Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am Fuße der Anden

Wieder beim »Schwarzfahren«. – Tropische Mondnacht. – Das Idyll im Eisenbahnwagen. – Die Chiromoya. – Das argentinische Kalifornien. – Ankunft in Jujuy. – Die unpopulären Türken und Levantiner. – Wieder auf der Reise. – Der stolze Engländer und der höfliche Bolsero. – Endlich einmal Caballero! – Eisenbahnfahrt in Jungfrauhöhe. – Eis unter Tropen. – Bolivianische Pampa.

So war ich endlich auf dem Wege nach dem merkwürdigen Lande Bolivien, von dem man mir schon so viel Böses berichtet hatte. Es war gut, daß drunten in der Ebene die Sonne immer höher stieg und mit ihrem weichen Licht die finsteren Berge verklärte, deren dunkle Kuppen sich fern im Norden, in der Richtung nach Bolivien, von dem satten Blau des Tropenhimmels abhoben.

Während des ganzen Tages wanderte ich weiter, ohne mich aufzuhalten. Es war schon wieder dunkle Nacht, als ich an einer kleinen Bahnstation mit einem Wassertank für die Lokomotiven anlangte. Es war ein idyllisches Plätzchen; ganz versteckt unter den breiten Blättern der Fruchtbäume und hinter den hohen Hecken, an denen die Blumen wucherten. Die Nachtluft war geladen mit einem süßen Duft, der aus den umliegenden Gärten kam. Eine Schar grüner Papageien, die in der breiten Krone eines Feigenbaumes nächtigten, flog kreischend davon, als der grelle Pfiff eines aus der Richtung von Tucuman herannahenden Güterzuges die Stille der Nacht zerriß. Der kam wie gerufen. Mit der Sachkenntnis, die ich mir im Laufe der letzten Monate in diesen Dingen erworben hatte, war es mir bald gelungen, in der langen Wagenreihe ein Reiseplätzchen für die Nacht ausfindig zu machen.

Es war eine wunderbar weiche Mondnacht, Die Quebrachowälder auf den Hügeln standen wie schwarze, scharfgezackte Kulissen gegen den helleren Hintergrund, und das weite Land zu ihren Füßen war mit blendendem, schneeweißem Licht übergossen. Alle harten und scharfen Linien des Tages waren verwischt und verschwommen, und es war, als ob ein Meer von flüssigem Silber über der Landschaft wogte. Seltsame Stimmungen erweckt solch tropische Mondnacht. Sie umgaukelt den Menschen mit süßen Träumen: sie legt ihren Arm um seinen Hals und flüstert ihm die seltsamsten Geschichten ins Ohr. Und wenn man dabei gar noch als blinder Passagier vom holprigen Güterwagen den roten Funken zuschaut, die die schnaubende Lokomotive bei jedem Atemzug in die weiße Wildnis entsendet, da wird einem gar abenteuerlich und wanderlustig zumute, und die Gedanken fliegen wie übermütige Geister über Länder und Meere in die fernsten Gegenden.

Fast tat es mir leid, als das Tageslicht wieder hinter den Hügeln hervorgekrochen kam und das silberne Meer über den Zuckerrohrfeldern mit den Morgennebeln zerrann. Der Mond war schon hinter den Bergen verschwunden, und über der weiten Ebene im Süden, wo noch immer das Nachtdunkel lag, blitzten vereinzelte Sterne. Graue Büsche wuchsen aus der Finsternis heraus. Allmählich waren die Umrisse von Häusern und Obstpflanzungen zu erkennen. In der Ferne krähten die Hähne. Dann ging es über holperige Weichen. Die schnurgerade Bahnlinie lief auseinander in einen Teich von blanken Schienen, über dem ein paar elektrische Bogenlampen ihr weißes Licht in das Grau des dämmernden Tages warfen. »Salta« las ich an einem Stationsgebäude.

Hier mußte man warten bis zum nächsten Tag, weil der Zug neu zusammengesetzt wurde. Aber dazu hatte ich keine Lust. Die Ungeduld war zu groß geworden. So löste ich denn eine Fahrkarte und fuhr wie ein richtiger Caballero nach Jujuy.

Der Eisenbahnwagen war schmutzig und staubig. Auf den klebrigen Bänken hockten ponchoumhüllte Bauern und spuckten auf den schmierigen Fußboden. Ein kleines Kind, von dem gerade nur die Nasenspitze aus der Mantilla der schwarzäugigen Mama herausschaute, weinte ohne Unterlaß. Ein durchgeistigter Jüngling mit langen, schwarzen Haaren klimperte auf einem Banjo und sammelte dann Schweigegelder von den Fahrgästen. Eine dicke Luft von Schweiß und Staub und Zigarettendampf lag über dem Ganzen. Ich sehnte mich ordentlich nach einem sauberen, geräumigen Güterwagen. An jeder Station war ein großer Ansturm von Weibern, die etwas zu verkaufen hatten: Empanadas, Tartillas, geröstete Süßkartoffeln, Bananen, Apfelsinen und vor allem auch eine ganz eigenartige Frucht, die sie Chiromoya nennen. Äußerlich sieht diese Frucht ziemlich unscheinbar aus; etwa wie eine etwas groß geratene grüne Tomate, aber innen ist sie so weiß wie die reinste Schlagsahne. Jedermann in jenen Gegenden ist ein erklärter Liebhaber dieser Chiromoya, und das mit Recht, denn es gibt sicher keine andere Frucht, die sich mit ihr an Schönheit und Würze des Geschmacks messen könnte. Um so verwunderlicher ist es, daß man sie in keinem anderen Lande mehr antrifft. Ich bin in fast allen Ländern der Erde gewesen, aber eine Chiromoya habe ich sonst nirgendwo wieder angetroffen.

Je weiter wir nach Norden kamen, desto schöner wurde die Gegend. In langen Schlangenwindungen kroch die Bahnlinie an steilen Abhängen und über kristallhelle Gebirgsbäche in ein waldiges Bergland, von wo man eine wunderbare Aussicht hatte in die weite Ebene, über der die wohlangebauten Felder wie ein leuchtender Teppich in buntem Muster von Grün und Blau ausgebreitet lagen. Da und dort schimmerten hellgrüne Bananenstauden, und weit draußen am Horizont, wo das ganze Farbenspiel in ein Meer von Lichtern zerfloß, standen nickende Palmen am dunkelblauen Himmel. Die Berge im Norden aber, die bisher nur wie ein tintenblauer Streifen am Horizont standen, begannen schärfere Formen anzunehmen. Bei näherem Herankommen verflüchtigte sich der blaue Schleier, den die Ferne um sie gewoben hatte, und massige Kuppen und ragende Gipfel türmten sich übereinander, als wollten sie den Himmel selbst erklettern. Eine kühle Brise kam von dort drüben. Sie rauschte in den Wipfeln der Quebrachowälder, sie spielte mit den Fächerblättern der Palmen, und wenn sie zuweilen über einen der zahlreichen Orangengärten kam, da trug sie den Duft der Blüten bis in die muffige Atmosphäre des Eisenbahnwagens. Es war eine Gegend, die ganz auffällig an die berühmten südkalifornischen Obstgebiete in der Nähe von Los Angeles erinnerte.

»Das da drüben, das ist die Sierra Cacha,« sagte ein Mitreisender zu mir. »Dort oben ist die Puna, und noch weiter dahinter liegt Bolivien – ein ganz verfluchtes Land!«

Es war dunkle Nacht, als der Zug im Bahnhof von Jujuy einlief. Die Luft war rauh, und die Sterne schienen unnatürlich groß mit einem merkwürdig feurigen Licht. Ein paar verdächtig aussehende Indianer lungerten auf dem Bahnsteig umher und wärmten die blaugefrorenen Hände an dem heißen Dampf, der dem Auspuffrohr der Lokomotive entfuhr. »Hace frio!« sagten sie mit klappernden Zähnen. Da ich als Caballero angekommen war, hatte ich nichts dagegen, daß einer von den Kerlen mit einer Verbeugung, die bis zum Boden reichte und einem salbungsvollen: »Con permiso, Caballero!« sich auf meine paar Sachen stürzte und sie nach dem feinsten Hotel am Platze brachte.

Der Wirt musterte mich mißtrauisch aus einem Winkel seiner schwarzen Augen. Vorsichtig hob er den Pesoschein ans Licht, um sich von seiner Echtheit zu überzeugen. Ein silbernes Halbpesostück warf er mehrmals auf den Tisch, ob es auch einen vollen Klang hätte. Dann erst begann er zutraulicher zu werden. Mißbilligend schüttelte er den Kopf, als er hörte, daß ich vom Gran Chaco käme.

»Vom Gran Chaco! Santa Virgina! Was haben Sie denn dort gesucht?«

Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich es selbst gewußt hätte.

»Aber, Amigo, nach dem Gran Chaco geht man doch nicht, wenn man dort keine Geschäfte hat!« sagte er kopfschüttelnd, – »und ist es wahr, Caballero, daß es dort Skorpionen gibt, die einem das Blut aussaugen?«

»Gewiß.«

»Und Riesenschlangen?«

»Seguro.«

»Und Löwen und Tiger?«

»Ganze Rudel davon. Und dazu wilde Indianer und Menschenfresser und Vigilantes

»Vigilantes? – Was Sie nicht sagen, Caballero! die gibt es hier auch. Die sind schlimmer wie die Menschenfresser; die schlimmste Pest im ganzen Lande.«

Mit einem tiefen Seufzer klappte er das Fremdenbuch zu und verschwand kopfschüttelnd in dem Dunkel seines Privatkontors.

Am nächsten Morgen betrachtete ich mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Besser hätte ich schon daran getan, mich nach Arbeit und Verdienst umzusehen, aber die vielen Mißerfolge der letzten Monate hatten meinen Eifer in dieser Hinsicht schon wieder erheblich herabgemindert. Von Anfang an hatte ich mich nur sehr à contre-coeur um dergleichen bemüht. Die Freude am gesetzten und gesitteten Leben war längst schon verschwunden und das unruhige Blut des wandernden Volkes war wieder vollständig zum Durchbruch gekommen.

Ha, Vorwärts! Weiter – immer nur weiter –

Die Sehenswürdigkeiten der Stadt Jujuy sind bald erledigt. Ein Mercado, in dessen schattigen Lauben alte Weiber gepfefferte Suppen und Empanadas feilbieten, ein »Collegio National«, eine doppeltürmige Jesuitenkirche und eine weite Plaza, auf der die heruntergefallenen Orangen achtlos umherliegen. So etwas findet sich in jedem besseren Pueblo. Und doch gibt es keinen Platz in Argentinien, an den ich öfter und lieber denke, als gerade an dieses Städtchen. Hier gibt es fließende Brunnen und murmelnde Bäche, und auf den Feldern und in den Gärten frisches Grün und leuchtende Blumen. Wenn man über das runde, katzenköpfige Pflaster der buckligen Straßen geht, so könnte man sich mit einiger Phantasie ins alte Europa versetzt glauben. Hier, in über tausend Metern Meereshöhe, ist nichts zu spüren von der staubigen Stickluft der Pampa. Von den Bergen, die sich gegen Norden und Westen zu gewaltigen Höhen auftürmen, kommt allabendlich ein kühler Wind gezogen. Er fegt über den blaugrünen Teppich der überreichen subtropischen Vegetation der umliegenden Wiesen und zieht fröstelnd durch die Gassen. Eine besondere Sehenswürdigkeit Jujuys ist das Türkenviertel, ein Gewirr von engen Gassen, wo die Geschäfte dicht nebeneinanderstehen und ihre Herrlichkeiten bis in die Straßen aufbauen, wie vor den Bazaren in Damaskus. Geht man durch diese moderigen Gassen, so wird man links und rechts an den Rockschößen festgehalten von schmierigen, schwarzbärtigen Levantinern. »Kaufen Sie, Caballero, billig, billig!« – Türken nennt der Argentiner diese Leute, obwohl sie mit den eigentlichen Türken so wenig zu tun haben, wie der Normaltypus eines Deutschen mit dem polnischen Juden, der zufällig in Eydtkuhnen oder Myslowitz das Licht der Welt erblickt hat. Auf jeden Fall haben sie sich gründlich verhaßt gemacht in ihrem neuen Vaterland.

Seitdem Onkel Sam immer wählerischer geworden ist in der Wahl seiner neuen Staatsbürger, kommen sie in immer größeren Scharen nach dem in Aus- und Einwanderungsfragen so außerordentlich weitherzigen Argentinien, wo sie das heimatlich-orientalische Leben nach Möglichkeit fortsetzen. Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, aber auf irgendeine Weise nähren sie sich doch, und das nicht einmal schlecht. Zuerst handeln sie mit Scheren und Schuhriemen, dann mit Baumwollanzügen und allerlei billigen Konfektionswaren und zuletzt mit Bauplätzen und Staatspapieren. Selbst wenn es einer nicht bis zum Hausmakler und Börsenjobber bringt, hat er doch nach zehnjähriger Tätigkeit so viel zurückgelegt, daß er für den Rest seines Lebens vor der Tür seines Kramladens mit Geringschätzung herabsehen kann auf die anderen, die da arbeiten in den Straßen.

Niemand wandelt ungestraft durch solches Türkenviertel. Man will nichts kaufen und kauft doch, weil man gar nicht anders kann. Die besten Vorsätze zerschmelzen unter der Glut orientalischer Beredsamkeit. Mit Gewalt mußte ich mich von der Gesellschaft befreien, wenn ich an dem Tage noch weiterreisen wollte.

Als ich aber nach dem Hotel zurückging, führte mein Weg mich unverbesserlichen Bücherwurm an einer wunderschön ausgestatteten öffentlichen Bibliothek und Lesehalle vorbei. Auf den Tischen lagen die neuesten Zeitungen, und auf den Regalen standen die schönsten Bücher. Cervantes, Camoëns und Calderon. – Vergessen war die ganze Welt und alle Reisepläne, bis auf einmal der uniformierte Diener mich anredete: »Heda, Herr, morgen ist auch noch ein Tag! Für heute machen wir Schluß.«

Draußen begann es schon zu dunkeln, und ein barfüßiger Laternenanzünder ging eben mit seinem großen Stock vorüber. Unter diesen Umständen blieb wohl nichts anderes übrig, als noch ein paar von den schon sehr karg gewordenen Pesos für ein weiteres Nachtquartier in dem Hotel auszugeben.

Inzwischen hatte sich die Kunde von dem Gringo aus dem Gran Chaco schon weit herumgesprochen, denn als ich nach dem Hotel zurückkehrte, stand eine ganze Gruppe von Honoratioren um den Kessel über dem Matefeuer und lauschte der Rede des eifrig gestikulierenden Wirtes. »No es cierto, que hay elephantos allà?« rief er mir zu, als ich hereinkam. »Ist es nicht wahr, daß es dort drunten Elefanten gibt?«

»Gewiß!«

»Und Riesenschlangen?«

»Natürlich!«

»Und Löwen und Tiger und faustdicke Skorpionen, die einem das Blut aussaugen und Indianer, die den Christenmenschen das Herz herausschneiden und es am Feuer braten?« Ich bestätigte alles pflichtgemäß, während seine Phantasie Wunder und Schrecken des Gran Chaco in immer kühneren Bildern ausmalte. Die anderen, zumal die schwarzäugige Haustochter Anita, hörten aufmerksam zu mit einem angenehmen Gruseln. Einer unter ihnen, ein graubärtiger Mann, der sich Don Alberto nannte, erkundigte sich mit der Gewissenhaftigkeit eines Sherlock Holmes nach meinem Vorleben, meinen Zukunftsplänen, nach meinem Beruf, meinem Alter, meiner Gesundheit und meinen Vorfahren bis ins dritte und vierte Glied.

»Und wo, Caballero, gedenken Sie jetzt hinzureisen?« fragte er mit gemessener, beinahe feierlicher Stimme.

»Nach Bolivien.«

Mißbilligend und vorwurfsvoll schaute er mich an.

»Sie sollten nicht nach Bolivien gehen, Caballero. Es ist ein Land für die Spitzbuben. Alle sind sie dort Spitzbuben, vom Präsidenten angefangen. – Und dann die Puna! Ehe Sie drei Tage im Lande sein werden, sind Sie schon daran zugrunde gegangen und nicht einmal ein christliches Begräbnis werden Sie bekommen.«

Am anderen Morgen aber machte ich mich schon vor der Sonne auf den Weg.

»Was wollen Sie nur dort oben in Bolivien?« fragte der elegante Hotelwirt, als er die Pesos einstrich, »warum bleiben Sie nicht hier im Lande, wo es so schön ist, und wo einem das Geldverdienen so leicht gemacht wird?«

Ja, was wollte ich eigentlich in Bolivien? Ich begann wahrhaftig selber darüber nachzudenken, während ich in den sonnigen Morgen hineinwanderte. –

Steil bergan ging die Straße, gerade zu auf die hohen, finsteren Berge, um deren Gipfel die dicken Nebel hingen. Die Luft war schwül und drückend trotz der frühen Stunde. Die Sonne brannte erbarmungslos vom klaren Himmel, und es kostete darum manchen Schweißtropfen, bis ich auf der nächsten Bahnstation ankam mit dem festen Vorsatz, keinen Schritt mehr weiter zu laufen, als unbedingt notwendig wäre.

»La Quiaca 400« stand auf dem Schild an dem Stationsgebäude zu lesen. Also immer noch vierhundert Kilometer bis zur bolivianischen Grenze! Eine anständige Entfernung. Bei einem Fahrpreis von fünf Centavos für den Kilometer sogar viel zu groß, um mich auf rechtschaffene Weise wie einen ehrsamen Staatsbürger nach dem Lande meiner Sehnsucht zu bringen. Doch was nun? Zu Fuß nach Bolivien? Durch diese Wildnis? Über diese Berge? Nein, das war ganz ausgeschlossen. Aber ich hatte es mir doch nun einmal vorgenommen. Ich wollte – nein, ich mußte – unbedingt nach Bolivien.

Während ich noch in ziemlicher Ratlosigkeit diese Gedanken in meinem Kopfe wälzte, kam tief unten im Tal der zweimal in der Woche verkehrende Personenzug aus der Richtung von Jujuy heraufgekeucht, und die Fahrgäste hatten sich bereits auf dem Bahnsteig eingefunden. Schweigend saßen sie auf ihren Kleiderbündeln oder was sie sonst als Reisegepäck mit sich trugen, umhüllt von einem buntscheckigen Poncho und einem weit in die Stirn gedrückten Sombrero, unter dem von Zeit zu Zeit aus dunklem Indianergesicht ein paar gelbe, grünlich schimmernde Augen hervorblitzten, die den weißen Fremdling mit scheuen, mißtrauischen Augen musterten.

»Un Ingles,« – ein Engländer, ging es murmelnd von Mund zu Mund. Ein Engländer – oder auch ein Deutscher, was in den Augen dieser naiven Naturmenschen dasselbe ist, – ist dort immer eine Respektsperson: ein Goldminenbesitzer, ein Estanciero, ein Majordomo oder doch zum mindesten ein Capataz. Und vor allem: Er ist immer reich!

Polternd fuhr der Zug ein, und mit krachendem Getöse kam er zum Stillstand.

Hastig drängten alle nach dem Wagen der zweiten Klasse, und ich folgte mechanisch ihrem Beispiel, bis mir jemand die Hand auf die Schulter legte und die sanfte Stimme des Zugführers mich zurechtwies: »Primera más adelante, señor« – (Erste Klasse weiter nach vorn, mein Herr.)

Solch liebenswürdiger Aufforderung konnte ich nicht widerstehen, und so stieg ich denn stolz wie ein Spanier in die erste Klasse ein.

Mißtrauisch sah ich mich in dem Wagen um. Es waren gottlob keine weiteren Passagiere anwesend. Ich war der einzige Fahrgast, der die Berechtigung dieser ersten Klasse nachwies.

Da es nun vor allem darauf ankam, den wohlhabenden Engländer zu mimen, machte ich es mir mit breiter Umständlichkeit bequem, legte die Füße auf den Sitz gegenüber und fing an zu lesen. Da erschien der Schaffner und verlangte meine Fahrkarte zu sehen.

»Habe keine!«

»Aber, Señor Caballero, ich weiß nicht, ob Sie die kastilianische Sprache nicht genügend beherrschen und mich deshalb nicht richtig verstanden haben. Oder haben Sie wirklich keine Karte?«

»Nein!«

Eine Weile sah er mich ratlos an, um dann in wohlgesetzter Rede fortzufahren: »Señor Caballero, niemand bedauert diesen Fall mehr wie Ihr ergebener Diener, aber an der nächsten Station müssen Sie das Doppelte des Fahrpreises nachbezahlen. So lautet die Fahrordnung. Strenger Befehl.«

»All right!« antwortete ich mit der Miene eines Mannes, dem ein paar Pesos nicht wichtig genug sind, um darüber eine Zeile Zeitungslektüre zu verlieren. In Wirklichkeit aber begann mir unbehaglich zumute zu werden, und die Zeilen der Zeitung begannen vor meinen Augen wild durcheinander zu tanzen. Der doppelte Fahrpreis! Das konnte und wollte ich nicht bezahlen. Andernfalls aber – nein, das war gar nicht zum Ausdenken! Ich hatte noch genug von den paar Stunden, die ich drunten im Gran Chaco zwischen den kahlen Lehmmauern eines argentinischen »Kalabus« zubringen mußte.

Noch ehe wir die nächste Station erreicht hatten, kam der Schaffner zurück mit einem zerknitterten Zettel, auf dem mit ungelenker Hand die Zahlen untereinander gereiht waren:

Nach La Quiaca 1. Klasse 35,00 Pesos
Strafgeld, 2 Stationen 7,50 "
______________
Summa: 42,50 "

»Viel Geld,« meinte der Schaffner, dem meine schlecht verhehlte Bestürzung nicht entgangen war, »aber wenn Sie eine ermäßigte Karte nehmen wollten . . .«

»Und wieviel sollte das kosten?«

»Zehn Pesos, Caballero – nur zehn Pesos!«

Zehn Pesos! Ich traute meinen Ohren nicht. Mein erster Gedanke war, sofort in die Tasche zu greifen und die zehn Pesos zusammen mit einem tüchtigen Trinkgeld zu bezahlen. Doch das wäre verkehrte Politik gewesen. Bei allzu großer Bereitwilligkeit wären der ermäßigten Karte sicher noch allerlei nachträgliche Zuschläge gefolgt. Deshalb bezwang ich meine Freude und machte ein möglichst gelangweiltes Gesicht.

»Auf zehn Pesos mehr oder weniger kommt es mir schließlich auch nicht an,« antwortete ich, ohne von der Zeitung aufzublicken. »Ja, wenn es bloß fünf Pesos wären –«

Nun verlor das Gesicht des Indianers plötzlich seinen dienstlichen Ausdruck und wurde ganz Vertraulichkeit.

»Amigo,« sagte er mit leiser Stimme, »fünf Pesos! Bei der heiligen Veronika! Das ist doch keine Bezahlung! Sie sind doch kein Turko. Sie sind ein Ingles, ein Gentleman, ein intelligenter Mensch, darum können Sie sich doch vorstellen, was es mit solchen ermäßigten Fahrkarten auf sich hat. Einen Peso bekommt der Zugführer, einen der Lokomotivführer, einen halben der Heizer und der Muchacho will auch noch ein kleines Trinkgeld haben. Was bleibt dann noch übrig für Ihren ergebenen Diener? Bei fünf Pesos?«

So zeigte ich mich denn als Caballero. Sieben Pesos wechselten ihren Besitzer, und die Bahn war frei nach La Quiaca.

Jetzt endlich konnte ich mit gutem Gewissen die Zeitung beiseite legen und mich der Betrachtung der Gebirgslandschaft widmen, durch die der Zug sich keuchend und schnaubend zu immer höheren Regionen bergauf arbeitete.

Es war eine überaus anmutige Landschaft, in der die Üppigkeit der Tropen und die Romantik des Hochgebirges die wunderbarsten Bilder malten. Tief unten im Tal, wo das glitzernde Wasser eines breiten Flusses über die Steine hüpfte, breiteten sich wie ein sauberer hellgrüner Teppich die jungen Mais- und Zuckerrohrfelder aus. Aus dem dunklen Laub der Orangengärten, die sich an den Abhängen hinzogen, leuchteten zahllose goldene Früchte, und bis hoch hinaus an den Seiten der steilen Schneeberge zogen sich wie finstere Schatten die blaugrünen Quebrachowälder hin. Überall aber zwischen den Bäumen und Sträuchern leuchtete das helle Weiß der Farmhäuser in der blendenden Sonne. Es war, als ob jemand dieses Gemälde in allen Schattierungen von Grün gemalt und zu guter Letzt noch einen weißen Farbpinsel darüber ausgespritzt hätte.

Je weiter wir in das Gebirge hineinkamen, desto enger wurde das Tal, und der Fluß, der zuerst nur wie ein dünnes Silberband aus der Tiefe heraufgeleuchtet hatte, rauschte nun als wilder Gebirgsstrom dicht neben dem Bahndamm hin.

Schutt und Geröll erfüllte das Tal, und an den Abhängen der immer niedriger werdenden Berge war nackter Fels an die Stelle der Wälder getreten. Ein eisiger Wind fegte heulend das Tal entlang und zerzauste die dornigen Büsche, die zwischen den Steinen ein kümmerliches Dasein fanden. Nur in einigen geschützten Winkeln des Tals, wo der Wind nicht hinkonnte, da hatten einsame Ansiedler ihre Lehmhütte aufgebaut und pflanzten mühsam ihre Obstgärten und Maisfelder, die sie dem Wind und den Steinen abgerungen hatten. Jetzt, wo der Zug vorüberkam, waren die Weiber herbeigeeilt, und boten Maiskuchen und Früchte – darunter die schönsten Pfirsiche – feil. Meist waren es Italiener und Spanier, die sich hier niedergelassen hatten. Was die Leute wohl veranlaßt haben mag, übers ganze Weltmeer herüberzukommen, um in solcher Wildnis, in solchem Klima und fern von jedem Absatzgebiet für ihre Erzeugnisse ihre Tage zu verbringen? Fürwahr, es gibt Sonderlinge, die die Entsagung als Sport um ihrer selbst willen betreiben! Kein Ort auf dieser Erde ist so ungastlich, als daß er nicht eines Tages einen Liebhaber fände, der dort eine Heimat suchen wollte.

Gegen Mittag hatten wir bereits eine Höhe von zweitausend Metern erreicht, und immer noch ging es steil bergan. Oftmals war die Steigung so stark, daß der Zug kaum vom Fleck kam; sehr zur Freude der Reisenden, die den Aufenthalt zu einem Spaziergang im Freien benutzten, bis ein triumphierender Pfiff der Lokomotive, der die Überwindung der Steigung anzeigte, die säumigen Fahrgäste wieder an Bord rief, worauf sich bei der nächsten Steigung das Kleinbahnidyll wiederholte.

Bei einer Station, die den zierlichen Namen Negra Muerta trägt, konnte ich an einem Schild am Stationsgebäude lesen, daß wir uns schon in einer Höhe von dreitausend Metern über dem Meeresspiegel befanden. Dort oben ist man bereits über der Grenze der menschlichen Besiedlung und jenseits der Regionen mit einem zusammenhängenden Pflanzenwuchs. Sand und Steine, Schutt und Geröll liegen hier durcheinander in einem wilden Chaos, und darüber lastet eine tiefe, drückende Stille, die nur unterbrochen wird von dem wehmütigen Heulen des Windes zwischen den Felsen oder dem schaurig widerhallenden Pfiff der Lokomotive, seitdem das Dampfroß sich hier herauf verirrt hat.

Aber immer noch höher hinauf ging die Fahrt, bis in dreitausendzweihundert Metern Meereshöhe die Wasserscheide von Tres Cruzes erreicht wurde. Hier war der mächtige Fluß, der uns auf der ganzen Fahrt begleitet hatte, bereits zu einem kleinen Bach geworden, dessen Ränder mit dicken Eiskrusten besetzt waren. Denn ein schneidend kalter Wind wehte von der jenseitigen Hochebene herüber, und wir alle froren, wie nur Leute frieren können, die im Laufe eines halben Tages von dem Lande der Palmen und Orangen in die Eisregionen versetzt werden.

Abra Pampa heißt die nächstfolgende Station, und sie hat ihren Namen nicht gestohlen. Denn hier kommt man unvermittelt aus den engen Tälern heraus, und vor den Augen des Reisenden öffnet sich eine weite, sanft gewellte Hochebene, die sich nach Norden und Nordosten in endlose Fernen verliert. Das ist die bolivianische Pampa. Ein wüstes, dürres, unwirtliches Land, auf dem noch der unstete Indianer in ursprünglicher Wildheit mit seinen Herden umherzieht. In der Tat: wer sonst möchte dort oben hausen, wo nur dürres, bitteres Steppengras wächst, wo der Flugsand der Wüste oft tagelang die Sonne verfinstert und die dünne Bergluft dem Menschen den Atem raubt?

Es war schon spät am Abend, als wir in der offenen Pampa ankamen. Unnatürlich groß, in einem blutigen Rot, erschien die tiefstehende Sonne, und vor ihren Strahlen zitterte und bebte das grelle Licht der Steppe in einem unruhigen Flimmern. Für einen Augenblick zeichnete sich scharf und deutlich die Gestalt eines auf der Steppe weidenden Lamas von dem flammenden Rot des westlichen Himmels ab. Schwarz und gespensterhaft sah es aus, wie eine jener grausigen Spukgestalten, von denen man an kalten Wintertagen hinter dem Ofen zu lesen pflegt, denn das Dämmerlicht hatte seine Umrisse ins Riesenhafte verzerrt.

Dann senkte sich mit der Schnelligkeit der Tropen die Nacht auf die Landschaft.

 


 << zurück weiter >>