Kurt Faber
Mit dem Rucksack nach Indien
Kurt Faber

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Nächte in Erserum

Im Han – »Salem Aleikum« – Eine Überraschung – Nächtliche Reise – Mit der Karawane – Etwas über die Kamele – Blüten und Ruinen – Ali Bey, der Gastfreund – »Yol da – –!« – Romantische Postkutschenfahrt – Ganz wie bei Eichendorff – Eine sibirische Gegend – Beiburt, die Ruinenstadt – Ein Kuß zu Unzeiten – Das Bairamfest – Im Kaffeehaus – Über den Kop Dagh – Erserum von ferne – Kontrolle im Festungstor – Ruinen überall – Von Katzen, Muezzins und Minaretten – Auch eine Eisenbahn – Abschied von Erserum – Auf der Straße nach Kars.

Allerlei Gedanken steigen in einem auf, wenn man in der kalten Sonne dieser verspäteten Frühlingstage über kaukasische Landstraßen wandert. So, denkt man, muß es einmal auch bei uns gewesen sein, damals, als das dampfschnaubende Tier noch nicht die Romantik der Landstraße verdorrte, als schwere Wagen zur Messe fuhren, als die Straßen noch lebendig waren von fahrenden Schülern und wandernden Gesellen, und hohe Herren hoch zu Roß auf Reisen gingen. Das alles findet man heute noch wie einst in diesem eisenbahnlosen Lande. Freilich alles à la Turka. Das ist hier ein buntes Leben von Menschen, die von weither kommen und weithin gehen. Orientalische Menschen, die ausschauen, als ob sie eben erst entlaufen wären aus einem Märchen von Tausendundeiner Nacht. Man merkt es hier an allen Enden, daß der Himmel hoch und der Ghazi in Angora weit ist in diesem hintersten Winkel der Türkei. Die Wellen der von dorther geleiteten und dekretierten Reformbewegung nach westeuropäischem Muster verebben hier wie die letzten Ringe eines Steinwurfs, und wo sie sich doch ihre Geltung zu verschaffen wußten, da sind sie der Gegenstand des dumpfen passiven Widerstandes der breiten Massen des Volkes; die europäische Kopfbedeckung hat man freilich gewaltsam durchzusetzen gewußt. Dafür tragen sie aber die Mützen umgekehrt und verhüllen sie durch ein schwarzes Tuch, dessen Enden wie Trauerschleier weit über den Rücken herunterhängen. Am äußeren Auftreten der Frauen vollends verspürt man vom neuen Geiste nicht einen Hauch. Selbst die Bettlerinnen an den Straßen verhüllen schamvoll ihre Schönheit vor den Blicken derer, von denen sie Almosen erbitten. Es ist wohl auch besser so. Aber welche Welt trennt sie von ihren Schwestern, die heute – europäischer als die Europäer – mit kurzen Röcken und schicken Bubiköpfen, stolz und dauergewellt, auf hohen Stöckelschuhen durch die Straßen Stambuls schreiten.

Drei Tage lang war ich nun schon weiter gewandert auf der großen Straße, die immer höher ins Gebirge und immer weiter in die Wildnis hinein führt. Einige Dutzend türkische Vokabeln hatte ich mir inzwischen schon angeeignet, aber das langte nicht hin zu einer Unterhaltung mit neugierigen Landbewohnern, die einem da und dort begegneten und ein freundliches Gespräch anknüpfen wollten. Eines Abends kam ich an ein aus rohen Steinen und Kamelsmist zusammengebautes Rasthaus, hinter dem ein vielfach gewundener Weg über Schneefelder steil bergauf führte. Der Rauch des Herdfeuers stieg gerade in die Höhe zu dem klaren Himmel, den die Abenddämmerung in allen Farben malte. Die Luft war erfüllt von dem Schreien und Brüllen der aufbrechenden Kamele. Eine nach der anderen schwankten die hohen, schwerbeladenen Gestalten durch die enge Gasse, die zwischen den Hütten führte. Als ich vor dem Han angelangt war, hockten noch einige Treiber um ein spärliches Feuer und tranken Kaffee.

»Salem Aleikum«, sagte ich, denn so viel Türkisch hatte ich inzwischen schon gelernt.

»Aleikum Salaam«, antworteten sie wie aus einem Munde. Dann redeten sie weiter auf mich ein in einer Sprache, die mir ebenso spanisch vorkam, wie sie türkisch war. Neugierig befühlten sie meinen Rucksack, schüttelten den Kopf, betrachteten ihn wieder, und auf einmal packte ihn einer und lud ihn auf einen Esel, der sich auch gleich mit der Karawane davon trollte. Das war einigermaßen unerwartet. Da aber die anderen im gleichen Moment aufbrachen und mich zum Mitgehen einluden, vergaß ich alle Müdigkeit des zurückgelegten Weges und marschierte mit, als ob das so sein müßte. Drei Tage lang war ich jedem menschlichen Wesen aus dem Wege gegangen. Nun aber war das Herdentier im Menschen auch in mir wieder lebendig geworden, und ich war froh, daß ich den Anschluß gefunden hatte.

Schon begann es zu dämmern. Immer länger wurden die Schatten der schwarzen Felsen, mit denen der Abhang förmlich übersät war. Bald war es dunkel Nacht, eine klare, sternfunkelnde Bergnacht.

Nie habe ich einen einigermaßen triftigen Grund dafür gefunden, warum diese Karawanen bei Nacht ihre Straße ziehen, wo doch die Tage so lang sind. In den heißen Wüstengegenden Persiens und Arabiens ist es die Flucht vor der unerträglichen Tageshitze, die gebieterisch dazu treibt, und sicherlich ist es nur das im Orient mehr noch als anderswo geltende Gesetz der Trägheit, das Mensch und Tiere dazu verleitet, diese Gepflogenheit auch im Schnee des Kaukasus fortzusetzen. Ganz gewiß ist es aber auch im Unterbewußtsein ein romantischer Zug, der die Wüstensöhne zum Festhalten an diesem Brauche veranlaßt.

Denn nichts gibt es, das romantischer sein könnte, als das Ziehen einer großen Karawane durch die Stille einer morgenländischen Nacht. In endloser Linie schwankt die Reihe der schwerbepackten Tiere in gleichmäßigem, wiegendem Gange, der sich niemals beeilt und niemals still steht. So viel erzählt man vom dummen Kamel, und das hat gewiß seine Berechtigung. Wer es aber einmal auf orientalischen Landstraßen in Reih und Glied marschieren sah, in gemessenem Schritt, geziert mit bunten Bändern über den langen Ohren des hoch erhobenen Kopfes, der hat zu seinem Staunen das schöne Kamel erlebt. Es hört sich seltsam an, aber es ist schon so: was die Kirchtürme bei uns sind, das sind die Kamelkarawanen für den Orient: die Verkünder des Göttlichen in der Landschaft. Das Leitkamel trägt stets eine mächtige Glocke, deren dumpfer Ton weithin zu hören ist. An anderen Kamelhälsen hängen Glocken von anderen Abtönungen, die harmonisch zusammenläuten, wie die Kirchenglocken bei uns zu Hause. Unwirklich, beinahe überirdisch klingt so etwas in solcher Gegend, in Nacht und Wüste. Unwirklich die Gestalten, die das Nachtdunkel noch phantastischer verzerrt. Da und dort trippelt ein Esel, da und dort geht ein Treiber. Ein dunkles Gesicht, ein Turban leuchten im Schein der Laterne. Ein Kamel brüllt mit heiserer Stimme. Sogleich nehmen die anderen den Ruf auf. Ein unmögliches Grunzen und Schreien geht durch die lange Reihe. Der Treiber flucht. Er zitiert Allah und den Bart des Propheten. »Willst du wohl parieren, Sohn eines Christenhundes?« Er sticht das Geschöpf mit der Stange. Wütend schaut es sich um ob der angetanen Beleidigung. Noch einmal geht ein Grunzen durch die Reihe. Dann ist wieder alles ruhig. Man hört nur die gleichmäßigen Schritte der Kamele, das Läuten der Glocken und das wilde Geheul eines fernen Schakals. Man sieht nur die Nacht und die Sterne.

Uralte Poesie der Karawane! Ist dies nicht die Straße, über die schon Xenophon zog mit den Zehntausend? Marschierte nicht schon Alexander über diese Berge? Sind nicht schon die Weisen aus dem Morgenlande ihre Straße gezogen mit gerade solchen Kamelen und gerade solchen Treibern, die schattenhaft durch Nacht und Dunkel zogen und tagsüber am kümmerlichen Feuer genau solchen Kaffee tranken und genau solche Gespräche führten? Und haben die Kamele damals nicht gerade so gebrüllt und die Treiber gerade so geflucht und miteinander gezankt um dieselben Nichtigkeiten, wie sie das heute noch tun?

Wahrlich, wie der Berg nicht zu Mohammed gegangen, so ist die Zeit hier auch still gestanden und wird immer stille stehen. »Wie im Unendlichen das Selbe sich wiederholend ewig fließt.« Und es bleibt doch nicht das Gleiche. –

Es war eine lange Nacht, diese erste bei der Karawane. Schon nach einer halben Marschstunde marschierten wir durch eine Schneelandschaft, in der unzählige Kamelhufe einen vielgewundenen Pfad bis zur Paßhöhe gebahnt hatten. An steilen Hängen ging es vorbei, an Abgründen, die schwarz wie Höllenschlünde aus der Tiefe schauten. Der Wind pfiff eisig um jede Wegbiegung, – das und der ungewohnte Gestank der Kamele, der eintönige Sing-Sang der Treiber und die Anstrengungen des langen Tagemarsches verursachten eine derartige Übermüdung, daß mir die Augen zufielen und ich nur taumelnd Schritt zu halten vermochte mit der Karawane, die unerbittlich weiter zog. Lange vor Tagesanbruch erreichten wir das Ziel der Reise. Es war eine sibirische Gegend, über der ein kalter Wind melancholisch summte. Mit Schnelligkeit und einer Präzision, die von langer Übung zeugte, wurde das Lager hergerichtet. Die von der Last befreiten Kamele knieten im weiten Kreise um den Futterhaufen, dem sie knurrend und gurgelnd ihre Reverenz erwiesen. Treiber und Führer versammelten sich in einer steinernen Schutzhütte, wo sie sich sogleich an ihre Kochkünste machten, denn wie gesagt: man war im Ramasan, und da durfte nach Sonnenaufgang kein Bissen mehr einen gläubigen Mund verunreinigen. Hier in der Hütte war man wenigstens geschützt vor dem eisigen Winde, aber das war auch das einzige Erfreuliche an diesem Aufenthaltsort. Der Rauch des brennenden Kamelmistes biß in die Augen. Es duftete nach allen Gerüchen des Orients, nur nicht nach denen, von denen man in den Märchen lesen kann. Ein kleiner Junge brachte mir eine Mahlzeit aus Milch, Joghurt und Brotfladen und zuletzt noch ein Glas Tee, das ich nur halb leerte, denn ehe ich mich's versah, war ich fest eingeschlafen auf dem harten Boden. – –

Als ich wieder aufwachte, war es längst schon heller Tag. Es war ganz windstill, und ein strahlend blauer Himmel stand über der weißen Landschaft. Mit einem Satz war ich aus der Hütte der üblen Gerüche und stand draußen im Freien. Wir hatten die höchste Paßhöhe erreicht und konnten nun von oben herab wie auf einer Landkarte den ganzen zurückgelegten Weg übersehen. Täler und Schluchten und Straßen und Rasthäuser lagen gebadet in der hellen Sonne. Wie kleine schwarze Schlangen sah man die heraufkommenden Karawanen, und ganz in der Ferne unter dem Horizonte lag wie ein dicker dunkler Tintenstrich das Schwarze Meer. Nach Osten, in der Wegrichtung aber, sah man nur ein Chaos von Bergen und Schluchten, das einen daran erinnerte, daß man auch auf diesem hohen Gipfel erst am Anfang der Reise stand und Persien noch nirgendwo in Sicht war. –

Vor Anbruch der Nacht reisten wir weiter, mit nüchternem Magen natürlich, wie sich das für einen Gläubigen geziemt. Nur ein Glas heißen Tees durften wir uns leisten, und der war wie ein Gottesgeschenk in dem kalten Winde, der mit sinkender Sonne wieder wie ein Ungeheuer aus den Bergschluchten kam. Die Treiber zogen ihre persischen Lammfellmützen auf und putzten ihre Messer an den langen blauen Röcken ab. Dann machten sie sich daran, die Kamele zu beladen, und das war kein kleines Geschäft. Denn das Kamel liebt den Protest. So oft es auch beladen wird in seinem Leben, so oft begrüßt es diesen Augenblick mit denselben Anzeichen der Entrüstung, wie am allerersten Tage. Knurrend unterbricht es das angenehme Geschäft des Wiederkauens. Langsam wendet es den langen Hals und besieht sich seinen Peiniger mit großen, schwarzen Augen, aus denen Tränen kollern. Dieser schwingt den Stock und verflucht seine Ahnen bis ins letzte Glied. Darauf wütendes Gebrüll des Kamels.

Seltsame, unergründliche Stimme des Wüstenschiffes! Ihm steht die ganze Tonleiter zur Verfügung, zum Ausdruck seiner Gefühle. Es kann knurren, brummen, es kann stöhnen wie ein Mensch, plärren wie ein Schaf und schreien wie ein wildgewordenes Pferd. Kniend empfängt es seine Ladung und schreit dabei schon, wenn man ihm nur einen Strick überwirft, mit dem man die Last befestigen will. Mit steinerweichendem Stöhnen quittiert es den Empfang der Last. Stolpernd steht es auf, und das ist immer der schwerste Moment in seinem Leben. Ein Kamel soll einmal gesagt haben, es könne die Erde tragen, wenn es nicht aufzustehen brauchte. Ist es aber erst einmal so weit, so schreitet es mit langen, zögernden Schritten wesenlos und schattenhaft, protestlos dahin, als ob überhaupt keine Last auf seinem Rücken läge.

Oftmals habe ich diesen Vorgang mit angesehen und jedesmal ist mir dabei ein Gleichnis aufgestiegen, dessen ich mich nicht erwehren konnte: sind wir nicht auch wie diese Kamele, wir Deutsche? Zuerst, als man anfing uns Lasten aufzubürden, schrien wir aus Leibeskräften. Nun aber, da wir als Daweskamel unter dem Gewicht untragbarer Reparationen dahinstolpern, sind viele schon halb stolz darauf geworden und Monat für Monat lesen wir beinahe schon mit Freude die Berichte des Fronvogts in der Zeitung. Doch das ist Politik.

Die Kamele sind im Gang. Der Schnee knirscht unter den Hufen. Die Treiber gehen nebenher mit langen Schritten, die sie ihren Schützlingen abgesehn. Tagaus, tagein tun sie das ihr Leben lang, dreißig Kilometer pro Tag in Hitze und Kälte, in Nacht und Sturm. Es ist kein leichter Beruf. »Nach fünf Jahren«, sagt ein türkisches Sprichwort, »ist entweder das Kamel oder der Kameltreiber tot.«

Das Reisen im armenischen Kaukasus hat immer seine Schwierigkeiten. Beim Aufstieg auf den Berg waren es die tiefen Schneefelder, die uns den Weg sauer machten. Hier, beim Abstieg an der sonnigen Südseite brauchte man nur vereinzelte Schneefelder zu passieren. Dafür war aber der ganze Abhang lebendig von unzähligen Bächen, die in lustigen Wasserfällen von allen Seiten herunterstürzten und die Straße zu einer Illusion machten. Es gehörte die ganze Erfahrung eines geübten Kamels dazu, um sich und seine Last im Gleichgewicht zu halten in dem abschüssigen Gelände, das bei jedem Schritt unter den Füßen hinwegrutschte. Dennoch wurde eines der Tiere von seinem Schicksal ereilt und purzelte mitsamt seiner Last, sich vielfach überschlagend, den Hang hinunter in ein enges Tal, wo es in einem kleinen Bache liegen blieb und sich nicht mehr rührte. Wir eilten hinunter und erwarteten nur noch eine Leiche zu sehen. Drunten standen sie alle in einem Kreis und machten ihre Bemerkungen, bis Scheich Mohammed, der Karawanenführer, kam und feststellte, daß das Tier noch kerngesund war und abgesehen von einigen Schrammen keinen Schaden gelitten hatte. Soweit war alles schön und gut. Aber wie es nun wieder aufstellen? Das war die große Frage, die sich alle vorlegten, während sie gewichtig ihre Bärte strichen. Hadsch Ali war dafür, daß man es mit einem Strick am Kopfe versuchen solle, während Mustafa die Sache beim Schwanze anpacken wollte. Sie versuchten es auf beide Arten, aber es war alles umsonst. Stunden vergingen. Längst war die Nacht angebrochen und noch immer lag das blöde Tier da und grunzte und stöhnte. Es lag vollständig frei. Es hätte ruhig aufstehen können, aber es wollte oder getraute sich nicht. Die Treiber prügelten es mit viel Temperament. Sie schimpften und verfluchten seinen Stammbaum. Sie verwünschten es, daß der Prophet seinen Bart verbrenne, sie nannten es den Sohn eines Christenhundes. Aber es rührte sich nicht. Schon hatte man beschlossen hier zu übernachten und den Tag abzuwarten, als es auf einmal aufsprang und sich schüttelte. Willig kniete es nieder und ließ sich von neuem die Last aufladen. Dann marschierte es davon, als ob nichts passiert wäre. –

Weiter stampften wir über den schlammigen Boden und durch den nassen Schnee. Von allen Seiten hörte man durch die Nacht das Raunen des Windes und das Gurgeln und Rauschen der Wildbäche. Wilder und wilder wurde die Landschaft, ein Irrgarten von Felsen und Schluchten. Mit Tagesanbruch kamen wir in eine Gegend, wo der Frühling schon auf die Berge gezogen war und die Hänge gelb waren von Primeln und blau von Veilchen. Tief im Talgrund sah man blühende Kirsch- und Aprikosenbäume, die weiß wie Schnee und rot wie die Sonne zwischen den schwarzen Felsen leuchteten. Voll Erwartung stieg ich hinab, aber was man zu sehen bekam, das waren Ruinen.

Denn auch diese weltverlassenen Erdenwinkel hat der nimmersatte Krieg nicht verschont. Mehr als das: es gibt auf dieser Erde kein Land, in dem er so furchtbar gehaust hat, wie hier, wo wahrlich die Prophezeiung sich erfüllt hat, daß er keinen Stein mehr auf dem anderen lasse, daß er dem Menschen nichts mehr lasse als die Augen, um sein Unglück zu beweinen.

Furchtbare Tragik des Landes Armenien! Wir alle haben es ja erfahren müssen, wie der Mensch noch immer des Menschen größter Feind gewesen ist, aber das alles war Kinderspiel im Vergleich zu dem, was in diesen Bergen vor sich gegangen ist.

Es ist ein Widerspruch in sich, wenn man noch von Armenien spricht. Heute ist es nur noch ein geographischer Begriff. Im ganzen Lande existiert heute kein einziger Vertreter dieser Rasse mehr. Die Glücklicheren unter ihnen sind geflohen nach Syrien, nach dem Irak, nach Georgien. Die Mehrzahl aber liegt heute unter dem Boden. Die Geschichte kennt keinen Fall einer so vollständigen Ausrottung eines Volkes.

Dennoch ist es verkehrt, wenn man verallgemeinernd von »Armeniergreueln« im Sinne einseitiger türkischer Verfolgung spricht. In diesem Lande ist kein Volksstamm dem anderen etwas schuldig geblieben, und der Armenier selbst hat durch seine besondere Eigenart nicht wenig beigetragen zu dem Schicksal, das ihn ereilte. Im Orient geht eine Fabel um, die in etwas an die von unserem Distelfink erinnert: als der liebe Gott die Menschen erschaffen hatte und bei ihrem Ansehen feststellte, daß sie ihm leidlich gelungen waren, trat der Teufel an ihn heran mit der Bitte, ob er nun auch etwas schaffen dürfe. »Gewiß«, sagte der liebe Gott. Da nahm der Teufel eine Retorte und mischte darin zwei Griechen, zwei Juden und zwei Levantiner. Das Resultat war ein Armenier. Auch wenn man ihre Charaktereigenschaften nicht so schwarz malt, wie diese türkische Legende, bleibt doch noch genug übrig, um die Feindschaft zu verstehen. Im Kriege nahmen die Armenier offen Partei für die Feinde des türkischen Reiches und ermöglichten durch ihre Haltung erst die Niederlage, die das osmanische Heer gleich zu Anfang des Krieges in jenen Gegenden erlitt. Nach dem Einzug der Russen kühlten sie ihren Mut an ihren Erbfeinden, indem sie türkische Höfe und Moscheen niederbrannten und als Denunzianten ihre Nachbarn dem Feind ans Messer lieferten. Bei ihrer Rückkehr drehten die Türken den Spieß um und verfuhren nach gleichem Muster mit den Armeniern. Das allezeit kriegs- und beutelustige Volk der Kurden mischte sich in die Händel, und es begann ein wildes Morden und Totschlagen, wie es die Geschichte noch nicht gesehen. Kirchen und Moscheen gingen gleichmäßig in Flammen aut. Selbst vor den Gräbern machte der Haß nicht halt. Was übrig blieb, das war eine Trümmerstätte, die das Land im Urzustand zurückließ, wie es die Natur geschaffen. Die Natur selbst, mitleidiger als die Menschen, beginnt die Spuren der Zerstörung zu verwischen. Verfallene Mauern verschwinden unter einem Teppich von Gras und Blumen, und blühende Pfirsichbäume wachsen aus zerstörten Kirchenportalen. Langsam werden von der Regierung die gesprengten Brücken wiederhergestellt, neue Gebäude erstehen an Stellen, die einmal Städte gewesen. Aber es geht alles sehr langsam. Denn woher das Kapital nehmen in diesem durch elf Kriegsjahre verarmten Lande? Und vor allem: woher die Menschen? Drei Millionen Griechen hat man ausgewiesen aus Anatolien, eine Million Armenier ist nicht mehr, die türkische Bevölkerung selbst ist dezimiert. Platz ist genug und übergenug im Lande, aber sonst fehlt es an allem. So lebt man dahin mit wenig Geld und großen Hoffnungen. Unfaßbar groß ist der Geldwert in jener Gegend. – Was ist eine türkische Lira in Konstantinopel? Ein Nichts, das man vertut in einer unbedachten Minute! Aber hier! Ein Ei kostet knapp drei Pfennig nach deutschem Geld, ein Pfund Butter achtzig Pfennig. Wer eine Fünfpfundnote besitzt, ist ein reicher Mann. Aber es ist eine Billigkeit, bei der die Armut Gevatter gestanden hat.

Nach einigen Tagen durchzogen wir ein schönes breites Tal, das in seiner ganzen Erscheinung das genaue Gegenteil war von den wilden Landschaften, aus denen wir eben kamen. Alles war hier freundlich und anmutig. Der Fluß, der bisher als schäumender Wildbach unser Wegbegleiter war, floß träge dahin zwischen grünen Matten, auf denen Kühe weideten. An den Abhängen, die ebenfalls vom Grün des Frühlings bedeckt waren, kletterten Schaf- und Ziegenherden unter Aufsicht kleiner Hirtenjungen, die ebenso malerisch wie zerlumpt aussahen. Am Flußufer saßen wie bunte Farbenklexe die Weiber, die Wäsche wuschen. Im ganzen Tal aber, so weit man blickte, war die Landschaft weiß vom Blütenschnee der Apfelbäume. Die Straße wurde belebter, und bald tauchte aus dem Talgrunde eine Stadt auf, oder doch das, was man in jenen Gegenden darunter versteht. In der Ferne leuchtete die Kuppel einer Moschee. Schlank wie ein Finger ragte ein Minarett in die Morgenluft. Viel mehr bekam man auch nicht zu sehen, als man mitten in der Stadt stand. Denn sie war natürlich abgebrannt. Nur ein paar verlotterte Buden an einer schmutzigen Straße zeugten von dem, was einmal die Bezirkshauptstadt Gümisch-Hana gewesen war. Etwas abseits, in einem neu entstehenden Stadtteil, standen bereits wieder einige stattliche Villen für die Herren Offiziere und Beamten. Eine neugepflanzte Allee führte zu einem recht stattlichen Hotel, hinter dem ein rührender Versuch zu einem kleinen Walde stand, in dem jedes Bäumchen mit einem Stacheldraht umgeben war, als Schutz gegen marodierende Ziegen.

Hier im Hotel ließ ich mich nieder und war alsbald der Gegenstand allgemeinster Beachtung. Denn Fremde aus Frankistan sind selten in den armenischen Bergen. Besonders Ali Bey, der Besitzer des Hotels und des halben Landes in der Umgegend, war die Liebenswürdigkeit selbst. Kostenlos bewirtete er mich mit dem Besten, was er im Hause hatte und wurde dabei nicht müde, mich über Alamania auszufragen, über den Kaiser und Hindenburg und darüber, ob es demnächst bald wieder losgehen würde gegen die verfluchten Engländer. Die Kunde von dem zugereisten Franken hatte sich schnell verbreitet. Und nach und nach hatten sich eine ganze Anzahl Offiziere der Garnison zur Begrüßung eingefunden, denn in Gümisch-Hana ist man dankbar um jedes bißchen Abwechslung. Da meine türkischen Kenntnisse sehr zu wünschen übrig ließen und die anderen nichts anderes sprachen, wollte die Unterhaltung anfangs nicht recht in Fluß kommen. Das wurde anders, als ein höherer Offizier hereinkam, vor dem alle aufstanden und stramm salutierten. Zu meinem Erstaunen kam er auf mich zu und begrüßte mich in tadellosem Deutsch, mit ein wenig Berliner Anklang. Er war in seiner Jugend, noch zu Abdul Hamids Zeiten, zur Ausbildung zu den Gardedragonern nach Berlin kommandiert worden und fühlte sich seither selbst als halber Spreeathener. – Berlin! Das sei noch eine Stadt! Und Deutschland! – Jetzt sehe es ja schlimm aus dort drüben. Aber er wisse es besser. Die stellen sich bloß tot. Und eines Tages, da seien sie wieder lebendiger als je, und die Deutschen und die Türken – die würden zusammen doch ausreichen, um aus der ganzen Welt ein Armenien zu machen. Das war die allgemeine Ansicht. Zwischendurch tranken wir unendlich viele Tassen Kaffee, der Offizier erzählte Schnurren aus seiner Berliner Garnisonszeit und schließlich sang er begeistert »Deutschland über alles«, wobei alle anderen mit einstimmten so gut sie konnten.

Inzwischen war es längst dunkel Nacht geworden. Ali Bey, dem vor Begeisterung die Wasserpfeife ausgegangen war, interessierte sich sehr für meine ferneren Reisewege. Das Marschieren mit dem Rucksack erschien ihm als die sonderbarste aller Marotten eines übergeschnappten Franken. Warum ich das wohl täte?

»Zum Vergnügen«, sagte ich.

Da schüttelte er mißbilligend den Kopf.

»Efendi«, sagte er mit vorwurfsvoller Miene, »sagen Sie mir bitte etwas, das ich glauben kann. Zum Vergnügen geht man nach Stambul, wo es guten Kaffee und Kinotheater gibt. Aber nach Gümisch-Hana zu Fuß über die Berge, da zerreißt man seine Schuhe und wird mit der Zeit müde, und das ist das Schlimmste, was einem Gläubigen passieren kann. Sie werden sterben, wenn Sie so weiter machen, und dazu möchte ich nicht auch noch helfen. Heute Abend fährt ein Postwagen nach Beiburt. Sie werden mit ihm fahren. Es geht schneller und kostet Sie nichts.«

Das war in der Tat frohe Botschaft. Schon während des ganzen Tages hatte ich die weißen Schneefelder des Wawug Dagh in der Wegrichtung vor mir liegen sehen und mir schon im voraus die Schrecken ausgemalt, die mir dort noch bevorstanden, die mühsamen Schritte durch den tiefen Schnee. Und nun sollte das alles sich in eine romantische Postkutschenreise verwandeln!

Die »Postkutsche« entsprach dann freilich nicht ganz den Erwartungen. Es war ein mit vier Pferden bespannter Leiterwagen, auf dem die Säcke wild durcheinander lagen. Ich setzte mich auf einen der Säcke.

»Yol da!« rief der Treiber und ließ die Peitsche knallen.

Fort ging die Reise.– –

In mancher Hinsicht war es ganz wie bei Eichendorff. Die Nacht war mild. Ab und zu kam der Mond aus den Wolken und warf ein weißes Licht auf das Meer von Blüten, deren Duft schwer und berauschend über der Landschaft lag. Aber die Säcke waren hart und der Wagen hatte keine Federn. Die vier nebeneinander gespannten Pferde eilten in rasendem Galopp und ließen den Wagen in wilden Luftsprüngen über die Straße eilen, die nur aus Löchern bestand.

Jede zweite Stunde kamen wir zu einem Posthause, wo im Handumdrehen die Pferde ausgeschirrt wurden und vier andere Gäule mit neuer Kraft wieder loslegten. Sehr bald hatten wir das Tal mit seinen Blüten hinter uns gelassen und keuchend trabten die Pferde bergauf zum Wawug Dagh. Zusehends wurde es kälter, und ehe noch die Nacht halb vorüber war, hatte der Himmel sich überzogen und es fing sachte an zu schneien. Vor uns hörte man das dumpfe Glockengeläute einer Kamelkarawane. Schon nach wenigen Minuten waren wir mitten unter ihr.

»Yol da . . .!« rief der Postillon.

Da fluchten die Treiber. Die Kamele brüllten und grunzten. Die phantastischen Gestalten der Tiere zogen vorüber wie Nachtgespenster.

»Bum! bum!« läuteten die Glocken. Bei jedem Tier gab es ein Fluchen und Zetern, bis es geruhte, Platz zu machen für die republikanisch türkische Post, deren rote Halbmondfahne dicht neben mir auf dem Wagen flatterte. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis wir den Hexensabbath hinter uns hatten, aber noch lange hörten wir in der Ferne das Läuten der Glocken und sahen von weitem die Umrisse der Tiere, die wie ein Gespensterheer den Berg hinaufmarschierten.

Bei Tagesanbruch machten wir längere Rast in einem größeren Hause, das aber auch nur eine größere Lehmhütte war. Da wir noch immer im Ramasan waren und deshalb nichts essen durften, trank jeder ungefähr zehn Tassen Tee. Dann kam ein neues Gespann, das uns mit frischen Kräften weiter in den grauenden Morgen entführte. Es war eiskalt, wohl fünf bis sechs Grad unter Null. Ein messerscharfer Wind fegte die Flocken über die schneebedeckte Hochebene, die flach war wie ein Tisch. Am liebsten wäre ich geblieben, wo ich war, aber in der weiten Runde gab es hier keine Unterkunftsstätte für einen anspruchsvollen Christenmenschen, und so blieb nichts übrig als wieder aufzusteigen und weiterzufahren in Schnee und Kälte dieser sibirisch-anatolischen Landschaft, bis wir nach einigen Stunden gemartert, gerädert und zu Dreiviertel erfroren in der Stadt Beiburt ankamen.

Das erste, was wir von dieser Stadt zu sehen bekamen, war eine ausgebrannte Kaserne, die einsam in der Ebene stand. Von dort ging es steil bergab in einen von einer verfallenen Burg überhöhten Talkessel, aus dem zwischen Häusern und Ruinen verschiedene Minarette in den grauen Himmel ragten. Die Nähe der Stadt mit ihren Genüssen wirkte beflügelnd auf das Temperament der Treiber und der Pferde. Der flinke Trab, der vorher schon zuviel war für meine geräderten Glieder, artete aus in einen rasenden Galopp. In wilder Karriere ging es durch die engen, winkligen Gassen, gefolgt von einer Meute verwilderter Hunde. Und jetzt erst, bei näherem Hinsehen, bot sich die Enttäuschung, die sich einem heute überall bietet im Lande Armenien. Man glaubt unter Menschen zu kommen und kommt in eine Wildnis. Man glaubt Häuser zu sehen und steht vor Ruinen. So waren es auch nur Ruinen, die hier die Gassen umsäumten, kümmerliche Ruinen von Häusern, die anscheinend vorher auch nicht allzuviel vorgestellt hatten. Zumeist waren sie abgebrannt bis zu den Grundmauern, und was von Bewohnern übrig war, das guckte irgendwo zwischen verkohlten Balken heraus.

Mit einem Ruck hielten wir vor dem Posthause. Wir stiegen aus, und dann geschah etwas, was ich eigentlich nicht erwartet hatte. Ein kleiner Junge kam auf mich zu, drückte mir beide Hände und gab mir einen Kuß. Ehe ich mich noch vom Erstaunen erholt hatte über diese unerwartet herzliche Begrüßung, waren schon drei bis vier andere herbeigekommen und taten desgleichen. Dann erst fiel mir auf, wie hier überall einer des andern Hände drückte, und einer den anderen küßte. Es fiel mir auf, ein wie schöner, sonniger Tag es geworden war nach dem trüben Morgen, und zu allem Überfluß klärten mich auch noch die anderen darüber auf, daß der trübe, traurige Monat Ramasan vorüber war und daß man nun drei Tage lang das große Beiramfest feiere. Bis zum Schluß dieses Festes – denn im Orient hat man immer Zeit – war an eine Weiterreise nach Erserum nicht zu denken, und inzwischen hatte ich reichlich Gelegenheit zur näheren Besichtigung der aufblühenden Stadt Beiburt.

Dabei stellte sich heraus, daß hier doch noch einige Häuser waren, die man nicht ohne weiteres als Ruinen ansprechen konnte. Am Rande eines lustigen Flusses stand sogar ein recht stattliches neues Gebäude, das ursprünglich zur Fabrik bestimmt war, nun aber als Hotel Verwendung fand. Ein landesübliches Hotel natürlich, in dem ich mich einquartierte und billig, aber etwas ländlich in einem richtigen Bett logierte. So etwas war mir schon lange nicht mehr vorgekommen. Leider waren mit dem Beiram die Nachwirkungen des Ramasan noch nicht überwunden. Hatten sie vorher aus Prinzip gefastet, so fasteten sie nunmehr aus Enthusiasmus, weil jede Arbeit – auch die des Kochens – die Festesfreude stört. Für Geld und gute Worte gab es nichts Gekochtes für meinen Magen, der nach christlicher Speise knurrte. So mußte man wohl oder übel noch einige Tage weiter echt türkisch von Joghurt und Eiern leben. Aber mancher hat sich schon von schlechteren Dingen ernährt.

Alle übrige Zeit verbrachte ich gemäß der Landessitte im Kaffeehaus. Der Türke ist nämlich eine noch unermüdlichere Kaffeehausratte, als selbst der Österreicher. Dort verbringt er den Tag, dort hockt er die halbe Nacht. Kaffee und Tee und einige süße Leckereien, wie jetzt gerade am Beiramfeste, sind seine Lebenselemente. Hier kann er tage- und nächtelang auf den verlausten Polstern sitzen und alles über und über besprechen, von der hohen Politik bis zum letzten Hammelkauf. Schöne Teppiche hängen hier an den Wänden, der Rauch der Zigarette schwebt wohlig im Raume. Mit ein wenig Azetylen haben sie das Ganze aufgepumpt zu wirklich so etwas wie einem strahlenden Lichterglanze, bei dem man zufrieden seine Wasserpfeife rauchen kann. Überall, von Bagdad bis Stambul, findet man die gleichen hohen Bänke mit den Armlehnen, auf denen die Efendis mit unterschlagenen Beinen sitzen und aus winzig kleinen Täßchen ihren Kaffee schlürfen.

In Beiburt freilich, wie überhaupt in ganz Armenien und Nordpersien, macht sich der russische Einfluß insofern bemerkbar, als dort viel mehr Tee als Kaffee getrunken wird und zwar aus kleinen Gläsern, die überall dieselben sind mit den genau gleichen Mustern, in allen Karawansereien, von der indischen Grenze bis nach Anatolien. Irgendwo auf dieser Welt muß es eine ungeheuer große Fabrik geben, die diese alle herstellt, und von deren Aktien möchte ich einige besitzen.

Doch sind dies alles bedauerliche Degenerationserscheinungen. Wer noch streng an den Sitten der Väter hängt, der verachtet den Tee und die Tische und die hornbebrillten Gestalten, die daran sitzen. Er versammelt sich mit gleichgestimmten Seelen in einer besonderen Ecke des Kaffeehauses, die schon von weitem kenntlich ist durch die lange Reihe der ausgezogenen Pantoffeln, die an der Wand stehen. Drinnen sitzen sie alle auf dem Teppich und amüsieren sich auf ihre Weise. Eine schläfrige Unterhaltung ist im Gange. Man hört das Gurgeln der Wasserpfeifen und das laute, genüssige Kaffeeschlürfen der Efendis. Die blauen Flämmchen auf den Pfeifen leuchten wie Irrlichter im Raume. Und über allem liegt der berauschende Duft des würzigen Kaffees. Des süßen Mokkakaffees, für den man dort zulande eine feine Zunge hat, und dessen. Zubereitung sich nicht von heute auf morgen lernt. In der rauchigen Höhle im Hintergrund hocken kleine Jungen, die ewig Kaffee mahlen auf langen kupfernen Röhren, die aussehen wie tibetanische Gebetsmühlen. Fein wie Mehl kommt der Kaffee aus der Röhre und wird alsdann gekocht in einer kleinen Kupferpfanne mit einem sehr langen Stiel. Noch kochend, voller Schaum, wird er in ein winziges Täßchen geschüttet und gleich getrunken.

Allah, aber das ist ein Kaffee, der wert ist, getrunken zu werden!

Inzwischen ist die Pfeife ausgegangen und wird umständlich mit einer Holzkohle wieder angesteckt. Und so vergeht zwischen Schlürfen von Kaffee und Anstecken und Ausgehen der Pfeife der gemächliche Tag des orientalischen Menschen. –

Auch ich tat während des dreitägigen Aufenthalts in Beiburt nichts anderes als das Teeglas leeren, das alsdann ein dienstbarer Junge sofort wieder auffüllte. Denn das ist auch eine der Eigentümlichkeiten türkischer Tee- und Kaffeehäuser, ihre Inhaber scheinen überaus menschenfreundliche Seelen zu sein. Mit Engelsgeduld füllen sie jedes leere Glas, das in ihren Gesichtskreis kommt, und wenn sie je einmal nach dem Gelde fragen, so ist es eine derart lächerliche Summe, daß man Gewissensbisse bekommt, wenn man sie bezahlt. Zu allem Überfluß hatte dieses »Hotel« auch noch eine, wenn auch mit keinem Geländer versehene Veranda, auf der man ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte in der klaren Bergluft, die an Davos erinnerte, während drunten die Kamele brüllten und die Gassen selbst zwischen diesen Ruinen lebendig waren von den Freuden des Beiramfestes. Gegen Norden lag die noch immer tief im Schnee vergrabene Hochebene in blendendem Sonnenschein, und nach der anderen Richtung hoben sich scharf und schwarz die zerfallenen Mauern der Perserburg vom dunkelblauen Himmel ab. Es war ein Bild, das einen versöhnte mit Hitze und Frost und den langen, steinigen Wegen Anatoliens.

Nach fünf oder sechs Tagen war das Fest endlich vorüber und jeder fing an, wieder seinen gewöhnlichen Geschäften nachzugehen, die allerdings, soweit es die Stadtbewohner anbelangt, auch nur in einem fortgesetzten dolce far niente zu bestehen schienen, denn die Kaffeehäuser erfreuten sich eines kaum verminderten Zuspruchs. Auf der Landstraße aber wurde es lebendig. Die Esel trippelten auf dem holperigen Pflaster. Die Kamele schritten würdig durch den frühen Tag. Die Treiber fluchten. Da packte auch ich mein Bündel und marschierte weiter auf der großen Straße, die nach Erserum führt. –

Nicht weit hinter der Stadt begann die Straße wieder anzusteigen zu den schneebedeckten Pässen, die über den Kop Dagh führen. Die Berge waren hier noch höher als die der Küstenkette. Die Nächte mußte man hungernd und frierend vor dem kümmerlichen Feuer aus Kamelmist in Schutzhütten verbringen, wo der eiskalte Wind durch alle Ritzen pfiff, und tagsüber ging es immer bergauf und bergab durch Schneefelder, die mir meine drei Jahre im Eismeer ins Gedächtnis riefen. Von dem Gipfel des Kop Dagh hatte man eine weite Aussicht auf die anatolische Hochebene, die kahl und braun in der hellen Sonne lag. Fröhlich stieg ich hinab. Nach der ewigen Kraxelei im Gebirge wollte mir der weitere Weg in diesem flachen Lande wie ein Kinderspiel erscheinen.

Aber die Enttäuschung war groß, als es endlich soweit war. Nichts Langweiligeres konnte es geben als das stumpfe Dahinstampfen in dem tiefen Sande dieser endlosen Straße. Nichts Graueres als diese Landschaft, nichts Trostloseres als diese Dörfer.

Kann es etwas Traurigeres geben, als so ein türkisches Köy?

Ah, unsere schönen deutschen Dörfer! Das armseligste Bauernkaff bei uns zu Hause ist eine funkelnde Großstadt im Vergleich mit dieser Kümmerlichkeit. Was ist es nur, das sie unseren Augen so tot und verlassen, so trostlos langweilig erscheinen läßt? Ist es die Armut, die in ihren Gassen hockt, ist es der Mangel an Farbe, der das Auge beleidigt, jetzt, wo das strenge Gesetz mit dem roten Fez auch das letzte Bunt von der Straße verbannt hat?

Jedes dieser Dörfer trägt sozusagen eine Tarnkappe. Grau und braun liegt das weite Land in der grellen Sonne, und man muß schon ganz dicht herankommen an die Lehmwände der Häuser, oder wie man diese Gebilde heißen will, ehe man das Dorf sich aus dem Grau der Landschaft absondern sieht. Ganz kahl steht es da. Kein Baum, kein Strauch, kein freundlicher Garten, keine Blume ist weithin zu sehen. Denn der Orientale ist kein Freund von Zierpflanzen und dergleichen Luxus. Schon in der Bibel steht ja das Gleichnis vom Feigenbaum, der abgehauen wird, sobald er keine Früchte mehr trägt. Und der Türke, als ein der Steppe entstammender Mensch, hat hiefür noch weniger Verständnis als andere Orientalen. »Wo der Türke hintritt«, sagt ein deutsches Sprichwort, »da wächst kein Gras mehr«. Wo immer er hinkam auf seinem Siegeszug, da haben Abholzungen seinen Weg bezeichnet, da hat er mit Haß die Bäume verfolgt. Die Bäume und die Blumen. Vor allem aber die Blumen.

Man braucht sich nur einmal so einen echten türkischen Friedhof anzusehen in seiner schaurigen Verwahrlosung. Weithin dehnt er sich aus vor dem Dorfe. Denn man hat ja Platz in dem Lande. Generation um Generation gräbt hier ihre Gräber und pflanzt ihre Steine, und so wächst er wie die Wüste. Wie im Leben, so halten sie auch im Tode nicht viel auf Äußerlichkeiten. Ein roher, ein behauener Findlingstein, ein kahler Erdhaufen genügt einem toten Türken. Er steht eine Weile, bis Wind und Wetter ihn umgestürzt haben. Zerbrochen bleibt er auf der Erde liegen, bis andere kommen und ihre Gräber graben und das Ganze schließlich mehr einem Schindanger gleicht, als einem anständigen Friedhof.

Im Dorfe selbst ist nur die Sonne lebendig, und der Staub in der Straße und das Gekrächze der Raben, die überall auf den Hausdächern hocken. Langsam schleicht ein vorsintflutlicher Ochsenkarren durch die grundlose Straße. Die Ochsen schlafen im Laufen, der Baschy schläft auf dem Wagen, es schläft der Kaufmann, der auf einem wackligen Stuhle vor seiner Türe in die Sonne blinzelt – ah, diese Welt ist viel zu nichtig, als daß es sich lohne, darum die Augen aufzumachen!

Ja, und es schlafen auch die Ziegen und Hammel in der Straße, die Kamele, die vor den Heuhaufen wiederkäuen, der Bettler selbst, der bakschischheischend die Hände hebt. Hinter seinem Schaufenster thront der graubärtige Bäcker mit verkreuzten Beinen, kassiert die fünf Piaster und schläft gleich wieder ein.– So hast du wenigstens Brot, wenn das Ding auch mehr einem alten Handtuch gleicht. Durch die Straße kommt eine Gestalt in einem aus Lumpen notdürftig zusammengeflickten Rock, der nur in diesem Lande nicht polizeiwidrig ist. Ist dieser nun ein reicher Mann, Besitzer von einigen tausend Hammeln, oder ist er nur ein Bettler? Wer kann es wissen? Denn wisse: in diesem Lande sind alle reich. Wer keine Bedürfnisse hat, ist immer reich.

Der Abend kommt. Der Hodscha steigt in Ermangelung des Minaretts auf eines der flachen Hausdächer und singt sein Gebet mit eintöniger Stimme. Die Nacht folgt frostig auf den heißen Tag. Die Ochsen kehren heim mit den seltsam altertümlichen Pflügen. Nun wird es still. Man hört nur noch das Knurren der Hunde, das Grunzen der Kamele, das Plätschern eines Brunnens und das nimmermüde Krächzen der Raben.

So war es heute im anatolischen Dorfe, so war es gestern und vor tausend Jahren, so wird es morgen und immer sein, denn Allah ist groß und allmächtig, und wer wollte sich wohl aufregen über den Wechsel dieser aus ewigen Quellen immer gleichfließenden Zeit?

Die Dorfhunde freilich sind weniger philosophisch veranlagt, und wer da nicht einen ordentlichen Stock auf seine anatolischen Wanderungen mitnimmt, der ist seines Lebens keinen Augenblick sicher. Zumal die Schäferhunde, die groß wie junge Kälber, in ganzen Rudeln auftreten, machen das Reisen auf der Landstraße zu einem gefährlichen Unternehmen. –

Alles, auch eine anatolische Landstraße, hat einmal ein Ende, und so kam denn doch eines Abends Erserum in Sicht, am Fuße einer hohen Bergkette, die im Osten die Ebene begrenzte. Die Sonne war schon am Untergehen, und die Kamelkarawanen hatten in kilometerlangen Zügen eben ihre Reise angetreten. Es war ein Bild, wie man es sich schöner nicht vorstellen kann. Die hohen Kamele, die exotisch aussehenden Treiber mit ihren Lammfellmützen, im Hintergrund die Minarette, die Zinnen einer Burg, die Kuppen vieler Moscheen, die im letzten Sonnenlichte funkelten, das alles sieht aus wie ein Kapitel aus Tausendundeiner Nacht. Unwillkürlich mußte ich an die Verse in Freiligraths Gedicht denken:

»Wär' ich im Bann von Mekkas Toren – –.«

Allein schon das Tor ist eine Enttäuschung. Warum man gerade diese Armseligkeit mit Wällen und Mauern umgeben hat, weiß ich nicht. Jedenfalls ist Erserum eine stark befestigte Stadt. Auf den Wällen exerzierten Soldaten. Auf einem mit Stacheldraht umzäunten Platz standen Hunderte von Kanonen aller Kaliber, bis zu den schwersten, bunt durcheinander, ohne irgendwelchen Schutz gegen die Unbilden der Witterung. Das Tor war eng und sein Boden hoch angefüllt mit einer Schlammschicht, vor der es kein Ausweichen gab. Der Posten hielt es nicht für der Mühe wert, um des zugereisten Franken willen den Schatten seines Schilderhäuschens zu verlassen.

»Nerede. Wohin?« rief er mir zu.

»Nach Erserum«, antwortete ich.

»Pase, Efendim«, sagte er mit einer Handbewegung nach der Stadt und schlief gleich wieder ein.

Mit großen Schritten ging ich weiter durch die engen Gassen, zwischen Häusern, die zumeist in Schutt und Asche lagen. Wohin man schaute, sah man verfallene Mauern, verbrannte Häuser, deren stehengebliebene Schornsteine sich anklagend zum Himmel reckten. Es war gerade Mittag, und die Gassen waren recht belebt. Es war ein lautes Klappern von Pantoffeln auf dem unebenen Pflaster. Überall gingen Ochsenwagen, die einen Höllenlärm verursachten mit ihren großen Radscheiben, die sich nur unwillig in den Achsen drehten. Pferdehändler ließen ihre Tiere in voller Karriere durch die Gassen rennen und schrien den Preis von oben herunter. Und überall sah man Leute, die Kaffee tranken.

Nach den Strapazen der langen Reise hätte ich etwas gegeben um ein ordentliches Bett, aber so sehr ich mir auch die Augen ausschaute nach einem Hotel, es war nichts dergleichen zu entdecken. So nahm ich mit einem der zahlreichen »Hans« vorlieb, wo ich meine Decken ausbreitete und zwei Tage lang wie ein Murmeltier schlief, abgesehen von gelegentlichen Unterbrechungen, in denen der um meine Gesundheit ernstlich besorgte Wirt mir eine Tasse Kaffee reichte.

Erst am dritten Tage machte ich mich daran, die Sehenswürdigkeiten Erserums in Augenschein zu nehmen. –

Je nun, man darf orientalische Städte nicht nach westeuropäischem Muster beurteilen. Ein bißchen Geschrei, ein bißchen Durcheinander, ein bißchen, nein, ein bißchen sehr viel Schlamperei gehört schon zu dieser östlichen Umwelt, die unsere westlich orientierten Sinne verwirrt, verblüfft und oftmals wie in einem Rausch gefangen nimmt. Denn was gäbe es hier noch, wenn keine Pantoffeln mehr auf dem holprigen Pflaster polterten, wenn es keine Ochsenkarren mehr gäbe, die mit singendem Geräusch ihrer ungeschmierten Räder durch die Straßen schleifen, wenn es keine Ochsen mehr gäbe, denen vorsorgliche Hände einen blauen Perlenkranz um die breite Stirn gebunden zum Schutze gegen den bösen Blick? Was wäre hier noch, wenn etwa eine energische Stadtverwaltung die runden Kopfsteine herausreißen und die Straßen asphaltieren ließe, wenn sie die wilden Hunde vergiftete und in ihrem unheiligen Eifer auch noch mit den vielen Katzen aufräumte, die so zutraulich in jedem Bäckerladen und vor jeder Barbierstube schnurren und des Abends beim Mondenschein über die Hausdächer steigen und mit den Muezzins auf den Minaretten um die Wette singen? – Ah, Allah ist klug und weise, daß er das alles so bald nicht erlauben wird!

Wo ist Armut, wo ist Reichtum in diesem Lande? Wo ist Anfang und Ende von dem allem? Da schleicht einer in Lumpen durch die Straße, auf seinem Rücken trägt er einen Perserteppich, der tausend Mark wert ist unter Brüdern, und den er ausschreit mit weinerlicher Stimme, als ob er Heftpflaster oder Schuhrüster zu verkaufen hätte. Da kommt man durch eine elende Gasse, in der es nach saurem Hammelfleisch und nach Knoblauch duftet, in der die Armut aus fensterlosen Höhlen starrt und Frau Sorge vor jeder Tür zu sitzen scheint und wo statt dessen doch vor jedem Haus eine Geldwechslerbude steht, die alle von Geldstücken aus aller Herren Länder überquellen. So ist es in Konstantinopel, so ist es in Bagdad, in Saloniki, in Trapezunt und überall in diesem sonderbaren Lande. In Erserum aber ist nur die Armut zu Hause.

Wie könnte es auch anders sein? Wo das ganze armenische Land in Trümmern liegt, konnte auch der Hauptstadt das gleiche Schicksal nicht erspart werden. In der Kriegs- und Nachkriegszeit hat die Stadt mehrmals ihren Besitzer gewechselt. Schon im Jahre 1915 wurde sie von den Russen erobert und blieb in deren Händen bis zum »Frieden« von St. Germain, in dem sie zur Hauptstadt des autonomen Armenierstaates ernannt wurde, den sie, neben so vielen anderen totgeborenen Kindern, am grünen Tisch in London und Versailles geschaffen hatten und der bald darauf wieder zusammenbrach unter dem Ansturm der neuen erstarkten Türkei. Alle – Sieger und Besiegte – haben hier ihre Spuren zurückgelassen und mit der Zeit mehr als die Hälfte der Stadt in Schutt und Asche gelegt. Das betriebsame Element – und das waren entschieden die Armenier – ist landflüchtig geworden, und was zurückgeblieben ist, das lebt in den Tag hinein, ohne Hoffnungen und Wünsche, weil das Leben nun einmal gelebt sein muß.

Denn woher sollte der Aufschwung kommen in dieser fern abgelegenen Stadt, die man nur auf langen und beschwerlichen Reisen über hohe Schneeberge, unter Bestehung einer Serie von Abenteuern erreichen kann? In dieser Stadt, in der die Dampfmaschine nur dem Namen nach bekannt ist, in der es noch Feilenhauer und Nagelschmiede wie bei uns Anno dazumal gibt! In der die Sägemühlen noch mit Handbetrieb arbeiten und es sogar – man staune, – nicht einmal ein Kinotheater gibt! Man lebt, man vegetiert, man steht mit den Hühnern auf und geht mit den Hühnern schlafen.

Und doch – wenn ich heute hier sitze und die orientalischen Erinnerungen zusammenkrame aus den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses, so finde ich auf allen Wegen von Stambul bis Kalkutta kaum einen Ort, dessen Bilder mir besser in der Erinnerung geblieben sind, wie Erserum, obwohl ich mir heute noch nicht vorstellen kann, was wert wäre des Erinnerns an dieser Sammlung von Erbärmlichkeiten.

Oder doch –.

Es waren wohl die Nächte von Erserum, die es mir angetan haben. Abends, wenn die Sonne blutrot niedersank und die fernen Berge noch einmal dunkelviolett aufleuchteten, wenn der Staub sich gelegt hatte und das Geschrei verstummt war auf dem Markte, dann gab es ein großes Klappern von Pantoffeln. Jeder flüchtet in seinen Bau, seine Ruine, oder wo er sonst in Allahs Hut die Nacht zu verbringen gedenkt. – Bald ist es ganz still. Ein feiner Duft von Kaffee zieht durch die Gassen. Noch ist der Mond nicht aufgegangen. Es ist so dunkel, daß man die Hand kaum vor den Augen sieht. Nur die Sterne funkeln hell durch die dünne Hochlandluft. Und auf einmal tönt es übernatürlich laut, wie eine Geisterstimme vom hohen Minarett einer nahen Moschee: »Allah hu akbar! Gott ist am größten!«

Nun hallt es wider vom nächsten. Nun antwortet es von allen Seiten.

»Allah hu akbar!«

Von Minarett zu Minarett hallt es rundum, als seien es Stimmen aus einer anderen, besseren Welt, die die Menschen herausreißen aus der Nichtigkeit des Alltags mit seinen kleinen Sorgen.

In langgezogenen, zittrigen Tönen, mit seltsam rauhen, gutturalen und doch so eigenartig schönen Stimmen verkündigen sie die Lehre, die sie schon vor tausend Jahren verkündeten über den zerfallenden Häusern dieser verdorrten Stadt.

Eine Viertelstunde lang ist man im Banne dieser Geisterstimmen. Dann wird es still. Noch ein wenig flattern die aufgescheuchten Raben und lassen sich nieder auf den Bäumen, wie böse Geister, die die Gottesstimme bezwungen. Nur noch hie und da hört man das Schreien eines Esels oder das Miauen einer liebestollen Katze. Es ist dunkel und still. Nur ab und zu gewahrt man eine schwankende Laterne, die ein kleiner Junge einem beturbanten Hodscha voranträgt. Spät abends kommt man nach Hause und schaut noch ein wenig auf die Schatten, die in der stillen Straße liegen, man hört auf das Murmeln der Brunnen und auf das Schreien der Katzen, die im Mondschein über die Hausdächer wandeln. Man schaut noch einmal auf die Uhr – so man eine hat – geht sie à la Turka oder à la Franka? Man weiß nicht genau. Und wer fragte wohl auch danach in dieser Welt, in der die Stunden kommen und gehen und alle gleich sind, wie die Hammel in der Herde. – –

Beinahe hätte ich es vergessen: Erserum ist auch Endstation einer Eisenbahnlinie, die von der ehemals russischen Festung Kars herunterführt, und da diese auf eine Strecke von einigen fünfzig Kilometern in meiner persischen Wegrichtung lag, erschien sie mir als eine willkommene Reisegelegenheit. Die Illusionen begannen jedoch zu schwinden, als ich vor dem Miniaturbahnhof dieser Miniatureisenbahn stand und der »Stationsvorsteher« mir den Fahrplan auseinandersetzte. »Der letzte Personenzug«, sagte er, »ist vorgestern abgefahren und nun wird keiner mehr fahren, bis Ende nächster Woche.«

Ich konnte nicht umhin zu bemerken, daß ich solche Betriebsordnung etwas eigentümlich fände, aber der hohe Herr fand alles in der schönsten Ordnung. Mißbilligend schüttelte er den Kopf.

»Niemand, Efendi, fährt hier mit der Eisenbahn, denn sie fährt sehr langsam. Drei Tage und Nächte braucht sie bis Kars. Manchmal fällt sie um; dann muß man sie erst wieder aufstellen. Zu Fuß kommt man viel schneller vorwärts.«

So machte ich mich denn zu Fuß auf den Weiterweg, nachdem ich mir zuvor noch in einer Bude Äpfel, in einer anderen Brot und Käse und verschiedene andere Dinge gekauft hatte, die meinen Rucksack erheblich herunterzogen. Es war noch früh am Morgen und nur ein paar verwilderte Hunde bellten mir nach, als ich an der hohen Feste Itsch-Kale vorbei durchs Karstor marschierte, auf der großen Straße, die nach Norden führt. Draußen sah ich mich noch einmal um. Vor mir lagen Schneeberge und hinter mir die Stadt im ersten Lichte der Morgensonne. Ein wenig tat es mir doch leid, daß ich alles das hinter mir lassen mußte, nachdem ich es noch kaum recht gesehen. Und ein wenig gruselte mir vor dem Wege, der vor mir lag. Dann aber wandte ich mich entschlossen ab und dachte nur noch an den langen, langen Weg. Und an Persien.

 


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