Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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Durch den Gran Chaco

Ein weiser Rat: »Reise allein!« – Mitten im Urwald. – Bösartige Indianer. – Die gestrenge Polizei. – Verhaftet. – Ein bequemes Gefängnis. – Nächtlicher Marsch durch den Urwald. – Der Panther auf den Eisenbahnschienen. – Abenteuerliche Reisegefährten. – Böse Gesellschaften verderben gute Sitten. – Ein wildes Abenteuer und sein glimpfliches Ende. – Mit den »Gringos« ist nicht zu spaßen. – Wieder unter Menschen. – Der Kontrakt auf der Zuckerplantage. – Der liebesdurstige Mechaniker. – Ein weiteres Abenteuer, aus dem man ersehen kann, daß eine Dampfmaschine kein Spielzeug ist. – Tucuman aus der Ferne.

Hast du schon einmal den Seifenblasen zugesehen, mit denen sich die Kinder an hellen Sommertagen die Zeit vertreiben? Sie sind wie so vieles andere in diesem Leben. Aus kleinen Anfängen werden sie zu wunderlichen Gebilden, zu glitzernden Märchenschlössern, in denen sich die Sonnenstrahlen in tausend Farben brechen. Und gerade wenn's am schönsten ist, ist die kurzlebige Herrlichkeit auch schon so schnell verpufft, wie es eben nur bei einer Seifenblase möglich ist.

Ach, und es gibt auch so viele große Kinder! Die träumen am hellichten Tage und laufen beharrlich den Seifenblasen nach, bis sie eines Tages zu ihrem Schaden herausfinden müssen, daß das luftige Gebilde ihrer Phantasie verpufft ist wie eine echte Seifenblase, mit der die Kinder spielen.

Nun, mein derzeitiger Reisegefährte – der Schulmeister – war kein Mann der Seifenblasen. Er war vielmehr ein nüchterner Tatsachenmensch, der stets mit den gegebenen Verhältnissen rechnete. Meine Reisepläne wollten ihm gar nicht einleuchten. Er konnte sich schlechterdings nicht vorstellen, warum er ohne triftige Gründe tausend Kilometer weiter wandern sollte. Wer verbürgte uns denn, daß dort oben in Tucuman die Verhältnisse besser wären wie hier? Es wäre doch sicherlich vernünftiger, wenn wir zurückkehrten nach Rosario und dort noch einmal unser Glück in der inzwischen wohl wieder eröffneten Zuckerfabrik versuchten. Anderenfalls könnte man es einmal auf irgendeiner Estancia mit der Majordomolaufbahn probieren. Das sei jedenfalls mehr zu empfehlen als so eine Wildegänsejagd in die Wildnis hinein. Er mochte wohl recht haben, aber – nun ja, der Mann hatte eben keinen Tropfen Vagabundenblut in den Adern!

So setzte ich denn mit dem nächsten Güterzug die Reise allein nach Tucuman fort. Im Grunde genommen war es mir gar nicht unlieb, daß mein Gefährte mich im Stich gelassen hatte.

Ob König, ob Bettler,
Merk' eines dir fein:
Willst schneller du reisen,
So reise allein.

Das ist ein weiser Rat, der leider nur allzuwenig befolgt wird, zumal bei den Rittern von der Landstraße. Eine Schwäche, die einer gewissen Art von Vagabunden aller Länder gleichermaßen anhaftet, ist die Angst vor der Einsamkeit. Selten zieht er uni solo seine Straße, und das ist auch nur allzubegreiflich. Denn die Einsamkeit ist die Mutter aller bösen Gedanken. Wenn man so allein und ohne alle Ablenkung über dem Campfeuer sitzt und in die unruhige Flamme hineinstarrt, so ist es, als ob gleich einem wüsten Gespenst das böse Gewissen selber daraus emporsteige. Warum – so fängt man an sich zu fragen – warum mußt du hier auf dem kalten Boden neben dem Feuer liegen, wo andere in Federbetten schlafen? Warum mußt du hungern, wo andere essen? Warum hast du kein Geld, warum kein Obdach, keine anständige Kleidung? Warum? Warum? – oder hast du vielleicht noch irgend etwas gemein mit den Menschen, die da sauber und wohlgekleidet, in bürgerlicher Wohlanständigkeit durch die Straßen gehen, oder mit den satten, selbstzufriedenen Bürgersleuten hinter den Ladentischen, oder mit den Kindern, die vor den Haustüren spielen, oder glaubst du wohl gar, daß dir zuliebe heute abend auf der Plaza die Musik spielen würde, oder daß die gefallsüchtigen Señoritas sich für dich geputzt hätten – oder – oder ist etwa hier in ganz Argentinien einer, der etwas von dir wissen wollte und sich den Teufel darum scherte, ob du hier bist oder nicht; einer, der den Finger krumm machen würde für dich – für dich, Vagabund!?

Es gibt Leute – aber das sind keine geborenen Ritter der Landstraße – die von solchen Gedanken nicht mehr loskommen. Darum fürchten sie sich vor der Einsamkeit mehr wie vor einem reißenden Löwen. Mühselig und beladen, mit einem Kopf voll grübelnder Gedanken, ziehen sie ihre Straße, und wenn sie unterwegs einem begegnen, der auch zu der Zunft der Landstreicher zu gehören scheint, so hängen sie sich an ihn wie die Kletten, und es ist kein Entrinnen vor dem Strom der Beredsamkeit, worin sie ihre eigenen bösen Gedanken zu ersäufen suchen. Denn diesen Leuten fehlt, wie gesagt, vollkommen der Sinn des echten Landstreichers, für den in der Ferne immer alles blau und schön ist. Ihr Sinn haftet an der grauen Gegenwart mit ihrer Not und ihren Entbehrungen, die sie zermürben.

In keinem Lande aber scheint der Herdentrieb unter den Kindern der Landstraße so sehr ausgebildet zu sein, wie gerade in Argentinien. Ein alleinreisender Landstreicher ist dort geradezu eine Seltenheit. Ein Mann ›von der Lingera‹ ohne »Compagnero« ist wie ein Stier ohne Hörner, ein Huhn ohne Federn, oder meinetwegen auch ein Esel ohne Ohren. Mißtrauisch wird ihn sein Kollege von der Landstraße begrüßen: »Y tu compagnero

»No tengo! – Hab' keinen!«

»Como no

Kopfschüttelnd wird er weiter gehen. – Ein Mann von der Lingera und kein Compagnero! Da ist – nein, da muß etwas faul sein im Staate Dänemark!

* * *

Gar mancher Compagnero ist mit mir getippelt auf den Landstraßen und auf den Eisenbahnschienen im Lande Argentinien. Es waren Leute darunter, die Großes gewollt und klein geendet haben; verkommene Subjekte, denen Morphium und Opium und Alkohol und anderes Teufelszeug das letzte bißchen Halt geraubt hatten in ihrem jämmerlichen Leben, und andere, die ihr Lebtag nichts anderes gekannt hatten als Mühe und Arbeit und nimmer endende Entsagung und schließlich doch noch liegen geblieben waren am Wegrand des Lebens. – Ja, und da waren die anderen, die über allen Mühen und Entbehrungen doch nimmer die gute Laune verloren und trotz aller Enttäuschungen noch immer geradeaus der hellen Sonne und der blauen Ferne entgegenmarschierten, weil ihnen gerade so und nicht anders das Leben am allerbesten gefiel. – Soll ich von allen diesen etwas erzählen? Es gäbe wohl ein Buch, das dicker wäre als dieses hier, mit allen meinen südamerikanischen Abenteuern.

Da traf ich z. B. eines Tages in der Nähe der Santa Febahn einen deutschen Kunden, den sie den Roten Jakob nannten. Seinen eigentlichen Namen habe ich nie erfahren, und er war mir auch höchst gleichgültig, denn um derartige Kleinigkeiten kümmert sich kein Mensch in dieser fröhlichen und gefährlichen Unterwelt der Vornamen. Jedenfalls paßte das Pseudonym ganz ausgezeichnet, denn er hatte einen gar vornehmen fuchsroten Vollbart, auf den er große Stücke hielt. Auch sonst war er eine Erscheinung, die etwas vorstellte. Groß und stattlich, lange Nase, scharfe Gesichtszüge und ein Mundwerk, das überfloß von wohlgesetzten Reden im korrektesten Hochdeutsch. Alles an ihm deutete auf vergangene Größe als Leutnant, Referendar oder dergleichen – damals in Deutschland, als er noch nicht der Rote Jakob war. Vielleicht war er auch nur ein verkrachter Gerichtsschreiber oder ein verbummelter Student oder ein Handlungsgehilfe, der mit der Portokasse durchgegangen war. Woher soll ich es wissen? Nach so etwas fragt man nicht in diesem »Milieu«.

Jakob war schon länger in Argentinien als irgend einer der Kunden sich ausdenken konnte, aber die Eindrücke des fremden Landes waren an ihm heruntergelaufen wie das Wasser von einer Dachrinne. Selbst hier in der Pampa war er noch derselbe pedantische Aktenhengst, der er in Deutschland gewesen. Sein Gott war die Karriere. Darüber grübelte er bei Tag, wenn er in der glühenden Sonne auf dem Schienenstrang wanderte, und er träumte davon bei Nacht, wenn er bei dem spärlichen Campfeuer saß.

Karriere . . . Karriere . . . Heut war es die Post, morgen die Eisenbahn, übermorgen die Steuerverwaltung, für deren Laufbahn er sich interessierte, während er dabei so langsam immer tiefer und tiefer hinuntersank in die Sphäre, wo es mit allen Laufbahnen zu Ende ist. –

Und da fällt mir über dem Erzählen ein anderer Ritter der Landstraße ein, über den ich vor Zeiten oft den Kopf geschüttelt habe. War er ein Philosoph oder war er nur ein armer Narr? Ich weiß es nicht. Wer kann wissen, was in so einem unruhigen Vagabundenhirn alles vor sich geht? So will ich von ihm erzählen; mag sich jeder einen Vers auf ihn machen, wenn er kann.

Weit drinnen in den Maisfeldern der Provinz Santa Fe habe ich ihn angetroffen. Er saß auf dem Schienenstrang und brütete tiefsinnig vor sich hin mit der Miene eines Mannes, der über das Problem des Perpetuum mobile nachsinnt. »Buenas dias!« sagte ich im Vorübergehen, worauf er mich zornig anschaute mit seinen schwarzen Augen. »Kannscht nimmer deutsch schwätze?« Ich versuchte mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen. Ich fragte ihn nach dem Woher und Wohin; ich machte die treffendsten Bemerkungen über das Wetter und die derzeitige Hitze, aber außer einem gelegentlichen mißmutigen Grunzen war nichts aus ihm herauszubekommen. Als ich mich zum Weitergehen anschickte, nahm er sein Bündel auf den Rücken und folgte mir, als ob das so sein müßte. Stundenlang wanderten wir durch das schattenlose Land. Unverdrossen marschierte er neben mir her wie der Mann mit der Maske im Kino und im Hintertreppenroman. Kein Wort redete er während des ganzen Nachmittags; aber deutlich konnte man sehen, wie es arbeitete hinter der flachen Stirn mit der tiefen Zornfalte. Zuweilen kamen unartikulierte Laute aus seinem Munde und es sah aus, als ob er sich zu einer längeren Rede anschickte, aber es blieb beim Vorsatz. Plötzlich blieb er stehen und durchbohrte mich mit einem scharfen Blick seiner schwarzen Augen.

»Kannst du Kastanien essen?« fragte er unvermittelt.

»Warum nicht? wenn sie gut gebraten sind.«

»Das habe ich mir schon die ganze Zeit her gedacht. Gerade so siehst du aus. Nur die Narren essen Kastanien.«

Wir kamen an einen kleinen Bach, wo wir ein Feuer machten. Der Abend stand rot am Himmel und die Grillen zirpten in den Maisfeldern. Der Duft der Lagerfeuer lag fein über dem Lande. Stundenlang saßen wir da und schauten in die flackernde Flamme, ohne daß einer auch nur ein Wort von sich gab. Es fing an zu dämmern. Die Dunkelheit hockte in allen Ecken und die Sterne begannen langsam am Himmel aufzumarschieren. Plötzlich erfaßte den anderen eine Anwandlung von Beredsamkeit.

»Und es kommt alles nur von dem verfluchten Gequassel!« sagte er unvermittelt. »Würden die Leute ihren Mund halten, so könnten sie sich viel Ärger ersparen. Und man wüßte nicht, wie dumm sie sind. Aber das ist es gerade! Keiner kann den Mund halten; und am allerwenigsten die Kunden in Argentinien. Das kannst du mir glauben, denn ich bin hier schon länger auf der Walze als irgendeiner von den anderen Jungens. In zehn Jahren habe ich keinen anständigen Compagnero gehabt mit Ausnahme von einem einzigen, und der war stumm. – So einen werde ich so schnell nicht wieder finden. Wenn ich Geld genug zusammen habe, werde ich mir einen Hund kaufen als Compagnero. Mit dem werde ich hinaufreisen in die Provinz Cordoba, wo es fette Klostersuppen zu essen gibt und die Menschen so selten sind wie hierzulande die Pesos, oder hinunter nach Chubut oder Santa Cruz oder besser noch nach Patagonien. Wenn's nach mir ginge, würde man ihnen allen die Zunge herausschneiden!«

Über dem Einschlafen murmelte er noch manches, was ich nicht verstand und im Schlaf noch murrte er zuweilen wie ein bissiger Kettenhund, wenn er vor der Hütte ins Träumen kommt.

Am nächsten Morgen war er verschwunden. –

* * *

Weiter ging die Reise . . . Mir war gar fröhlich zumute, wie die geschäftige Lokomotive das prasselnde Feuerwerk der roten Funken in die nun wieder sternklare Nacht hinausspie und die ratternden Räder immer schneller und schneller der schweigenden Wildnis entgegeneilten. Als der Tag graute, lag die gesittete Welt mit ihren Häusern und Feldern schon weit hinter uns, und die weichen Strahlen der aufgehenden Sonne umspielten die blühenden Kaktusfelder, über deren dornigem Gestrüpp ein bunter Schleier von leuchtenden, satten Farben lag. Hier und da ragten einzelne Kakteen wie richtige Bäume über die anderen hinweg und reckten gewaltig ihre schwarzen Arme gegen den roten Morgenhimmel. Aber auch diese finsteren Gesellen waren mit freundlichen, weißen Blüten geschmückt. – Licht und Sonne, Klang und Farbe lagen in diesem Bilde.

Nach einer Weile wuchsen schwarze Wälder aus dem Boden. Erst standen sie weit in der Ferne, und ihre dunkelblaue Linie brachte eine neue Farbe in das farbige Bild. Dann kamen sie näher und näher heran, wie drohende Gewitterwolken, und schließlich standen sie dicht am Bahndamm. Schwarze, unheimliche Baumriesen schauten mürrisch in den blaßblauen Himmel, und es war, als ob ein kalter, fröstelnder Hauch von dem modrigen Waldboden aufstiege. Das war der »Chaco« der Provinz Santiago del Estero, der »Chaco santiaguino«. Als Chaco bezeichnet man in Argentinien die Urwälder und Savannen, die im hohen Norden des Landes den größten Teil der Territorien Gran Chaco, Missiones und Santiago del Estero einnehmen. Zuweilen nennt man sie auch »Selvas« oder Waldwüste. Und in der Tat: Wenn man in einem, von üppigem Pflanzenwuchs bedeckten Lande von einer Wüste reden darf, so ist es hier, in der düsteren Einsamkeit der Wälder. Schwarz und unheimlich ist es in dem Dickicht, wo, genau wie im Leben der Menschen, die großen und kleinen Pflanzen um ihr bißchen Dasein kämpfen. Kümmerliche Büsche fristen ihr Leben im Schatten der Baumriesen. Wuchernde Schmarotzerpflanzen schlingen sich um die weißen Stämme und saugen das junge Leben aus den wachsenden Bäumen. Hier und da steht ein stolzer Riese, der alle anderen beiseite gedrückt hat und nun trotzig seine breiten Äste der Sonne entgegenreckt, bis er eines Tages selber fällt und vermodert und neue Bäume aus seinem morschen Holze herauswachsen. Träge fließen die schlammigen Flüsse durch diese endlosen Ebenen, und wenn zur Regenzeit die großen Wassermassen von den Kordilleren herunterkommen, so überschwemmen sie die Gegend mit Seen und Sümpfen und übelriechenden Tümpeln, die ein Paradies sind für Schnaken, Moskitos, Skorpione und allerlei anderes ekliges Getier. Tief im Dschungel hausen Panther, Pumas, Wildkatzen, Tapire und tückische Schlangen. Aber die gefährlichste aller Bestien, die im Gran Chaco vorkommen, das ist der Mensch.

Düstere Indianer mit mächtigen, blauschwarzen Haarmähnen und giftgrünen Augen sind hier zu Hause. Auch sie sind nicht mehr ganz unbeleckt von der Kultur. Sie tragen Konfektionsware, die aus Manchester kommt und sprechen auch meist ein halbwegs verständliches Spanisch. Aber unter dieser Tünche von europäischer Höflichkeit sind sie noch so wild wie das Land, das sie bewohnen. Glücklicherweise sind sie dünn gesät. Nur hier und da trifft man ein kleines Pueblo mit ein paar lärmenden Sägemühlen, die das in jenen Wäldern massenhaft vorkommende Quebrachoholz verarbeiten. Unter den vorspringenden Bastdächern der armseligen Hütten kochen häßliche alte Weiber das Mittagessen am offenen Feuer. Schmutzige Kinder und bissige Hunde treiben sich in der Nähe herum. Vor der Tür sitzt ein alter Graukopf und schlürft stumpfsinnig seinen Mate aus der Bombilla.

Das Erscheinen eines Gringo in der Gegend ist jedesmal ein Ereignis. Wie ein Wildfeuer verbreitet sich die Kunde. Männer, Frauen und wasserköpfige Kinder kommen herbeigeeilt und starren den Fremdling mit großen Augen an. »Woher kommt er? Wohin geht er?« fragen hundert Stimmen auf einmal. Wo er geht und steht bilden sie Queue auf seinen Spuren. Diese Neugierde wird nur noch übertroffen durch ihre Ungefälligkeit und ihr Mißtrauen dem Fremden gegenüber. Ein Gringo ist in den Augen jener Naturkinder ein Teufelskerl, der es darauf abgesehen hat, sie um ihr Hab und Gut zu bringen. Man kann ihm nicht trauen. Keinen Finger breit. Das beste ist, wenn man sich gar nicht erst auf ein Geschäft mit ihm einläßt.

»Que quiere?« wird man vom Almacenero angefahren, der eben hinter der schmutzigen Teke seines Kramladens den Mate schlürft.

»Ich möchte ein Stück Seife kaufen.«

»Was?«

»Nur ein Stück Seife.«

»Ich hab' keine Seife!«

Für Geld und gute Worte ist nichts zu haben; weder im Almacen noch sonstwo. Will man ein Stück Fleisch kaufen, das vor irgendeiner Hütte hängt, so wird man bloß einem verständnislosen Grinsen begegnen. Im Nu werden alle Nachbarn versammelt sein, und sie werden sich nicht mehr zu helfen wissen vor Lachen und Gestikulieren. Wie? Was will der Gringo? Fleisch? Madre dios! Was kann er bloß mit Fleisch wollen. Wahrlich, ich habe in meinem Leben schon öfters mit Wilden zu tun gehabt; mit Eskimos und mit Itkaliindianern, aber die da im Gran Chaco –

* * *

Täglich wurde mein Sehnen größer nach den Fleischtöpfen der Pampa und nach den fetten Suppen, die man dort unten für billig Geld aus Reis und Rindfleisch kochen konnte. In einer Beziehung hatte man es hier ja besser. Man brauchte keinen trockenen Kuhmist zusammenzulesen, um damit ein mühsames Lagerfeuer zu unterhalten. Hier gab es Brennmaterial in Hülle und Fülle, aber wenn man etwas zum Kochen haben wollte, so mußte man sich unter Lebensgefahr die Maiskolben und die dicken Süßkartoffeln aus den Gärten holen, die neben den armseligen Hütten lagen. Das brachte mich am Ende mit der hochmögenden Polizei in Konflikt.

Höchst eigentümlich ist das argentinische Polizeiwesen. Der Schutzmann in den großen Städten, wie Buenos Aires oder Rosario, ist im allgemeinen nicht übel, aber eine wahre Landplage sind die Feldgendarmen: die Vigilanten. Der argentinische Vigilante ist ein armer Teufel. Er bezieht ein Gehalt von vierzig Pesos im Monat, womit er sich und sein Pferd verpflegen muß. Für alle übrigen Einkünfte muß er die Augen offenhalten, ob er nicht einen armen Reisenden erwische, dem er etwas abnehmen könnte. Einer ihrer beliebtesten Kniffe ist es, entlang der Bahnlinie den schwarzfahrenden Gringos aufzupassen, um dann von ihnen den doppelten Fahrpreis zu erpressen.

Schon an einer der ersten Stationen im Chaco hatte ich einen Zusammenstoß mit einem solchen Wächter des Gesetzes. Ein Leugnen war nicht möglich, denn er ertappte mich auf frischer Tat, wie ich gerade aus dem Güterwagen herauskam.

»Pague el doble!« rief er voll Begeisterung. »Bezahlen Sie das Doppelte!« Es wäre mir ein leichtes gewesen, wieder davonzulaufen, denn er war ein alter gebrechlicher Mann, und da er barfuß ging und überdies durch seinen langen Säbel am Laufen behindert war, hätte er mich wohl kaum eingeholt, wenn ich es auf einen Wettlauf über die spitzen Steine hätte ankommen lassen. Aber da er gar so harmlos aussah, ließ ich ihn gewähren. Er führte mich nach dem »Calebus«, einem kahlen, viereckigen Hof, von dessen gelben Lehmmauern die Sonne abprallte. An der einen Seite des Hofes ging es durch eine Art kümmerlicher Veranda in die Hütte des Vigilanten. Dort saßen ein paar Weiber, von denen man nicht sagen konnte, ob sie alt oder jung waren, und backten braune, appetitliche, mit gepfeffertem Fleisch gefüllte »Empanadas«, die sie mir für zehn Centavos das Stück verkauften. Dann tranken wir zusammen Mate aus der Bombilla, und während die Tasse von Mund zu Mund ging und die Weiber nach jeder Runde wieder heißes Wasser nachfüllten, wurde der Alte nicht müde, mich über Europa und Alemania auszufragen. Reisen – ah, das wäre auch sein Fall! meinte er. Wenn er nur das nötige Geld hätte, dann würde er sich auch einmal in der weiten Welt umsehen. Bis hinunter nach San Christobal wollte er reisen, oder vielleicht sogar bis hinauf nach Tucuman! Aber was könnte sich denn einer leisten für lumpige vierzig Pesos im Monat? Ja, wenn er lesen und schreiben könnte! Dann wäre das ganz etwas anderes. Dann wollte er bald Kommissario werden und leben wie ein Caballero. Zu jedem fünfundzwanzigsten Mai wollte er nach Buenos Aires reisen und auf der Plaza Saenz Peña Fandango tanzen. Aber so weit werde er es wohl nie bringen. Die Gelehrsamkeit sei eben nicht jedermanns Sache. Es haben nicht alle einen Kopf dazu. Als gegen Abend ein Güterzug nach Westen abging, trennten wir uns als große Freunde. »Vergessen Sie die Adresse nicht, wenn Sie allenfalls wieder einmal hier vorbeikommen sollten,« rief mir der Vigilante noch in der Türe nach.

Der war wenigstens noch ein Gemütsmensch. Mit seinen Kollegen auf anderen Plätzen des Gran Chaco habe ich weniger gute Erfahrungen gemacht; namentlich auf größeren Stationen, wo ein »Kommissario« hauste. Der Kommissario ist der Vorgesetzte des jeweiligen Polizeidistrikts, und ich fürchtete mich vor ihm wie vor einem Räuberhauptmann. Er ist der einzige Vertreter der »Intelligenz« in dieser Wildnis. Zwar geht seine Wissenschaft selten über eine halbwegs anständige Kenntnis der spanischen Schriftsprache, aber auch damit kann man schon Eindruck machen im Gran Chaco. Im Reiche der Blinden ist der Einäugige König. Auf die zugreisenden Gringos hat der Kommissario stets ein scharfes Auge. Solche Leute sind ihm immer höchst verdächtig. Wo kamen sie her? Wo wollten sie hin? Und was um des Himmels willen, was konnte so ein Gringo im Gran Chaco wollen? Und dann kam stets die schicksalsschwere Frage: »Sind Sie ein Russe?«

Erst später, als der Gran Chaco schon hinter mir lag wie ein böser Traum, habe ich aus der Zeitung erfahren, was es mit dieser Frage auf sich hatte. Russische Anarchisten hatten während der Hundertjahrfeier in Buenos Aires einen Generalaufstand angezettelt, verbunden mit einer kleinen Revolution, bei der auch der Polizeichef ermordet wurde. Nach dem Zusammenbruch der Bewegung war es nicht gelungen, die Urheber des Aufruhrs festzunehmen. Die meisten waren rechtzeitig übers große Wasser gegangen, aber andere, die nicht mehr fortkonnten, sollten sich irgendwo im Gran Chaco herumtreiben. Russen sollten es sein; Nihilisten von der gefährlichsten Sorte. Kein Wunder, daß jeder Kommissario beim Anblick eines jeden harmlosen Gringo schon ein Ordensband in seinem Knopfloch sah.

Über diesen unliebsamen Auseinandersetzungen mit den hochmögenden Kommissaren und den profitgierigen Vigilanten ging viel schöne Zeit verloren. Eine brennende Ungeduld kam über mich. Fort, nur fort wollte ich aus dieser Wildnis. Einmal, nachdem ich schon während eines ganzen Tages in einem holprigen Güterwagen gefahren war, kam ich in einem ganz ansehnlichen Pueblo an. Es war bei weitem das schönste, das ich seit der Abfahrt von San Christobal gesehen hatte. Summende Sägemühlen standen zwischen goldgelben Maisfeldern. Stattliche Kaufläden reihten sich aneinander an der staubigen Straße. Eine Kirche bohrte ihre beiden spitzen Türme in den blauen Himmel. Aber ich schaute nicht links und nicht rechts, denn die Ungeduld war über mich gekommen wie ein Wirbelwind. Obwohl die kurze Dämmerung der Tropen schon am Himmel zitterte, machte ich mich unverzüglich auf den Weg nach der nächsten Station, die die Kleinigkeit von acht Leguas, d. h. vierzig Kilometer entfernt lag.

Auf den heißen Tag war eine schwüle Nacht gefolgt. Schwere finstere Wetterwolken wechselten ab mit hellem Mondhimmel, von dem die schwarzen Baumwipfel sich so scharf abhoben, als ob sie aus Papier geschnitten wären. Ab und zu fiel ein dicker Regentropfen. Aber ich achtete es nicht. Ich dachte nur an die vierzig Kilometer, die ich noch vor Tagesanbruch zurücklegen wollte. Wie eine schwarze Mauer stand der Urwald zu beiden Seiten des Bahndammes. Anfangs zählte ich jeden Kilometerpfahl, aber bald nahm die Müdigkeit überhand, und ich tappte nur noch mechanisch weiter, ohne etwas zu denken. – Mit einemmal wurde ich aufgeschreckt aus meinem halbwachen Zustand. Mehrmals mußte ich mir die Augen reiben, um mich zu vergewissern, daß ich auch recht gesehen hatte. War es Wirklichkeit oder war es nur eine Erscheinung, die mich zum besten halten wollte? Kaum zehn Schritte vor mir standen zwischen den Gleisen zwei funkelnde grüne Punkte von merkwürdig flackerndem Licht. Einen Augenblick stand ich wie versteinert.

»Nun will ich glauben, daß es Einhörner gibt,« mochte ich nach bekanntem Muster sagen. Dann aber faßte ich mir ein Herz und bombardierte das Gespenst mit den spitzen Steinen, die zwischen den Gleisen lagen. Der Erfolg war überwältigend. Zuerst vernahm ich ein boshaftes Zischen und Fauchen, und dann schnellte wie ein Blitz eine wohl zwei Meter lange, katzenartige Gestalt auf, die sich mit gewaltigen Sätzen seitwärts in die Büsche schlug. Ich habe nie herausgebracht, mit wem ich eigentlich die Ehre hatte. Die Eingeborenen, denen ich später von dem Abenteuer erzählte, schworen Stein und Bein, es sei »un leon« gewesen, worunter sie die in jenen Gegenden häufigen Panther und Pumas verstehen.

Jedenfalls war mir das Abenteuer auf die Nerven gefallen. Überall in dem schwarzen Dickicht glaubte ich die grünen Augen wilder Bestien zu sehen, und bis der dämmernde Tag die Gespenster verscheuchte, hatte ich mir hoch und heilig vorgenommen, nie wieder nächtlicherweile im Gran Chaco über Land zu gehen.

Als ich im Morgengrauen, noch unruhig und aufgeregt von den Erlebnissen der Nacht, auf der nächsten Station ankam, traf ich eine Gesellschaft Gringos, die an ihrem Campfeuer zwischen den Bahngeleisen einen Hühnerbraten schmorten. Die Kerle sahen ziemlich heruntergekommen aus, aber mein gringohungriges Auge begrüßte sie wie alte Freunde. Der eine war ein junger dänischer Maschinist, der erst vor kurzem von einem Schiff in Rosario weggelaufen war, der andere, ein abenteuerlich dreinschauender Spanier, mit einem Spitzbart wie Don Quixote; der dritte im Bunde ein alter holländischer Kunde, ein richtiger Speckjäger, der wohl nicht erst seit gestern in Argentinien auf der Fahrt war, denn er war stark »verhiesigt« und saugte seinen Mate aus der Bombilla wie ein echter Argentiner.

›Böse Gesellschaften verderben gute Sitten‹. Dies muß ich zu meiner Entschuldigung vorausschicken, ehe ich als gewissenhafter Chronist auch von dem nachfolgenden Abenteuer erzähle, selbst auf die Gefahr hin, den Makel eines entsprungenen Sträflings auf mich zu laden.

Mit einem Güterzug setzten wir selbviert die Reise nach Tucuman fort. Wir hatten einen wunderschönen Packwagen ausfindig gemacht, der bis zur halben Höhe mit sauberen Kisten gefüllt war, über denen eine Lage von wunderbar weichem Holzstroh lag. Wir machten es uns bequem für eine lange Reise. Auf dem Stroh breiteten wir die Ponchos aus. Der Holländer holte ein Paket schmieriger Karten hervor, mit denen wir uns beim Scheine einer trüben, flackrigen Kerze in eine Partie Sechsundsechzig vertieften. Darüber vergaßen wir alle Vorsichtsmaßregeln und fielen schon an der nächsten Station dem Aufsichtspersonal in die Hände.

Der Stationsvorsteher zitterte vor Wut, als wir ihm vorgeführt wurden. Was uns denn einfiele, die Plombe eines versiegelten Wagens zu erbrechen? Ob wir denn nicht wüßten, daß hierauf eine Strafe von einem halben Jahr Gefängnis stünde? Und gar noch an diesem Wagen! Madre dios! Wissen Sie denn, was in diesen Kisten drin ist? Sprengstoffe!! Und da machen sich die Gringos noch mit einer Kerze im Holzstroh zu schaffen! Nein, das konnte man sich doch nicht gefallen lassen, daß jeder hergelaufene Vagabund einen ganzen Eisenbahnzug mit dem gesamten Personal in die Luft sprengte! Hier mußte einmal kräftig vorgegangen werden. Mit dem nächsten fälligen Personenzug sollten wir zurückbefördert werden nach Santa Fe, wo dann der Staatsanwalt den Fall in die Hand nehmen würde.

Da standen wir nun auf dem menschenleeren Bahnsteig und warteten auf den Zug, der uns in unser Unglück führen sollte. Ins Gefängnis! Der Spanier verfluchte alle Heiligen im Kalender; die Augen des Dänen sprühten Gift und Galle, der Holländer faßte sich an seinen wirren Haarschopf, und auch mir war gar nicht geheuer zumute. Im Grunde genommen war ich ja ganz unschuldig an der Sache. Ich hatte keine Ahnung davon, daß der Wagen vorher versiegelt war, und daß der Spanier, dieser Teufelskerl, die Bleiplombe abgerissen hatte. Aber würde man mir glauben, wenn ich das alles erzählte? Würden solche Ausreden meinen Fall nicht noch verschlimmern? ›Mitgegangen, mitfangen usw.‹

Es war eine schwüle, gewitterdrohende Nacht. Der Himmel hing voll düsterer Wolken. Über dem Buschwald grollten leise die Donner, und es wetterleuchtete in der Ferne.

»Ah,« dachte ich mir, »wenn das Gewitter nur näher käme! Dann hätten wir am Ende noch eine Aussicht!«

Aber die fahrplanmäßige Ankunftszeit des Zuges war schon verstrichen, ohne daß das Gewitter näher gekommen wäre. Die Fahrgäste drängten sich auf dem Bahnsteig. Einer von ihnen machte sich an den Vigilante, der uns bewachen sollte.

»Que tal, amigo!« sagte er, indem er ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte, »die Nacht ist kalt. Trinken wir eine Caña.«

»Siehst du nicht, daß ich Dienst habe?« antwortete der Vigilante.

»Eh bueno!« meinte der andere, indem er den Widerstrebenden mit sich fortzog, »das hindert dich doch nicht daran, ein Gläschen Caña zu trinken mit einem guten Freunde. Im Gegenteil! Wenn du erst deinen Magen wieder aufgewärmt hast, dann wirst du nachher um so mehr auf dem Posten sein.«

Das schien dem Vigilante einzuleuchten. Immer noch zögernd folgte er seinem Verführer. Im Fortgehen warf er uns noch einen prüfenden Blick zu.

»Bleiben Sie hier stehen, Caballeros,« sagte er mit ängstlicher Miene, »ich bin gleich wieder zurück.«

Wer aber vorerst nicht wieder zurückkam, das war der Vigilante. Aus der einen Caña wurden mehrere, und noch immer war von den Zechern nichts zu sehen, als schon der Zug herangebraust war und die sonore Stimme des Zugführers über den Bahnsteig hallte: »Señores passageros, al tren!« Während nun die Fahrgäste mit ihren Bündeln umherliefen, machten wir uns die allgemeine Verwirrung zunutze, um mit französischem Abschied zu verschwinden. Um nicht aufzufallen, gingen wir zuerst ganz langsam und bedächtig zu Werk, aber sobald uns draußen das Dunkel umfing, nahmen wir die Beine unter die Arme. Nie wieder in meinem Leben bin ich so gerannt wie damals! In der Dunkelheit tappte ich bis über die Knie in einen schlammigen Wassergraben, dann zerriß ich den Rockärmel an einem Stacheldrahtzaun, dann stolperte ich über meine eigenen Beine, aber ich schaute nicht links und nicht rechts. Fort, nur immer fort! An einem tiefen Graben an einer sandigen Straße fanden wir uns alle wieder und warteten in atemloser Spannung auf die weitere Entwicklung der Dinge.

Man mußte drüben unsere Flucht bereits entdeckt haben, denn der Nachtwind trug ein gewaltiges Geschrei zu uns herüber. Ein Reiter kam in vollem Lauf die Straße einhergesprengt. Der Hufschlag seines Pferdes spritzte mir den Sand ins Gesicht, aber ich rührte mich nicht. Eine ganze Weile lagen wir regungslos und wagten kaum zu atmen. Wie lang, wie endlos lang waren diese Minuten! Wollte dieser verwünschte Zug denn niemals abfahren? – Ah, endlich fing es dort drüben an zu puffen und fauchen. Man hörte das Knarren der Achsen und das Rollen der Räder, das mir schöner klang als die schönste Musik. Und als gar die Lokomotive weit drinnen im Buschwald noch einmal laut aufheulte, da konnte ich das Lachen nicht verbeißen, denn mir war, als ärgerte sie sich über die entgangene Beute.

Die augenblickliche Gefahr war vorüber, aber was nun? Von einem Verweilen am Orte war keine Rede, und zu Fuß irgendwo anders hingehen konnten wir auch nicht, weil man uns Schwerverbrechern inzwischen gewiß schon alle Vigilanten der weiten Umgebung auf den Hals gehetzt hatte. Es gab nur eine einzige Rettung aus der peinlichen Lage, das war der vor der Station auf einem Seitengleis liegende Frachtzug, der nur auf das Vorbeifahren des Personenzugs wartete, um seine Reise nach Westen fortzusetzen. Den mußten wir »machen«, wenn wir von hier fortkommen wollten. Da wir uns nicht mehr zurück nach der Station trauten, beschlossen wir, dem Zug auf offener Strecke aufzupassen und ihn dort »im Fahren« zu erwischen. Die geeignetste Stelle hierfür schien eine kleine Bodenwelle, nicht weit hinter der Station, wo der Zug, der ohnehin noch nicht die volle Geschwindigkeit hatte, seine Fahrt noch mehr verlangsamen mußte, – Dorthin rannten wir, so schnell uns die Beine trugen.

Als wir atemlos an der bezeichneten Stelle angelangt waren, kam der Zug schon herangebraust. Der Boden zitterte unter dem Stampfen der Lokomotive. Die stählernen Schienen leuchteten hart und kalt im Lichte des Scheinwerfers. – Nur nicht ängstlich! – Schon war es über uns, das wilde Heer. Der Spanier stürzte unbedenklich auf einen der Wagen. Einen Augenblick sah es aus, als ob ihn die Räder zermalmen würden, aber schon saß er oben auf einem Flachwagen.

Der Mann hatte mehr Glück, als er verdiente. Noch nie hatte ich jemand auf so unwissenschaftliche Weise einen fahrenden Güterzug erklettern sehen. Ich, der ich in Nordamerika schon so manchen fahrenden Zug erwischt hatte, wollte vorschriftsmäßig zu Werke gehen. Nachdem ich erst eine Strecke in vollem Lauf neben dem fahrenden Zug hergerannt war, erfaßte ich einen der Streben eines Flachwagens. – Eine Weile zog mich der Zug mit sich fort, dann war es, als ob mir jemand mit einem Hammer gegen die Stirn schlüge, und ich rollte kopfüber den Bahndamm hinunter – der vermaledeite Zug hatte doch mehr Fahrt, als ich angenommen hatte! Aber er mußte gemacht werden! Noch einmal stürzte ich auf den Bahndamm und erfaßte blindlings den ersten besten Streben, den ich erwischen konnte. Wieder wurde ich von dem nun schon fast in voller Fahrt befindlichen Zug mit fortgerissen, dann erfaßte mich der Schwung, den die Fahrt des Wagens verursachte, und schleuderte mich wie ein Häuflein Elend auf einen Flachwagen.

Inzwischen war auch das Gewitter losgebrochen, das schon während der ganzen Nacht gedroht hatte. Ein Hexensabbath von Blitz und Donner. Wie eine Furie kam der Wind herangefegt, und die dicken Regentropfen, die in wagerechten Strichen vorübersausten, fuhren mir klatschend ins Gesicht. Ein kalter Hauch durchschauerte meine nassen Kleider, aber ich achtete es nicht. Denn in mir brannte ein Feuer von loderndem Haß und von wildem Triumph. Ja, nun war es mir ganz recht, daß der Spanier die Plombe erbrochen, und daß der alte Speckjäger die Kerze auf den Explosionskisten angezündet hatte. – Was wollt ihr denn eigentlich von uns, ihr Narren? Ihr glaubt wohl, ihr seid schlau und gerissen? Aber ihr seid noch lange nicht gerissen genug für unsereinen. Da müßt ihr früher aufstehen, wenn ihr einen Gringo fangen wollt! – Ihr – Ihr Dummköpfe. –

Da ich neugierig war, was wohl aus den anderen geworden wäre, kletterte ich während der Fahrt von einem Wagen zum anderen, aber ich fand nur den Spanier und den Dänen. Der Holländer hatte wohl den Anschluß verpaßt. Mochte er sehen, wie er weiter kam.

Wir fuhren den ganzen Rest der Nacht, ohne daß uns jemand störte, und als die Sonne aufging, lag der Gran Chaco bereits hinter uns. An Stelle des Urwalds trat niedriges Gestrüpp, aus dem vereinzelte schlanke Palmen aufragten, deren Fächerblätter sich wie schwarze Schattenbilder von dem dunklen Blau des tropischen Himmels abhoben. Eine Schar grüner Papageien zog kreischend vorüber. Dann kamen Felder von blühenden Kakteen und wogende Grasflächen, auf denen sich halbwilde Pferde tummelten. Gegen Westen breitete sich eine Landschaft, die uns allen, die wir so lange in der staubigen Pampa und in den stickigen Wäldern gehaust hatten, wie ein richtiges Paradies erschien. Ein welliges Hügelland, über das sich die Zuckerrohrfelder wie ein leuchtender, hellgrüner Teppich breiteten. In der Ferne blaue Berge und in der Höhe ein tropischer Himmel mit weißen Wolken, die die frische Brise vor sich herjagte. Da und dort stand ein kleines Häuschen ganz geduckt hinter schattigen Büschen, aus deren dunklem Grün die goldgelben Apfelsinen leuchteten. In der Ferne erhoben sich die Gebäude einer Zuckerfabrik, die den Gedanken nahelegten, sich dort nach einem Verdienst umzusehen. Der Spanier, dem ich einen dahingehenden Vorschlag machte, fragte mich beleidigt, für was ich ihn denn eigentlich einschätzte. Etwa gar für einen ganz gewöhnlichen Arbeitsmann? Das Arbeiten sei durchaus nicht seine starke Seite. Drunten in Buenos Aires, wo es fette Löhne gab, habe er sich nicht darum bemüht, und so werde er auch hier nicht damit anfangen, wo ein Peon bloß anderthalb Pesos für den Tag verdient. Lumpige anderthalb Pesos!

So ließen wir denn auch diesen Reisegefährten zurück, und wir beide – der Däne und ich – wanderten allein auf dem Anschlußgleise der Fabrik entgegen. Links und rechts der Linie zogen sich die sorgsam angebauten, von zahlreichen Bewässerungskanälen durchzogenen Zuckerrohrfelder hin, in denen eben die Arbeiter dabei waren, mit langen Machetemessern das reife Rohr abzuschneiden. Unter den breiten, schilfigen Blättern, wo die dicken, bambusartigen, wohl drei Meter hohen Stengel dicht nebeneinander standen, sah es aus wie in der Dschungel eines Miniaturwaldes. Stets wieder mußte man staunen über die Fruchtbarkeit des Bodens, der in der kurzen Zeit von wenigen Monaten solchen Pflanzenwuchs hervorzuzaubern vermochte. Immer größer wuchs die Fabrik aus dem Boden. Zwischen langgestreckten Arbeiterbaracken türmten sich graue Fabrikgebäude mit ragenden Schornsteinen, die dicke Rauchwolken in den blauen Himmel sandten. Über rußige Fabrikhöfe, in denen in langen Reihen die mit dem frisch geschnittenen Zuckerrohr gefüllten Wagen der Feldbahn standen, kam man vorbei an lärmenden Werkstätten, in denen die Hämmer klirrten und die Schmiedefeuer brannten, und an elektrischen Licht- und Kraftanlagen, die mit ihren weiten, sauber getäfelten Hallen, mit den blinkenden Stahlkolben, den sausenden Treibriemen und den zitternden Dynamomaschinen auch in einem großen Werk im Industriegebiet von Rheinland-Westfalen eine gute Figur gemacht hätten. Vor einem hohen, düsteren Gebäude stauten sich die Wagen der Feldbahn und schütteten der Reihe nach ihren Inhalt in einen Elevator, der das frisch geschnittene Zuckerrohr während der ganzen Zeit ohne Unterlaß bei Tag und Nacht in immer gleichem breitem Strom den gefräßigen Rädern und Mühlsteinen der Fabrik zuführte. An einer anderen Stelle floß in einer Rinne der weiße Saft des ausgepreßten Zuckerrohrs wie ein lustiger Bach vorüber. Hinter den Fabrikgebäuden breitete sich ein Teich von faulem, stinkendem Syrup, über dem unzählige dicke Fliegen summten.

Als wir eben vor dem Bürogebäude vorübergingen, kam gerade der Besitzer des Anwesens aus der Tür, umgeben von einem ganzen Generalstab von Engländern in Reithosen und Ledergamaschen. Er war selber ein reicher Engländer mit einem Gesicht wie der leibhaftige John Bull.

»Englishmen?« fragte er uns mißtrauisch.

Und ich sagte darauf – nun ja, in der Not frißt der Teufel Fliegen –, ich sagte ihm, daß ich in der Gegend von Liverpool zu Hause wäre, und der Däne, der lange in Nordamerika gewesen war, gab sich als Yankee aus. Das verschaffte uns gleich einen Stein im Brett. »Da werden wir wohl sehen müssen, was wir für Sie tun können,« sagte der Engländer sichtlich befriedigt, »was können Sie denn arbeiten?«

»Nicht viel,« antwortete ich etwas unvorsichtig, aber wahrheitsgemäß.

»Allright!« meinte der andere. »Das macht nichts. Im Gegenteil! Mir sind die Leute, die nicht viel können, immer lieber wie die anderen, die immer alles wissen.«

Dann übergab er uns einem jungen Argentiner, der uns nach einer Art Dampfsäge- und Hammerkombination führte, wo das Brennholz für die Feldbahn geschnitten wurde.

»So,« sagte der junge Mann, »da könnt ihr nun eure Kunst versuchen. Die Geschichte ist schon ein bißchen alt und wackelig. Ihr müßt eben zusehen, wie ihr damit fertig werdet. Wenn die Sache eines Tages in die Luft fliegt, ist's kein großer Schade. Die Hauptsache ist, daß Kleinholz herauskommt.«

Soundsoviel wollte man uns bezahlen für den Raummeter.

So waren wir also plötzlich zu Kontraktoren geworden. Wir, die wir noch eben gewöhnliche Vagabunden – nein, was sage ich – Flüchtlinge vor den Vigilanten des Gran Chaco gewesen, waren mit einem Kopfsprung sondergleichen in die Klasse der Unternehmer eingerückt. Der Däne, als gelernter Maschinist, übernahm die Behandlung der Dampfmaschine, während ich, der ich Spanisch konnte, die Aufsicht über die zweihundert bis dreihundert Indianer führte, die das Holz herbeischafften. Mit der Energie der neuen Besen nahmen wir uns der Sache an. Die »hombres« bekamen manches »carajo« von mir zu hören. Die Dampfsäge surrte unermüdlich, und wir bekamen Geld auf Vorschuß, so viel wir wollten.

Und wir lebten wieder menschlich. Zu Mittag speisten wir in der Hütte eines Majordomo, die etwas abseits ganz versteckt unter wehenden Palmen und breitblättrigen Bananenstauden lag. Donna Elvira, die Herrin des Hauses, machte sich eine Ehre daraus, den Gringos den Asado und den Puchero aufzutischen, und wenn die duftenden Bratengerüche zu der niedrigen Bastfaserdecke ausstiegen, da erhob der grüne Papagei, der dort auf der Stange saß, jedesmal seine krächzende Stimme zu energischem Einspruch: »Y pa loro? Y pa loro?« (Und für den Papagei?)

Seit undenklich langer Zeit hatte ich auch einmal wieder ein Dach über dem Kopf, wenn es auch nur das lecke Wellblechdach über der kahlen Baracke war, die wir zusammen mit noch zwei anderen Gringos bewohnten.

Der eine dieser beiden war ein ehemaliger Seemann; ein biederer, derber Mensch, der uns abends gern von seinen seemännischen »Schanties« vorsang.

Nach einiger Zeit wurde er jedoch immer einsilbiger. Mürrisch und verdrießlich ging er umher und redete stundenlang kein Wort, bis er mich eines Tages ganz unvermittelt ins Gebet nahm.

»Kannst du Spanisch schreiben?« fragte er mit einem Gesicht voll ängstlicher Spannung.

»Ja,« antwortete ich.

»Kannst du es aber auch wirklich gut, so daß du einen ordentlichen Kohl machen kannst von allerlei schönen Dingen; von Freundschaft, von Treue – nun ja – und von Liebe?«

»Ich kann's ja mal versuchen.«

Der Engländer atmete erleichtert auf.

»Schön,« sagte er, »das ist fein. Da kannst du mir gleich einmal einen Brief schreiben. So einen recht süßen, verzuckerten, womit man Eindruck machen kann bei den Frauenzimmern. Ich habe nämlich ein Mädchen in Tucuman. Sie ist zwar eine ›Hiesige‹, aber sie ist ganz anders wie das, was sich sonst hierzulande herumtreibt. Wenn du sie kennen würdest, müßtest du es selber sagen. Sie hat einen Mund wie eine Pfingstrose, eine Nase wie ein Gott und Augen so schwarz wie chinesische Tusche. Und dazu schwarze Haare und eine seidene Mantilla, und Füße – Füße sage ich dir – die reinsten Puppenfüße! – Aber Englisch kann sie nicht. Das ist eben das Verdammte! Und ich kann meine Zunge nicht nach dem verfluchten Kastilianisch drehen. Nein, das kann ich nicht. Das kann man von mir nicht verlangen. Dazu bin ich zu sehr Englischman. – Wenn du ihr also einen recht netten Brief schreiben willst: daß ich sie noch nicht vergessen habe; daß ich täglich an sie denke; daß ich schon ganz gut Kastilianisch könnte – du weißt ja schon.« –

So nahm ich denn meine ganze Weisheit zusammen und schrieb einen Brief in farbenreichstem Kastillano. Mein Auftraggeber schien sehr befriedigt, als ich ihm das Epos vorlas. »Allright, very fine!« sagte er mehrmals. »Aber daß ich fünf Pesos im Tag bei freier Verpflegung verdiene, hättest du auch noch dazu schreiben können.«

»Aber, Menschenskind, das steht doch alles drin! Hast du denn nicht gehört? ›Mit Geld und Gut, o du Sonne meines Lebens, bin ich reich gesegnet.‹ Was soll das denn anders heißen?«

Das beruhigte den liebenswürdigen Seemann. Seelenvergnügt trug er den Brief zur Post, und fortan konnte er wieder Garne spinnen und Schanties singen wie zuvor.

Außer diesem Gemütsmenschen wohnte, wie gesagt, noch ein anderer Gringo mit uns in der Baracke. Es war der Chef der Feldbahn; ein Elsässer, und zwar einer von der gewissen Sorte. Er schien sehr erfreut, als er hörte, daß ich auch ein Wackes sei.

»So, so,« sagte er, »da hast du also den »Schwobe« den Laufpaß gegeben? A la bonne heure! Du bist nicht der einzige! Wie ich aus der Schul gekommen bin, da hab' ich gleich hinüber gemacht ins Frankreich – uff Baris! Jetzt kann ich nimmer zurück, weil sie mich sonst auf meine alten Tage noch zum Kommiß stecken. – Aber nur Geduld! Es kommt noch anders! Es ist heute nimmer wie Anno Siebzig, wo die Preußen den Bazaine bezahlt haben, damit er die armen Piou-Pious in die Falle lockt. Heut hat's Generäle in Frankreich, die schon im Afrik, im Marok, im Tonking und in Madagaskar ihre Haut zu Markt getragen haben. Und dazu Soldaten voll Esprit und Elan. Un die ›soixante quinze‹ und Aeroplane – oiseaux de France! – die wer'ns denn Herrgottssakranundedie schon bibringe!

»Aber die Deutschen! – Weißt du, wie es in dem spanischen Sprichwort heißt? ›La tierra está cansada de la mentira!‹ Die Erde ist müde der Lüge! Und gerade so eine Lüge ist das Deutsche Reich. Ein großer Wasserkopf, ein Bluff, ein Popanz, mit dem man heute nur noch die kleinen Kinder schrecken kann. Mit was wollen die sich rühmen? Ihre Soldaten sind alle Sozialdemokraten, ihre Offiziere Hauptleute von Köpenick und ihre Staatsmänner verknöcherte Talmibismarcke. Und sind es nicht ihre eigenen Reichstagsabgeordneten, die es täglich in die Welt hinausschreien, daß das Volk unter dem Militarismus und der Säbelherrschaft schmachtet, und daß die Polen, die Dänen, die Welfen, die Elsässer die Zeit nicht erwarten können, wo sie mit einer lustigen Revolution die Pickelhauben zum Lande hinauswerfen können? – Nein, mein Lieber, ich möchte nicht in des Kaisers Schuhen stecken! Es ist schon alles fertig fürs große Schlachtfest. Ehe ein paar Jahre vergehen, werden die Franzosen, die Russen, die Engländer und die Italiener, und dazu noch ein halbes Dutzend anderer Völker wie eine Wetterwolke über ihn herfallen, und dann – dann –«

Damals glaubte ich ihm nicht; aber heute –

* * *

Unmerklich waren zwei Monate seit unserer Ankunft auf der Zuckerplantage vergangen, und wären wir gute Geschäftsleute gewesen, so hätten wir inzwischen wohl schon ein kleines Vermögen angesammelt. Aber es ist eben nicht jeder ein guter Geschäftsmann, geschweige denn ein organisatorisches Genie. Ein solches aber gehörte zur sachgemäßen Ausführung dieses Holzhack- und Sägevertrags. Alle Augenblicke gab es Betriebsstörungen. Bald türmten sich die Baumstämme zu Haufen vor der Maschine, so daß man kaum mehr die Ellenbogen frei hatte zur Arbeit, bald mußte das gefräßige Ungetüm nur kümmerlich von der Hand in den Mund leben. Dann war wieder einmal ein Treibriemen geplatzt oder ein Lager heiß gelaufen. Oder es gab kein Schmieröl. Oder die Maschine verweigerte den Dienst aus allgemeinen Gründen. Dazu kam, daß das Holz, das wir zu verarbeiten hatten, lauter Quebrachoholz war. Schon der Name dieser Holzart ist vielversprechend. Er ist zusammengesetzt aus den Worten quiebra = brich und hacho = Axt. Also Axtbrecher. Und dieser Name ist nicht gestohlen. Das Holz ist hart wie Eisen, und wenn die Dampfsäge ihren Weg durch solchen Quebrachostamm bahnt, so hört es sich an, als ob sie daran wäre, einen Granitblock zu durchbeißen. Das verursachte eine starke Abnutzung des Materials und nicht zuletzt einen fortwährenden Zeitverlust.

Aber schlimmer als die Härte des Holzes und die Launen der Maschine war die geradezu geniale Zuchtlosigkeit der Arbeiter, die wir beschäftigen mußten. Es waren Wilde. Richtige wilde Indianer, von denen man sonst nur in den Büchern lesen kann. Irgendwo im innersten Gran Chaco waren sie zu Hause und verdingten sich während der Arbeitsmonate auf den Zuckerplantagen. Viele trugen nur einen rauhen, hausgewebten Poncho zur Bedeckung ihrer Blöße, und nicht wenige unter ihnen waren überhaupt nur in ein strahlendes Lächeln gekleidet. Der Alkohol war die große Leidenschaft dieser Naturkinder, und die Verwaltung der Fabrik war rührend darum bemüht, den Wünschen ihrer Arbeiter in dieser Richtung entgegen zu kommen. In einem der Fabrikgebäude befand sich eine Destillation, in der sie aus Melasse einen hochprozentigen Alkohol herstellten, der dann mit Quebrachoextrakt gefärbt und in diesem Zustand als Rotwein verzapft wurde. So gewiß war es, daß durch dieses Mittel die gesamten Löhne wieder in die Kasse der Kompagnie zurückfließen würden, daß man diese gleich in Fabrikmarken, den sogenannten »Fichas«, auszahlte. Für diese »Fichas« konnte man in der »Pulperia«, dem Kaufladen der Fabrik, nach Herzenslust einkaufen: Kleider, Schuhe, Eßwaren, vor allem aber »Rotwein«. Jeden Sonntag drängten sich die Indianer vor dem Laden, um die sauer verdienten Fichas in das Giftgemisch umzusetzen. Zu Dutzenden lagen sie auf dem Hof umher in sinnlos betäubtem Zustand; auf den Geleisen der Feldbahn; zwischen den Rädern der gefährlichsten Maschinen. Kein Mensch beachtete sie. Kein Mensch kümmerte sich darum, was aus ihnen würde.

Vor noch nicht langer Zeit habe ich zufällig in die finanzielle Beilage der »Times« gesehen und dabei in der Rubrik »Company results« auch den Abschluß von »Leach Argentine Estates«, Zuckerplantagen der Provinz Tucuman, entdeckt. Es gab eine fette Dividende, und dazu Abschreibungen, Reserven, Genußscheine, Vorzugsaktien und all die anderen schönen Dinge, die die Freude der Geschäftsteilhaber sind. Der Sprecher der Aktionäre bedankte sich in einer Ansprache für die tüchtige Geschäftsführung, und ich – neidisch und mißgünstig, wie ich nun einmal bin – ich mußte über dem Lesen an die vielen einbeinigen und einarmigen Indianer denken und an die anderen, die im Alkoholrausch unter den Rädern der Feldbahn zermalmt wurden.

Daß es nach solchen Orgien mit der Arbeitslust der Indianer zuweilen böse aussah, versteht sich von selbst. Montags war meist nur die Hälfte der Leute zur Stelle, und bei manchen wurde es Mittwoch, ehe sie ihren Rausch ausgeschlafen hatten. Aber auch in nüchternem Zustand leisteten sie das Menschenmögliche an Störrigkeit und an Müdigkeit. Sobald man den Rücken wendete, ließen sie die Arbeit liegen und widmeten sich dem beschaulichen Geschäft des Zuckerrohrkauens. Sie betrachteten es als eine Art persönlicher Beleidigung, wenn man ihnen zumutete, zu arbeiten, ohne daß man jede ihrer Bewegungen im Auge hatte. Da die Natur des Unternehmens es aber mit sich brachte, daß man die Leute zu gleicher Zeit auf verschiedenen entlegenen Plätzen beschäftigen mußte, kam ich mir stets vor wie der Herr, der den Jockel nach dem Pudel ausgeschickt hatte.

Das verleidete mir die Freude an der Arbeit. Längst schon war ich überdrüssig dieses mühsamen, eintönigen Lebens. Die Reiselust rumorte wieder in dem unruhigen Kopfe. Meine Gedanken waren schon in Bolivien und Chile und auf dem weiten Ozean. Oftmals, wenn die Dampfmaschine wieder ihre Launen hatte, dachte ich im stillen bei mir: »Ach, wenn sie doch in die Luft flöge! Dann hättest du wenigstens vor dir selber eine Entschuldigung für deine abenteuerlichen Reisepläne.« Und eines Tages ging der fromme Wunsch auf eine glorreiche Weise in Erfüllung. Irgendeine Schraube hatte sich gelöst oder ein Lager war zerbrochen und hatte dem gebrechlichen Ungeheuer den Rest gegeben. Im Nu war die ganze Umgebung in eine Wolke von zischendem Dampf gehüllt. Der Schuppen zitterte wie in einem Erdbeben. Der Treibriemen platzte mit kanonenschußartigem Getöse. Das große, gußeiserne Schwungrad, das sich gerade über meinem Kopf befand, brach entzwei. Kleine Eisenstücke durchschlugen das dünne Wellblechdach, als ob sie Schrapnellkugeln wären. Eines dieser Wurfgeschosse traf mich so unglücklich am Bein, daß ich vierzehn Tage lang das Bett hüten mußte. Das war natürlich das Ende meiner kurzlebigen Unternehmerlaufbahn.

Sobald ich wieder einigermaßen hergestellt war, ließ ich mir einen Scheck über mein bißchen Guthaben ausstellen und machte mich auf die Weiterreise. Der Däne warf an dem Tage ebenfalls die Arbeit hin, und wir beide wanderten seelenvergnügt in den hellen Tag hinein.

Es war noch früh am Tage, und die weißen Nebel lagen noch auf den Wasserrinnen. An den wogenden Halmen der Zuckerrohrfelder hingen unzählige Tautropfen, und in jedem Tautropfen spiegelte sich die Sonne. Mir war, als ob die Sonne noch nie so schön und der Himmel noch nie so blau gewesen wären wie heute. Die staubige Straße führte vorbei an sauberen Häusern und weißen Lattenzäunen, hinter denen bissige Hunde knurrten. Dann kamen Gärten und Höfe mit knorrigen, breitästigen Feigenbäumen, mit hellgrünen Bananenstauden und wohlgepflegten Orangenbüschen, aus deren dunklem Laub die goldgelben Früchte wie von den Weihnachtsbäumen herunterschauten. Dann kam ein Hain von staubigen, langweiligen Eukalyptusbäumen. Etwas abseits vom Wege lärmte eine Sägemühle in den Tag hinein. Dann standen auf einmal in der Ferne gegen den dunkelblauen Tropenhimmel die Häuser und Türme von Tucuman.

 


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