast den Atem. Es war ein Glück, daß man bei der ägyptischen Finsternis die Betten selbst nicht besehen konnte. Wer weiß, wie viele Generationen von Peonen – daß ich mich doch immer noch bei derartig lächerlichen Vorurteilen ertappte! Fast verzweifelte ich daran, je ein ordentlicher Argentiner zu werden.

Bald wurde die Hitze unerträglich. Der Schweiß strömte aus allen Poren. Dicht neben mir lag ein Spanier, der sich nicht genug tun konnte im Lästern und Fluchen. Er fluchte auf die Heiligen, er fluchte auf die Hostie, auf die Sakramente, auf die Jungfrau Maria und tausend andere Dinge; so schön, so herzhaft und so bilderreich, wie man eben nur im waschechten Spanisch fluchen kann. Die anderen Schläfer in dem Raume – es waren wohl ihrer fünfzig – wurden aufsässig und fluchten auf den Spanier. Einer fing an, aus reiner Opposition auf der Mundharmonika zu spielen, wodurch sich jedoch ein in meiner Nähe liegender baumlanger Italiener nicht abhalten ließ, so laut zu schnarchen, daß die Wasserflasche auf dem Tische zitterte, und kurzum: es war fürchterlich! Während der ganzen Nacht habe ich kein Auge zugemacht. –

Wer nicht schlafen geht, wird früh aufstehen. Wäre ich klug und vorausschauend gewesen, so hätte ich mich am nächsten Morgen gleich auf die Arbeitsuche gemacht, denn es sind – wie man zu sagen pflegt – die frühen Vögel, die die Würmer fangen. Aber Rosario ist eine viel zu interessante Stadt, als daß man sich hier nicht vorerst einmal umsähe. Den ganzen Tag über lief ich aufs Geratewohl durch die geschäftigen Straßen, durch die stolzen Palmenalleen in den öffentlichen Anlagen, wo an warmen Sommerabenden die letzte Pariser Eleganz lustwandelt, und durch die grauen, nüchternen Vorstädte, wo rußige Fabriken in den Tag hineinlärmen und barfüßige Kinder auf den schmutzigen Haustreppen sitzen. Der Instinkt des wandernden Volkes führte hinunter zum Hafen.

Ich habe immer eine Vorliebe gehabt für das summende Leben an Hafenkais, wo die Schiffe aller Herren Länder nebeneinander liegen, wo Ketten klirren und Fässer rollen, heisere Kommandorufe einander jagen und wo die schwerfälligen Dampfkräne geschäftig schnauben.

Da breitete sich der Parana in seiner ganzen Größe. Die gelben Fluten wälzten sich langsam und majestätisch vorüber. Ein blauer Dunst lag fein über dem Wasser. Unaufhörlich rasselten die Dampfkräne der großen Überseedampfer. Sie packten die schweren Quebrachoblöcke und ließen sie surrend in dem unersättlichen Schiffsrachen versinken. Flinke Motorboote durchpflügten pfeilschnell das gelbe Wasser. Überall ein geschäftiges Leben, und über allem Leben der heiße Atem einer hastigen Zeit.

Vor dem Gittertor einer Kaianlage stand dicht gedrängt eine Schar von Männern in Arbeitskleidern.

»Die warten hier auf Arbeit beim Schiffsladen,« sagte ein Vorübergehender auf meine Frage. »Sie verdienen ein Heidengeld, fünfzig Centavos pro Stunde.«

Fünfzig Centavos! Die konnte ich mir auch verdienen. Also stellte ich mich in Reih und Glied zu den anderen.

Wir standen und warteten mit stoischer Ruhe und mit einer Geduld, die man nur bei hungrigen Arbeitslosen finden kann. Zwei Stunden lang stand ich schon auf demselben Fleck und starrte noch immer unverwandt auf das große eiserne Gittertor. Die anderen, die sich hier aufhielten, machten ihre Bemerkungen. Draußen im Strom läge ein großer Dampfer mit einer Zuckerladung. Der müsse nun bald längsseit kommen und mit dem Löschen der Ladung beginnen. Dann brauche man wohl fünfzig Mann; vielleicht aber nur ein Dutzend, wenn die Mannschaft mithelfe. Möglicherweise müsse man auch warten bis morgen, oder bis übermorgen. Unter Umständen könnte eine ganze Woche vergehen, bis man wieder jemand einstelle. Das müsse man schon riskieren. Das Herumstehen und Warten gehöre eben mit zum Handwerk. Die Sonne war inzwischen immer höher gestiegen. Die subtropische Hitze lag heiß über dem unebenen Pflaster. Ein heißer Wind fegte den Staub der Straßen über den weiten Platz. Und wir warteten immer noch.

»Hast du deine neue Karte schon geholt?« fragte mich einer, der schon zwei Stunden lang getreulich an meiner Seite ausgeharrt hatte.

»Die Karte?«

»Nun, die von der Union. Was denn sonst?«

»Von der Union?«

»Ja, gehörst du denn nicht dazu?«

»Noch nie davon gehört!«

Der andere machte ein Gesicht, als ob er ein Gespenst gesehen hätte.

»Madre dios!« rief er aus, »du gehörst nicht zur Union? Ein Wilder bist du! Und dann kommst du hierher und willst Arbeit haben? Ja, bist du denn verrückt?«

Die anderen griffen das Wort mit Begierde auf. Was? Ein Wilder! Was will der Mensch hier? Schlagt ihn tot! Hundert Hände ballten sich zu drohenden Fäusten, und es hagelte Flüche im bilderreichsten Kastilianisch. Der Chor der Stimmen wuchs zum Orkan.

Ein Wilder, ein Verräter, pfui Teufel!

Plötzlich erschien, wie aus dem Boden gewachsen, ein Mann auf der Bildfläche, der offenbar etwas zu sagen hatte in diesem Kreise, denn augenblicklich trat Totenstille ein. Ein langer, dürrer westindischer Mulatte mit langen, affenartigen Armen, an denen mächtige Fäuste wie zwei eiserne Zuschlaghämmer los herunterhingen. Sein häßliches, olivenfarbiges, von tiefen Pockennarben greulich entstelltes Gesicht ragte fast um Haupteslänge über die anderen hinaus. Ganz dicht kam er an mich heran. Die kleinen Augen schossen wahre Dolche, und die weißen Zähne funkelten raubtierartig in dem dunklen Gesicht.

»Die Karte?« fragte er drohend.

»Ich habe keine.«

Ich brauchte nichts weiter zu sagen, denn ehe ich wußte, wie mir geschehen, lag ich schon in einer zehn Meter entfernten Straßenrinne. Unter dem Hohngelächter der anderen machte ich mich schleunigst aus dem Staube. Ich hatte nicht gewußt, daß die Zivilisation in Argentinien schon bis zum gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und richtigen nordamerikanischen »walking-delegate« vorgeschritten war.

Also wieder einmal – wer ohne festen Beruf auf der Wanderschaft von Land zu Land seinen Lebensunterhalt sucht, der wird allmählich einen großen Widerwillen ansammeln gegen alles das, was mit dem Begriff Organisation verbunden ist. Der Zug der Zeit geht nach dem Zusammenschluß der Menschen. Alles organisiert sich, die Bäcker, die Schuster, die Schneider. Alles schließt sich zusammen zu Gruppen und Grüppchen. Ein jeder fühlt sich am wohlsten als Teil eines Ganzen. Nur der Wandersmann ist nicht organisiert. Was nützt es dich, daß du ein halbes Dutzend Handwerke gelernt hast, was hast du davon, daß du das und jenes kannst, wenn du deine Kenntnisse nur verwerten darfst, wofern du der Gewerkschaft angehörst! Du bist vielleicht ein guter Maurer, aber du darfst hier nicht arbeiten, weil du der Gewerkschaft nicht angehörst. Du bist ein tüchtiger Zimmermann, aber kein organisierter; also kannst du hier keine Arbeit bekommen. Ich will es anderen überlassen, über Wert und Unwert der Gewerkschaften zu diskutieren. Mögen sich die Gelehrten darüber den Kopf zerbrechen. Ich weiß nur das eine: Der Trieb zur Organisation ist es, der heute unzählige Menschen, die ursprünglich das Zeug zu ganzen Kerlen hätten, in der Philisterhaftigkeit wie in einem Sumpfe versinken läßt. –

* * *

Die Zeit marschiert schnell, zumal dann, wenn man sie aufhalten möchte. Acht Tage waren schon vergangen, und noch immer lag ich auf dem Pflaster Rosarios, ohne daß sich die Aussichten inzwischen gebessert hätten. Täglich gab ich unverantwortlich große Summen aus für Straßenbahnfahrten nach allerlei verlockenden Stellungen, die in der Zeitung ausgeschrieben waren, nur um dann in irgend einer weit abgelegenen Vorstadt zu erfahren, daß ein anderer schon früher aufgestanden war wie ich. Da war kein Tag, der mir nicht eine verlockende Stelle vorgaukelte als – nun ja, als Erdarbeiter, als Handlanger, als Kellner, als Gemüsekrämer oder dergleichen. Aber ehe noch der Morgen weit vorgeschritten war, waren alle diese Illusionen wieder zerronnen wie ein Pampanebel vor der Morgensonne. Tagsüber lungerte ich mit den anderen vor den Arbeitsbüros umher. Viel Zweck hatte es nicht, daß man sich dort aufhielt. Die Türen blieben hartnäckig verschlossen, und die Tafel vor der Tür, auf der sie die freien Stellen ausschrieben, hatte schon seit Wochen keine Kreide mehr gesehen. Die Macht der Gewohnheit trieb uns jedoch immer wieder dorthin. Denn das Elend liebt die Gesellschaft.

In der grellen Sonne saßen wir auf den heißen Steinstufen, die zum Bahnhofsgebäude führten und hielten schläfrige Gespräche, die sich stets um dieselbe Achse drehten: »trabajo!« Arbeit! von etwas anderem wußten sie nicht zu reden, denn sie kannten nichts anderes. Arbeit und immer wieder Arbeit. Aber nicht die Arbeit, von der man sagt, daß sie dem Menschen das Leben versüßen und ihn zufrieden machen soll mit sich und seinem Schicksal, sondern die andere, die ihn verfolgt wie ein Gespenst, die ihn quält und ängstigt und ihn am Ende zermalmt unter ihrem unerbittlichen Räderwerk. Fast lauter zerlumpte Spanier und Italiener waren es, die sich dort auf den Steinstufen sonnten, mit nur einigen polnischen Juden als Rosinen in dem Teig.

Die Zahl der Zaungäste vor den Arbeitsbüros wuchs zusehends, denn die Zeiten wurden immer schlimmer. Noch immer war der Himmel klar und wolkenlos, in einem mitleidslosen Blau, und ein scharfer Wind holte das letzte bißchen Feuchtigkeit aus dem Boden. Die Weizenernte war schlecht gewesen, und man rechnete bereits mit dem vollen Verlust der Maisernte, die in diesem Monat beginnen sollte. Tausende – nein, Zehntausende von armen Teufeln, die eigens zu dieser Ernte übers große Wasser gekommen waren, waren nun brotlos geworden. »Mala época!« sagte einer zum andern, und sie schüttelten dazu die Köpfe vor lauter Ratlosigkeit. Der Menschheit ganzer Jammer konnte einen anfassen, wenn man sie so reden hörte von Frauen und Kindern, die nun in irgend einem spanischen Pueblo oder an einer toskanischen Landstraße oder in einer verkommenen Mietskaserne im Hafenviertel von Neapel vergeblich warten mußten auf die Geldsendungen aus Amerika, die sie in anderen Jahren notdürftig vor dem Verhungern geschützt hatten.

Ja, und mir ging es auch nicht viel besser. – Ihr, die ihr immer ein Dach über eurem Kopfe gehabt habt; ihr, die ihr noch immer an einem gedeckten Tisch gesessen habt, die ihr nie in fremden Landen heimatlos in den düsteren Straßen lagt; ihr, die ihr das Leben nur aus den Büchern kennt; ihr wißt nicht, mit was für bösen Augen die Not durch die Länder geht! Ein hungriger Magen im fernen Lande, ein zerrissener Schuh auf staubiger Landstraße, eine einzige freundlose Nacht in den fremden Straßen ist schlimmer als alle Seelenqual in euren ausgetüftelten Romanen. –

Manchmal war irgendwo eine bessere Stelle ausgeschrieben. Ein Buchhalter, ein Korrespondent, ein Lagerverwalter oder dergleichen wurde gesucht, und ich erinnerte mich dunkel, daß ich so etwas auch einmal gelernt hatte. Dann aber schaute ich kritisch auf meinen heruntergekommenen Anzug. – Nein, es hatte unter den gegebenen Umständen wohl keinen Zweck, daß man sich um so etwas bemühte.

Merkwürdig, wie schnell man verkommt und verwildert! War es denn wirklich erst zwei Monate her, seit ich drunten an der Darsena Norte zuerst den Fuß auf dieses verwünschte Land gesetzt hatte? Damals ein anständig gekleideter junger Mensch, der sich in der besten Gesellschaft sehen lassen konnte. Und heute? heute nur ein sonnverbrannter Peon mit einem zerknitterten Hut auf den wilden Haaren und einem bunten Pañuelo um den Hals.

Wie das alles gekommen?

Ach, es ist eine traurige und überdies noch eine sehr nüchterne Geschichte, aber ich werde nicht darum kommen, sie zu erzählen, denn sonst könnte man am Ende denken –

»Nein, das geht nicht,« hatte der Herr Silberstein gesagt, »den können Sie nicht mitnehmen. Was glauben Sie wohl, was sie in der Pampa sagen würden, wenn Sie mit einem großen Rohrplattenkoffer angeschrammt kämen? Lassen Sie das Zeug ruhig hier; geben Sie es bei einer Speditionsfirma auf. Die können es Ihnen nachschicken, wenn Sie es brauchen.«

Den Rat eines so welterfahrenen, mit allen Wassern gewaschenen Mannes wie Herr Silberstein, konnte ich nicht ohne weiteres in den Wind schlagen. Ich tat also wie mir geraten und nahm nur etwas Wäsche mit, die ich in den buntgewebten Poncho einwickelte. Man nennt das in Argentinien eine Lingera.

Auch sechs Wochen auf der Dreschmaschine gehen einmal vorüber. Es kam die Zeit, da ich wieder daran denken konnte, unter die Caballeros zu gehen. Ich war inzwischen lange genug in Südamerika gewesen, um zu wissen, daß hier das Wort »time is money« keineswegs eine so große Rolle spielt wie bei den nordamerikanischen Vettern. Schon acht Tage vor dem Ende der Saison kritzelte ich deshalb eine Postkarte: »Senden Sie gefälligst umgehend per Expreß, bahnlagernd –« Wäre ich noch länger in Südamerika gewesen, so wäre ich keineswegs allzusehr erstaunt gewesen über die Tatsache, daß bei meiner Ankunft in San Pedro der Koffer noch nicht angekommen war. Nachdem ein zweites Schreiben keinen besseren Erfolg hatte, wandte ich mich reklamierend an den Bahnhofvorsteher. Der saß, eingehüllt in eine blaue Wolke von Zigarettenrauch, gemütsruhig hinter dem Telegraphenapparat. Was da zu machen sei? »Ja, amigo, schreiben Sie eben noch eine Postkarte!« Ich versuchte es mit Telegrammen, ohne etwas anderes zu bezwecken, als mehr Ärger und mehr Kosten. Schließlich beschloß ich, den Stier bei den Hörnern anzupacken. »Geh' lieber zum Schmied als zum Schmiedle,« sagte ich mir mit einem guten alten schwäbischen Sprichwort und machte mich in Rosario auf den Weg nach dem Büro des Generaldirektors der argentinischen Zentralbahn.

»No está el gerente!« fuhr mich der uniformierte Diener an, der wie ein Lindwurm vor dem Eingang wachte. Aber noch ehe er Zeit hatte, ein weiteres Wort zu sagen, hatte ich ihn schon beiseite geschoben und war durch die schwere Doppeltür eingedrungen, die ins Allerheiligste führte.

An einem vornehmen, mit Marmorfiguren reich geschmückten Schreibtische saß hier ein älterer Herr mit angegrautem Spitzbart und langen, weißen Fingern, die an den Spitzen gelb waren vom Zigarettenrauchen. Als Mann von Welt und Lebensart ließ er sich sein Erstaunen nicht im geringsten anmerken. »Setzen Sie sich, Caballero,« sagte er mit einladender Handbewegung auf einen bereitstehenden Klubsessel. Mit so viel Mäßigung, wie das bei meiner damaligen Gemütsstimmung möglich war, setzte ich ihm den Fall auseinander und sparte dabei nicht mit abfälligen Bemerkungen über Argentinien, die Argentiner und die argentinischen Bahnverwaltungen insbesondere. »Eh bueno, und was kann ich dabei tun?« fragte er nachlässig, als ich geendet hatte.

»Was Sie dabei tun können? Herr! Wozu sind Sie denn Generaldirektor?«

Statt aller Antwort schob er mir ein wohlgefülltes silbernes Zigarettenetui hin.

»Nehmen Sie, Caballero, es sind ägyptische.«

»Danke, ich bin Nichtraucher.«

»Da tun Sie gut daran, Caballero,« fuhr er zögernd fort, »Sie sind zweifellos ein braver junger Mann, wenn auch noch etwas stürmisch. Was mich anbelangt, so kann ich nicht leben ohne Zigaretten. No señor! Nicht einen Tag. Lieber ginge ich ohne Essen als ohne Zigaretten.«

Mit nachlässiger Gebärde holte er eine neue Zigarette aus dem Behälter und fing an, kunstvolle blaue Ringe in die sammetweiche Luft des eleganten Büros zu senden.

»Und sehen Sie,« fuhr er nach einer Weile fort, »es ist nicht gut, wenn man ungeduldig wird und sich aufregt. Man verschafft sich unnötigen Ärger, man ruiniert seine Gesundheit, man wird vorzeitig alt und häßlich, und wird am Ende gar nervös, und das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Ich bin's heute noch nicht, und bin doch alt genug, um Ihr Vater zu sein. Aber Sie – madre dios, Sie werden sich noch zugrunde richten, wenn Sie so weiter machen! – So sich aufregen, weil ein Koffer nicht gleich angekommen ist! So etwas kommt doch jeden Tag vor, und wo kämen wir hin, wenn alle es so machen wollten wie Sie? Was liegt denn daran, daß das Ding gerade heute kommt? Morgen ist ein gerade so schöner Tag wie heute. Und übermorgen wird es auch nicht schlechter sein. Nur ein wenig Geduld muß man haben. – Mañana – passado mañana –«

»Sie meinen also, Herr Direktor –«

»Seguro! Natürlich wird er kommen! Wenn nicht heute, so doch morgen, oder übermorgen oder noch später. Wer kann das wissen? Quien sabe?«

Ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte er mich schon halbwegs hinauskomplimentiert. Zwischen Tür und Angel klopfte er mir noch väterlich auf die Schulter. Sein Gesicht strahlte Wohlwollen, während er mir mit der weißen, wohlgepflegten Hand zum Abschied zuwinkte.

»Adios, amigo. Que le vaya bien!«

Schwer fiel die Tür hinter mir ins Schloß.

Nachdenklich wanderte ich wieder heimwärts über die im weißen Mittagslicht daliegende Straße. – So ein aalglatter Schlangenmensch! Was hätte ich in diesem Augenblick gegeben für eine Dosis wackerer heimatlicher Grobheit, ein bißchen deutschen Bürokratismus, ein bißchen Militarismus und einen kleinen Anklang an den vielgeschmähten deutschen Kasernenhofton! Dort wurden einem keine Zigaretten angeboten, dort bemühte sich niemand um die Gesundheit des Publikums, und da war keiner, der einem väterlich auf die Schulter klopfte, wenn man mit einer Reklamation ins Zimmer hereingeschneit kam. Aber man war pünktlich, gewissenhaft, und man hatte die hausbackene Tugend der Pflichttreue, die der Deutsche – zumal der, der nie über die Grenzpfähle hinausgekommen ist – gar nicht zu schätzen weiß, weil er sie als eine Selbstverständlichkeit voraussetzt.

Wie dem auch sei: Da wanderte ich nun voll schwerer Sorgen durch die staubigen, sonndurchglühten Straßen von Rosario; müde und hungrig und so ziemlich vis à vis du rien. In meiner Tasche klimperten noch fünfzig Centavos. Es kann auch ein Peso gewesen sein. Genau weiß ich es nicht mehr. Alte Gewohnheit führte mich hinunter zum Hafen. Lange stand ich am Kai der Zentralbahn und schaute einem Elevator zu, von dessen endlosen Treibriemen die Getreidesäcke wie kleine Mäuse in den unergründlichen Laderaum eines stolzen Segelschiffes hüpften. Und ich dachte mir, wie schön es wäre, mit solch stolzem Schiff in die Welt hinauszusegeln, nach Australien, nach Südafrika, nach Indien, und von dort – ja, immer noch weiter! Während ich noch dastand, machte ich die Bekanntschaft eines bärtigen sonnenverbrannten Mannes mit einem ansehnlichen Bauch und einem gewissen Etwas, das den Schiffskapitän verriet, und zwar einen von der Sorte, die »in'n Sommer 'n stiefen Grog und in'n Winter noch stiefer« vertragen kann.

»Are you a sailor?« fragte er ohne Umschweife. Er schien sehr befriedigt, als ich ihm erzählte, daß ich allerdings schon zuweilen auf Segelschiffen gefahren hätte. Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und blies mehrmals durch die Nase.

»Hm, ja – dacht ich mir schon –, Sie haben die Nase von einem seefahrenden Mann. Trinken wir einen.«

Wir gingen in eine Kneipe, in der ein rothaariger Irländer in Hemdsärmeln seines Amtes waltete. Ein paar zerlumpte Strandläufer, die vor der Tür herumlungerten, braßten Vierkant, als der Kapitän in Sicht kam.

»Zwei Whiskys – red hot!« sagte der Skipper mit dröhnender Seebärenstimme, bei deren Klang der grüne Papagei in dein Käfig über der Bar ängstlich zu flattern und zu schreien anfing. »Hallo cap', Hallo cap'!« krächzte er heiser, und mit seinem krummen Schnabel biß er in die Käfigstangen. Aber der Kapitän achtete nicht auf die Begrüßung. Mit einem Zug hatte er das scharfe Zeug hinuntergegossen.

»Patty, Euer Whisky schmeckt wie Zuckerwasser,« sagte er mit grimmigem Stirnrunzeln. »Ist das auch ein Gebräu für Männer? Gebt uns einen ordentlichen Cherry Brandy!«

Der Irländer schenkte jedem von uns einen Brandy ein, der so scharf war wie Schwefelsäure.

Aber der Kapitän war noch immer nicht zufrieden.

»Lauter Zuckerwasser!« meinte er verächtlich und zog die Stirn in noch tiefere Falten wie zuvor. »Etwas ordentlich Schiffsgemäßes bekommt man gar nicht hierzulande. – Ich gäbe ein blankes englisches Pfund für einen guten alten Jamaikarum, so wie sie ihn längs der Docks in Liverpool zu mixen verstehen.«

»Well,« wandte er sich plötzlich an mich, »ich denke, Sie hätten nichts gegen eine Reise nach Kapstadt. – Fünf Pfund im Monat – mit der Viermasterbark »Springbank« – feines Schiff – A I bei Lloyds – und 'n verdammt feiner Kapitän!«

»Aber Herr Kapitän –«

»Patty, noch einen Brandy!«

Der Kapitän zog eine große goldene Uhr aus der Tasche. »Verflucht! Ich muß ja um vier Uhr beim Konsul sein!« Heftig stürzte er seinen Brandy herunter und warf einen Zweipesoschein auf den Schanktisch. »Behaltet den Rest!« fuhr er den Irländer an, der mit seinen dicken Fingern das Geld nachzählte. Im Fortgehen warf er mir noch einen befehlenden Blick zu. »Morgen früh um neun Uhr hast du hier zu sein!« sagte er kurz. Zwischen Tür und Angel wandte er sich noch einmal an den Irländer.

»Patty, gebt dem jungen Mann so viel Whisky wie er Lust hat! Ich werde es bezahlen.«

»Aye, aye, sir!« sagte der Wirt mit einer kratzfüßigen Verbeugung. –

An jenem Abend trieb ich mich lange drunten am Hafen umher, wo tausend Lichter sich in dem stillen Wasser spiegelten und die Masten und Raaen der stolzen Segelschiffe gespensterhaft in den nächtlichen Himmel hineinragten. Wer weiß? Vielleicht würde ich schon morgen auf einem von diesen stromabwärts ins offene Meer hinausgleiten. – Nach Kapstadt! –

Aber leben wir nicht in einer närrischen Welt? Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, da fand sie mich in einem Expreßzug der Zentralbahn, der zwischen Dörfern und Feldern durch die fruchtbare Paranaebene nach Westen eilte – nach Cordoba!

Als ich nämlich am Abend zuvor nach Hause kam, da empfing mich der Fondero mit einem strahlenden Lächeln.

»Haben Sie es schon gehört, Amigo? Er ist da!«

»Wer denn?«

»Por seguro, der Koffer! Was denn sonst!«

»Der Ko– Was? Der Koffer!«

Sie hatten also doch noch Wort gehalten nach all dem mañana, quien sabe, das ich in den letzten Wochen hören mußte. Hätte mich jemand in dem Augenblick zum Präsidenten der Republik Argentinien ernannt, so hätte ich nicht stolzer sein können. Als ich aber in die Tasche griff und die letzten paar lumpigen Centavos zusammenzählte, die mich noch von dem Nichts trennten, da war die Freude nur noch halb so groß. – Was sollte mir nun der Plunder? In Buenos Aires hatte ich einen Koffer und kein Geld, in San Pedro dagegen Geld und keinen Koffer. Und nun endlich in Rosario war es wieder wie damals in Buenos Aires. So ging es immer in diesem sonderbaren Lande! – Aber wie sollte man da auf einen grünen Zweig kommen? Es war ein Problem, das allmählich verzweifelte Ähnlichkeit mit dem der Quadratur des Zirkels erlangte.

Während ich noch hierüber nachdachte, war ein sporenklirrender Estanciero hereingekommen. Der suchte einen assistente mayordomo für seine Estancia. Da horchte ich auf. Mayordomo? Warum denn nicht? Wer sich in fremden Ländern um Arbeit umsieht, der muß alles können. Das ist die allererste Regel. Und ich war gerade in der Stimmung, in der ich mir alles zutraute. – Aber Majordomo!

Der Estanciero, den ich daraufhin anredete, schien nicht sonderlich geneigt, von meinem Anerbieten Gebrauch zu machen. Lange und nachdenklich und, wie mir schien, nicht eben wohlwollend, schaute er mich von oben bis unten an.

»Können Sie Briefe schreiben?«

»Seguro!«

»Und Buchführen?«

»Natürlich.«

»Zeugnisse?«

Ich bin noch nie in Verlegenheit gekommen, wenn man mich in fremden Landen nach Zeugnissen gefragt hat. Aus meiner Brieftasche holte ich ein Exemplar der Personalordnung der alten »Pernambuco« hervor und dazu das maschinengeschriebene Antwortschreiben auf eine Bewerbung bei einer englischen Firma in Buenos Aires. Der Estanciero zog die Stirn kraus über der ungewohnten Lektüre.

»Nada de castillano?« fragte er mißtrauisch.

»No, señor!«

Noch einmal schaute er mich kritisch an, während er mir zögernd die Papiere zurückgab.

»Früher, Caballero,« fuhr er in gemessenem Tone fort, »habe ich einmal französisch gelernt auf dem Collegio zu Cordoba; das ist aber schon lang her, und man vergißt das wieder, wenn man zwanzig Jahre lang nur Kühe und Maulesel um sich hat. Ich will es aber gerne glauben, daß darin allerlei Gutes steht, obwohl das Ding da eher aussieht wie eine Verlobungsanzeige. Die Hauptsache ist, daß Sie sich etwas auf die Buchführung verstehen. Mit der Arbeit auf dem Camp haben Sie nichts' zu tun; das besorgt alles der Mayordomo.«

So wurden wir denn handelseinig, und ich wurde angestellt als assistente mayordomo mit dem fürstlichen Gehalt von vierzig Pesos im Monat. – –

Der Weg nach Cordoba war länger als ich geahnt hatte. Zuerst ging es durch eine schöne Gegend mit sorgfältig angebauten Feldern und ansehnlichen Städtchen, an deren Rand sich fast stets ein großes, fabrikartiges Mühlengebäude erhob. Dann wurden die Felder seltener. Grauer, dürrer Buschwald wechselte mit endlosen Weideflächen, auf denen da und dort ein Matefeuer brannte. Dann tauchten in der Ferne blaue Berge auf, über denen schon die Abendschatten hingen. Es war schon beinahe dunkel, als wir an der kleinen Station ankamen, die das Ziel unserer Reise war. Vereinzelte Sterne standen am Himmel, und die hohen Berge im Westen ragten wie schwarze Kulissen in das Abendrot. Ringsum war ein Duft von Wiesen und Blumen, die Grillen zirpten am Wege. Ein bereitstehender Wagen brachte uns nach der Estancia, wo uns sporenklirrend der Majordomo entgegenkam. Beim Scheine der Laterne, die er in der Hand trug, konnte ich erkennen, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen war. »Gringo?« fragte er zum Estanciero gewendet.

Der nickte bloß. Dann hielt der Majordomo nochmals die Lampe hoch und schaute mich scharf an mit seinen grünen Augen.

»Venga!« sagte er ungnädig, und führte mich nach meinem Zimmer, in dem von der Gotteswelt nichts stand als ein Bett und ein Stuhl.

Am nächsten Morgen machte er mich mit seinen Büchern bekannt. Er deutete mit einer königlichen Gebärde auf einen Tisch, auf dem allerlei Papiere in schönstem Durcheinander lagen. Es dauerte eine Weile, ehe ich darauf kam, was es mit den Papieren auf sich hatte. Es war in der Tat ein krauses System der Buchführung. Es war weder doppelt noch einfach, weder deutsch, noch italienisch, noch amerikanisch, sondern echt argentinisch auf gut Glück zusammengestellt in einem Spanisch von unmöglicher Rechtschreibung.

Unter diesen Umständen sah ich es gar nicht ungern, als einige der Arbeiter draußen auf dem Camp, die mit dem Majordomo in Streit geraten waren, Knall und Fall davonliefen und deshalb eine der Mähmaschinen meiner geringen Sachkenntnis anvertraut wurde. Es war aber eine entsetzlich ermüdende und aufreibende Arbeit. Die Mähmaschinen waren staffelförmig geordnet und fuhren von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in den heißen Tag hinein; immer in großen Vierecken um die riesigen Luzernefelder. »R–r–r–r« machten die Maschinen. Die Sonne sandte ihre senkrechten Strahlen vom dunkelblauen Himmel, und die vom Boden aufgewirbelten Staubkörner zitterten in der heißen, flimmernden Luft.

Ich war auf jener Estancia der einzige Vertreter der rein weißen Rasse. Alle übrigen Angestellten waren echte südamerikanische Mestizen mit schwarzen, bläulich schillernden Haarschöpfen und gelben, heimtückischen Gesichtern. Die Anwesenheit des Gringo war ihnen ein Dorn im Auge. Beständig beobachteten sie mich aus einem Winkel ihrer grünen Augen, und wenn einmal meine beiden Maulesel aufbegehrten, oder wenn meine Maschine gegen verborgene Steine fuhr, dann lachten sie laut auf vor Schadenfreude und riefen höhnisch einander zu: »No sabe nada el gringo!« (»Der Gringo versteht nichts!«)

Am liebsten hätte ich ihnen gleich am ersten Tage den Bettel vor die Füße geworfen. Doch nein! Diese erbärmlichen Indianer sollten nicht sagen, daß sie einen Gringo hinausgeekelt hätten! Den Gefallen wollte ich ihnen nicht tun, und so blieb ich denn zehn Tage. Zehn lange Tage. Dann kam das Fieber. Ein richtiges, kaltes, schüttelndes schleichendes Malariafieber. Heimtückisch wie die Menschen hierzulande. Dazu bekam ich noch entsetzliche Magenkrämpfe, die wohl von dem salzigen, alkalihaltigen Trinkwasser herrühren mochten.

Nein, es war am Ende doch Unsinn, wenn ich mich hier noch weiter zugrunde richten sollte, nur um ein paar bösartige Indianer zu ärgern. Ich ließ mir vom Majordomo mein Geld ausbezahlen, und bald lag die Provinz Cordoba wieder weit hinter mir. An einem schönen Tage voll Wind und Sonne kam ich wieder in Rosario an.

Aber der Malariaanfall ging nicht so schnell vorüber, wie ich gedacht hatte.

Während der ganzen Reise von Cordoba zurück nach Rosario hatte ich zwischen kalten Fieberfrösten über mein Schicksal nachzudenken versucht. Fünfzehn Pesos hatte ich auf der Estancia verdient, zehn Pesos hatte die Reise gekostet, und wenn ich nun am Schluß meiner Buchhaltertätigkeit den Saldo zog, so mußte ich mit Bedauern feststellen, daß ich inzwischen nicht reicher geworden war. Zehn Tage hatte ich mich umsonst geplagt und mir noch obendrein das Fieber zugezogen.

Aus alter Gewohnheit hatte ich mich wieder in der Fonda XX Settembre einlogiert. Der Koffer verschaffte mir Kredit. Sogleich warf ich mich aufs Bett, denn ich war todmüde. Aber schlafen konnte ich nicht. In meinem Kopf fing es an zu rumoren. Das Fieber summte wie ein Schwarm Moskitos, und die Gedanken gingen wirr im Kreise. Eine Anzahl mitleidiger Söhne des Südens hatte sich um mein Bett versammelt, und mit großer Zungenfertigkeit und malerischen Gesten berieten sie, was da zu tun wäre. Einer meinte, ich hätte das schwarze Fieber und müßte sofort ins Spital, aber die anderen protestierten gegen solche Zumutung mit der ganzen Lebhaftigkeit eines südlichen Temperaments. – Ins Spital! – santa virgina! Warum nicht gleich an den Galgen? Wenn sie ihn erst einmal dort haben, so kommt er nicht mehr lebendig heraus. Sie werden ihm das gelbe Fieber einimpfen, sie werden ihm das Blut abzapfen und ihn mit Pillen vergiften. Sie werden ihn unter die Schwindsüchtigen und die Pockenkranken einquartieren; er wird mit den Aussätzigen aus einer Schüssel essen müssen und sie werden ihn in ein Bett legen, in dem vorher einer an der Pest gestorben ist.

Wohl ein dutzendmal bekam ich in jener Nacht diese Rede zu hören, und alles das höchst anschaulich begleitet von italienischen Gesten, spanischen Grimassen und allen Flüchen und Kraftausdrücken der romanischen Sprache. – Nein, es war doch wohl besser, wenn man nicht ins Spital ging! Ich hatte ohnehin einen Widerwillen gegen alles, was mit öffentlichen Krankenhäusern zusammenhing, seit meinen Erfahrungen als Krankenwärter in einem Texasspital, von welcher Zeit mir noch eine undeutliche Erinnerung anhaftete an ein graues, düsteres Gebäude, in dem die Not zu Hause war; an eine dicke Atmosphäre von Jod und Chloroformgerüchen, an endlos lange Korridore, wo erbarmungslos aussehende Menschen in langen weißen Kitteln mit Schüsseln und Kannen und blanken Mordwerkzeugen umherliefen, an einen großen, schmucklosen Saal im mitleidlosen Licht des grauen Tages, in dem die Menschen nur Nummern waren und der Tod selbst über der Alltäglichkeit seine Tragik verloren hatte. – Und da sollte ich dann womöglich tage- und wochenlang ruhig im Bett liegen und immer und immer nur das tun, was andere mir befahlen? Nein, das ging denn doch über das Maß von Fügsamkeit, das man billigerweise von einer unruhigen Seele verlangen konnte!

Aber das Fieber wurde nur noch ärger mit jedem Tage. Schwer wie Blei lag mir die Müdigkeit in den Gliedern, aber schlafen konnte ich nicht.

Fast immer war ich stumpf und gleichgültig. Alles was mir zuvor den Kopf zermarterte, interessierte mich nun gar nicht mehr; weder Geld, noch Arbeit, noch Verdienst, noch Unterkommen, noch sonst etwas. Aber zuweilen stand urplötzlich das alles wieder vor mir wie ein Gespenst, verzerrt und entstellt durch das Rasen des Fiebers. – Nein, ich wagte gar nicht auszudenken, was aus alledem noch werden sollte. Nur nicht grübeln über solche Dinge, nur nicht denken.

Und eines Abends – es muß wohl schon mehr gegen Mitternacht gewesen sein – da saß ich auf einer Bank in den Anlagen, und das Fieber rumorte toller wie je.

Die ganze Gegend lag undeutlich und verworren hinter einem dicken, dunstigen Schleier von Fieberphantasien. Es war eine laue, regungslose Nacht. In den langen Häuserreihen schimmerte kein Licht; nur das unaufhörliche Summen von Millionen Insekten belebte die Stille. Da kam ein alter, verrunzelter Mann des Wegs. Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir und betrachtete mich eine Weile kritisch, ohne ein Wort zu sagen. Dann setzte er sich neben mir auf die Bank, nahm seinen Hut ab und wischte mit einem großen, bunt gemusterten Taschentuch den Schweiß von der Glatze, die in der Dunkelheit wie poliertes Messing funkelte.

»Nein,« fing er unvermittelt an, »ich glaube nicht an den lieben Gott. Ich glaube nicht an die Heiligen und nicht an die Sakramente, und an die Hostie schon gar nicht. No señor! Ich bin Spiritist, und glaube nur an die Geister und an die nicht einmal mehr ganz, zumal nicht an die Guten. Denn wenn es gute Geister gäbe, wenn die Heiligen einen Sinn und die Hostie einen Zweck hätte, so würde ich heute nicht ohne einen Centavo auf der Straße liegen. – Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, Caballero, dann müßte es auch einen Lohn geben für fleißige Arbeit. Mein Leben lang habe ich nichts gekannt als Mühe und Arbeit und habe es doch nicht weiter gebracht wie irgend einer von den Tagdieben, die drunten am Hafen in den Kaschemmen herumlungern. Vor dreißig Jahren habe ich schon einen Zirkus gehabt mit einem Schlangenmenschen, einem Messerschlucker, einer tätowierten Dame, die weissagen konnte und dem wirklichen Originalkindermädchen des verstorbenen Generals San Martin. Die war die beste Nummer vom ganzen Kitt. Aber in Santos sind sie alle am gelben Fieber zugrunde gegangen. Später habe ich mich dann mit einem windigen Franzosen assoziiert und drüben in Valparaiso ein Hotel Garni geführt. Viele, viele Pesos habe ich dort gemacht. Auf dem besten Wege zum Reichtum bin ich gewesen; aber eines Tages war der Franzose verschwunden mitsamt meiner chilenischen Señora, die ich vor einem Jahr geheiratet hatte.

»Sie meinen, Caballero, daß das kein so großes Unglück gewesen wäre? – Seguro, no! Ich hoffe noch heute, daß die beiden glücklich miteinander geworden sind. Aber die Kasse ist auch mit verschwunden. Und das Bankguthaben. – Und die Schulden, die er zurückgelassen hat! Alles Schulden auf den Namen der Firma! Zehn Jahre lang habe ich mich damit plagen müssen, bis sie mich am Ende doch aufgefressen haben. – Seither, Caballero, habe ich kein Glück mehr gehabt auf dieser Erde. Und seither glaube ich nicht mehr an die Heiligen, ich glaube nicht mehr an die Hostie, ich glaube nicht mehr an die guten Geister, ich glaube auch nicht mehr an Argentinien und Südamerika. – Es gibt überhaupt nichts mehr auf dieser gesegneten Welt, an das ich glaube –«

Kopfschüttelnd stand er auf, und lautlos, wie er gekommen, verschwand er wieder in der Stille der Nacht. –

* * *

Nachdem endlich das Fieber etwas nachgelassen hatte, setzte ich mich hin und schrieb einen Brief an den Direktor der dortigen Zuckerfabrik, von dem ich gehört hatte, daß er ein ehemaliger deutscher Schiffskapitän sei. Ich würde mir erlauben, morgen um soundsoviel Uhr in der Fabrik vorzusprechen, und zu fragen, ob er irgendwelche Beschäftigung für mich hätte.

Etwas sonderbar war mir am nächsten Morgen doch zumute, als ich vor dem großen eisernen Tor stand, das in die rußige Fabrik hineinführte, die mit ihren düsteren, weitläufigen Gebäuden und ihren qualmenden Schornsteinen das ganze Stadtviertel beherrscht. Ich hatte mich in meinem Leben schon auf mancherlei Weise betätigt, aber Fabrikarbeiter war ich bisher noch nie gewesen.

Der Direktor hatte ein Einsehen. Er übergab mich einem ebenfalls deutschen Ingenieur, der mich über schwarze Fabrikhöfe, über knarrende Treppen und durch finstere Gänge in einen großen, hellen Fabrikraum führte, in dem man vor lauter Lärm sein eigenes Wort nicht mehr hörte. Der Boden zitterte unter dem Arbeiten der Maschinen. Gewaltige Schwungräder sausten an der Decke. Treibriemen rasten vorüber. Im Hintergrund war alles in einen dicken Dunst gehüllt, der aus den großen Kupferkesseln aufstieg. Nur ab und zu tauchten die schattenhaften Umrisse halbnackter Menschen wie richtige Gespenster aus dem Nebel auf.

Vor einer Maschine, die weiß Gott was für Zwecken diente, blieb der Ingenieur stehen.

»So,« sagte er zu mir, »das ist nun Ihre Arbeit. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als die Temperatur in dem Kessel vermittels der beiden Hähne hier festzustellen. Das können Sie doch?«

Ja, das konnte ich, und ich tat mir nicht wenig zugut auf meine neuerworbenen Kenntnisse.

Vierzehn Tage lang ging die Sache ganz leidlich. Täglich einmal kam der Ingenieur vorüber, um meine Arbeit nachzusehen. Dabei schaute er mich jedesmal sehr freundlich an. »Na sehen Sie,« pflegte er zu sagen, »es geht ja ganz famos! Nur Geduld! Wir werden noch einen ganz famosen Betriebsleiter aus Ihnen machen! Ich habe vor drei Jahren auch nicht anders angefangen. Aber Geduld muß man haben! Und ein bißchen Sitzfleisch.«

Geduld! Das war noch nie meine starke Seite gewesen. Bald war ich überdrüssig der langweiligen, eintönigen Arbeit. Mit der Zeit hatte ich die Maschine hassen gelernt wie meinen eigenen, persönlichen Feind, und gar vor dem Fabrikraum mit den dicken Dämpfen und den zitternden Maschinen grauste mir jeden Morgen von neuem wie vor einer Art Fegefeuer. Und als dann eines Tages an dem Fabriktor ein Zettel klebte, der uns verkündete, daß mangels Rohmaterials die Werke auf zwei Tage geschlossen wären, da war niemand froher als ich über den schönen Grund zum Fortlaufen, der sich so unerwartet dargeboten hatte.

Lange wanderte ich an jenem Tage durch die Stadt, und dabei entdeckte ich in einer engen, abgelegenen Gasse, zwischen einem schlüpfrigen Kinotheater und einem arabischen Kaffeehause, vor dem häßliche Weiber herumlungerten, eine richtige Wirtschaft »Zur deutschen Eiche«. Die mußte ich mir etwas näher ansehen, obwohl es dort drinnen nicht sonderlich vertrauenerweckend aussah, soweit die schmutzigen Fensterscheiben überhaupt einen Einblick zuließen.

Es war in der Tat eine richtige deutsche Kundenpenne. Eine dicke, verbrauchte Luft schlug mir bei meinem Eintreten entgegen. Bläuliche Tabakswolken zogen sich in langen Streifen an der Decke hin und legten sich wie ein Schleier vor das große, schreiende Plakat an der Wand über den roten, grünen und gelben Schnapsflaschen hinter dem Schanktisch:

»Hier wird nicht gepumpt!«

An der gegenüberliegenden Wand, gerade über der Tür, prangte in leuchtenden goldenen Lettern, eingerahmt von gedruckten Veilchen und Vergißmeinnicht, ein sinnreicher Bibelspruch: »Der Segen des Herrn macht reich ohne Müh'.«

Der Himmel weiß, welch' zartfühlender Kunde diesen Schatz aus einer fernen deutschen »Herberge zur Heimat« gestohlen hatte!

Ganz gewiß war es nicht der Wirt, denn der hatte gar nichts Zartfühlendes in seinem Äußeren. Er hatte ein breites, brutales Gesicht mit kleinen, stechenden Augen. Er hatte rote Hände mit dicken Fingern und schwarzen Fingernägeln. Seine dünnen, schwarzen Haare, die von Pomade glänzten, waren weit in die niedrige Stirn hineingekämmt. An einem Tische saßen ein paar junge Kunden über einer Partie Sechsundsechzig. »Pikaß druff, Schwob!« sagte einer, der dabei stand und zuschaute. Und dann mit einer nicht mißzuverstehenden Handbewegung nach der Stirn: »Na weeste, Mensch –« Der Schwob wollte etwas Hitziges darauf erwidern, aber der Wirt verbat sich die Störung.

»Ihr tätet auch besser daran, auf die Fahrt zu steigen, anstatt hier herum zu krakeelen!« sagte er streng, »nachher habt ihr wieder kein Schlafgeld.«

Ganz im dunklen Hintergrund des Lokals hatte sich ein alter Mann mit einer stark vorspringenden Hakennase und einem sehr langen, sehr wohlgepflegten, silberweißen Barte niedergelassen. Vor sich hatte er ein buntes Schnupftuch ausgebreitet, aus dem er Brotkrusten, Käserinden und Wurstzipfel hervorkramte. Zuweilen ließ er ein heiseres, greisenhaftes Husten vernehmen.

Außer den Genannten befand sich in dem Raum nur noch ein weiterer Gast, der mit seinem sauberen, beinahe vornehmen Anzug gar nicht in die Umgebung zu passen schien.

Er blätterte in einem umfangreichen Adreßbuch und fuhr dabei mit den langen, zarten Fingern, denen man ansehen konnte, daß sie sich noch nie viel mit harter Arbeit abgequält hatten, immer wieder durch den blonden Spitzbart.

»Hast du mal einen Augenblick Zeit für mich, Schwarzer?« wandte er sich an den Wirt.

Der aber hatte weder Zeit noch Lust.

»Sieh' du zu, wie du selber mit deinen Fleppen fertig wirst!« knurrte er ungnädig, »meinst du etwa, ich wolle deinetwegen verschütt gehen?«

Der wohlgekleidete Herr sah sich verzweifelt im Zimmer um. Ob denn niemand da wäre, der ihm ein paar kleine spanische Worte übersetzen könne? Er schien ganz gerührt, als ich ihm meine Hilfe anbot.

»Ei, natürlich!« rief er voll Freude, »das habe ich dir gleich angesehen, daß du deine Zunge nach allen Richtungen drehen kannst und daß du ein feiner Kunde bist, der einen armen Reisenden nicht in der Patsche sitzen läßt.«

Dann schob er mir einen Zettel zu, auf dem allerlei spanische Worte aufgeschrieben waren.

»Wenn's Englisch oder Französisch, oder meinetwegen Italienisch wäre, dann käme ich schon selber zurecht,« erklärte er mir zur Entschuldigung seiner Unwissenheit; »wenn man fünf Jahre lang Zahlkellner an der Riviera jewesen ist, dann hat man sich auch nach und nach gewissermaßen eine höhere Bildung anjeeignet, aber mit die spanische Sprache ist das so 'ne Sache. Ich bin erst 'n paar Monat im Lande. – Was ist denn das? Eine panaderia

»Das ist 'ne Bäckerei.«

»Und eine libraria

»Eine Buchhandlung? Was? Ja, die Buchhändler, die sind fast immer gut zu verkohlen. Wenn ich ihm sage, daß ich eine kranke Frau und drei unmündige Kinder habe, da wird er schon ein Einsehen haben. – Und was ist denn ein gerente

»Das ist ein Direktor – ein Prokurist.«

»Also ganz was Feines! Werd' ich mir gleich ein Kreuz hinter den Namen machen! – und ein juez de paz

»Friedensrichter.«

»Nee, ick kann mir beherrschen!

So, das wäre genug für heute,« sagte er, nachdem ich ihm alle Wörter auf der Liste übersetzt hatte. »Morgen gehe ich damit eisbären!«

Also ein richtiger Hochstapler!

Ich muß ein bedenkliches Gesicht gemacht haben, das der andere als Zweifel an seiner geschäftlichen Tüchtigkeit auslegte. »Du meinst wohl, ich verstünde mich nicht aufs Fackeleimachen?« fragte er gereizt. »Warte, ich will dir ein paar von meinen Fleppen zeigen.«

Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um, während er die Brieftasche hervorholte.

»Die sind gesund!« sagte er mit einem triumphierenden Blick auf die sauber mit der Maschine geschriebenen Briefbogen. »An denen fehlt nichts. Stempel, Briefkopf, alles da! Hübsch! Was? Wie geleckt –«

Es war tatsächlich ein sauberes Stück Arbeit.

»Wenn sie dich nun aber erwischen?« fragte ich neugierig.

»Dann reiße ich eben meine paar Monate runter wie ein Mann!« versicherte der Gauner, »da mache ich mir schon gar nichts draus. Ich bin nicht in den weichen Betten und auf den Schulbänken groß geworden wie deine Sorte. Zehn Jahre lang bin ich auf der Walze gewesen. In Österreich, in Frankreich und in ganz Italien habe ich getippelt. Ich habe Klinken geputzt und Platten gerissen wie nur einer. – Ich habe auch gearbeitet, als Pikkolo und Zahlkellner und was sonst noch. – Pah! Was hat man davon? Erst nutzen sie dich aus bis auf die Knochen, und wenn du einmal alt bist, dann werfen sie dich aufs Pflaster und du wirst sein wie der da –«

Diese letzte Bemerkung galt dem alten Mann mit dem langen, weißen Bart, der sich eben zum Fortgehen anschickte.

»Adjüs Methusalem!« riefen ihm die Kartenspieler nach.

Aber Methusalem tat, als hörte er es nicht. Mühsam schob sich seine hagere, vornüber gebeugte Gestalt zwischen den Bänken hindurch. Wie er gerade in der Tür stand, da fiel ein heller Sonnenstrahl in seinen weißen Bart und auf das grellrote Schnupftuch in seiner zitternden Hand. Als er draußen auf der Straße vorüberging, kam sein heiseres, abgerissenes Alteleutehusten durch das offene Fenster.

»Das ist noch eine Nummer, dieser Methusalem,« meinte der ehemalige Kellner. »Seit dreißig Jahren ist er schon hier in Argentinien auf der Walze. Geld hat er ja immer, und kein Wunder! Der Bart – Junge, wenn ich den Bart hätte! Der ist ein Vermögen beim Fechten! Aber dreißig Jahre auf der Fahrt! Nee – lieber 'n Strick! Was nutzt dem sein bißchen Bettelei? Wenn man schon mal eine Schiebung machen will, dann gleich ordentlich, sage ich! Nur die kleinen Diebe kommen ins Kittchen, und die großen werden mit der Zeit Kommerzienräte.«

Der Alte war noch nicht ganz zur Tür hinaus, als eine Gesellschaft von Seeleuten hereingestampft kam, denen man ohne weiteres ansehen konnte, daß ihnen das Geld in den Taschen brannte.

»Man tau!« sagte der vierschrötige Bootsmann, indem er eine noch ungeöffnete Blechbüchse voll Ölfarbe auf den Tisch stellte, »wat gibst du dafür, du alter Gauner?«

»Eine Lage Schnaps.«

»Du glöwst woll, wi hew dat stolen?«

Sie einigten sich auf zwei Lagen Schnaps, und nachdem auf diese Weise die Kehlen angefeuchtet waren, tranken sie immer noch weiter. Alle tranken, und nur einer bezahlte. Und das war ein junger, schmächtiger Mensch von etwa achtzehn Jahren, der sich mit großen Kinderaugen verwundert in der ungewohnten Umgebung umsah. Er zahlte mit blanken Dollars und funkelnden Pfundstücken, indes der Tabaksqualm sich zu dicken Wolken verdichtete und der bläuliche Fuseldunst bis zur rußigen Decke hinaufstieg.

Immer lebhafter wurde die Gesellschaft. Sie schimpften und fluchten und vertrugen sich wieder im nächsten Augenblick. Dann fingen sie alle an zu singen mit Stimmen, denen man anhören konnte, daß sie am Gangspill ihre Ausbildung erfahren hatten:

Glorie, Glorie, Hallelujah,
Schön sind die Mädchen von Sankt Pauli-Altona.

Mir aber ging alles wirr im Kopfe herum. Immer wieder mußte ich an den alten Methusalem denken.

Dieser Methusalem – ja, das war ein sonderbarer Kauz! Der hatte wohl einmal etwas sehr Böses erlebt in seinem Leben. – Aber vielleicht war das auch nur so gekommen mit den Jahren, weil man so gar leicht und unbemerkt unter die Räder geraten kann im Lande Argentinien. Die Jahre ziehen vorüber ohne Ermatten; unerbittlich ist die Zeit, und wenn du nicht die Zähne zusammenbeißest, wenn du nicht ablassen willst von deiner Gedankenlosigkeit, wenn du nicht besser aufpassen willst auf deine Straße, du, Kurt Faber, so wirst du eines Tages – vielleicht auch du, auch du –

Vier Monate lang bist du nun schon unterwegs auf argentinischen Landstraßen, auf der Reise in die blaue Ferne, die immer so grau wird, wenn man sie mit Händen fassen kann. Vorwärts glaubst du zu gehen, und derweilen geht es immer bergab, bergab, wie alles im Leben.

Rio arriba, rio arriba,
El agua nunca correrá.
Que en el mundo, rio abajo
Rio abajo, todo va.

Das ist ebenso Spanisch, wie es mir vorkommt. Aber es ist wahr.

 


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