Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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In der Pampa

Von Stufe zu Stufe. – Intermezzo im »Heidelberger Faß«. – Die Engländer auf dem Kriegspfade. – Mit chilenischen Löwen ist nicht zu spaßen. – Was man beim Whisky erzählt. – Der lange Heinrich macht in Weltgeschichte. – Der Gassenbube als Rettungsengel. – Der geschäftstüchtige Herr Silberstein. – Abreise nach der Pampa. – Mister Smith ist nicht aufzufinden. – Endlich Arbeit. – Weihnachtsabend auf der Dreschmaschine. – Etwas von Chacareros und anderen Caballeros. – Schwere Arbeit. – Wieder ein Mensch. – Politik im Kramladen. – Samoanische Reisepläne.

Die Idealisten mögen sagen was sie wollen: Der Mensch, in seiner gesellschaftlichen Stellung, ist doch nur ein Produkt seines mehr oder minder großen Geldbeutels. Was ist der Wandersmann in fernen Landen, wenn er nicht ein Scheckbuch, einen Kreditbrief, oder doch einen wohlgefüllten Geldbeutel sein eigen nennt? Ein Nichts; weniger als ein Nichts; ein nichtsnutziger Vagabund, ein verabscheuungswürdiges Wesen, auf das jeder Krämerlehrling mit einer Welt von Geringschätzung herabsieht. Die paar Groschen, die er mit ins Land gebracht hat, sind bald aufgezehrt, und dann geht es schnell bergab, bergab von Stufe zu Stufe, wie es in den Romanen heißt.

Die Preise in den Gasthäusern an der 25 de Mayo waren mir bald über den Kopf gewachsen, und ich verlegte den Schauplatz meiner Tätigkeit nach dem Paseo de Julio in das Gasthaus zum »Heidelberger Faß«. – Ein Hotel International im wahrsten Sinne des Wortes. Verwegen dreinschauende Gestalten aller Rassen und Völker saßen auf den kahlen Bänken, und über den weißen, schwarzen und braunen Köpfen mühten sich hemdsärmelige Kellner, die mit Flaschen und Biergläsern und einem halben Dutzend fremder Sprachen jonglierten.

Schon gleich in der ersten Stunde meines Aufenthalts erlebte ich eine Szene, die allerlei Vielversprechendes für die Zukunft voraussehen ließ. An einem runden Tisch in der Nähe der Bar saß ein exotisch aussehender Herr mit schmutzigem Kragen und knallroter, schon etwas fettig gewordener Krawatte und brütete über einem Glase Vermouth. Ich stand an der Bar und betrachtete ihn aus einem Winkel meiner Augen. »Es ist der chilenische Löwe,« sagte einer, der neben mir stand, mit einer Stimme, die vor Ehrfurcht erschauerte, »er ist stark wie ein Stier und flink wie eine Katze. Der beste Ringkämpfer in ganz Südamerika. Er kann mit Zentnergewichten Fangball spielen und mit dem Brustkasten die stärksten Ketten sprengen. Er kann mit den Zähnen einen Stuhl mitsamt einer Riesendame vom Boden aufheben – ja, das kann er! Zweimal in der Woche zeigt er seine Kunst in einem Varieté in der Calle Callao und macht dabei an einem Abend mehr Pesos, als unsereins in drei Jahren.«

Auf diese Auskunft hin betrachtete ich mir den großen Mann noch etwas genauer. Er war in der Tat groß und kräftig gebaut, aber nichts in seinem Äußeren ließ auf die Qualitäten schließen, die man mir eben in so glühenden Farben geschildert hatte. Das Gesicht war ziemlich schmal, fast kindlich, und nichts war da, das ein Löwengebiß vermuten ließ, mit dem man Riesendamen vom Boden aufheben konnte. Während ich ihn noch betrachtete, war eine Gesellschaft von stark angetrunkenen englischen Seeleuten hereingekommen, denen man die Rauflust an den Augen ablesen konnte.

»Platz da, Jack!« sagte einer, indem er den Chilenen beiseite stieß und sich selbst mit den anderen breit an den Tisch hinflegelte. Der Chilene verneigte sich mit kastilischer Höflichkeit und anscheinend ohne die geringste Gemütsbewegung. Bescheiden nahm er mit einem kleinen Plätzchen vorlieb, während die Engländer es sich bequem machten. Ich fand solches Benehmen nicht sehr würdig für einen Preiskämpfer.

»Mach Platz, du Dago!«Dago (sprich Dego), Verunstaltung des Vornamens Diego, ein englisches Schimpfwort für Italiener, Spanier und Portugiesen. fuhr ihn ein anderer Engländer an und stieß ihn vollends vom Tisch weg. Der Chilene setzte sich mit seinem Glase an einen benachbarten Tisch. Er war noch immer ganz Höflichkeit und Unterwürfigkeit, aber in seinen grünlich schillernden Augen blitzte es wie Wetterleuchten vor einem herannahenden Gewitter. Ich war nun wirklich gespannt auf den Ausgang der Sache, denn auf der ganzen Welt gibt es kein untraktableres Geschöpf, als eine englische Teerjacke, wenn sie ein gewisses Maß von Whisky zu sich genommen hat. Einer von den Kerlen, ein rothaariger Kunde, mit einem Gesicht wie ein Schauermann an den Liverpool Docks, ging auf den Chilenen zu und apostrophierte ihn in einer Sprache, vor der sich die Feder sträubt.

Der Chilene rührte sich nicht.

»Mach daß du hinauskommst, du brauner Hundesohn!«

Keine Antwort.

»Wird's bald, du schwarzes Affengesicht?«

Noch immer unheildrohendes Schweigen.

»Ich glaube gar, der Kerl will sich zur Wehr setzen? – Beim Teufel, ja! was ein richtiger Engländer ist, der kann zehn von eurer Sorte zum Frühstück verspeisen.«

Die Kampflust der Engländer war inzwischen auf dem Siedepunkt angelangt. Einer warf seinen Rock hin und krempelte die Ärmel seines schmutzigen Tuchhemdes auf.

»Come on, you Dago!«

Aber noch ehe ein weiteres Wort über seine Lippen kam, hatte ihn der Chilene mit einem Tschiutschitsugriff, der den Fachmann verriet, im Kreuz gepackt und über die Köpfe des Publikums hinweg in einen großen Wandspiegel geworfen, der klirrend in Scherben ging. Schnell wie der Blitz fiel er über die anderen beiden her. Den einen warf er so gegen die Wand, daß er mit den Füßen an den Whiskyflaschen hinter der Bar landete und mit dem Kopf zuerst in einen hochaufgetürmten Haufen von schmutzigen Tellern fiel. Nachdem er noch den dritten mit einem Stuhlbein niedergeschlagen hatte, hob er behutsam die Zigarette wieder auf, die er vor dem Intermezzo vorsorglich auf den Tischrand gelegt hatte, und ging langsam und würdevoll hinaus, als ob er eben aus der Kirche käme.

Kopfschüttelnd kam der Wirt herbei und beschaute das Trümmerfeld von Scherben und Splittern. »Nette Bescherung, das!« sagte er kaltblütig, und nicht ohne einen Unterton der Bewunderung, »wer, beim Teufel, hat denn diese Dampfsäge hier hereingelassen?«

Wir standen an jenem Abend noch lange an der Bar und besprachen das Ereignis und waren alle der Ansicht, daß das, was wir soeben gesehen hatten, ein verflucht hübsches und sauberes Stück Arbeit gewesen war. Wir tranken einen starken Wasserkantwhisky, zusammengebraut aus drei Litern Essig, sechs Lot Schwefelsäure, fünf Pfund Tigerkrallen, viel Pfeffer und neunzig Prozent Alkohol. Ich fand das Zeug abscheulich, aber einer der Kunden, der dabei stand, und den sie den langen Heinrich nannten, meinte mit Kennermiene, es gäbe überhaupt keine schlechten Schnäpse. Er kenne nur solche, die gut, und solche, die noch besser sind. Droben an der Bowery zu Neuyork habe er schon Whisky getrunken, der den blaunasigen Yankeekapitänen die Haare von den Zähnen wegbrannte. Nachdem er so bei seinem Lieblingsthema angelangt war, erzählte er noch von anderen scharfen Getränken und noch schärferen Raufereien. Wahrheit und Dichtung in bunter Mischung, und dazwischen manche faustdicke Lüge, aber das leichtsinnige Volk um ihn her nahm alles gläubig auf wie lauteres Evangelium. Denn der lange Heinrich war ein Mann, der etwas galt in dieser Gesellschaft. Schon seine äußere Erscheinung war keineswegs alltäglich. Er war so lang wie ein Tag ohne Sonne. Er hatte große, blaue Augen unter buschigen Augenbrauen, die tief aus ihren Höhlen herausschauten, in einem dürren ausgetrockneten Gesicht, das von der Sonne aller Zonen zu braunem Leder gegerbt war. Er hatte bereits ein wildbewegtes Leben hinter sich, das selbst in der Welt der Vagabunden Aufsehen erregen konnte. Einmal, vor vielen Jahren, hatte er in Deutschland Philosophie studiert; aber dazwischen lagen Leichtsinn und Schulden und Not und Entbehrung und tausend Enttäuschungen, die ihn immer tiefer hinabgezogen hatten in die Niederungen des Lebens. Der spanisch-amerikanische Krieg hatte ihm einst einen Strauß von kriegerischen Lorbeeren vorgegaukelt, der dann in einem dumpfen Fieberspital in Florida vorzeitig verwelkte. Der Burenkrieg fand ihn als Pferdehüter unter südafrikanischer Sonne. Den Philippinenkrieg hatte er als Sanitätssoldat der U. S. Armee mitgemacht, und im japanischen Kriege hatte er auf einem Blockadebrecher von Wladiwostok Dienste genommen. Überall, wo es in den letzten zwanzig Jahren etwas zu raufen gab, war der lange Heinrich stets »mitten mang« gewesen; ein wandelndes Stück moderner Kriegsgeschichte. Dann aber, als eine Ruhepause eintrat im Streite der Völker, mochte er sich wohl mit Cajetan gesagt haben:

Sage, was werden wir jetzt beginnen,
Da die Fürsten ruhen im Streit,
Auszufüllen die Leere der Tage
Und die lange, unendliche Zeit?

Südamerika schien ihm das geeignete Feld für seine weitere Tätigkeit, zumal Buenos Aires. Derartige Existenzen landen früher oder später immer in Buenos Aires. Abwechselnd trieb er sich in Rosario, in Montevideo und Bahia Blanca umher als ein verkommener Vagabund, während die großen Augen stets unruhig nach den fernsten Winkeln der Erde ausschauten, ob da nicht wieder irgendwo etwas in Gang kommen wollte.

An jenem Abend war der lange Heinrich bei guter Laune. Er sagte, er habe heute gute Kommerze gemacht. Am Bahnhof Retiro habe er einen Bonzen angetroffen, der gerade auf den Zug nach Rosario wartete. Dem habe er die Geschichte von der Frau und den fünf Kindern erzählt, worauf der andere ohne weiteres mit einer Fahrkarte nach Mendoza herausrückte. Die habe er nun zu Geld gemacht und könne sich dafür heute etwas leisten. Aber solche Unschuldslämmer finde man auch nicht alle Tage. Überhaupt werde das Geschäft zusehends flauer. Die guten Nummern in den Landhäusern von Palermo habe er alle schon mehrmals abgeklopft, bei den Wohltätigkeitsgesellschaften dürfe er sein Gesicht schon lange nicht mehr zeigen, und überhaupt – überhaupt – es sei keine Lust mehr zu leben.

»Was meinst du wohl, Bruderherz,« wandte er sich an einen kleinen behäbigen Menschen, der vor kurzem aus Deutschland gekommen war, wo er – wenigstens nach seinen eigenen Angaben – als Student in Göttingen der Gottesgelehrsamkeit obgelegen hatte, »wenn wir uns zu Hause so umgetan hätten, wie wir es hier müssen, so hätten wir es weiter gebracht. Ich wäre inzwischen schon Geheimrat geworden mit dem Prädikat Exzellenz und einem roten Adlerorden, derweilen du – nun ja, du bist noch jung, aber zum Pastor würde es auch bald reichen. Alle Tage könntest du einen Braten auf dem Tisch haben. Indessen hocken wir hier auf der Plaza de Mayo und lesen die Centavos im Park von Palermo und am Bahnhof Retiro zusammen. Es ist, weiß Gott, kein Herrenleben!«

»Ergo bibamus,« sagte der Theologe und tat einen tiefen Zug aus dem Glas.

Dann fing der lange Heinrich an zu erzählen mit seiner fettigen Stimme, die sich nicht übereilte. Er tat sehr überlegen und landkundig uns neu eingewanderten Grünhörnern gegenüber, obwohl er selbst nicht viel länger im Lande war wie wir. »Ja, da staunt ihr!« rief er aus, als er eben ein neues Märchen zu Ende erzählt hatte, »das hier ist ein Land, von dem eure Schulbubenweisheit sich nichts träumen läßt! Wer da nicht einen hellen Kopf – einen verflucht hellen Kopf hat, wie z. B. ich, der kommt vor die Hunde, ehe er weiß, wie ihm geschehen.«

Der Rat eines so welterfahrenen Mannes wie des langen Heinrich schien mir immerhin beachtenswert, und so erzählte ich ihm von meinen Plänen, aber der Extheologe fiel mir ins Wort: »Was? nach Rosario willst du gehen? Was willst du denn dort? Wohl gar ar–bei–ten! Mensch, das ist das dümmste, was man tun kann hierzulande! Wenn man schon einmal in einer so großen Stadt ist wie Buenos Aires, so muß man doch erst einmal alle die Bonzen mitnehmen, ehe man weiter geht. Aber da kann man predigen, so viel man will. Das grüne Gemüse geht doch immer nach dem eigenen Kopf, bis es sich ihn irgendwo anrennt. Kaum ist es irgendwo warm geworden, so läuft es davon und weiß selbst nicht warum; immer weiter und weiter, als ob sie irgendwo das Schlaraffenland finden wollten. Dabei ruiniert man seine Gesundheit, man schafft sich unnötig Ärger und Verdruß, man wird vorzeitig alt und müde, und wenn man auch am Ende der Erde angekommen ist, so ist man doch so klug wie zuvor. – So etwas habe ich nie verstehen können. Immer langsam und gemütlich, sage ich. Was liegt denn daran, ob du da bist oder dort?«

Solche Logik war nun allerdings gar nicht nach meinem Geschmack. Für mich war die Welt immer dort am schönsten, wo ich nicht war. Einmal, als es noch in weiter Ferne lag und der Nimbus des Exotischen darum schwebte, war mir Buenos Aires als das Ideal eines Aufenthaltsorts erschienen. Heute waren die Gedanken schon in Valparaiso, in La Paz, in Callao oder irgendwo sonst in weiter, weiter Ferne. –

Am nächsten Morgen war ich früh auf den Beinen. Der Geschmack der verschiedenen Gifte, die ich am Abend zuvor getrunken hatte, lag mir schwer auf der Zunge. ›Der Menschheit ganzer Jammer‹ war mir in die Glieder gefahren, und kurzum: ich fühlte mich so mutlos und so niedergeschlagen, wie nur je ein armer Arbeitsloser in der Fremde. Es ging schon in die dritte Woche, daß ich mich vergeblich um eine Stelle bemühte. Wenig dachte ich, daß dieser graue Tag eine glorreiche Wendung bringen sollte. Als ich mürrisch über den Paseo de Julio ging, kam ein Gassenbube dahergelaufen und drückte mir einen Zettel in die Hand:

Caballero!

Wollen Sie zu Reichtum und Wohlstand gelangen? Wollen Sie Ihr Glück machen in Argentinien? Suchen Sie eine angenehme, gut dotierte, Ihren Kenntnissen entsprechende Stellung als Korrespondent, als Buchhalter, als Ingenieur oder Mechaniker?

Ich habe das, was Sie suchen. Mein Büro steht zu Ihrer Verfügung. Besuchen Sie mich noch heute!

Mauricio Silberstein,          
Stellenvermittlung. Nur für Caballeros.

Mißtrauisch betrachtete ich den Zettel von allen Seiten. Caballeros suchte der Mann am Paseo de Julio! – Und er wohnte in der 25 de Mayo. – Das war auch keine Empfehlung! Immerhin konnte man es einmal mit ihm versuchen. Nach den vorangegangenen Mißerfolgen war ich gerade in der Stimmung, in der selbst ein Gassenbube am Paseo de Julio mit dem Zettel eines Herrn Silberstein mir zur Not als Rettungsengel erscheinen konnte.

In einem alten, einstöckigen Gebäude, das mit vergitterten Fenstern gegen die Außenwelt hermetisch abgeschlossen war, wohnte Mauricio Silberstein. Eine riesige Tafel vor der Tür, auf der mit Kreide die schönsten Stellungen mit den verlockendsten Honoraren verzeichnet waren, ließ keinen Zweifel über diese Tatsache. Ein kleiner, halb verhungerter Junge führte mich in ein sehr großes, schmuckloses Zimmer, das selbst für argentinische Ansprüche einen ungewöhnlich spartanischen Eindruck machte. Nur zwei wunderschöne, glasumrahmte Bilder an den kahlen Wänden verkündeten, daß Herr Silberstein auch in Feuer- und Lebensversicherungen ›machte‹. Ein düsteres Halbdunkel umgab alles ringsum, denn die Fenster waren wohl verbarrikadiert gegen einen Angriff der Hitze, die draußen auf der Straße brütete. Nur durch einen Spalt zwischen den Fensterläden drang ein heller Lichtstreifen, in dem tausend Staubkörner tanzten. Soweit die Dunkelheit es zuließ, war an Mobiliar nur ein Tisch und zwei Stühle zu erkennen, auf deren einem eine wohlbeleibte Dame mit schwarzen Augen, schwarzen, wirren Haaren und einer zitronengelben Gesichtsfarbe saß. Eine bunt gestickte Mantilla trug sie lose über der Schulter. Sonst war sie im tiefsten Negligé.

Ob Don Mauricio Silberstein zu sprechen wäre?

»Mauricio! – Moritzche! 's ischt einer da!«

Ein unverständliches Gebrumm in einem Nebenzimmer war die Antwort.

»Nehmen Sie Platz!« sagte die Dame mit sirenenhaft sein sollendem Lächeln und einer Gebärde auf den einzigen wackeligen Stuhl im Zimmer.

Nach einer Weile vernahm man das Schlürfen von Pantoffeln, und Don Mauricio erschien auf der Bildfläche. Er war ein alter, stark asthmaleidender Herr mit ausgeprägt semitischen Gesichtszügen. Die schwammigen, blau angelaufenen Backen zitterten bei jedem Schritt. Mit einem bunten Taschentuch wischte er sich die dicken Schweißtropfen von der niedrigen Stirne.

»Haben Sie Geld?« fragte er ohne Umschweife.

»Geld?«

»Natürlich. Geschenkt bekommt man nichts in Buenos Aires! Zehn Pesos kostet die Auskunft.«

Zehn Pesos! Das waren beinahe achtzehn Mark nach dem damaligen Kurs. Aber eine gute Stelle war damit wohl nicht zu teuer bezahlt.

Don Mauricio strich die zehn Pesos ein und blätterte dann bedächtig in seiner Briefmappe.

»Natürlich möchten Sie hinaus aufs Land. Das ist immer gut für den Anfang,« sagte er nachdenklich. – »Wie wär's mit einer Stelle als Assistent bei einem Feldmesser? Drei Pesos für den Tag bei freier Verpflegung. Die Reise kostet sieben Pesos. Wenn ich Ihnen gleich die Fahrkarte besorge, können Sie heute nachmittag schon abreisen.«

»Ich weiß wirklich nicht, Herr Silberstein,« – wagte ich zu bemerken.

»Was wissen Sie nicht?«

»Ob ich auch kompetent bin in dieser Arbeit.«

»Was kompetent! Als ob's darauf ankäme! Wenn Sie jetzt schon Angst haben, dann wären Sie lieber nicht erst von drüben gekommen. Hierzulande muß man jedem ins Handwerk pfuschen, ob's ein Zuckerbäcker oder ein Hufschmied ist. Wer ein ganzer Kerl ist, der bringt's dabei auch zu etwas, und um die anderen ist's nicht schade.«

So sprach Herr Silberstein, und dabei schaute er mich so verächtlich an mit seinen großen, vorquellenden Augen, daß ich den Widerspruch auf der Stelle aufgab.

Freilich! Wie sonst sollte man auch zu etwas kommen? Zögernd zahlte ich auch diese sieben Pesos, die Don Mauricio ebenfalls einstrich, ohne eine Miene zu verziehen. Dann gab er mir den Fahrschein.

Als ich nach dem Gasthaus zurückkam, um meine Sachen zu holen, war es schon spät geworden, und die Kunden saßen schon um den akademischen Stammtisch und tranken Dünnbier und schimpften über das »Affenland«.

»Da kommt ja unser Sohn Benjamin!« rief der lange Heinrich, als ich herein kam, »und strahlend, bei Gott, wie ein Fastnachtsteufel am Aschermittwoch! Hast dir wohl etwas ganz Gutes angetan? eine fette Stellung ausfindig gemacht? – Wo denn, wenn man fragen darf?«

»Bei einem gewissen Silberstein.«

»Bei Don Mauricio?«

»So heißt er wohl.«

»In der 25 de Mayo?«

»Ja.«

Da horchten die andern auf, und wie auf Kommando brachen sie alle in ein dröhnendes Gelächter aus. »Don Mauricio! – Ha Ha! – Ja, das ist der richtige!« – Der lange Heinrich war es, der zuerst die Sprache wiederfand.

»Die Adresse hätte ich dir schon lange verraten können. Bei Don Mauricio kann man immer eine Stelle bekommen. Das ist keine Kunst. Und wenn du eine Frau und sieben Kinder hättest, und wenn du mit deinen sämtlichen Onkeln und Tanten und deiner ganzen Verwandtschaft angerückt kämst, so hätte Don Mauricio doch im Handumdrehen für alle etwas ausfindig gemacht. – Na, meinetwegen kannst du ja machen, was du willst. Der Herr läßt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte; warum nicht auch über den alten Silberstein? Wir sind ja alle einmal grün gewesen, und es muß ein jeder sich seine Hörner selbst ablaufen.«

* * *

Fort eilte der Schnellzug. Schon lag Buenos Aires weit hinter uns. Nur noch von ferne ragten die Türme und die Schornsteine der Weltstadt in den wolkenlosen Himmel, über den eben die ersten Schatten der Abenddämmerung huschten. Vorbei ging es an dem Park von Palermo, in dem die roten Beeren von den Pfefferbäumen leuchteten, und an der Vorstadt Belgrano, wo weiße Landhäuser zwischen grünen Büschen und bunten Blumen hervorschauten. Dann wurde es allmählich stiller und eintöniger ringsum. Gelbe Stoppelfelder, graugrüne Wiesen, staubige Landstraßen, umsäumt von endlosen Stacheldrahtzäunen, hinter denen halbwildes Viehzeug dem vorübereilenden Eisenbahnzug nachschaute. Am dunkelblauen Himmel brannte die Abendsonne über der gelben, staubigen Landschaft. Das war die Pampa. –

Nach einer ungemütlichen Nacht in dem kalten Eisenbahnwagen war ich froh, wie ich beim ersten Dämmern des nächsten Tages am Ziel der Reise anlangte.

»San Pedro!« rief der Schaffner.

Es war nicht gerade ein imponierender Bahnhof. Ein bescheidenes Stationsgebäude und ein paar lange, düstere Schuppen aus Holz und Wellblech. Das war die ganze Herrlichkeit. Von den Maisfeldern kam ein ländlicher Duft. Ein kleiner, grauer Esel stolzierte über den Bahndamm und tat sich an den Gräsern gütlich, die zwischen den Schienen wucherten. Wie still es hier war! Auf hundert Meter Abstand konnte man das Ticken des Telegraphenapparates hören.

Ich nahm meine Siebensachen zur Hand und marschierte durch den tiefen Sand einer breiten Straße nach der schönen Plaza, über der freundliche Pfefferbäume und stattliche Palmen ihre Häupter wiegten. In einer Fonda kehrte ich ein und erkundigte mich nach der Adresse, die mir Herr Silberstein aufgeschrieben hatte. Aber keiner der Anwesenden konnte mir Auskunft geben.

Mr. Smith? Ein Engländer? Niemand wußte etwas von dem Vorhandensein dieser Persönlichkeit. Ja, vor Jahren sei einmal ein gewisser Mister Smith hier gewesen, aber der war ein Yankee. Er handelte mit Patentmedizin, bis er eines Tages, nachdem er einen seiner Kunden vergiftet hatte, auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Eine Adresse habe er nicht zurückgelassen. – Und in der Avenida Sarmiento sollte mein Mr. Smith wohnen? Ja, die gibt's ja gar nicht! Die Gäste sahen einander mit vielsagenden Blicken an.

»Sind Sie schon lange in Argentinien?« fragte mich der Fondero mit aufreizender Herablassung.

»Drei Wochen,« antwortete ich kleinlaut.

»Das dachte ich mir schon,« meinte trocken der andere.

Mich aber überlief es eiskalt. Wie, wenn dieser gerissene Herr Silberstein –

Während des ganzen Vormittags lief ich in dem Städtchen umher. Überall zog ich Erkundigungen ein. In den Fondas, in den Kaufläden, auf der Polizeiwache. Jeden Gassenbuben hielt ich auf der Straße an, aber niemand hatte je etwas gehört von dem Mr. Smith und noch weniger von der Avenida Sarmiento.

Ganz zerknirscht kam ich wieder zurück nach der Fonda, wo ich über einer Flasche Rotwein lange den finstersten Gedanken nachhing. So war ich also wirklich auf den plumpen Kniff des ersten besten Bauernfängers hereingefallen! Wie ein großes Grünhorn hatte ich mich angestellt und nicht wie einer, der schon in allen fünf Weltteilen gewandert war! Aber dieser famose Herr Silberstein sollte mich erst noch kennen lernen! Postwendend wollte ich nach Buenos Aires zurückkehren und ihm persönlich einen Denkzettel verabreichen. Mit der Polizei wollte ich mich nicht erst lange aufhalten. – Aber die Reise kostete viel Geld. Mein letzter Centavo würde daraufgehen. Und dann? Lieber lebendig im Fegefeuer als ohne Geld in Buenos Aires! Was aber, um alles in der Welt, sollte ich gerade hier in diesem Neste anfangen? Es war wirklich ein Dilemma.

Glücklicherweise war der Fondero eine mitleidige Seele, die Verständnis hatte für meine Notlage.

»Können Sie schreiben, Caballero?« fragte er teilnahmsvoll.

»Ein bißchen.«

»Und rechnen auch?«

»Ja, so ziemlich.«

»Aber Freund, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Vorhin war nämlich ein Landsmann von Ihnen hier. Der sucht einen Recibidor für seine Dreschmaschine. Das wäre gerade eine Stelle für Sie!«

»Recibidor?«

»Natürlich – ja – gerade etwas für Sie!«

Mit einem Eifer, der eine Provision für die Vermittlung des Geschäfts vermuten ließ, nahm sich der Mann meiner Sache an. Er schenkte mir eine besonders starke »Caña« ein und beschwor mich, doch ja nicht davonzulaufen, während er den Landsmann herbeiholen wollte. Nach kaum zehn Minuten kam er wieder zurück mit einem kleinen, grauköpfigen Mann im Schlepptau. Dieser redete mich in unverfälschtem Schwyzerdütsch an, und da ich darauf mit meinem Elsäßerdeutsch anfing, waren wir bald gute Freunde. –

Wenige Stunden später zogen wir schon mit der Dreschmaschine hinaus in die Pampa. In dem tiefen Sand der ungepflegten Straße kam die schwere Lokomobile nur mühsam vorwärts, und bei Sonnenuntergang hatten wir eben erst die letzten Häuser des Städtchens hinter uns gelassen. Auf den heißen Tag war eine schwüle, gewitterdrohende Nacht gefolgt. Dicke, schwarze Wolken jagten über den Himmel, von dem nur ab und zu für ein paar Minuten der Vollmond sein weißes Licht über die Landschaft goß. Ein lauer Wind raunte in den Maisfeldern und spielte mit den roten Funken, die die geschäftige Maschine bei jedem Atemzug in die dunkle Nacht hinausschleuderte.

Ach ja, fast hatte ich es vergessen über all' den anderen Erlebnissen dieses unruhigen Tages. Es war heute der Abend des 24. Dezembers. Der Weihnachtsabend.

Wir übernachteten auf der staubigen Landstraße. Es war, wie gesagt, eine drückend schwüle Nacht. Die Wolken schoben sich schwer vorüber. Dicke Regentropfen fielen vereinzelt herunter, und ich dachte mir, was wohl werden würde, wenn sie sich zu einem Landregen verdichteten, denn wir hatten weder Zelte noch sonst ein trockenes Plätzchen, da man sein Haupt hinlegen konnte. Alles in allem war es eine trübe, wenig weihevolle Weihnacht, und ich war froh, als endlich der neue Tag über der Pampa dämmerte. Bei Sonnenaufgang setzten wir unsere Reise fort auf der Landstraße, die schnurgerade nach Norden führte. Sie war heiß und staubig und überall ausgerissen von den kreuz- und querführenden Wagenspuren. Öde und eintönig war die Landschaft. Nur da und dort ein einsames Farmhaus hinter Gruppen von Pfeffer- und Akazienbäumen, oder ein goldgelbes Maisfeld, dessen hohe Stauden sich leise im Winde wiegten. Und im übrigen, so weit das Auge reichte, nur graue, abgemähte Lein- und Weizenfelder. Der helle Sommertag lag blau über dem Lande. Auf den Feldern standen turmhohe Getreideschober und warfen lange, schwarze Schatten auf die gelben Stoppeln.

Der Schweizer machte ein saures Gesicht bei ihrem Anblick. Die Aussichten für die Dreschmaschinen seien heuer schlecht. Im vorigen Jahre seien mindestens fünf große Haufen auf der Fläche gestanden, wo jetzt kaum einer stehe, und dabei sei das Korn beim Dreschen viel ausgiebiger gewesen wie in diesem Jahre. Die Hitze habe alles verbrannt, der trockene Wind habe die Feuchtigkeit aus dem Boden gesaugt, und an dem was übrig blieb, hätten sich die Heuschrecken gütlich getan. Die Pest solle in die Gesellschaft fahren! Wenn nicht bald ein ordentlicher Landregen komme, so sei es auch um die Maisernte geschehen, und dann könnten sich die Peone auf etwas gefaßt machen. Besorgt schaute er nach dem Himmel, der nach der regendrohenden Nacht wieder hell und blau geworden war. Die anderen stimmten ihm alle eifrig bei: Die Zeiten seien schlecht, und sie würden wohl noch viel schlechter werden.

Während des ganzen Tages zogen wir weiter auf der Landstraße wie eine bunt zusammengewürfelte Zigeunerbande. Ab und zu kamen wir an anderen Dreschmaschinen vorbei, die draußen auf den Feldern wie riesige Bienen in den Tag hineinsummten.

Dann bogen wir selbst seitwärts in ein Feld und machten uns an die Arbeit. –

Doch ich will nicht weiter im einzelnen erzählen. Wer schon einmal – sei es in Deutschland, sei es in Amerika oder irgend einem anderen Lande – auf einer Dreschmaschine gearbeitet hat, der weiß, daß das Leben dort nur Mühe und Arbeit ist. Lange, endlos lange Stunden der Arbeit. Es gibt Leute, die da reden vom Acht-, ja vom Sechsstundentag! Wir – die Peone der Dreschmaschine – wir arbeiteten täglich unsere sechzehn und siebzehn Stunden. – Oder noch mehr! Der Mensch kann viel, wenn er muß. Drüben in Texas habe ich einmal einen alten Neger gekannt, der alltäglich eine Arbeitszeit von fünfundzwanzig Stunden absolvierte.

»Fünfundzwanzig Stunden pro Tag!« So pflegte er zu sagen, »das ist zuviel für einen armen Nigger.«

»Fünfundzwanzig Stunden?«

»Ja, und keine Minute weniger!«

»Wenn aber der Tag bloß vierundzwanzig Stunden hat?«

»Nun ja! stehen wir nicht eine Stunde vor Sonnenaufgang auf?«

Nach solcher Rechnung ging unser Tagewerk noch weit über das erstaunliche Pensum von fünfundzwanzig Stunden hinaus. Kaum begann im Osten der erste Schimmer des Tages zu dämmern – das war ungefähr um drei Uhr morgens – so kam Nicola der Koch auf den Strohhaufen, wo wir übernachteten, und weckte uns auf mit seiner knarrenden Stimme.

»A la caña! A la caña, muchachos!« rief er mit einer Stimme, die imstande gewesen wäre, die Toten am jüngsten Gerichte aufzuwecken und schwenkte dabei die Schnapsflasche, aus der jeder einen tiefen Schluck nahm. Dann ging es ohne weitere Umstände an die Arbeit.

Bei Tagesanbruch hatten wir schon mehr Arbeit verrichtet, wie mancher in einer ganzen Woche.

Es war ein phantastischer Anblick, wenn das gefräßige Ungetüm in dunkler Nacht seine Arbeit begann. Wie die Teufel sahen die Leute aus, die im Lichte der verblassenden Sterne hoch oben auf dem Strohhaufen die Heugabeln hantierten und die Garben immer bündelweise in den unersättlichen Rachen warfen. Der ganze Apparat zitterte und stöhnte und schnaubte vor lauter Gefräßigkeit. Dicke Massen von Staub und Schmutz und Gehäcksel, die am hinteren Ende der Maschine hinausgeblasen wurden, lagen wie eine Wolke über der Erde und verpesteten die Luft in weitem Umkreis. Und wenn zuweilen ein Windstoß die roten Funken vom Motor herüberfegte, dann entzündeten sich die kleinen Teilchen des verhackten Strohs in der Luft, und es gab das schönste Feuerwerk.

Schmutzige, widerwärtige Arbeit! Die umherfliegenden Sandkörner setzten sich beißend in der Haut fest, und der Staub überzog das Gesicht mit einer grauen Kruste, aus der das Weiß der Augen unheimlich leuchtete. Wer an der Dreschmaschine arbeiten will, der lasse die liebe Eitelkeit zu Hause. Am ersten Tage versuchte ich es nach getaner Arbeit mit dem Waschen in einem faulen Tümpel, in dem die Frösche quakten, aber damit erregte ich nur den Zorn und die Mißgunst meiner neuen Kameraden. Mit offenem Munde und gerunzelten Stirnen sahen sie dem Beginnen zu. »Seht euch den GringoEtwas geringschätzige Bezeichnung für germanische Einwanderer. Siehe auch Seite 115 ff. an! Der Mensch will sich wahrhaftig waschen! – Waschen! – Ja, amigo, warum tust du denn das? In einer halben Stunde bist du ja doch wieder so schwarz wie zuvor. In sechs Wochen, wenn wir wieder ins Pueblo zu den Señoritas kommen, ist immer noch Zeit genug für so etwas.« Damals steckte in mir noch zuviel vom zivilisierten Menschen, um diese Weisungen wörtlich zu befolgen, aber später – nun ja, man verwildert schnell auf der Dreschmaschine. Wer hätte auch Zeit und Lust gehabt, zu irgend welchen Eitelkeiten und Hoffärtigkeiten in dieser Tretmühle, die einen von drei Uhr morgens bis neun Uhr abends in ihrem Banne hielt.

Abends, nach getaner Arbeit, begann die Müdigkeit jedesmal wie ein Bleigewicht auf mich zu drücken, so daß ich kaum mehr Kraft und Lust genug hatte, um das Fleisch zu schneiden, von dem uns täglich unglaublich große Mengen vorgesetzt wurden. Und wenn dann die Nacht richtig gekommen war, so hatte man keinen Platz, wo man sicher vor Wind und Wetter sein konnte. Und das war das schlimmste bei der Sache. Irgendwo draußen bei Mutter Grün (oder Grau) auf dem Strohhaufen oder auf den Stoppelfeldern, breitete man seine Decke aus im Vertrauen darauf, daß der Herr nicht regnen ließ auf die Gerechten. – Oft schon habe ich mich gewundert, warum man gemeinhin so absprechend von einem Hundeleben spricht, wo es auf dieser Erde doch so viele Menschen gibt, die lange nicht so gut aufgehoben sind, wie manche Hunde, die ich kenne.

Am ersten Tage schwor ich mir, daß ich es nicht länger als bis zum nächsten Abend aushalten wolle in dieser Hölle; am zweiten machte ich mich auf eine ganze Woche gefaßt. Nach acht Tagen biß ich die Zähne zusammen und beschloß, nicht eher fortzugehen, als bis sie mich am Ende der Saison mit einer Tasche voll Pesos entlassen würden. Nur jetzt nicht nachgeben! Nur jetzt nicht gleich beim ersten Anlauf die Flinte ins Korn werfen! Was blieb mir denn vorerst auch anderes übrig im Lande Südamerika, als diese Dreschmaschine? – Zurück nach Buenos Aires? Und dort sollte ich dann wieder so zweck- und ziellos in den Straßen herumlaufen und mich um Arbeit bemühen und doch keine finden? Dann wieder drei Tage arbeiten und drei Tage hungern und so fort und fort in alle Ewigkeit, wie einer von den schmierigen Peonen am Paseo de Julio? – Mir gruselte es allein schon bei dem Gedanken.

Bald war ich so abgestumpft, wie alle anderen. Mechanisch tat ich meine Arbeit, ohne im geringsten etwas dabei zu denken. Mir war, als ob es auf der weiten Welt nichts mehr gäbe als diese Plackerei; als ob ich nie in meinem Leben etwas anderes gewesen wäre, als so ein spanischer Saisonarbeiter, bei dem das Geldverdienen ein Wettlauf ist zwischen dem Leben und dem Hunger und dem Tod.

Die anderen Arbeiter an der Maschine – es waren lauter spanische Peone – betrachteten mich von Anfang an mit unbegrenztem Mißtrauen. Ein Gringo an der Dreschmaschine! Das war sonst eine Seltenheit! Und wenn einmal einer sich dahin verirrte, so hielt er es sicher nicht länger aus wie drei Tage. Die Arbeit war ihnen zu schwer. Aber der da – madre dios – das konnte kein richtiger Gringo sein! Fast glaubte ich es selber, denn für solche Plackerei muß man schon den ganzen Stumpfsinn eines südländischen Arbeiters aufbringen.

Sonn- und Feiertage gab es nicht in unserem Kalender. Nur zuweilen, wenn der Motor heiß gelaufen war, oder irgend etwas am Apparat nicht klappte, gab es eine kleine Ruhepause. Dann verlegten wir uns aufs Matetrinken.

Mate ist ein aus einem in Paraguay vorkommenden Kraut, dem sogenannten Yerba Mate, gewonnener Tee, für den jeder echte Südamerikaner eine große Vorliebe besitzt. Das kunstgerechte Matetrinken ist eine Fertigkeit, die man sich erst nach längerer Übung aneignen kann. Man schüttet das grüne, gepulverte Kraut in eine kugelförmige Tasse, die man alsdann mit heißem Wasser anfüllt. Dann steckt man die »Bombilla« durch die enge Öffnung der Tasse und saugt damit den Tee wie die Yankees ihre »ice cream soda«. Solcher Mate ist ein Getränk von unleugbar erfrischender Wirkung. Für eine europäische Zunge schmeckt er jedoch zumeist abscheulich bitter. Nicht so für den Südamerikaner. Er ist unter allen Umständen ein leidenschaftlicher Matetrinker. Die Tasse mit der Bombilla verfolgt ihn wie sein eigener Schatten. Sie begleitet ihn bei der Arbeit. Sie ist seine Freude und Erholung in den Mußestunden. Er nimmt sie mit ins Bett und saugt sich in den Schlaf. Er kann schreiben oder Holz hacken mit der einen und Mate trinken mit der anderen Hand. Denn der Mate ist ein Stück seines eigenen Ichs. Ohne Mate mag er nicht leben.

Stundenlang saßen wir um das kümmerliche, mit trockenem Kuhdung mühsam unterhaltene Feuer. Die Matetasse wanderte von Hand zu Hand, und jeder tat der Reihe nach einen Zug aus der Bombilla. »Allà en España,« sagte einer. Da horchten die anderen auf. Da kam ein Feuer in die müden Augen, und die Hände fingen an zu gestikulieren. Allà en España. – Sie begannen zu erzählen von Frau und Kind über dem großen Wasser; von den Ziegen, die sie im Stalle hatten, von dem Brot, das dort viel weißer und dem Wein, der so viel billiger sei wie hierzulande. Überhaupt Spanien – das sei noch ein Land für Caballeros! Sobald man einen Batzen Geld zusammen habe, ginge es wieder hinüber. Nur fort von hier! Nur nicht begraben werden in diesem Räuberlande!

Wenn sie sich ausgesprochen hatten, stimmte einer einen von den eintönigen spanischen cantantes an, und die anderen summten dazu mit halblauter Stimme.

Me gustan todos, me gustan todos,
Pero mi negro, pero mi negro
      Me gusta màs.

Melancholisch spielte der matte Feuerschein auf den müden, abgearbeiteten Gesichtern.

Dann wanderten die Blicke vom Feuer hinweg nach dem Himmel, der noch immer in klarer und mitleidsloser Bläue erstrahlte, und einer fragte den andern, ob es denn nicht endlich, endlich einmal regnen wollte. Und was man wohl anfangen sollte, wenn inzwischen die Maisernte verdorrte. Schon heute gäbe es zwanzigtausend Arbeitslose in der Provinz Santa Fe, und bis die Saison der Dreschmaschine vorbei sei, könnten es gut hunderttausend werden.

Ja, auch das Leben der kleinen Leute hat seine Tragödien! Da war z. B. Don Pablo, der Mann mit dem düsteren Gesicht und den schwarzen, tiefliegenden Augen. Er war kaum dreißig Jahre alt, aber er hatte bereits sieben Kinder und war schon zum sechsten Male in Amerika. In jedem Jahre war er mit unzähligen anderen übers große Wasser gefahren, um bei der Ernte zu helfen. Hin und zurück kostete ihn die Reise zweihundertfünfzig Pesetas, gleich zweihundert Mark, und doch erübrigte er noch genug, um während der Zeit das nötige Geld zum Unterhalt der Familie nach Spanien zu schicken und obendrein noch die tote Saison im süßen dolce far niente unter den andalusischen Palmen zu verbringen. Diesmal aber war die Rechnung falsch gewesen. »Ja, du hast gut reden,« sagte er zu mir, als ich ihn zu trösten versuchte, »du bist jung und gesund und hast keine Familie zu ernähren. – Aber was meinst du wohl, wie es unsereinem ergehen wird? Da sitzt man hier in Amerika auf dem Pflaster, derweilen zu Hause Frau und Kinder nichts zu essen haben. – Und was glaubst du wohl, was die von mir denken werden, wenn ich kein Geld mehr schicke und auch nicht zurückkomme? Sie werden glauben, ich sei irgendwo gestorben und verdorben in diesem Affenlande, und Doña Elvira – das ist meine Frau – wird sich einen andern nehmen. Ja, das wird sie, denn was sonst soll sie anfangen?«

»Du kannst ihr ja schreiben.«

»Schreiben? Por dios! Wann soll ich denn das gelernt haben? Wenn man von seinem sechsten Jahre an sein Leben selbst verdienen muß, ist man froh, wenn's mit der Wissenschaft bis zu einem Vaterunser und einem Rosenkranz langt und einer Bitte an die heilige Jungfrau für die Erlösung aus dem Fegfeuer.« –

Das ist die Geschichte von Don Pablo. Sie paßt auch auf Don Felipe, auf Don Pedro, auf Don Francisco und hunderttausend andere, die zur Erntezeit die argentinische Pampa bevölkern. Soll ich die Geschichte der Doña Anna erzählen? Ich will es lieber nicht tun, denn ich komme dabei ins Plaudern und werde nie mein Garn zu Ende spinnen. –

* * *

Öde und reizlos, wie die Pampa selbst, ist das Landleben in Argentinien. In diesem Lande, wo ein Drittel der Bevölkerung in der Großstadt wohnt und das platte Land sich einsam und eintönig in endlose Fernen erstreckt, gibt es nichts, aber auch gar nichts, das an die idyllische Beschaulichkeit der ländlichen Gegenden Europas gemahnt. Keine alten, verträumten Landstädtchen, wo die schiefen Häuser mit ihren mittelalterlichen Giebeln durcheinanderstehen wie in einer Rumpelkammer, keine winkligen Dorfgassen mit holprigem Pflaster, auf dem wilde Kinder spielen, keine fetten, blumenbesäten Wiesen am Rande schwarzer Wälder, keine blühenden Obstgärten und keine blauen, dunstumwobenen Hügel, über denen Sonntags die Kirchenglocken läuten. Hier ist alles grau und nüchtern, flach und eben. Alles auf die Jagd nach den Pesos eingestellt. Der Argentiner, oder vielmehr das Gemisch von Menschen in dem brodelnden Hexenkessel, aus dem dereinst die argentinische Nation hervorgehen soll, ist im allgemeinen kein Freund des Landlebens mit seiner stillen Selbstzufriedenheit. Wie alle Südländer – und wohl auch nicht wenige von denen, die in nördlicheren Zonen zu Hause sind – so liebt er vor allem Prunk und Tand und ein abwechslungsreiches Dasein inmitten des brausenden Stadtlebens. Kino, Kaffeehaus, Pferderennen und all die anderen Reize der Großstadt ziehen ihn unwiderstehlich an. Aufs Land geht er nur, wenn er muß. Warum sollte er auch? Mit der Aussicht, sich ein eigenes Heim zu gründen, der einzigen, die einen Mann aufs Land hinaustreiben und dort auf die Dauer festhalten könnte, ist es nicht allzugut bestellt. Denn auf diesem Lande liegt der Großgrundbesitz wie ein Fluch. Von jeher war der scheinbar unerschöpfliche Besitz an unangebauten Staatsländereien eine Hauptwaffe der jeweiligen Machthaber gewesen, die sie in freigebigster Weise an ihre Parteigänger, und nicht zuletzt auch an die verschiedenen präsidentlichen cuñados und conpadres verschleuderten. So kam es, daß gerade die Ländereien in den schönsten und fruchtbarsten Gegenden sich zu Domänen zusammenballten von einem Umfang, der nach europäischen Begriffen geradezu phantastisch anmutet. Du kommst auf deinem Wege an einer stattlichen Estancia vorbei, mit weitläufig angelegten herrschaftlichen Gebäuden unter dem Schatten stolzer Pfefferbäume, und du wunderst dich, wem wohl das Anwesen gehöre. Es ist Don Franciscos Estancia. Du wanderst ein paar LeguasLegua = eine (spanische) Meile, = 5 Kilometer. weiter und kommst zu einer anderen Estancia, die ebenfalls Eigentum des Don Francisco ist. Du kommst an einem Dutzend einsamer Chacras vorbei, und der mürrische Chacarero wird dir immer wieder dasselbe sagen: »Der Herr, der Patron ist Don Francisco. Alles Land hier in der Gegend gehört ihm. Zehn Leguas nach Norden, zehn Leguas nach Süden. Don Francisco ist sehr reich; so reich, daß er in seinem ganzen Leben sein Geld nicht zählen könnte.« Er besitzt zehn Estancias, fünf Ranchos und hundert Chacras, von denen jede groß genug ist für ein ansehnliches deutsches Rittergut. Du kommst in eine andere Gegend, wo Don Francisco sich vielleicht in einen Don Manuel oder einen Don Felipe oder »algun ingles« irgend einen Engländer, verwandelt hat. Bald ist er Senator, bald ein Deputierter, bald ein Lebemann in Buenos Aires, aber immer ist er sehr reich und immer besitzt er Ländereien, die groß genug wären, um damit ein kleines Königreich in Europa zu dotieren.

Don Francisco wohnt zumeist in Buenos Aires in einem jener greulich imitierten italienischen Palazzi an der Avenida Alvear, wenn er nicht gerade in Paris oder London weilt. Seine Güter kennt er nur vom Hörensagen. Er weiß nur, daß sie groß sind, daß sie ihm ein angenehmes Leben ermöglichen und daß sein Gerente neben der des Herrn auch seine eigene Tasche füllt. Er weiß es, aber er sieht es nicht. Denn Don Francisco ist ein Kavalier.

Dagegen sein Chacarero! Auf der ganzen Erde gibt es keine Existenz, die sich so eintönig abwickelt wie die seine. In dumpfer Weltabgeschiedenheit der grauen Pampa verlebt er seine Tage; ein moderner Robinson Crusoe. Er hat keine Freude an seiner Arbeit, keine Liebe zu seinem Vieh, ja selbst nicht zu dem Boden, den er bebaut. Die Landwirtschaft ist ihm nur ein Rechenexempel. Mehr Weizen, mehr Pesos. Die Hälfte der Ernte muß er dem Grundherrn abgeben, der Ertrag der anderen Hälfte genügt bei seiner Bedürfnislosigkeit, um ihn mit einigem Glück nach wenigen Jahren ans Ziel seiner Sehnsucht zu bringen: eine geruhsame Existenz als wohlbestallter porteño in Buenos Aires, ein debito de vino in Rosario, ein Kramladen an der Via XX Settembre in Mailand, ein Handel mit Gipsfiguren und Ansichtskarten am Corso Emanuele zu Neapel. So ist ihm der Aufenthalt auf der Chacra eine Art Fegefeuer, durch das er sich ein Plätzchen im Himmel der Reichen verdienen will, ohne daran mehr Mühe und Kosten zu verschwenden, als unbedingt notwendig ist. Irgendwo drinnen in dem unendlichen Meer der wogenden Weizenfelder, hinter einem Wäldchen von wild wachsenden Akazien und Eukalyptusbäumen erhebt sich das weiße, einstockige Häuschen. Oft ist es nicht viel mehr als eine Hütte. Das flache Dach ist leck und schadhaft; die Fenster sind kahl, und im Innern nicht viel mehr Mobiliar, als der irdene Wasserkrug auf dem Tische und der unvermeidliche Matekessel über dem glimmenden Feuer. Alles liegt regungslos in der flimmernden Hitze. Nur das Klanken der Windmühle am Wassertank klingt eintönig, wie das Pendel eines Uhrwerks, durch die Stille des heißen Nachmittags. Die Fliegen summen vor dem Moskitonetz. Ab und zu knurrt ein Hund wie im Traum. Hinter einer Umzäumung aus Stacheldraht stehen kleine, struppige Pferde und langhornige Stiere und schauen gelangweilt auf die unordentlich umherliegenden leeren Konservenbüchsen, mit denen sich die Hühner zu schaffen machen. Selten nur ist ein Stall mit Milchkühen oder gar ein Gemüsegarten vorhanden. Er, – der Chacarero, – der ein Land von der Größe eines ansehnlichen Ritterguts bewirtschaftet, pflanzt nicht genug Gemüse, um seinen eigenen Küchenbedarf zu decken. Alles – selbst die Milch und das Obst – muß er in konserviertem Zustande aus dem Kramladen des oftmals viele Meilen weit entfernten Pueblos holen. Warum sollte er sich auch mit alledem abmühen? Warum sollte er einen Stall bauen und einen Gemüsegarten anlegen? Es käme ihm ja doch nicht zugute. Don Francisco, der Herr, hätte den Vorteil davon, und der ist ohnehin schon reich genug.

Nur da und dort, wo geschlossene Kolonien von europäischen Einwanderern sich niedergelassen haben, wie z. B. in den blühenden Schweizeransiedlungen der Provinz Santa Fe, findet man europäisch anmutende Dörfer mit ansehnlichen Bauernhöfen, die sich breit und behaglich in der Ebene ausdehnen. Eines Tages führte uns unsere Wanderung nach einer derartigen Kolonie von französischen Schweizern, wo freundliche Weingärten die Straße säumten und stattliche Landhäuser hinter Obstbäumen hervorschauten. Der Capataz, der hier zu Hause war, ließ die Arbeit an der Maschine einen Tag aussetzen und nahm mich mit zum Besuch bei seiner Verwandtschaft. Während des ganzen Nachmittags saßen wir in der sauberen Stube und ließen es uns gut sein über Kaffee und Kuchen und anderen, ach so lange nicht mehr gekannten Genüssen. Die roten Blumen leuchteten in den Töpfen auf dem Fenstergesims. Der blanke Sonnenschein tanzte in flüssigen Ringeln auf der bunten Tischdecke. Monsieur brachte den Wein, und Madame sorgte für die anderen leiblichen Bedürfnisse.

Aber am Abend, als das Mondlicht wie eine Schneedecke über den Feldern lag, da verkroch ich mich in meinem primitiven Strohlager neben der Dreschmaschine und träumte von allerlei wunderschönen Dingen, bis dann morgens, noch vor Tagesanbruch, die Stimme des die Schnapsflasche schwingenden Nicola mich aus dem Schlafe weckte: »A la caña, muchachos – –!«

So war langsam ein Tag um den anderen vergangen. Endlos lange Tage und Wochen, die sich zu Ewigkeiten verzerrten. Täglich wunderte ich mich aufs neue, daß ich immer noch hier war. Aber eines Tages kam doch der ersehnte Augenblick.

An einem wunderschönen Spätsommertag kehrten wir wieder nach dem Pueblo zurück, wo jedem von uns ein Bündel sauer verdienter Pesoscheine ausgehändigt wurde. Die Peone eilten nach den umliegenden Kneipen, wo sie sich bei Wein und Caña einen guten Tag machen wollten. Die Dreschmaschine aber verschwand in einem großen, grauen Schuppen, in dem sie bis zur Eröffnung der nächsten Arbeitszeit in beschaulicher Untätigkeit ihre Tage zubringen sollte. Ich habe ihr keine Träne nachgeweint.

In dem großen Kramladen an der Plaza zahlten sie uns die Pesos aus. Auf meinen Anteil fielen hundertfünfunddreißig Pesos, die ich stolz in meine Brieftasche steckte. Man glaubt gar nicht, wie hart ein Dollar sich anfühlt, wenn man lange keinen mehr gesehen, was für ein Schatz ein Peso ist, wenn der Schweiß der Dreschmaschine daran klebt!

Lange lief ich ziellos umher in den sonnigen Straßen. Es war ein schöner Tag. Die laue Spätsommerluft lag weich und schmeichelnd in den Gassen, und der Sonnenschein spiegelte sich in den Fensterscheiben. Argentinien war auf einmal wieder ein ganz wunderschönes Land.

In einer hinter den Pfefferbäumen auf der Plaza fast versteckten Fonda kehrte ich ein. Der Fondero der – tout comme chez nous – behäbig und breitspurig in der Tür stand, betrachtete mich mißtrauisch.

»Was wünschen der Caballero?« fragte er zögernd, »und wo kommen Sie her?«

»Aus der Pampa.«

»Aus der Pampa! por dios, da haben Sie wohl einen schönen Batzen Geld verdient!«

Vertraulich klopfte er mir auf die Schulter.

»Kommen Sie herein, mein Freund, das Haus steht zu Ihrer Verfügung. – Und was ich noch sagen wollte: Nehmen Sie sich etwas in acht in der Gegend. Das kann man hier gar nicht genug tun. San Pedro, müssen Sie wissen, ist eine feine Stadt, eine noble Stadt, eine aufblühende Stadt, und es sind alles nur untadelige Caballeros, die hier wohnen; aber es gibt auf dieser Erde allerlei Caballeros, und gerade dort unten in den Kneipen und Tangobuden an der Barranca, da gibt es eine besondere Sorte von Caballeros, die es mit dem Mein und Dein nicht allzu genau nimmt. Da muß man höllisch aufpassen, Caramba! Und überhaupt: es gibt mir jedesmal einen Stich ins Herz, wenn ich einen jungen Menschen so leichtsinnig mit einer Tasche voll Geld herumlaufen sehe. Bei mir, Caballero, wäre das alles vorerst viel besser aufgehoben.«

Wie er das so sagte mit seiner wohlwollenden Biedermannsmiene, war ich fast versucht, an die Echtheit seiner väterlichen Besorgnis zu glauben, aber im Gedenken an Don Mauricio und die verschiedenen anderen weitherzigen Caballeros, die ich in diesem Lande angetroffen hatte, fand ich es doch für geraten, die schwer erworbenen Pesos vorerst nicht aus der Hand zu geben.

Nachdem ich mit Hilfe von viel Seife den äußeren Menschen wieder einigermaßen hergestellt hatte, kam ich mir wieder ganz manierlich vor. Als ich aber einen Blick in den großen Wandspiegel warf, da erschrak ich fast vor mir selber. – Dieser verwegen dreinschauende, von der Sonne nußbraun gebrannte spanische Peon mit den schwarzen Augen und den wilden Haaren unter dem wetterzerzausten Hute – das war ich? – Ach, man verwildert schnell unter fremder Sonne! –

Das Hotel, in dem ich wohnte, war sündhaft teuer, selbst in diesem klassischen Lande der hohen Hotelpreise. Wäre ich eine haushälterisch veranlagte Natur gewesen, so hätte ich mich nach einem billigeren Unterkommen umgeschaut, aber das Verlangen nach einem menschlichen Dasein war stärker als alle Vorsicht. Tagsüber, wenn die Hitze in den Gassen brütete, saß ich bei dem plätschernden Springbrunnen unter den duftenden Oleandern im Patio des Gasthauses und vertiefte mich in die Zeitungen. So wie sie aus Buenos Aires kamen, las ich sie alle; die »Nacion«, die »Razon«, die »Epoca«, die »Argentina«, die dickleibige »Prensa« las ich aus, von vorn bis hinten, und das will schon etwas heißen! Ein Zeitungswurm bin ich immer gewesen, und man kommt aus seiner Haut nicht heraus, selbst wenn man sechs Wochen an der Dreschmaschine gearbeitet hat.

Der Fondero schaute kopfschüttelnd diesem Beginnen zu.

»Warum tuen der Caballero dieses?« fragte er vorwurfsvoll, »es steht doch in einer genau das, was in der anderen steht, und das meiste ist gelogen.«

Als alle Ermahnungen nichts nutzten, kam er mit einem verstaubten Buch, dessen Lektüre er mit einem Niagara von Worten im farbenreichsten Kastilianisch anpries. Es war der Don Quixote.

Die Irrfahrten des Ritters von der traurigen Gestalt sind nicht leicht zu lesen für einen, dessen spanische Sprachkenntnisse – wie damals die meinen – noch auf schwachen Füßen stehen; hat man sich aber erst einmal hineingelesen, so kann man darüber Zeit und Stunde und alle Zeitungen vergessen. Man kann darüber lange Tage verträumen, in denen man wahrhaftig Notwendigeres zu tun hätte. Nur ab und zu schaute ich auf von den Abenteuern des Sancho Pansa und versuchte mir zu überlegen, was nun eigentlich werden sollte. – Zunächst, so dachte ich mir, würde man wohl nach Rosario gehen, nach Santa Fe, nach Paraguay, nach Bolivien, nach Chile und dann immer noch weiter! Die Welt war ja so groß und so schön – ja, und morgen war auch noch ein Tag.

Des Abends aber, wenn der kühle Pampawind das Leben in dem verschlafenen Städtchen zu neuer Tätigkeit anfachte, wenn unter den breiten Baumkronen und den fächelnden Palmenwedeln auf der Plaza die gefallsüchtigen Señoritas ihre bunten Mantillas zur Schau trugen und aus den Winkeln ihrer schwarzen Augen mit den Caballeros liebäugelten, die mit dem billigen Strohhut und dem noch billigeren Zigarillo, aber mit einer Miene ›Was kost' die Welt‹ vorüberschritten –, an solchen schönen Sommerabenden wanderte ich oft durch die halb erleuchteten Gassen nach dem Almacen des Schweizers, wo auf Seifenkisten, Heringsfässern und Haufen von neuen Sätteln und Zaumzeug die Nachbarsleute zusammensaßen, um die politische Lage zu besprechen. Sie hatten alle eine ausgesprochene politische Überzeugung, und sie scheuten sich nicht, diese in drastischer Weise zum Ausdruck zu bringen. Der Bundespräsident Saenz Peña sei eine Schlafmütze, die Senatoren seien Spitzbuben, die Deputierten ein Pack von Narren, und überhaupt würde man ein gutes Werk tun, wenn man die ganze Gesellschaft an den Galgen beförderte. Da diese Weltumstürzler schon um neun Uhr schlafen gingen, blieb mir immer noch Zeit zu anderen nächtlichen Spaziergängen. Namentlich zog es mich immer wieder nach der hohen Uferbank, von wo man zu seinen Füßen den Rio Parana überblickte, der die gelben Fluten mit majestätischer Ruhe talabwärts wälzte. Dort unten lag an einer Landungsbrücke eine schmucke Segeljacht, die durch ihre feinen Linien jedes seemännische Auge erfreuen mußte. Sie gehörte einem reichen Engländer, der auf einer Europareise begriffen war. Die Versorgung der Jacht hatte er einem jungen Tiroler namens Hans anvertraut. Mit diesem Hans – weiß der Kuckuck wie er sonst noch geheißen hat – wurde ich schnell bekannt, und wir machten zusammen manche nächtliche Segelpartie. Das waren reizende Stunden. Nirgendwo läßt sich's so schön träumen, wie draußen auf dem offenen Wasser, wenn der Nachtwind in den Segeln murmelt, wenn die Wellen leise vorüberrauschen und der Mond eine silberne Straße durch das Wasser zieht. – Hans hatte immer große Pläne. Allnächtlich legten wir an dem Schoner an, den er vor kurzem von einem Italiener für billig Geld erworben hatte. »Das ist gerade der Kasten, den wir brauchen,« pflegte er zu sagen, »wir werden ihn ›auffixen‹, so daß ihn kein Mensch mehr wiedererkennen wird. Und wenn wir Geld genug haben – du und ich –, dann werden wir hinunter nach Montevideo fahren und von der Jagd und dem Fischfang leben. Ein bißchen Schmuggel werden wir auch noch betreiben. Und dann« – – seine Zukunftsträume gingen bis nach der brasilianischen Küste, bis nach Punta Arenas, nach der Südsee – nach Samoa.

Natürlich ist nie etwas geworben aus alledem, was wir großen Kinder dort im Banne der Zaubernächte auf dem Rio Parana zusammengeträumt haben. – Auf dem Rio Parana? Oder in Neu York? Oder in San Francisco? Oder in Sidney? Oder – im Eismeer? – Ach, es ist aus allem nicht viel geworden! – Und doch – und doch – Was wäre das Leben ohne die Träume!

 


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