Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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Beim König Salpeter

Chile von heute. – Die Fiestas als Geißel der Menschheit. – Allerlei Zukunftssorgen. – Der Eismeer-Robinson und »Bunker-Bill.« – Auf der Stellungssuche. – Reisefieber. – Die Entführung aus dem Kalabus. – Die Flucht nach der Pampa. – Politik in der Wüste. – Hieroglyphen am Wege. – In der »Calichera«. – Etwas von Säuren, Basen, Salzen und Salpeter. – S. M. der Roto. – Wieder Malermeister. – Rückkehr nach der Küste. – Der Tod im Eisenbahnwagen. – Wieder in Antofagasta.

Über Chile sind sich die Gelehrten noch nicht einig. Über keine Republik auf dem südamerikanischen Festland gehen die Meinungen so sehr auseinander wie über diese. Nach den einen ist sie – um mit den Worten ihres eigenen Nationalliedes zu sprechen – »la copia feliz del eden«, nach den anderen eine Pesthöhle der Korruption. Ich will mich diesen Ansichten gegenüber in den Mantel der Unparteilichkeit hüllen, wenn ich auch zugeben muß, daß ich mehr der letzteren zuneige. Man hat die Chilenen die »Preußen Südamerikas« genannt und verbindet damit die Vorstellung von Fleiß, Tüchtigkeit, Sparsamkeit und anderen hausbackenen Tugenden. Es soll in der Tat einmal eine Zeit gegeben haben, wo diese Tugenden hoch im Kurse standen am Westhang der Anden. Es soll eine Zeit gegeben haben, da Ordnung und Sauberkeit in den Straßen und Sicherheit im Lande herrschten. Es soll eine Zeit gegeben haben, da die Deputierten noch nach ihrer jeweiligen Weltanschauung gewählt wurden und der Tüchtigste gerade noch gut genug zum Präsidenten war; eine Zeit, da die unabsehbare Schar der Ämterjäger noch nicht das Mark aus dem Staatshaushalt sog und der Staatshaushalt selbst – aber das muß wohl schon sehr lange her gewesen sein? – auf gut bürgerliche Weise ohne einen Fehlbetrag oder gar mit einem Überschuß abgeschlossen hatte.

Damals war man arm, man hatte keinen Kredit und man mußte sich nach der Decke strecken. Im heutigen Chile ist das alles ganz anders. An Stelle der Kleinlichkeit ist eine großzügige Art getreten, die nicht nach den Centavos sieht. Das heutige Chile ist in der Lage eines armen Handwerksmanns, der plötzlich das große Los gewonnen hat. Der Friedensschluß des Jahres 1880 spielte dem Lande das Weltmonopol für Salpeter in die Hand, das von dem chilenischen Fiskus reichlich für seine Zwecke ausgenützt wurde. So betrugen im Jahre 1914 allein die Ausfuhrzölle auf dieses Produkt nicht weniger als 6 786 000 englische Pfund, d. h. weit mehr als ein Drittel der gesamten Staatseinnahmen, die sich auf 16 800 000 Pfund beliefen. Im Vertrauen auf diese nimmer versiegende Geldquelle hat man jahrelang aus dem Vollen gewirtschaftet. Die altväterlichen Tugenden kamen außer Kurs, Leichtsinn und Verschwendungssucht begannen allenthalben einzureißen. In dem kapitalarmen Lande wurde der Staat mit seinen reichen Hilfsquellen immer mehr zur melkenden Kuh für jedermann. Im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Lebens stand von Jahr zu Jahr mehr das Presupuesto – das Budget. Jeder wollte davon leben, jeder profitieren. Immer neue Stellungen wurden geschaffen, um die nicht enden wollende Zahl der Stellenjäger unterzubringen. Der Bürokratismus wuchs immer mehr. Alles wandte sich ab von der soliden Arbeit zu amtlichen Sinekuren, während die Gringos in aller Stille die Ausbeutung der reichen Naturschätze in Angriff nahmen. Bald reichten die laufenden Einnahmen nicht mehr aus für den ungeheuren Bedarf, und es ging, wie es bei schwachen Regierungen in solchen Fällen immer geht: man behalf sich mit Papiergeld, das dann das noch im Lande vorhandene Gold ins Ausland trieb und den Kurs des eigenen Geldes auf den fremden Märkten ins Wanken brachte. In der guten alten Zeit – bis 1878 – wurde der Peso in London mit 45 d notiert. Bereits im Jahre 1894 war er auf 13  d gesunken und 1914 wurde nur noch mit 10 d bezahlt.

Und das alles nach einem siegreichen Krieg in einer Zeit friedlicher Entwicklung, die nur einmal (1891) durch eine kurze Revolution unterbrochen wurde! Ein Land aber mit einer zusammengebrochenen Währung, das ist so recht der Sumpf, in dem die faulen Fische gedeihen!

An der Börse von Valparaiso sitzen sie und spekulieren. Sie schieben die fremden Wechsel ihren Geschäftsfreunden in Paris und London zu und umgekehrt. Sie halten je nach Belieben die »Ware« zurück und werfen sie wieder in Massen auf den Markt, wie es ihnen gerade vorteilhaft erscheint, und in dem kunstvoll und künstlich geleiteten Spiel von Angebot und Nachfrage macht der Kurs die verzweifeltsten Sprünge. So etwas nennt der Fachmann Arbitrage; es ist das rentabelste aller Bankgeschäfte, für den, der sich darauf versteht; eine Art rouge et noir mit dem Herzblut des Landes.

Messieurs, faites vos jeux! rien ne va plus! La banque gagne toujours!

Man gewinnt à la hausse, man gewinnt à la baisse, und bald hat man genug zusammen für eine Villa in Park-Road, einen Palast in der rue de la Paix oder ein pompöses Etagenhaus am Kurfürstendamm. Die Kosten des Spieles aber trägt das chilenische Volk. Das ganze wirtschaftliche Leben verliert mehr und mehr den Boden unter den Füßen, weil der Glaube an das Geld, auf dem letzten Endes doch alles menschliche Zusammenleben beruht, dem Publikum abhanden kommt. Was nutzt es den Kaufmann, daß er bei den Waren, die er aus Europa einführen muß, seine Selbstkosten aufs Genaueste berechnet, wenn während der langen Überfahrt der Kurs des Geldes inzwischen wieder gefallen ist und seine ganze schöne Rechnung über den Haufen wirft? Was nutzt dem Arbeiter oder dem Angestellten sein festes Gehalt, wenn er nicht wissen kann, ob nicht am Ende des Monats der Wert des Geldes um die Hälfte gesunken ist? Langsam gerät das Land in den Zustand, wo statt der Klugen die Gerissenen, wo statt der Tüchtigen die Smarten aufsteigen auf der Leiter des Lebens und die breiten Massen des Volkes immer tiefer und tiefer versinken in Not und Elend. Denn von allen Geißeln der Menschheit ist das Papiergeld die schlimmste. Weder die Pest noch die Cholera noch irgend sonst eine giftige Pestilenz haben je soviel Not und Tränen verursacht, als diese kleinen, fettigen Scheine. Sie ruinieren die mühsam errungenen Existenzen der Tüchtigsten, sie zersetzen und vergiften die Begriffe von Treu und Glauben im Geschäftsleben, sie unterminieren die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens, sie bereiten die Bahn den zerstörenden Elementen und entfachen die Leidenschaft des Pöbels zu Aufruhr und Mord. Sie sind wie ein schleichendes Gewürm, das bei Tag und Nacht in unermüdlicher Arbeit Kultur und Sitte eines Landes zerfrißt. –

Ich spreche von den chilenischen Pesoscheinen. Damals habe ich vom Standpunkt unseres geordneten – vornovemberischen Deutschlands mit Geringschätzung auf diese Zustände herabgesehen. Aber heute –

Tout comme chez nous!

* * *

Die Fiesta war im Gange, und die Gringos lagen auf der Straße. Denn wer da glaubt, daß ein südamerikanisches Nationalfest mit einem Tage erledigt sei, der befindet sich in einem gefährlichen Irrtum. Auf den ersten Festtag folgt ein zweiter und auf diesen noch ein dritter, so sicher wie das Amen auf die Predigt. Dann kommen noch die Nachfiestas. Die fiesta de las flores, die fiesta de la bandera, die fiesta de los miños usw. Und dann – ja, dann ist es wohl zu viel verlangt, daß nach dieser Reihe von schönen Tagen der verfahrene Karren des täglichen Lebens mit einem Ruck wieder ins gewohnte Gleise komme. – Das sind natürlich paradiesische Zustände für die, die unbekümmert um die vielen Feiertage ihr festes Gehalt beziehen. Aber sie sind ein Greuel für die anderen, die da in den Straßen umherziehen und Häuser anmalen.

Überhaupt das Malen! Das war eine Kunst, die vorerst betteln gehen konnte, denn bis zum Vorabend des nächsten 18. September war dem Schönheits- und Reinlichkeitsbedürfnis der Häuser von Antofagasta reichlich Genüge geschehen.

Was war ich nun anderes als ein hungriger Strandläufer? Bergab und immer weiter bergab war es mit mir gegangen. Was waren das doch für andere Zeiten, damals als ich mit einem wohlgefüllten Geldbeutel von Bolivien herunter kam! Damals speiste ich in den feinen Restaurationen an der Calle Prat, wo elektrische Fächer an den Decken summten und bunte Stoffblumen auf den weißgedeckten Tischen standen. Seither aber war es, wie gesagt, in rasendem Laufe bergab gegangen, und unversehens war ich wieder unter die große Masse derer geraten, die ihren Unterhalt dort suchen, wo es am billigsten ist. Da war irgendwo in der Nähe des Hafens ein chilenisches Speisehaus, vor dem ich die Nase rümpfte; eine schmutzige, verwahrloste Bretterbude, vor der zerlumpte Strandläufer lungerten. In der Tür stand zumeist ein schlitzäugiger, verschmitzt dreinschauender Sohn des Himmels, der mit souveräner Verachtung auf die vorübergehenden Leute herabschaute, weil diese keine Ahnen hatten. Als ich das erstemal dort vorüberging, wurde ich fast krank von dem widerwärtigen süßsauren Geruch, der aus der dunklen Höhle des Gastzimmers in die Straße strömte. Mehrmals am Tage führte mich mein Weg an dieser Pesthöhle vorüber, und jedesmal mußte ich einen Umweg machen, wenn ich mir nicht für den Rest des Tages den Appetit verderben wollte.

Acht Tage später machte ich mir nicht mehr die Mühe dieses Umwegs, nach drei Wochen glaubte ich gebratenen Speck und eine fette Erbsensuppe herauszuriechen, und eines Tages saß ich selbst auf der harten Bank inmitten der grauen Ärmlichkeit und löffelte die dünne Reissuppe aus dem schmutzigen Teller.

Hier, in dieser Spelunke war der Treffpunkt der Strandläufer von Antofagasta. Sie saßen auf den Bänken und maulten über die schlechten Zeiten; sie zählten die Centavos, die sie im Lauf des Tages auf der Straße zusammengefochten hatten und sie berieten darüber, wie man noch mehr ergattern könnte. Die Konsuln der einzelnen Mächte und die Leiter der verschiedenen Wohltätigkeitsgesellschaften mit ihren Schwächen und Gebrechen wurden der Reihe nach durchgehechelt. Der deutsche Konsul, meinte einer, sei ganz leicht. Wer zum erstenmal in seinem Büro auftauche, sei gut für fünf Pesos, sofern er sich ein auch nur einigermaßen mundgerechtes Märchen ausgedacht habe. Beim französischen Konsul müsse man um neun Uhr morgens anklopfen, weil dann der Sekretär Alleinherrscher auf dem Büro sei. Der werfe mit des Konsuls Geld nur so um sich, weil er ihn nicht leiden möge.

In der großen Zunft der Ungewaschenen spielt der Strandläufer eine besondere Rolle. Schon einmal habe ich mich auf diesen Blättern mit seiner Naturgeschichte beschäftigt, aber das Thema ist mir so interessant, daß ich nicht umhin kann, noch einmal darauf zurückzukommen. Fast jeder ordentliche Seemann ist zu irgend einer Zeit seines Lebens einmal Strandläufer gewesen, wenn ihm im fremden Hafen das Geld ausgegangen war, wenn sich nicht gleich ein Schiff für ihn finden ließ und der Heuerbas keinen Kredit mehr auf die kommende Vorschußnote geben wollte. Von diesen spreche ich nicht, sondern von den Strandläufern von Beruf. Mehr als bei irgend einer anderen Menschenklasse kann man bei ihnen sehen, welch sonderbare Kostgänger unser Herrgott zuweilen doch auf dieser Erde hat. Es befinden sich Leute darunter, die in vergangenen besseren Tagen einmal besessen sein mußten von einem feurigen Temperament und einer verzehrenden Unruhe; Leute, die im Lauf der Jahre alle Länder und Meere durchzogen und in rastloser Geschäftigkeit sich in allen Berufen versucht haben; faustische Naturen, die Großes gewollt haben, bis sie nach einem Leben der Enttäuschungen zu dem weisen Schluß gekommen sind: »Alles ist eitel«! Im nördlichen Eismeer habe ich einmal einen solchen Mann kennen gelernt, der nach einem Leben der Abenteuer sich dort oben, fern von aller Kultur, zusammen mit einem Eskimoweibe als Eismeerrobinson etablierte. Er war ein Mann in den besten Jahren; er war gesund und kräftig; die Welt stand ihm offen, aber Menschen- und Engelszungen konnten ihn nicht mehr überreden, je wieder den Fuß auf den Boden eines zivilisierten Landes zu setzen. Derartige Existenzen gibt es mehr, als man glauben sollte. Zumal in der Südsee sind sie häufig anzutreffen. Unter den unzähligen Inseln jener Zonen gibt es kaum eine, wo nicht ein solcher müder und enttäuschter Weltenbummler unter schattigen Palmen im Rauschen des Passatwindes sein glücklich-unglückliches Leben verträumt.

Dreifach haben sie mir gezeigt
Wie man das Leben betrachtet,
Wie mans verraucht, verspielt und vergeigt
Und es dreifach verachtet.

Solche Leute sind jedoch die Aristokraten in der Welt der Strandläufer. Es gibt eine andere Sorte, die ohne die Reste von Ehrgeiz und Tatkraft gleich dem Tiere in den Tag hinein vegetiert. Lebendige, in Lumpen gehüllte, durch den Alkohol in Bewegung gesetzte Destillationsapparate, die über ihrem traurigen Leben allmählich in einen Zustand geraten, den man nicht mehr als viehisch bezeichnen kann, ohne dem lieben Vieh eine böse Beleidigung zuzufügen.

Da war in Antofagasta ein solcher Vertreter der Zunft, den sie Bunker-Bill nannten, weil er in einem Kohlenbunker zu nächtigen pflegte. Er kannte nur eins: C2H5OH. Der Alkohol war das einzige treibende Element in seinem armseligen Leben. Für ihn wäre er willig durchs Feuer gegangen, ohne ihn hätte er sich nie von seinem harten Lager im Kohlenbunker erhoben. Längst schon hatte er abgeschlossen mit alledem, was zu einem gesitteten Leben gehört. Er hatte keinen Hut auf dem Kopfe und keine Schuhe an den Füßen. Seit Menschengedenken hatte er sich nicht mehr gewaschen. Er arbeitete nicht und er bettelte auch nicht. Von was er lebte? – Ach, es ist nicht sehr appetitlich davon zu erzählen, aber es gehört zu seiner Biographie. Nicht anders als einer jener herrenlosen Hunde, die sich nächtlicherweile in den Straßen der Großstädte herumtreiben, suchte er sich die Hors d'oeuvres aus den Mülleimern heraus. Eine fettige Wursthaut, eine schimmelige Brotkruste, eine trockene Orangenschale genügten für seinen Unterhalt. Im übrigen lebte er von Alkohol. Im trüben Licht der spärlichen Laternen schlich er wie ein gehetztes Wild an den schmutzigen Wänden der Wasserfrontspelunken entlang und beobachtete das Kommen und Gehen der Gäste. Mit einer Geschicklichkeit, die er sich durch jahrelange Übung erworben hatte, schoß er blitzschnell durch das Gedränge hindurch zum Schanktisch, wo er den ahnungslosen Gästen die Gläser vor der Nase austrank. Wein, Bier, Branntwein, Spiritus, Terpentinöl, Möbelpolitur; alles wahllos durcheinander, bis derbe Seemannsfäuste ihn an die Luft beförderten. In einer benachbarten Kneipe versuchte er dann sein Glück von neuem, und so ging es allnächtlich weiter von Spelunke zu Spelunke, bis der Alkohol in den verschwommenen Augen ein Feuer entzündet und der Rausch des Vergessens die gequälten Sinne umnebelte. Vollauf zufrieden mit seinem Tagewerk schwankte er dann zurück zu seinem Bunker, wo er sich für den Rest der Nacht in die Kohlen einwühlte.

* * *

»Sage, was werden wir jetzt beginnen?« Das war die Frage, die mich immer verfolgte auf meinen ziellosen Wanderungen durch die staubigen Straßen. Sollte ich etwa hinaus in die Salpetermine gehen und Caliche sprengen wie irgendeiner von den schmutzigen Rotos? Das war unter meiner Würde als Gringo. Oder Säcke schleppen auf den Lanchas? Dafür war ich zu sehr Caballero! Der einzige, der hier hätte Rat schaffen können, war Michel Angelo, der Vielgewandte. Aber der war seit einigen Tagen spurlos verschwunden und hatte mich mit meinen Kenntnissen allein zurückgelassen. Einmal stand im »Mercurio« eine Stelle als Aufseher und Lagerhalter in einem Eisenwarengeschäft ausgeschrieben, auf die ich mich umgehend persönlich meldete.

»Können Sie lesen?« fragte der Chef, indem er mit feinen, von Nikotin schon ganz gelb gewordenen Fingerspitzen eine Zigarette drehte.

»Jawohl!« antwortete ich stolz.

»Und schreiben?«

»Si, señor!«

»Bueno,« meinte der Chef befriedigt, »ich will es mit Ihnen versuchen. Sie können gleich anfangen. – Übrigens, woher kommen Sie eigentlich?«

»Von Bolivien.«

Da schaute mich der Mann noch einmal mit einem mehr als kritischen Blick von oben bis unten an, und das Streichholz, mit dem er eben seine Zigarette anzünden wollte, entglitt den gelben Fingerspitzen.

»Von Bolivien!« sagte er nachdenklich. »Que esperanza! Wirklich ein interessantes Land, Caballero! Ein bißchen kalt und rauh, aber sonst ganz interessant. Und interessante Menschen gibt es dort oben. Caramba! Aber wenn ich mir's recht überlege, Caballero – ich glaube doch, daß ich schon mehr Leute habe, als ich augenblicklich gebrauche. Vielleicht kann ich sonst etwas für Sie tun?«

Ein andermal wurde nach einem »perfekten« Maschinisten für den Motor eines kleinen Hafenbootes verlangt, und ich bewarb mich um diese Stelle, eingedenk meiner Erfahrungen im Gran Chaco, die – für den Motor – auf so traurige Weise geendet hatten. Diesmal führte mich das Geschick durch eine mit goldenen Lettern verzierte Glastür in ein elegant aufgemachtes Büro mit schwellenden Klubsesseln und einem grün überzogenen Schreibtisch, neben dem ein gewaltiger Spucknapf stand.

Ein dicker, hemdsärmeliger Engländer mit einer goldenen Uhrkette und einem John-Bull-Gesicht betrachtete mich unwirsch von oben bis unten.

»Sie sehen nicht aus wie ein Maschinist!« schnaubte er mich an.

»Ist auch gar nicht notwendig,« antwortete ich.

Nun wurde der Engländer erst recht Gift und Galle. »What d'you say?« fragte er mit näselnder Stimme. »Nicht notwendig! Was? Das werde ich zu bestimmen haben, was notwendig ist und was nicht an meinem Motor in meinem Boot! Diese Dilettantenwirtschaft habe ich satt! Seit drei Jahren haben schon mindestens fünfzig Kerle ihre Kunst an dem Motor versucht: Matrosen, Steuerleute, Strandläufer, Heringsbändiger und weiß der Kuckuck was sonst noch. Alle haben sie sich Maschinisten geschimpft, und keiner von ihnen hat einen Pferdeverstand gehabt. Die Lager haben sie verrosten lassen und das Geld für das Schmieröl in den Kneipen versoffen. – Aber mein Motor ist kein Versuchskaninchen! Kein Mensch darf mir mehr an das Ding heran, der nicht ein erstklassiger Maschinist ist. Ein erstklassiger Maschinist, Herr! A. 1. Sind Sie das? Ja oder nein?«

»Freilich,« antwortete ich, »ich habe in Oxford darauf studiert.«

Wieder musterte mich der Mann mit einem kritischen Blick. In Oxford? Wo hatte er doch schon einmal den Namen gehört? War das nicht eine Universität drüben in England? Von dort kamen doch sonst nur Advokaten und Pfaffen und Schulmeister. Und dann – der sah doch nicht gerade so aus, als ob er eben von Oxford käme.

»Ja, lernt man dort auch mit Motoren umgehen?« fragte er unsicher.

»Gewiß!«

»Dann können Sie mal anfangen!«

Als ich aber wieder draußen auf der Straße war, überlegte ich mir die Sache noch einmal anders – trotz meines angeblichen Oxforddiplomes.

So vergingen langsam vierzehn Tage, und da war keiner unter ihnen, der mir nicht eine glänzende Stellung vorgaukelte, als – sagen wir einmal: Schreiber in einem Büro, Gehilfe in einer Kesselschmiede oder Agent bei einem Heuerbas. Aber niemand wollte von meinem Anerbieten Gebrauch machen. Täglich kam ich mir mehr als höchst unbrauchbares Subjekt vor.

Weiter, weiter – das war die fixe Idee, die alle meine Gedanken besessen hatte. Täglich saß ich stundenlang auf der Landungsbrücke und beobachtete das Kommen und Gehen der Beiboote der auf der Reede liegenden Schiffe. Ich betrachtete den glitzernden Sonnenschein über dem blauen Wasser und das Toben der Brandung zwischen den Klippen. Ich schaute den Möwen und den Kaptauben zu, wie sie kreischend um die Schiffe flatterten und dann plötzlich hinausflogen in die offene See, bis sie nur noch weit in der Ferne, wie ein winziges weißes Segel, über der blauen Fläche zu erkennen waren. Und ich dachte mir, wie schön es wäre, wenn man auch so fliegen könnte wie die da!

Es waren wieder einmal australische Reisepläne, die es mir angetan hatten. Unter normalen Umständen ist es nicht schwer, in Antofagasta ein Schiff nach Australien zu bekommen, da in den Salpeterminen meist australische Kohle gebrannt wird und deshalb stets Segelschiffe im Ballast hinüberfahren, wenn sie nicht gleich eine Salpeterfracht nach Europa bekommen können. Aber das Unglück wollte es, daß Mangel herrschte an Schiffen für Salpeterfrachten. Es waren alles »Kap Horner«, die auf der Reede lagen. Und Paul, der Taucher, der sich als Heuerbas in diesen Dingen auskannte, meinte, daß das in den nächsten Monaten nicht anders werden würde. Wer eine Reisegelegenheit nach Australien suche, der müsse schon nach dem peruanischen Hafen Callao »machen«, wo es keine Salpeterfrachten gebe.

So gingen denn vorerst alle meine Gedanken nach Callao. Aber Callao liegt mehr als tausend Kilometer entfernt von Antofagasta, und wie ich dorthin kommen sollte, das war mir vorderhand noch ein Rätsel. Der Landweg, der durch ganz Bolivien über die Anden führt, war mir zu lang und zu beschwerlich, und für die Seereise mit dem Passagierdampfer fehlte mir das Geld. Das liebe Geld! Es verflüchtigte sich in Antofagasta ebenso schnell wie anderswo. Mit den paar Pesos würde es bald zu Ende sein, und was dann kommen sollte –. Man tat wohl am besten, wenn man gar nicht daran dachte.

Müde und lustlos stand ich am Strande und schaute über die glitzernden Wellen. Mir war zumute wie einem Vogel, den man in einem Käfig eingesperrt hat. Immer noch in Antofagasta! Immer noch in diesem weltverlassenen Erdenwinkel, wo doch die Sucht nach der Ferne mir mit jedem Tag mehr den Kopf zermarterte. Chamissosche Verse fielen mir ein:

Geduld! Du harrest stumm am Meeresstrand
Und blickest starr in öde, blaue Ferne
Und lauschst dem Wellenschlag am Felsenstrand.
Geduld! Laß kreisen Sonne, Mond und Sterne,
Und Regenschauer mit der Sonnenglut
Abwechseln über Dir! Geduld erlerne!

Während ich, noch ganz in diese düsteren Gedanken versunken, auf der Landungsbrücke stand, nahte sich der Verführer in Gestalt eines jungen, norwegischen Matrosen namens Peter, der mir und Michel Angelo schon zuweilen bei den Malerarbeiten behilflich gewesen war. Peter war eine Seele von einem Menschen, aber etwas sehr romantisch veranlagt und überdies angesteckt von meinem australischen Reisefieber. Er setzte sich auf das Geländer der Landungsbrücke, und während er mit den Beinen baumelte, stellte er allerlei tiefsinnige Betrachtungen an. Die Zeiten seien schlecht, das Leben teuer, und kein Mensch könne sagen, wann wir wohl aus diesem schmutzigen Nest wieder heraus kämen. Von Verdienst sei keine Rede mehr, seitdem die Fiesta den guten Zeiten den Garaus gemacht hätte. Aber wie wär's, wenn wir ein Ding drehten? Er wüßte eine Sache, bei der ein paar Pesos herausspringen könnten. Ganz sauber sei sie ja nicht. Sie schmecke ein bißchen nach Hochstapelei. Paul, der Taucher habe ihn auf den Gedanken gebracht.

Das war allerdings keine lautere Quelle. Eine Sache war faul, wenn sie von Paul, dem Taucher, kam! Immerhin konnte man sich einmal erkundigen. –

Der alte Gauner schien uns schon zu erwarten.

»Höchste Zeit, daß ihr kommt!« meinte er mit einem nervösen Blick auf seine große goldene Uhr. »Nein. – Braucht keine Angst zu haben, daß ich euch etwas Windiges zumute. Nur eine kleine Gefälligkeit, wie sie unter Caballeros jeden Tag vorkommt.«

»Ja, was denn?« fragte ich ungeduldig, aber Paul, der Taucher, tat, als hörte er es nicht.

»Ihr kennt doch alle die große englische Viermastbark ›Comliebank‹, die schon seit einer halben Ewigkeit auf der Reede liegt?« fuhr er fort. »Ein stolzes Schiff! Alles was recht ist. Ein so stolzer Kasten, wie nur je einer über den Pazifik gefahren ist. Aber ein Hund von einem Kapitän. Ein richtiger blaunasiger ›limejuicer‹, der immer zuerst an sich und dann noch lange nicht an die Reeder oder gar an die Mannschaft denkt. Ein Magenräuber, der seinen Proviant auf halbe Rationen einrichtet und die neuen Manilataue an die Schiffshändler verschachert, anstatt sie in die Talljen einzuscheren. – Glaubst du, daß es dem schadete, wenn er ein bißchen gerupft würde?«

Das konnte ich allerdings nicht glauben.

Paul schaute mich scharf an, um den Eindruck seiner Worte festzustellen, und nachdem er seine kalten, grauen Augen noch einmal durchs ganze Zimmer hatte wandern lassen, fuhr er mit halblauter Stimme fort:

»Nun habe ich ihn aber in der Falle! Seine Ladung wird nämlich heute komplett, und er könnte morgen in See gehen – wenn er Klarierungspapiere hätte! Die bekommt er aber nicht, weil er keinen ersten Steuermann hat. Der ist nämlich gestern mitsamt dem Koch davongelaufen, und in ganz Antofagasta kann er keinen Ersatz finden, als nur bei Paul, dem Taucher. Dafür muß er mich aber schwer bezahlen. Fünfzig Pfund, und keinen Centavo weniger! Und wenn er das nicht will, so mag er noch vierzehn Tage lang auf der Reede liegen und für jeden Tag zwanzig Pfund Liegegeld bezahlen.«

»Aber was habe ich mit alledem zu tun?« unterbrach ich ihn.

»Das wirst du gleich sehen. Der Steuermann ist nämlich wieder zurückgekommen.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Im Kalabus natürlich. Wo denn sonst? Die Vigilantes haben ihn draußen in der Pampa erwischt und wieder zurückgebracht.«

»Und nun?«

»Nun sollst du ihn eben wieder herausholen.«

»Was –?«

Der alte Seelenverkäufer machte ein gelangweiltes Gesicht. Wie man nur so schwer von Begriff sein konnte!

»Nichts einfacher als das!« sagte er lächelnd, »wenn der Kapitän erfährt, daß sie seinen Steuermann wieder gefangen haben, so wird er natürlich nichts Eiligeres zu tun haben, als zum Kommissar zu laufen, damit er die Leute wieder an Bord bekommt. Nun habe ich aber in meinem Hause auch einen ganz ansehnlichen Kapitän. Das ist der lange Emil. Der wird die Kaution bezahlen und die Leute herausholen. Du brauchst nur mitzugehen und den Dolmetscher spielen, weil der doch kein Wort Spanisch kann.«

Während er noch sprach, holte er aus seiner Hosentasche ein ganzes Bündel der schmierigen, zerknitterten Pesoscheine, von denen ich in den letzten Tagen so wenig gesehen hatte, und ich – nun ja, ich ging auf den Handel ein. Mögen die Leute darüber denken, was sie wollen. Es steckt doch ein Körnchen Wahrheit in der Redensart, daß das Gewissen sich desto länger streckt, je kürzer der Geldbeutel wird.

Der lange Emil, der den Kapitän mimen sollte, war ein Strandläufer, der erst vor kurzem von einem amerikanischen Schoner weggelaufen war. Er machte seinem Namen alle Ehre, denn er war einen Kopf größer als alle anderen Menschen und dazu breit und stämmig gebaut; eine jener Riesengestalten, wie man sie sonst nur unter den Holzfällern in Kanada und in Britisch-Kolumbia antrifft. Dazu ein schönes, scharfgeschnittenes Gesicht mit blaugrauen, metallisch glänzenden Augen und einer Napoleonsnase. Wirklich eine ansehnliche Persönlichkeit.

»Wenn ich nur wüßte, was ich dort drüben zu tun habe?« fragte er, als wir beide nach der Kommissaria gingen.

»Nichts. Gar nichts!« antwortete ich, »das lass' nur ruhig meine Sache sein, du brauchst nur zu allem Ja und Amen zu sagen.«

»Allright! Mir kann's recht sein. Die Hauptsache ist, daß ich die ausbedungene Flasche Whisky bekomme, wenn der Spaß vorüber ist.«

Vor der Kommissaria stand ein schäbig aussehender Posten mit gezogenem Säbel. Er schaute mich mißtrauisch an, als ich auf ihn zukam, aber als er das Wort capitano hörte, erfror die kleine Gestalt zu einer militärischen Haltung.

»A guardia!« rief er mit Donnerstimme, und im nächsten Augenblick erschien ein halbes Dutzend weiterer Polizeibeamten auf der Bildfläche, die sich mit gezogenem Säbel salutierend zu beiden Seiten des Eingangs aufpflanzten. Das war in der Tat mehr Ehre, als ich erwartet hatte! Mir wurde ein bißchen unheimlich zumute.

Vor einem kahlen Tisch in einem kahlen Raum saß der elegant gekleidete Kommissario und rauchte Zigaretten. Verschlafen blickte er vor sich hin. Kaum daß er es der Mühe wert hielt, uns einen Seitenblick seiner halbgeschlossenen Augen zu widmen. Erst als der Posten in dienstlicher Haltung el Señor capitano meldete, wurde er plötzlich die Liebenswürdigkeit selber.

»Setzen Sie sich, Caballeros,« sagte er mit einladender Handbewegung auf die beiden Stühle, die der Beamte herbeischleppte.

Der lange Emil setzte sich auf den Stuhl und strich bedächtig seine Napoleonsnase, während ich dem Kommissario den Fall auseinandersetzte. Der war ganz Ohr und Aufmerksamkeit, und nachdem ich geendet hatte, wandte er sich in wohlgesetzter Rede an den langen Emil, dem der ganze Zauber offenbar höchst spanisch vorkam.

»Señor Capitano. Ich bin gern bereit, Ihren Wunsch zu erfüllen, obwohl ich eigentlich nicht recht sehen kann, was Sie dazu veranlaßt. Fast jeden Tag werden durchgebrannte Matrosen bei uns eingeliefert, und wenn man nachher ihren Schiffen davon Mitteilung macht, da meldet sich niemand, um sie abzuholen, was ich ja ganz begreiflich finde. Aber wenn der Señor Capitano wirklich so großen Wert darauf legt, die beiden Caballeros wieder an Bord zu bekommen, so werde ich sie gern ausliefern – con muchissimo gusto, caballero! – Gegen Vergütung der Kosten natürlich.«

»Und wieviel wäre das?« fragte ich mit einem Griff nach der Tasche.

»Zehn Pesos.«

»Aber Caballero!«

»Das ist der übliche Preis, Señor Capitano. Aber für Sie können wir's ausnahmsweise etwas billiger machen. Sagen wir zehn Pesos für beide zusammen.«

Bei dieser Summe wurden wir handelseinig, und der Polizist führte uns nach dem Kalabus, wo wir die beiden Sünder in Empfang nahmen.

Es war ein wüster Aufenthaltsort, dieser Kalabus. Eine Miniaturhölle, vor der selbst ich, der ich doch, gewitzigt durch frühere Erfahrungen in Bolivien und im Gran Chaco, schon auf allerlei gefaßt war, ein gelindes Grauen verspürte. In einer dunklen, mit einem Eisengitter versehenen Lehmhöhle, die wie ein Schweinestall aussah, lagen dicht gedrängt neben- und übereinander die stöhnenden, seufzenden, besoffenen Gestalten, die man über Nacht hier eingeliefert hatte. Als der Wärter mit dem klirrenden Schlüsselbund das Tor aufschloß, da begann es sich zu regen in der unförmlichen Masse der kreuz und quer liegenden Leiber. »Madre dios!« fluchte einer, »kann man uns nicht wenigstens mehr schlafen lassen?« Erst nach mehrmaliger vergeblicher Aufforderung kam etwas über die anderen hinweg aus der Höhle herausgekrochen. Es war der Steuermann, ein großer, breitschulteriger Norweger. Er rieb sich immer wieder die Augen in dem ungewohnten Licht der grellen Sonne. Hinter ihm her kam auch der Koch, ein ganz junger Mensch, dem die dicken Tränen in den blauen Augen standen. Seine Bekümmernis war nicht ohne Ursache, denn man hatte ihm seine schöne Ziehharmonika und einen nagelneuen Revolver weggenommen. Auch der Steuermann hatte die Pesos verloren, die er in der Tasche hatte. Glücklicherweise hatte man bei der Einlieferung eine nähere Untersuchung nicht für notwendig gefunden, denn dann hätte man gewiß auch den Brustbeutel, in dem er neben seinen Papieren auch eine ansehnliche Geldsumme aufbewahrte, entdeckt und als gute Prise erklärt.

Paul der Taucher rieb sich vergnügt die Hände, als wir mit der Beute ankamen. Er bot sich an, die beiden zu verstecken, aber der Steuermann war für eine neue Reise nach der Pampa. Da er aber diesmal nicht ohne landeskundigen Begleiter reisen wollte, machte er uns beiden – d. h. Peter und mir – den Vorschlag, mit ihm zu gehen. Dann könne uns die Polizei gewiß nicht mehr erwischen. Und Geld hätten wir ja auch. Also könne es uns an nichts fehlen. Das war ein Plan, der sich hören ließ. Er schmeckte ein bißchen nach Abenteuern.

Sobald es dunkel war, wanderten wir auf dem Bahndamm nach der nächsten Station, denn es war nicht geheuer, in Antofagasta selbst den Zug zu besteigen, weil dort stets eine Schar von Geheimpolizisten nach ausreißenden Matrosen fahndet. Es war wohl am besten, wenn man einen Güterzug erwischte, da die zahlreichen leeren Wagen, die nach den Salpeterwerken hinaufgeschafft werden, zum Schwarzfahren geradezu einladen.

Die Station war nur klein und bestand aus wenig mehr als einer Bretterbude und einer rußigen Petroleumlampe, deren gelbes Licht uns schon von weitem aus der Wüste entgegengeleuchtet hatte. Man hatte von hier aus einen wunderbaren Blick über die schwarze Meeresfläche und auf die felsige Küste, längs der sich das phosphoreszierende Licht der Brandung wie eine silberne Riesenschlange hinzog. Tief unten lag Antofagasta, von einem hellen Schein übergossen, und draußen auf der Reede tanzten die Spiegelbilder der Schiffslaternen wie Leuchtkäfer über dem Wasser.

Wir waren eben angekommen, als aus der Richtung von Antofagasta ein Güterzug herangekeucht kam, in dem wir bald ein passendes Plätzchen für die Reise ausgekundschaftet hatten.

Weiter ging es durch die wildzerklüfteten Küstenberge, zwischen denen der Pfiff der Lokomotive ein schauriges Echo weckte. Es war eine klare, sternhelle Nacht. Das südliche Kreuz stand hoch am Himmel, und die Milchstraße zog sich wie ein silberner Staubstreifen durch die Dunkelheit. Hier und da brannte und funkelte ein großer Stern mit jenem eigentümlich lebendigen Licht, wie man es nur über der klaren, dunstfreien Atmosphäre der Wüste beobachten kann. Dann kam der Mond hinter den Bergen hervor, und es war auf einmal vorbei mit der funkelnden Pracht des Nachthimmels. Über die Wüste flutete ein weißes Licht, in das die kahlen, phantastischen Berggipfel ihre schwarzen, scharfen Schatten warfen. Wie kalt und tot hier alles war! Wie seltsam dieses Schattenspiel von Nacht und Wüste!

Ehe man's gedacht, begann der Tag zu grauen. Für eine Weile lag ein goldener Hauch über der Küstenkordillere. Tausend Farben huschten über die Pampa, und die Berge, die sich fern im Osten zu den Anden auftürmten, glühten in dunkelvioletten Farben. Hoch oben in der blauen Luft segelte eine einsame Möwe. Was die wohl hier zu suchen hatte?

Schnell, wie immer in den Tropen, kam die Sonne heraus, und wie der feurige Ball so blutig rot und so unnatürlich groß hinter den Bergen hervorschaute, da zerstoben die feinen Dünste über dem Sande. Die bunten Farben verkrochen sich erschreckt hinter den Klippen und Felsen, und das harte, mitleidslose Licht der Wüste lag wieder über der Gegend.

In der Ferne lag eine Station – oder doch das, was man in jener Gegend als eine solche zu bezeichnen pflegt. Eine der grün angestrichenen Bretterbuden, wie sie da und dort in der Wüste in gewissen Abständen am Bahndamm stehen. Dort wollten wir unsere Fahrt unterbrechen und eine Tasse Tee kochen, denn es war ein kalter Morgen, und wir froren erbärmlich. – Tee kochen! Das war in der Tat keine kleine Aufgabe, hier, wo auf hundert Meilen im Umkreis kein Brennstoff zu finden war. Soweit das Auge reichte, war nichts zu sehen als Sand und Sonne und irgendwo auf einem Schutthaufen ein toter Maulesel, dessen leere Augenhöhlen gespensterhaft in das Sonnenlicht stierten. Das Haus lag wie ausgestorben da. Ich klopfte mehrmals an, aber vergeblich. Ich klatschte nach spanischer Mode in die Hände und sagte »ave maria!« Aber nichts rührte sich. Da fiel mein Blick zufällig auf eine Karte, die neben der Bahnhofsglocke angebracht war. Ich mußte zweimal hinsehen und mir dazwischen die Augen reiben, um mich zu überzeugen, daß ich auch richtig gesehen hatte. – Wahrlich, wir leben in einer sonderbaren Welt! – Da stand es mitten in der Wüste an der grünen Wand der Bretterbude mit zierlichen Buchstaben: »Einmal für den Diener.«

Ich traute dem Frieden nicht recht, aber meine Neugierde nach dem Anblick des Pampahausknechts war unüberwindlich. Einmal schlug ich fest an die Glocke, und wie der Teufel aus dem Kasten erschien ein abenteuerlich aussehender Indianer in schäbiger Uniform auf der Bildfläche. Höflich fragte er nach dem Begehren der Caballeros. Nachdem ich unsere Wünsche vorgebracht hatte, führte er uns ohne ein weiteres Wort in das Dienstzimmer, wo vor einem tickenden Telegraphen ein sehr gelangweilt dreinschauender Beamter saß. Der freute sich sehr, einmal wieder fremde Gesichter zu sehen, denn er war, wie er uns in der Geschwindigkeit erzählte, ein Südchilene aus der Gegend von Valparaiso, und die Einsamkeit der Pampa sagte ihm ganz und gar nicht zu. Der Indianer brachte Tee und Zigarillos. Wir tranken dazu noch einen »Anisado« und machten in hoher Politik. Ich schimpfte gewaltig auf Don Ramon Lucas Barros, den Bundespräsidenten. Ich nörgelte an den Staatsmonopolen: Die Zigaretten seien teuer und die Streichhölzer elend. Ich war mit ihm der Ansicht, daß die Peruaner nie, nie wieder nach Tacna und Arica kommen würden. Und er sagte mir, daß die Alemanos feine Kerle wären. Kurzum, wir waren die besten Freunde, als wir auseinandergingen.

Der Beamte hatte uns mitgeteilt, daß etwa zehn Kilometer weiter im Osten die Officinas (so nennt man die Salpeterwerke) anfingen. So machten wir uns denn zu Fuß auf den Weg.

Die Küstenkordilleren lagen schon hinter uns, und wir wanderten nun durch eine wellige Ebene voll Schutt und Geröll, mit starren Felsen und losen Sanddünen ohne die leiseste Spur irgendwelchen Pflanzenwuchses. Das war die berüchtigte Wüste Atacama. Die »Pampa« der Chilenen. Die Heimat des Chilesalpeters.

– Nein, man kann diese Wüste nicht mit Worten schildern, so wenig wie man mit den armseligen Hilfsmitteln unserer menschlichen Sprache den Tod selbst beschreiben könnte. Hier, in dieser Einöde, ist die Einsamkeit zu Hause. Sie hockt hinter jedem Stein und jeder Sanddüne; sie brütet wie ein Ungeheuer auf den gelben Hügeln und schaut grinsend hinab in die vom grellen Sonnenlicht überflimmerte Ebene. Zuweilen ist nichts wie Sand zu sehen; gelber, fließender Sand, der bei geringstem Windstoß die heiße Luft mit dickem, salzigem Staub erfüllt. Dann wieder kommen weite Strecken mit wüstem Geröll und phantastischen Bergkegeln, deren grauer Granit bis zum Gipfel überzogen ist von dem graugelben Brei aus Sand und Geröll. Überall, wohin man blickt, nur Sand und Steine, Schutt und Geröll und weißer Salpeter, der in der Sonne glitzert. Und doch ist diese Gegend nicht ganz ohne tierisches Leben. Stellenweise wimmelt es geradezu von Ratten, Mäusen, Eidechsen und anderem Gewürm. Weiß der Himmel, von was sie leben!

Wohl das sonderbarste Wesen, das hier sein Leben fristet, ist die Chinchilla; ein flinkes, flüchtiges Geschöpf, halb Maus, halb Eidechse. Der äußeren Erscheinung nach ist es eine Maus, in ihrem Wesen aber eine Eidechse, denn wie diese kann die Chinchilla ohne sichtbaren Halt viele Stunden lang in der glühenden Mittagshitze an der glatten Wand eines steilen Felsens hängen oder wie ein Schatten darüber hinhuschen, als ob sie auf ebenem Boden liege. Der Chilene liebt die Chinchilla sehr. Er hält sie gern im Käfig, wo sie bald sehr zahm und zutraulich wird. Das glänzende, seidenweiche Fell verarbeitet er zu Pelzen und Mänteln, die sich neben Mardern und Hermelinen sehen lassen können. Es gibt eigene »Chinchilleros«, die mit abgerichteten Hunden Treibjagden auf die armen Tiere veranstalten und dabei jedenfalls mehr Geld verdienen, als ihnen mit einer bürgerlichen Beschäftigung möglich wäre. Weiter im Innern trifft man die Chinchilla nicht mehr an, weil dort die Früchte der dürren Kakteen, die am Küstenland durch die niederschlagenden Nebel einen dürftigen Unterhalt finden, nicht mehr vorkommen.

Oftmals kamen wir an großen Steinen vorbei, deren Oberflächen glatt wie Schiefertafeln waren. Diese werden von den auf den Officinas beschäftigten Arbeitern gern benutzt, um Freunden und Bekannten Nachrichten zukommen zu lassen, sofern diese des Lesens und Schreibens mächtig sind, was freilich nur selten der Fall ist. Da kann man denn Inschriften lesen wie diese:

Felipe
Vamos ―――>
Juan

Der Uneingeweihte kann sich natürlich nichts vorstellen unter diesen Hieroglyphen, die ungelenke Indianerhände mit Calichestücken in die Steine geritzt haben, aber Juan weiß Bescheid, wenn er die Inschrift liest. Und das ist die Hauptsache.

»Viva el diez-y-ocho!« Es lebe der achtzehnte September, hatte ein begeisterter Chilene auf einen der Steine geschrieben.

»Viva el Peru!« stand darunter zu lesen, worauf dann wieder ein Chilene ein entrüstetes »Tod den Cholos!« darüber gesetzt hatte.

Gegen Mittag, als die Sonnenstrahlen senkrecht auf die Wüste fielen, tauchten hinter einem flachen Hügel, etwas abseits von der Bahnlinie, die Schornsteine eines Salpeterwerkes auf. Die grelle Stimme einer Dampfsirene verkündete eben die Mittagsstunde. Ein paar Arbeiter mit großen, zuckerhutförmigen Sombreros und schreiend bunten Ponchos gingen vorüber. »Buenas tardes, amigos,« sagten sie höflich. Wir waren schon mitten in der »Calichera«, wo der Salpeter gewonnen wird. Überall war die Erde zerwühlt und zersprengt wie ein Schlachtfeld nach einem Trommelfeuer. Nach allen Richtungen führten die Gleise der Feldbahn durch dieses Chaos, und zahlreiche Arbeiter waren dabei, die losgesprengten Blöcke in die Kippkarren zu laden, die von dürren, verwitterten Mauleseln gezogen wurden. Überall hörte man die aufmunternden Rufe der Maultiertreiber: »Andate, mi niño! Andate, mi corazon!« »Gehe, mein Kind! Vorwärts, mein Herz! Marsch! Du Bestie! Der Teufel hole deine schwarze Seele!«

Hinter einer gewaltigen Schutthalde, die oben flach war wie die Kuppe eines Forts, führte der Weg vorbei an einem Wald von mächtigen Pfählen mit darauf ruhenden eisernen Behältern, von denen das gelbe Salpeterwasser heruntertropfte wie in den Salinen. Dann kamen wir in eine kleine Stadt von mehr oder minder großen und weitläufigen Wellblechbaracken, zwischen denen dürre, halb verhungerte Ziegen umherstolzierten und sich an den leeren Konservenbüchsen und zerrissenen Salpetersäcken gütlich taten. Hier stand eine mächtige Halle, wo die Maschinen donnerten und die Dampfhämmer pochten, wo die öligen Schraubstöcke in langen, düsteren Reihen standen und weiße Eisenspäne um die Bohrmaschinen lagen. Ein Geruch von Fett und Öl war in der Luft. Durch die schmutzigen Fensterscheiben fiel ein mattes Licht auf blanken, bläulich schimmernden Stahl und auf die rußigen Gesichter geschäftiger Menschen, die über der Arbeit einander anbrüllen mußten, weil sie vor dem Lärm der Maschinen ihr eigenes Wort nicht verstehen konnten. – Ja, so wie hier sah die Wüste Atacama am Ende auch in Rheinland-Westfalen aus!

Eben kam der Maschinenmeister über den Hof. Er sah aus wie ein Gringo, und da man mir erzählt hatte, daß dies ein deutsches Werk sei, fragte ich ihn auf Deutsch, ob er irgendwelche Arbeit für uns hätte. Der aber machte eine Miene, die er sich wohl im Umgang mit den Rotos angewöhnt haben mußte. »Nein,« sagte er, »wir brauchen keine Gringos. Und die Deutschen schon gar nicht. Mit der Sorte haben wir schon schlechte Erfahrungen gemacht.«

Das sagte er in so gutem Deutsch, daß ich nicht umhin konnte, mich weiter auf ein Gespräch mit ihm einzulassen.

»Aber warum, Herr Direktor, hat man dann Sie angestellt?« fragte ich zögernd.

»Warum? – Hm, ja – kümmern Sie sich gefälligst um Ihre Angelegenheiten! Machen Sie, daß Sie fortkommen, ehe ich Sie von den Chancheros hinauswerfen lasse!«

Meine beiden Kameraden, die natürlich kein Wort von der Unterhaltung verstanden hatten, waren fürs Weitergehen, aber in mir war die Rauflust lebendig geworden. Ich faßte den kühnen Entschluß, den Administrator persönlich aufzusuchen, um mich bei ihm zu beschweren.

Der Administrator einer Salpetermine ist nichts mehr und nichts weniger als ein Gott, oder doch zum mindesten ein Wesen, das hienieden schon der Gottähnlichkeit so nahe kommt wie nur irgend möglich. Er wohnt in einem abseits gelegenen, rings von einer Veranda umgebenen Bungalow, den die Füße der gewöhnlichen Sterblichen ohne ganz besondere Erlaubnis auch nicht im Traum zu entweihen wagen. Und nun gar erst drei vagabundierende Gringos mit ihren Bündeln! Es war wirklich der Gipfelpunkt der Respektlosigkeit.

Ein großgewachsener, schwarzäugiger Indianer in einer Phantasielivree empfing uns auf der untersten Treppenstufe, die zu der Veranda hinausführte.

Was die Caballeros wünschten?

»Den Herrn Administrator möchte ich sprechen!«

»Unmöglich!«

»Warum denn?«

»Der Herr Administrator – er schläft!«

Das sagte er mit zitternder Stimme und mit der Miene eines Gläubigen, der sich vor dem höllischen Fegefeuer fürchtet, aber noch ehe er ein weiteres Wort herausbringen konnte, war ich oben auf der Veranda und drückte auf die Klingel, die schrill und aufreizend durch die vornehme Stille hallte. Sogleich wurde es drinnen lebendig. Nicht weniger als vier weitere Diener erschienen auf der Bildfläche und warfen mir im säuselnden Flüstertone alle Schimpfworte der spanischen und Kitschuasprache an den Kopf. Darauf fing ich auch an zu schimpfen, ohne im geringsten mich an das Ruhebedürfnis dieses Allerheiligsten zu halten, aber es half alles nichts. Gemeinsam drängten sie mich wieder hinunter. Draußen auf den Stufen, die zur Veranda hinaufführten, mußten wir lange warten, während der Diener wie ein Lindwurm vor der Türe wachte. Lange, langweilige Stunden in der schattenlosen Hitze. Langsam, unendlich langsam, rückten die Zeiger auf der großen Fabrikuhr vor. Es wurde drei, vier, fünf Uhr, und noch immer war kein Administrator zu sehen.

Da endlich öffnete sich die Tür. Er erschien auf der Veranda, ganz in weiß gekleidet. Hinter ihm her kam ein kleiner, weißer, ganz impertinent hochnäsiger Spitzhund, der sich herausfordernd umschaute.

Ja, wenn man ein Hund ist –

Während nun die Schar der Diener sich lautlos wie ein Hauch in die dunkelste Ecke der Veranda verflüchtigte, benutzte ich die Gelegenheit, um meine Beschwerden vorzubringen. Der hohe Herr war zugänglicher, als man billigerweise erwarten durfte. Unwillig schüttelte er den Kopf, als ich ihm von meiner Begegnung mit dem Maschinenmeister erzählte.

»Der ist erst kurz von drüben,« meinte er beschwichtigend, »die Sorte ist immer chilenischer als die Chilenen, wenn sie erst einmal ein paar spanische Brocken aufgeschnappt hat. Später, wenn sie gesehen haben, wie es hier zugeht, denken sie wieder ganz anders. Wir wollen sehen, was sich für Sie tun läßt. Was sind Sie von Beruf?«

»Schiffsingenieur!«

»So –! Dann verstehen Sie sich wohl auch auf die Reparatur von Dampfkesseln und Saugpumpen?«

»Gewiß!«

Eine Weile schaute er mich erstaunt und ungläubig an, wie wenn er diesem Wunder nicht trauen wollte.

»So sind Sie also wirklich Ingenieur? Das trifft sich ja fein! Seit acht Tagen ist etwas an den Pumpen, die zu den Cachuchos hinaufführen, nicht in Ordnung. Kein Mensch hier kann herausfinden, woran es eigentlich liegt, und der Ingenieur von Antofagasta, dem ich täglich dreimal telegraphiere, hat es nicht eilig mit dem Heraufkommen. Derweil geht hier alles drunter und drüber. Wenn Sie also ein Ingenieur sind, – ein wirklicher Ingenieur –.«

Ich griff nach meiner Brieftasche – ich besaß wirklich noch eine! – und blätterte in den Papieren mit der Miene eines Mannes, der in der Lage ist, das Gesagte im nächsten Augenblick mit schwerwiegenden Dokumenten zu belegen.

»Soweit wäre alles in Ordnung, Herr Administrator,« fuhr ich zögernd fort, »nichts brauche ich zurzeit so nötig wie eine ordentliche Stellung. Die Arbeit hier wäre ganz nach meinem Geschmack, aber – nun ja – es ist wohl nur so ein Vorurteil von mir. – Für Deutsche mag ich nicht arbeiten.«

Sprach's und schritt stolz in die graue Pampa hinein.

* * *

Am nächsten Morgen in aller Frühe fanden wir allesamt Arbeit in einer anderen Salpetermine. Auch hier war der Maschinenmeister ein Deutscher. Er war früher in Südafrika gewesen und hatte den Burenkrieg und den südwestafrikanischen Feldzug mitgemacht. Er war ein höflicher und zuvorkommender Mann. Er räumte uns ein großes Zimmer in dem Verwaltungsgebäude ein und stellte uns sein eigenes Kochgeschirr zur Verfügung.

Da man augenblicklich keine feste Arbeit für uns hatte, wurden wir in den nächsten Tagen bald da und bald dort in den Werkstätten und in der Pampa beschäftigt, so daß wir allerlei Erfahrungen sammeln konnten auf dem eigenartigen Gebiet der Salpetergewinnung.

Bekanntlich ist die Wüste Atacama der einzige Platz auf dieser Erde, wo der Salpeter frei zutage liegt. Aber auch hier findet man ihn bei weitem nicht überall, sondern in einzelnen Nestern, die da und dort als schimmernde Salzseen, oft von gewaltiger Ausdehnung, in der grellen Sonne liegen. Aus der Ferne sieht die Oberfläche dieser Seen glatt wie ein Spiegel aus, aber wenn man näher herankommt, so merkt man, daß die Stücke gegeneinander gepreßt sind wie die Schollen des Packeises. In diesen Lagern stehen die Salpeterwerke, die sogenannten Officinas. Schon von weitem kenntlich an den hohen Schornsteinen und den gewaltigen Schutthalden. Da die umgebenden Lager in wenigen Jahren abgebaut sind, muß die Fabrik von Zeit zu Zeit abgebrochen und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden. Dennoch macht diese Eintagsherrlichkeit aus Holz und Wellblech in dieser eintönigen Umgebung einen imponierenden Eindruck. Wenn man nächtlicherweile auf der Reise von Bolivien mit dem Personenzug durch die Gegend fährt und allenthalben die geschäftigen Werkstätten mit ihren langen Reihen hell erleuchteter Fenster und die hohen Schornsteine im Scheine elektrischer Bogenlampen sieht, so fällt es einem zuweilen schwer, zu glauben, daß man sich wirklich und wahrhaftig mitten in der Wüste Atacama und nicht etwa in einer Vorstadt von Groß-Berlin befindet.

Über die Art und Weise, wie der Salpeter unter allen Plätzen der Erde gerade hierher gekommen ist, sind sich die Gelehrten nicht einig. Nach der einen Ansicht ist er eine besondere Abart des Guano, der sich langsam angehäuft hat in jenen längst vergangenen Zeiten, wo sich noch ein gewaltiges Binnenmeer über der Pampa ausbreitete, und fleißige Vögel über die Küstenberge geflogen kamen, um hier zu brüten und zugleich unzählige Denkmäler ihrer Kunst den salzigen Fluten anzuvertrauen. Eine andere Theorie führt die Bildung des Salpeters auf die allabendlich auftretenden, stark mit Elektrizität geladenen Küstennebel, die sogenannten Camanchaca, zurück. Durch diese elektrischen Entladungen soll der Stickstoff der Luft zu Ammoniumnitrat verwandelt werden, das dann mit der in den stark angereicherten Salzseen enthaltenen freien Natronlauge sich nach untenstehender Formel zu Natriumnitrat (Salpeter) zu verbinden pflegt.

NH4NO3 + NaOH = NaNO3 + NH4OH.

Worauf dann das entstandene Ammoniak in der gesättigten Kochsalzlösung sofort in Ammoniumchlorid übergeht.

NH4OH + NaCl = NH4Cl + NaOH.

So ungefähr hat man mir's erklärt und so werden wohl die chemischen Formeln sein. Ohne Obligo! Es ist schon lange her, seit ich im Reiche der Säuren und Basen die dozierende Stimme des Professors hörte.

Doch wie immer der Salpeter hierhergekommen sein mag – er ist nun einmal da und hat jene traurige Wüste zu einem großen Faktor im Wirtschaftsleben aller zivilisierten Völker gemacht. Es hat von jeher nicht an Stimmen gefehlt, die dieser Industrie einen baldigen Untergang prophezeien. Die einen haben eine Erschöpfung der Lager innerhalb eines Zeitraums von fünfzig Jahren errechnet, wobei sie jedoch nur an die Nester gedacht haben, die zufällig in der Nähe der Eisenbahnlinien liegen, während doch weiter abseits noch vollständig unberührte Lager von unermeßlichem Reichtum liegen, die nur darauf warten, daß man durch Schaffung von Verkehrswegen die Vorbedingung für einen lohnenden Abbau schafft. Auch der in neuerer Zeit hergestellte künstliche Salpeter wird unter normalen Umständen wohl kaum den Wettbewerb mit seinem Kollegen von der Atacama aufnehmen können. Für den Laien wenigstens erscheint es schwer begreiflich, daß man ein Massenerzeugnis wie den Salpeter irgendwo auf der Erde billiger künstlich herstellen könnte, als man es anderswo in der Natur frei zutage liegend findet, so daß man es nur zu holen braucht. Schlimmstenfalls könnte solcher Wettbewerb auf den Preis drücken, wodurch aber die Aktionäre noch lange nicht an den Bettelstab kämen. Denn es gibt heute wenig Industrien, die sich in solch blühendem Zustande befinden wie jene Salpeterwerke. Zur Sicherung ihrer Monopolstellung auf dem Weltmarkt haben sie sich, ähnlich dem deutschen Kalisyndikat, zu einem Ring zusammengeschlossen, der sogenannten »Associacion salitrera de propaganda«, die durch Festlegung der Erzeugung und des Preises den Markt überwacht. So ist jede gegenseitige Konkurrenz ausgeschlossen, und Europa muß bluten. Eine Krähe hackt der anderen die Augen nicht aus. Die oberste Krähe aber ist der chilenische Staat, der aus dem hohen Ausfuhrzoll die Hälfte aller seiner Ausgaben deckt.

»Caliche« (sprich Kalitsche) nennt man die Bildung, in der der Salpeter in der Pampa vorkommt. Sie ist meist hart wie Stein und muß gesprengt werden von den »Berateros«, wilden, desperat aussehenden Kerlen, die mit den Dynamitstangen umgehen wie andere mit den Messern und Gabeln. Die losgesprengten Stücke werden von den »Chancheros« (Tschantscheros) auf die Kippkarren der Feldbahn geladen und nach dem Stampfwerk gebracht, wo sie in kleine Stücke zerbrochen werden. Diese führt man auf kleinen Karren in große, auf Pfählen ruhende eiserne Behälter, in denen sie mit Hilfe von Dampf und Wasser ausgelaugt werden. Nachdem das Wasser das in der Caliche enthaltene Natriumnitrat gelöst hat, wird es, ähnlich wie bei der Fabrikation der Schwefelsäure, von einem Behälter in den anderen gepumpt, um einen möglichst hohen Grad der Konzentration zu erreichen. Schließlich kommt die Flüssigkeit in mächtige Retorten, wo der Salpeter langsam ausfällt und die überflüssige Lauge wieder in die Fabrik zurückgeleitet wird. Der so gewonnene weiße, pulverige Salpeter wird dann in Säcke geschaufelt und nach der Küste verfrachtet.

Die Salpeterindustrie gebraucht und verbraucht alljährlich zahllose Arbeitskräfte. Unermüdlich sind ihre Agenten tätig, um mit glatten Zungen und gleißenden Versprechungen das »Material« herbeizuschaffen. Aus den entlegensten Winkeln des weiten Erdteils setzt sich der Strom in Bewegung nach diesen zermürbenden und zermahlenden Knochenmühlen, denen nur die wenigsten bei voller Gesundheit wieder entkommen – wenn sie überhaupt je wieder diesen glücklichen Augenblick erleben. Immerhin gibt es in dem wechselnden Menschenstrom auch einen Stamm von Arbeitern, die immer hier bleiben, denen die Pampa zur Heimat geworden ist, nicht etwa weil sie Gefallen gefunden hätten an diesem grauen Lande oder an dem wüsten Leben, sondern weil Tschitscha und Anisado und wüstes Würfelspiel sie allemal um die sauerverdienten Pesos bringen, noch ehe sie Zeit haben, mit dem nächsten Dampfer eine Fahrkarte nach der Heimat zu lösen. Sie sind gute Arbeiter, aber auch wüste, gewalttätige und jähzornige Menschen, denen es keineswegs darauf ankommt, ihr leichtes Gewissen mit einer Mordtat mehr oder weniger zu belasten. Der sittsame Bürger geht ihnen weit aus dem Wege, wie denn überhaupt der chilenische Arbeiter an eine Behandlung »von oben herab« von Jugend an gewöhnt ist. –

Wie in allen anderen südamerikanischen Republiken – und nicht nur den südamerikanischen – so ist auch in diesem Lande der Kastengeist überaus lebendig. Hoch oben auf der obersten Spitze der sozialen Leiter, sitzt die »Gente«, die Aristokratie der Großgrundbesitzer, der Bankiers, der Börsenspekulanten und anderer Herrschaften mit einem Bankkonto. Die Klasse der Gentlemen, die beim Scheckbuch anfangen. Wie das fremde Herrenvolk einer Kolonie sitzen sie über der breiten Masse des Volkes. Sie fühlen sich als die Herren und sie legen großes Gewicht darauf, daß diese ihre Stellung der misera plebs auch ordentlich zum Bewußtsein komme. Täglich informieren die Zeitungen gewissenhaft über das Tun und Lassen dieser Götter und Halbgötter: Doña Nuñez war bei dem Deputierten Doktor Almeyda in seinem Landhaus in Viña del Mar zu Besuch. Mister Mac Kenna hat gestern einen Schnupfen gehabt; Don Claudio Vicuña hat ein Gartenfest gegeben, das von den Spitzen der Gesellschaft besucht wurde. Man bemerkte unter anderem: (folgt eine lange Reihe von schönen Namen.) Doña Elvira Cordero trug bei der Gelegenheit eine entzückende blaßblaue Seidenrobe mit schwarzen Sammtaufschlägen; viel bewundert wurde das Perlenkollier der Señorita Garcia-Larrain.

So und ähnlich steht es jeden Tag zu lesen im »Mercurio« oder im »Diario de Las Noticias«. Man liest es, man freut sich darüber und man findet gar nichts dabei, daß jener Don Claudio Vicuña, der das Gartenfest gegeben hat, erst sechs Jahre alt ist und daß Doña Elvira Cordero die Würde ihrer fünf Lebensjahre mit der entzückenden blaßblauen Seidenrobe bekleidet. Der Schnupfen des Mister Mac Kenna ist ebenso wichtig wie ein Erdbeben bei Coquimbo oder eine Sturmflut auf der Insel Chile, bei der hundert Rotos ertrinken. Wer einmal die Times, den Temps, den Figaro oder gar den New York Herald gelesen hat, der weiß, welch große Rolle auch in jenen Demokratien die »Gesellschaft« spielt. Bei uns in Deutschland ist bis jetzt die Demokratie noch nicht bis zu diesem Grad der Vollkommenheit gediehen. Aber dafür sind und bleiben wir auch Barbaren!

Eine Stufe unter der chilenischen Gente steht die große Klasse des »medio pelo« = Halbhaar; die Mischlinge mit allen den Mischlingsrassen anhaftenden Fehlern und Gebrechen, als da sind: Bosheit, Falschheit, Verschlagenheit und einer – man kann es nur mit einem Fremdwort sagen – einer süffisanten Arroganz, die dem frisch Eingewanderten Gringo besonders auf die Nerven fällt. Für sie gibt es auf dieser weiten Erde nur ein Land: Chile! Alles andere ist nicht der Rede wert. Das höchste Ziel eines Medio Pelo ist ein Staatsamt – oder wenigstens doch ein bescheidenes Ämtchen, das ihm ein gesichertes Einkommen verbürgt. Unermüdlich ist er in der Jagd nach solchen Posten und Pöstchen und die vielgeplagten Deputierten haben alle Hände voll zu tun, um den Ansprüchen ihrer, wie Sand am Meer so zahlreichen Cuñados und Conpadres in dieser Hinsicht gerecht zu werden. Es gibt dort nicht wenig Leute, deren Körper längst schon im Grabe vermodert ist, während ihr Geist noch immer von dem freigebigen Presupuesto sein Gehalt bezieht.

Die dritte und zahlenmäßig bedeutendste Kaste ist die der Rotos. Sie sind die direkten Nachkommen der einst so stolzen Araukaner, die mit so viel wilder Tapferkeit in den Wäldern des Südens dem Vordringen der Zivilisation widerstanden. Der Chilene liebt es, seinen Stammbaum auf diese Araukaner zurückzuführen. Er setzt ihnen Denkmäler, er verherrlicht sie in den Schulbüchern, er schwingt sich zu ihrem Preise sogar auf den Pegasus, aber in der rauhen Wirklichkeit will er – zum mindesten mit deren direkten Nachkommen nichts zu tun haben.

Ha cessada la lucha sangriente
Ja es hermano el que ayer invadio.

Der blutige Streit ist beendet
Schon ist Bruder der gestern noch Feind.

So heißt es in dem Liede. Aber in Wirklichkeit –

Wie in Argentinien der Peon, so lebt in Chile der Roto an der Seite seiner »China« seine Tage dahin; mühsam, bedrückt und freudlos, weil das Leben in all seiner Jämmerlichkeit doch einmal zu Ende gelebt sein muß. Stumpf und unwissend wie er ist, hat er keine Aussicht, zu seinen Lebzeiten seine Lage zu verbessern; keine Brücke führt von ihm und seiner Klasse hinüber zu den Menschen anderer Volksschichten, die er demütig und unterwürfig nur in der dritten Person mit »Vuestra Merced«, Euer Gnaden anzureden wagt. Sein Großvater war schon Roto gewesen, seine Enkel werden es ebenfalls sein, und so wird es immer bleiben mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes, über das nachzugrübeln er sich nicht die Mühe macht. Ein Roto ist und bleibt eben ein Roto.

Eine besondere Abart des Roto wohnt in der Pampa der Salpeterminen. Es sind die unternehmendsten, die sich hier zusammenfinden, aber auch zugleich die gewalttätigsten und die gewissenlosesten. Man muß sie gesehen haben, wie sie draußen in grellem Sonnenbrande der Wüste, inmitten der salzigen Staubwolken die schweren Calicheblöcke in die Kippkarren der Feldbahn laden, um zu ermessen, was so ein unansehnlicher Bursche an schwerer Arbeit zu leisten vermag; man muß sie aber auch in den langen Nachtstunden an den rohen Tischen in den Wellblechbaracken beim Trinken und beim Würfelspiel beobachtet haben um zu sehen, wie wenig sie ihr schwerverdientes Geld zu schätzen wissen. Gar viele von ihnen sehen, trotz des verhältnismäßig hohen Lohnes, jahraus jahrein nicht einen einzigen Pesoschein. Alles geht fort für Wein und Würfelspiel, lange ehe es verdient ist. Jede Officina unterhält eine sogenannte Pulperia, in der, wie bei den Kaufläden der Zuckerplantagen in der Gegend von Tucuman, es alles zu kaufen gibt gegen sogenannte Fichas. So hat es der Unternehmer in der Hand, die Löhne ganz nach seinem Gutdünken zu regulieren. Gerade zur Zeit meiner Anwesenheit war eine Weile die Luft geladen mit dem, was man in England »industrial unrest« nennt. Die Rotos rotteten sich zusammen im Campamento, und es sah wirklich so aus, als ob demnächst ein Streik oder noch schlimmere Ereignisse ausbrechen würden. Drohend zogen sie vor das Verwaltungsgebäude, wo der Administrator sie lächelnd empfing.

»Nun, was führt Euch zu mir, muchachos?« fragte er mit der freundlichsten Miene von der Welt.

»Mas plata! mas plata!« schallte es zurück wie ein Orkan aus tausend Stimmen. Die Peone drohten mit den Fäusten, die Weiber kreischten, die Choncheros fingen an mit Kalitschestücken zu werfen, und es gab eine Szene, an der ein Zola seine Freude gehabt hätte. Der Administrator aber, der offenbar an so etwas schon gewöhnt war, verlor keinen Augenblick seine Ruhe.

»Eh bueno,« sagte er schmunzelnd, »warum seid Ihr nicht schon lange zu mir gekommen? Ihr wißt doch, daß ich ein Herz habe für die armen Leute. Mehr Lohn wollt ihr haben? – seguro! Ihr sollt ihn bekommen!«

Noch am selben Abend wurde ein neuer erhöhter Tarif für alle Arbeiter festgesetzt. Die ganze Nacht über ging es hoch her in der Pulperia. Das große Ereignis wurde geziemend begossen. Tschitscha und Anisado floßen in Strömen. Die Fichas rollten über den Ladentisch und – nun ja, wer fragte an solch großem Tage darnach, ob der Pulpero die Preise um ein paar lumpige Centavos heraufgesetzt hatte! So war die soziale Frage wieder einmal zur allgemeinen Befriedigung gelöst, und das Gewitter, das am frühen Morgen drohend am Himmel gestanden, hatte sich bei sinkender Nacht in eitel Wonne und Seligkeit aufgelöst. –

Doch es wird Zeit, daß ich nach dieser Orgie von Belehrung und Gelehrsamkeit auf allen möglichen Gebieten den Faden meines Garns wieder aufnehme.

Es war, als ob die Maltöpfe und die Farbenquaste mich durch ganz Chile verfolgten. Eines Tages stand ich wieder auf der Leiter und pinselte in der grellen Sonne. Der Verwalter der Officina hatte uns den neuen Anstrich des Verwaltungsgebäudes übertragen. Fünfhundert Pesos sollten wir für die Arbeit erhalten, und das Material lieferte das Werk. Es versprach ein lohnender Vertrag zu werden. Und wir waren fleißige Arbeiter. Der Steuermann mischte die Farben und wir anderen malten. Aber es war diesmal keine Malerei nach chilenischer Mode, wie ich sie von Michel Angela und Paul dem Taucher erlernt hatte. Der Steuermann stand dabei und sah zu, daß die Arbeit ordentlich getan wurde. Wehe, wenn er einen von uns dabei ertappte, daß er in seiner Arbeit einen »Feiertag« gelassen hatte! Er konnte sich auf ein gewaltiges Bootsmannsdonnerwetter gefaßt machen. Nach acht Tagen war die Arbeit getan. Wir bekamen eine Anweisung auf 600 Pesos und sagten uns nun mit den Heinzelmännchen:

Sind wir nicht Knäblein, hold und fein?
Was sollen wir länger Schuhmacher sein?

Wir hatten genug von der Pampa mit ihren heißen Tagen und bitterkalten Nächten. Genug von den salzigen Galletas und dem salpetrigen Trinkwasser. Der Steuermann und der Koch wollten durchaus nach Nordamerika, während ich noch immer australische Reisepläne hatte. So beschlossen wir denn, nach der Küste zurückzukehren.

Da wir viel Geld hatten, reisten wir diesmal gesittet im Personenzug, wenn auch nur »Sekunda«, mitten unter schmutzigen Rotos und lärmenden Bambinos. Ein bleicher, schwarzhaariger Jüngling mit einem vorgebundenen Verkaufsbrett wanderte von einem Wagen zum anderen und verkaufte Bananen, Apfelsinen, Zigarillos und die neueste Nummer der »Caras y Caretas«. In einer dunklen Ecke klimperte ein kokakauender Indianer auf einem Banjo. Gerade mir gegenüber saß eine junge Frau, die ein kleines Kind in den Armen hielt. Das arme Würmchen hatte den Kopf bis zur Unkenntlichkeit verbunden, und es wimmerte leise vor sich hin.

»Was ist's mit dem Chicito?« fragte eine nebenan sitzende alte Frau mit bedauernder Miene.

Dann erzählte die Mutter, wie der kleine Junge neben der Dampfmaschine gespielt hatte und wie dann plötzlich der Dampf herausgeschossen kam und dem Chicito den kleinen Kopf so sehr verbrannt habe, daß man ihn kaum wieder erkenne. Der Arzt meine, daß wohl nicht mehr viel zu hoffen sei.

»Qué desgracia!« sagte der Alte erschreckt.

»Pobrecito! Pobrecito!« meinten die anderen Frauen, die auch zugehört hatten.

»Aber die Ärzte, die wissen noch lange nicht alles!« fuhr die junge Frau unter Tränen lachend fort. »Was weiß so ein Quacksalber in der Pampa! Ich werde ihn zu einem großen Arzt in Antofagasta bringen. Der hat eine wundertätige Salbe, die alles das so schnell kurieren wird, daß man nicht Zeit hat, darüber ein Vaterunser zu sagen. Ich werde eine Kerze stiften für die Santa Veronica. Ich werde in die Kathedrale gehen und zu den Heiligen beten. Nein, nein! Meinen Chicito lasse ich mir nicht nehmen! – Sehen Sie nur, Señora! Es ist ja jetzt schon viel besser geworden. Er hat gar keine Schmerzen mehr. Er ist schon ganz still.«

Und wie sie vorsichtig das Tuch beiseite schob, um den anderen das Kind zu zeigen, da huschte plötzlich eine aschfahle Farbe über ihr bleiches Gesicht, und aus ihren Augen starrte ein Blick des Entsetzens, wie ich ihn noch nie gesehen. – Das Kind war tot.

Im nächsten Augenblick kam der Schaffner angepoltert.

»Ja, das geht nicht, Señora,« sagte er streng, »für eine Leiche müssen Sie Extragebühren bezahlen.«

»Was sagen Sie, Señor?« fragte die Frau verständnislos.

»Bezahlen, Señora! Bezahlen!«

»Wieviel wollen Sie?«

»Fünf Pesos.«

Mechanisch griff sie nach der Mantilla, wo sie die Pesos aufbewahrte, und entrichtete ihren Obolus an den heiligen Sankt Bürokratius. Als ihr aber der Beamte auch die Leiche wegnehmen wollte, da fauchte sie ihn an wie ein wildes Tier. Sie preßte das tote Kind noch stärker an sich und ließ es nicht mehr los während der ganzen Reise. Da saß sie auf der Bank mir gegenüber ganz still und unbeweglich. Sie machte kein Geschrei, und sie weinte nicht. Sie hörte nicht auf die Stimmen der Weiber, die ihr Trost zusprachen. Sie starrte nur immer vor sich hin mit großen, schwarzen, tränenlosen Augen. Mir wurde ganz unheimlich zumute.

So fuhren wir während des ganzen Tages durch die heiße, steinige Wüste der Küstenkordilleren, und erst als die Sonne unterging und schon vereinzelte Sterne am stillen Abendhimmel standen, tauchte wieder das blaue Meer in seiner Schönheit auf, und in der Ferne lag der Hafen von Antofagasta. Wir schauten begierig aus nach der Reede und musterten die Schiffe, die wir alle an der Takelage kannten. Die »Comliebank« war nicht mehr darunter.

 


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