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Die Sturmnacht

Ohne auf den Weg zu achten, ging ich nach dem Wirtshaus zurück. Der Sturm schien etwas nachgelassen zu haben; wenigstens folgten sich die brausenden Stöße nicht so häufig wie vor einer halben Stunde. Unser Wiedersehen gab mir genug zu denken. Das also war aus dem Mann geworden, den wir in aller Freundschaft bewunderten und beneideten. Ich zählte das Schöne und Gute auf, das ihm das Glück in den Schoß geworfen hatte: seine reizende Frau, seine Kinder, seine gesicherten äußeren Verhältnisse, die glänzende Stellung in seinem Beruf, welcher er entgegenging. Und dann dachte ich an das abgearbeitete Gesicht, an den ängstlichen, scheuen Blick, mit dem er, kaum mehr kenntlich, neben mir gesessen hatte. Aber es konnte und mußte anders kommen. Der heutige Abend hatte den Anstoß zu einer Wendung zum Besseren gegeben.

In meinem Zimmer standen unsre beiden Whiskygläser auf dem Tisch. Das seine war noch halb gefüllt. Ich weiß nicht, weshalb mir dies besonders auffiel; aber ich erinnere mich der Bewegung deutlich, die mich wie ein leiser, unerklärlicher Schauder erfaßte. Es war vielleicht nur die eiskalte Dezemberluft, die durch alle Ritzen des Hauses pfiff.

Das klügste schien, zu Bett zu gehen; doch es war zu früh, obgleich im Hause schon tiefe Stille herrschte. Ich holte eine Monatszeitschrift aus meiner Reisetasche, die ich für müßige Augenblicke mitgenommen hatte, stierte das Feuer auf und setzte mich in dem Großvaterstuhl des »Goldenen Brückenkopfs« zurecht, um noch ein halbes Stündchen zu lesen.

Wie es wieder tobte! Das Unwetter hatte offenbar aufs neue Atem geholt. Schwere Regentropfen schlugen jetzt mit dem harten Klang, den kleine Kiesel geben, an die Fenster. Zwischen dem Brausen der Windstöße hörte man langes pfeifendes Seufzen in weiter Ferne. Manchmal kam ein Stoß durch das Kamin herunter, so daß das unruhige Kohlenfeuer flackernd ins Zimmer schlug. Wunderliche Geräusche wurden auch im Hause hörbar. Draußen im Gang fiel ein Brett um. über mir, unter dem Dachboden, krächzte und stöhnte es in unheimlicher Weise. Am fernen Ende des Hauses war ein Fensterladen losgeworden und begann zu schlagen, als ob er die Mauern einhämmern wollte. Es ging wirklich über die Gemütlichkeit einer polizeilich zulässigen Sturmnacht und streifte an groben Unfug. Auch mit dem Lesen wollte es nicht gehen. Ich dachte wieder an Stoß und die Reihe von Jahren seit der Grünheustraßenzeit, in denen trotz der seltenen Begegnungen herzliche Beziehungen, eine Art Freundschaft ohne Worte, zwischen uns aufgesprungen waren. Wir verstanden uns. Ich hatte ihn namentlich heute in seinen Sorgen verstanden und hatte ihm mit der Versicherung nichts vorphantasiert, daß ich seine Stimmung aus eigener Erfahrung kenne. Unser Beruf verlangt oft genug rasche, entschlossene Entscheidungen, und wir sind nicht immer sicher, das Richtige getroffen zu haben. Dann kann die Zukunft schwarze Schatten in den hellsten Tag von heute werfen. Ich fühlte mich zu meinem kranken Freunde hingezogen mit der Gewißheit seiner Nähe, mit einem Drang, ihm zu helfen, daß mir die rätselhafte Empfindung fast unheimlich wurde. Doch glaubte ich endlich eine Lösung für meine nervöse Spannung gefunden zu haben: Wie wärs, wenn ich auf sein Wohl noch einen Tropfen tränke.

Da passierte das Wunderlichste dieser Nacht; fast scheue ich mich, es in diesem wahrheitsgetreuen Berichte zu erwähnen. Als ich mich dem Tisch zuwandte, um mein Glas zu füllen, waren beide leer. Ich hätte darauf geschworen, daß ich das seine noch vor zehn Minuten halbvoll gesehen hatte. Und daß ich es nicht berührt haben konnte, aus Versehen, in Gedanken, spürte ich an der Trockenheit meiner Kehle. Oder hatten seine Nerven auch die meinen aus Rand und Band gebracht? Es war am Ende doch besser, zu Bett zu gehen. Natürlich! Ich mußte sein Glas in Gedanken ausgetrunken haben. Dann war es genug für heute.

Ein mächtiges Himmelbett mit roten Vorhängen stand im Nebenzimmer und sah mich behäbig und beruhigend an; ein Bau alten Schlags, mit entsprechendem Bettzeug. Wenn ich nur die Hälfte der Kissen über die Ohren zog, die zur Verfügung standen, konnte die Welt in Trümmer gehen, ohne daß ich es zu hören brauchte. So wollte ich's machen. Dabei konnte der verrückte Laden draußen schlagen, so lange er Lust hatte. Ich zog meine Uhr auf: es war dreiviertel auf elf Uhr. Wie die Zeit fliegt, wenn man den Kopf voll hat!

Doch jetzt klapperte etwas Neues: zwei scharfe Schläge unten am Haustor. Ich stand mit der Uhr in der Hand und lauschte. Sie wiederholten sich nach einer kurzen Pause. Rapp! Rapp! Das war sicherlich nicht der Wind.

Im Gang schlurften schwere Schritte. Türen gingen auf und zu, eine mit einem lauten Knall. Der Sturm mußte sie zugeschlagen haben. Rapp! Rapp! Das war wieder nicht der Sturm. – Jetzt hörte ich die Stimmen unter mir in dem Hausflur, hastig, ungeduldig, dazwischen eine weinerliche Kinderstimme, dann eine schrille Frau auf der Treppe über mir. Ich zog halb mechanisch meinen Rock wieder an, den ich bereits abgelegt hatte, und öffnete die Zimmertür.

Es war schon Licht unten. Ein kleiner Bursche stand unter dem offenen Haustor, der Wirt halb angekleidet, der Hausknecht mit einer Stallaterne vor dem Kleinen. Die flackernde Helle fiel auf das Gesicht des jungen, der verstört und außer Atem schien. Er schluchzte fast:

»Großvater schickt mich zum Stationsvorstand. Es ist etwas nicht in Ordnung mit der Brücke. Wie ich an Euerm Haus vorüber will, sehe ich Licht oben. Da wollte ich auch bei Euch anrufen, Onkel.«

»Der Hausknecht soll mit dir gehen,« sagte der Wirt. »Der Wind könnte dich ins Wasser blasen, Bobby. Was ist los? Was sagt der Großvater?«

»Er sitzt am Telegraph und zittert. Etwas ist geschehen. Ich muß zum Stationsvorstand. Vater war auf der Maschine.«

Jedenfalls zitterte der Kleine wie ein Blättchen Espenlaub und lief, sich plötzlich umdrehend, laut schluchzend in den Sturm hinaus.

»Halt, Bobby, halt!« schrie der Wirt ihm nach.

»Vater war auf der Maschine,« hörte ich nochmals, schon aus der Ferne. Ich war jetzt selbst unten und sah den Wirt fragend an. Ein dumpfer Schrecken war auch mir durch Leib und Seele gefahren.

»Es ist der Bub des Brückenwärters, heißt das, sein Enkel!« erklärte der Wirt unruhig. »Jack lauf ihm nach; schnell! Dem Kind könnte etwas passieren in einer solchen Nacht. Ja, ja, Herr,« fuhr er, sich zu mir wendend, fort, »ganz geheuer ist es nicht. John Knox ist ein ruhiger Mann. Für nichts schickt er den Kleinen nicht in dieses Unwetter hinaus. Es könnte schon etwas passiert sein.«

»Ich muß sehen, was es ist!« rief ich ohne Besinnen und flog die Treppe wieder hinauf, um Hut und Schirm zu holen. Als ich herunterkam, hatte der Wirt seine Mütze auf und zog einen schweren Überrock an.

»Den Schirm können Sie zu Hause lassen, wenn Sie ihn nicht in tausend Fetzen sehen wollen,« sagte er lachend. Er hatte den stoischen Gleichmut seiner Rasse wieder völlig erlangt, gab mir einen Stock und drückte mit aller Macht das Haustor auf, das der Wind donnernd geschlossen hatte. Der Hausknecht begegnete uns nach wenigen Schritten. Er hatte den Jungen nicht mehr finden können und das Rufen gegen den Wind als hoffnungslos aufgegeben. »Dem geschieht nichts!« tröstete er sich. »Er läuft im Straßengraben wie ein Wiesel.« Für uns war es gut. Wir ließen ihn vorangehen, mit der Laterne unter seinem Mantel. Wenn er den Kragen zurückschlug, konnte man wenigstens von Zeit zu Zeit sehen, wo man war. Erst als wir den Bahndamm erreicht hatten, der uns gegen Westen schützte, war es möglich, wieder aufzuatmen. Schweigend gingen wir den Fußpfad entlang, den ich bereits kannte. Über unsre Köpfe weg sauste und zischte der Wind, ohne uns packen zu können. Gelegentlich fiel ein abgerissener Baumzweig vor uns zu Boden, den er verloren hatte. Über uns, in der Luft, schienen schreiende Katzen und Hunde durcheinander zu fliegen. Keiner von uns sprach. Nach zwanzig Minuten sahen wir über dem Rand des Bahndamms das Licht des Wärterhäuschens.

Der Knecht wickelte seine Laterne zum zehntenmal aus dem Mantel und beleuchtete die schmale Treppe, die an der Böschung hinaufführte. Wir kletterten mit einiger Vorsicht in die Höhe. Es war ein wunderliches Gefühl, als wir mit dem Kopf über die Dammkante in den vollen Sturm kamen, der über die Schienen wie über eine Messerschneide wegpfiff. Zum Glück hatten wir nur ein paar Schritte bis zur Türe des Häuschens und fühlten uns in den kleinen Raum völlig hineingeblasen. Der Knecht hatte die Türe aufgerissen, die mit einem Knall hinter uns zuschnappte.

Alles war heute nacht in Bewegung: eine unruhig schwankende Hängelampe beleuchtete das nur mit einem Tischchen, mit ein paar Stühlen und mit einem Schrank dürftig ausgestattete Gemach. In der Ecke an der Rückwand stand ein Telegraphentisch mit einem der einfachsten Instrumente, die für Dienstsignale benutzt werden. Vor diesem Tisch saß ein regungsloser Mann, mit dem Kopf auf den Armen, der fest eingeschlafen schien.

»John! John Knox!« schrie unser Wirt, indem er ihm einen derben Schlag auf die Schulter gab.

Der scheinbar Eingeschlafene richtete langsam den Kopf auf, sah sich scheu um und starrte den Wirt an, wie wenn er noch nicht ganz bei Besinnung wäre.

»John Knox – wach auf, Mann!« rief unser Führer ungeduldig. »Wir glaubten, es sei ein Unglück geschehen. Donnerwetter, ich glaube, es ist Whisky!«

»Nein,« sagte John Knox, indem er aufstand und plötzlich am ganzen Leib zu zittern anfing. »Ich glaube ich glaube, es ist ein Unglück.«

»Aber was ist los, Mann? Deine Brücke steht noch.«

»Mein Ende.«

»Wach auf, Knox!« schrie der Wirt, den die irre Ruhe des Mannes nervös machte. »Was in Teufels Namen ist passiert?«

Knox wies nach dem Telegraphentisch, wie wenn er sich vor dem Apparat fürchtete. Dann sagte er mit heiserer Stimme: »Ich kann keine Antwort vom andern Ende erhalten: keinen Laut, seit zwei Stunden.«

»Bloß das?« lachte der Wirt jetzt, laut und lärmend. »Alter Schafhund! Der Draht ist gerissen. Ist das ein Wunder in dieser Nacht?«

»Nach der Station hin, auf unsrer Seite, sind sie alle gerissen!« versetzte Knox wie in dumpfer Gleichgültigkeit. »Aber über die Brücke können sie nicht reißen. Sie sind in die Brückenbalken eingelassen. Seit der letzte Zug von hier abging kein Laut.« Er trat an den Tisch und klopfte wie wütend auf die Taste des Instruments. »Wilson! Wilson!« schrie er dann plötzlich auf. »Die Brücke ist gebrochen!«

»Großer Gott!« rief der Wirt. »Das ist nicht möglich! Mit dem Zug? Du hast es nicht gesehen. Das kann nicht geschehen sein.«

»Mit dem Zug!« erzählte Knox keuchend, wie wenn plötzlich alles in ihm wach geworden wäre. »Er fuhr durch alles in Ordnung. Der Maschinenführer, mein George, mein Sohn George, riß mir den Signalstock aus der Hand, wie gewöhnlich, und fuhr los. Er hatte zehn Minuten Verspätung und war in Eile und fuhr los. Man konnte kaum aus den Augen sehen, so stürmte es. Aber ich sah die roten Lichter am letzten Wagen noch eine Zeitlang drei, vier Minuten wie sie kleiner wurden. Dann mit einem Male waren sie verschwunden wie ausgeblasen.«

»Du hast nichts gehört?«

»Bei dem Gebrüll von oben und unten! Die Flut heulte noch lauter als der Sturm. Sie waren mit einem Male weg, wie ausgelöscht. Ich dachte nicht gleich. daran, was es bedeuten könnte. Erst fünf Minuten später packte mich eine Angst eine Angst, Wilson, wie wenn hundert Menschen ihre Arme aus dem heulenden Wasser heraufstreckten und sich an mich klammerten. Ich hinein und an den Telegraphen. Der Zug mußte jetzt drüben sein. Bob Stirling konnte mir antworten. Aber keine Antwort, keinen Laut! Seit zwei Stunden kein Laut!«

»Und du bist nicht der Brücke entlang gegangen, um nachzusehen?«

»Der Brücke entlang gehen? nachsehen? in dieser Finsternis; in diesem schwarzen Aufruhr!« stöhnte Knox. »Was hätte ich machen können, als mich hinunterblasen lassen, wo die andern sind. Aber ich habe es kommen sehen, seit Monaten. Morgen wollte ichs Herrn Stoß sagen; dem konnte ein gemeiner Mann wie unsereins dergleichen sagen.«

Jetzt konnte ich nicht mehr stille halten. Der ganze Schrecken des entsetzlichen Unglücks hatte auch mich gepackt.

»Großer Gott, was wollten Sie Stoß sagen?« fragte ich tief erregt.

»Sie wissen, die Zugstangen, die Kreuze zwischen den Pfeilersäulen, sechs in jeder der hohen Säulen«

»Was ist es mit den Stangen?«

»Sie sind mit Keilen in den Säulen befestigt, und vom Zittern der Brücke wurden die Keile immer loser. Ein Dutzend sind in der letzten Woche herausgefallen, und die ganze Brücke zitterte und schwankte, wenn ein Zug rasch darüberging, daß es mir den Leib zusammenschnürte. Ich habe mit Stirling oft darüber gesprochen. Er meinte, wir sollten es Herrn Stoß schreiben. Aber wir wußten auch, daß Herr Stoß nichts mehr mit der Brücke zu tun hat.«

»Aber um Gottes willen, Mann – Sir William! Er ist noch heute der Ingenieur der Bahn. Warum haben Sie es nicht Sir William gesagt?«

»Da wären wir schön angekommen, wenn wir armen Teufel einem so hohen Herrn geschrieben hätten, daß seine Brücke einfallen wollte! Aber ich wollt, ich hätts getan, oder Stirling, trotz alledem; ich wollt, ich hätts gesagt!«

Er schrie dies hinaus, dann warf er sich auf seinen Stuhl und murmelte kaum hörbar: »Es hätte nichts genutzt.«

»Komm, komm, Mann!« rief Wilson, der Wirt, und versuchte ihn aufzurichten. »Was soll das heißen! Wir wissen noch gar nicht, was geschehen ist. Vielleicht ist doch nur der Draht gerissen!«

»In dreißig Minuten werden wir es wissen. Das halte ich nicht mehr aus. Wer geht mit?« fragte ich.

»Unmöglich!« rief der Wirt. »Sie können nicht über die Brücke. Man kann nicht auf ihr stehen, solange der Sturm anhält.«

Knox stand auf, ruhig, wie umgewandelt, griff nach einer kleinen Blendlaterne auf dem Schrank, wie sie Bahnwärter benutzen, und zündete sie an, ohne ein Wort zu sagen.

»Gehen Sie nicht,« bat der Wirt. »Was kann es nützen, so oder so? Helfen kann niemand mehr, wenn das Schlimmste geschehen ist.«

»Aber ich kann's nicht länger aushalten,« entgegnete ich. »Kommen Sie, Knox!«

Ich drückte die Türe auf. Es schien doch, als ob der Wind wieder etwas nachgelassen habe. Wir konnten stehen, wenn wir mit aller Kraft nach Westen überhingen. Da und dort war das Gewölk jetzt wieder zerrissen, und ein paar Sterne schienen in wilder Flucht dem Sturm entgegenzujagen. Dann wurde auf Minuten die Nacht wieder pechschwarz.

Es war kein Kinderspiel, dieser Gang. Zum Glück hatten wir jetzt vollauf mit uns selbst zu tun, so daß wir kaum an das Unglück denken konnten, das uns vorwärtstrieb. Knox ging voraus, drehte sich aber um, sooft er ein paar Dutzend Schritte gemacht hatte, um mir zu leuchten. Ich folgte ihm stetig und langsam, vor jedem Schritt versuchend, ob ich fest genug stand, um dem wechselnden Luftdruck Trotz bieten zu können. Wir hatten so den Brückenkopf erreicht. Zwischen seinen monumentalen Granitblöcken war man etwas geschützt und konnte aufatmen. Dann traten wir auf die Brücke, indem wir uns mit beiden Händen an dem luftigen Eisengeländer anklammerten und daran fortarbeiteten. Unser Steg war die etwa zwei Fuß breite Dielung, die nach der Innenseite der Brücke an der linksseitigen Bahnschiene anstieß. Dies war die gefährlichere Seite, denn zwischen den Schienen und den bloßliegenden Schwellen gähnte der schwarze Abgrund, und der Wind blies uns mit boshaften Stößen in diese Richtung. Nach der andern Seite hatten wir wenigstens das Geländer und den Winddruck zu unserm Schutz. Gut war es, daß der Blick nicht in die Tiefe dringen konnte, wo ein zischender Lärm die hereinbrechende Sturmflut ankündigte. Auf Augenblicke nur sah man dort unten weiße Flocken blinken, ohne abschätzen zu können, ob sie sich ganz nahe oder turmtief unter uns bewegten. Das waren die Schaumkronen der sturmgepeitschten Wellen. Über uns war die Nacht ein Wühlen und Wallen, ein Sausen und Seufzen, ein Klatschen und Krachen, als ob der Wilde Jäger und der Fliegende Holländer sich in den Haaren lägen. Aber wir kamen vorwärts, Schritt für Schritt. Die Brücke zitterte fühlbar, aber sie stand noch. Wenn es so fortging, konnte vielleicht alles gut werden.

Da nach zwanzig Schritt das Ufer in undurchdringlicher Finsternis versunken war und uns das gleiche, bleierne Schwarz entgegenstarrte, zählte ich die Pfeiler, über die wir kamen, um ungefähr zu wissen, wo wir uns befanden. Es war dies möglich, obgleich sie nicht zu sehen waren, weil das Geländer auf jedem Pfeiler von einem höheren reichornamentierten Pfosten getragen wurde, der uns sozusagen durch die Finger ging. So wußte ich, wie langsam wir vorwärts kamen, und nachdem wir fünf, sechs Pfeiler hinter uns hatten und über einer scheinbar unendlichen See hingen, die einförmig, unablässig, in schwarzer Wut unter uns toste, gewöhnte ich mich an unsern krebsartigen Gang und fing an, mich über meine kalt werdenden Hände zu ärgern, wie wenn es eine alltägliche Beschäftigung wäre, so in die unergründliche Nacht hinauszuklettern. Auch ging es nach jedem Pfeiler rascher. Ich glaube, ich wäre förmlich munter geworden, wenn nicht das leise, unheimliche Zittern der Brücke mich von Zeit zu Zeit daran erinnert hätte, daß wir auf einem Todesgang begriffen waren. jetzt hörte man aus weiter Ferne den hartklingenden Schlag eines Eisens jetzt wieder. Dies war unerklärlich, unnatürlich. Ich hielt an und lauschte, hörte dann aber nur das Pfeifen des Windes und das dumpfe, summende Zischen des Wassers unter meinen Füßen. Weiter!

Knox war ohne Zweifel an diese Art der Fortbewegung gewöhnt. Jedenfalls ging es bei dem alten Manne schneller als bei mir. Ich konnte im Dunkeln oft kaum mehr die Umrisse seiner Gestalt erkennen, dreißig, vierzig Schritte vor mir eine unruhige, gespenstische Silhouette am Nachthimmel. Wir mußten uns dem mittleren Teil der Brücke nähern. Wenn ich richtig gezählt hatte, lag der sechsunddreißigste Pfeiler hinter uns. Ich erinnerte mich, daß vom siebenundzwanzigsten an das Bahngeleise innerhalb der höher liegenden Gitterbalken läuft, anstatt, wie bisher, auf der oberen Flansche derselben. Meine Hoffnung stieg, daß sich noch alles zum Guten wenden müsse. Auch hatte seit den letzten zehn Minuten der Sturm rasch nachgelassen, Das schwarze Gewölk über uns zeigte Risse und lichtbraune Ränder. Ich fing an aufzuatmen.

Da plötzlich war die Schattengestalt meines Vordermanns verschwunden, das Geländer, das ich jetzt auf dreißig Meter ganz deutlich sehen konnte, war leer. Er konnte doch nicht abgestürzt sein. Ich schrie laut: »Knox! Knox!« Keine Antwort. Ich ließ jetzt selbst das Geländer mit der Rechten los und lief vorwärts, so schnell ich konnte. »Knox! Knox!!«

Nein, er war nicht abgestürzt. Dort saß er auf dem Bretterboden, die Beine über die Schienen zwischen den Schwellen herabhängend, die Arme auf den Knien, den Kopf auf den Armen, wie ein Igel, der sich zusammengerollt hat.

»Knox, was ist Ihnen?« rief ich durch den Lärm des Sturms, der eben wieder mit einem brausenden Stoß über uns wegging und die Brücke in zollweite Schwankungen brachte. Ich packte ihn an den Schultern. Wie der Mann dasaß, war es doch allzu gefährlich. jeden Augenblick mußte ich fürchten, ihn zwischen den Schwellen durchschlüpfen zu sehen.

Er richtete sich ein wenig auf und deutete mit dem linken Arm nach vorwärts. Zum erstenmal, seit wir auf dem Wege waren, zerriß das Gewölk unter der dünnen Mondsichel und ließ einen grellgrünlichen Fleck des Himmels erscheinen. Man sah mit einemmal ziemlich weit nach allen Seiten. Es war, als stünde man in der Mitte einer Zauberkugel, tief unter uns in einem dämmerigen Kreis die schaumbedeckte See, um uns bestimmt und klar die Schienen, die Schwellen, das Geländer, vor uns plötzlich scharf abgeschnitten, das Ende der Brücke, das ins leere Nichts hinausragte.

Ich ging noch zwanzig Schritte vorwärts, fast ohne zu denken, einem qualvollen Drange folgend, der mich weitertrieb. Dann klammerte ich mich wieder mit beiden Händen ans Geländer und sah in das dunstige Blau hinaus, wo noch vor zwei Stunden die riesigen, tunnelartigen Gitterbalken begonnen hatten. Sie waren verschwunden, spurlos weggeblasen.

Erst wollte ich mich setzen, wie Knox saß, und darüber nachdenken, ob das alles nicht doch am Ende nur ein häßlicher Traum sei. Dann packte mich eine fürchterliche Neugier. Ich sah um mich mit der gespanntesten Anstrengung aller Nerven. In weiter, weiter Ferne sah man die Brücke wieder, das Ende, das vom Nordufer der Bucht kam, wie einen schlanken, senkrechten Pfahl, der hoch aus dem Wasser emporragte. Zwischen diesem Ende und dem unsern war eine leere Strecke, fast einen Kilometer breit, über die in ungestörter Kraft und Freiheit das heraufstürmende Meer hinwogte. Nur eine Reihe weißer Punkte bezeichnete über die Wasserfläche weg die Linie der einstigen Brücke. Es war die Brandung, die an den Resten der verschwundenen Pfeiler aufschäumte. Ich zählte sie mechanisch, ohne zu denken. Zwölf! Ich wußte, dies war die Zahl der großen Pfeiler, auf denen der höhere Teil der Brücke geruht hatte. Wenn ich träumte, so träumte ich mit entsetzlicher Folgerichtigkeit. So mußte es gekommen sein. Die ganze Länge der hochliegenden Gitterbalken war eingestürzt.

Knox berührte jetzt mich, wie ich ihn vor wenigen Minuten berührt hatte.

»Sehen Sie etwas?« fragte er, nach der bleigrauen, weißgefleckten Wasserfläche deutend. »Da drunten liegt alles: die Gitterbalken, der Zug, die hundert Reisenden, die Lokomotive, mein George! Dreißig Fuß unter Wasser. Es ist alles vorüber. Und wie es sich so ruhig ansieht!«

In diesem Augenblick klang wieder ein lauter Schlag von unten herauf, wie der Klang einer zersprungenen Glocke, nur härter, und ein leiser Schauer zitterte durch die ganze Brücke. Es waren ohne Zweifel losgerissene, herabhängende Eisenstangen des letzten stehenden Pfeilers, die der Wind hin und her schlug.

»Er führte die Lokomotive, mein George,« begann Knox aufs neue und lehnte sich neben mir auf das Geländer, wie wenn er zu einem gemütlichen Gespräch aufgelegt wäre. »Ich fürchte, er ist etwas zu schnell gefahren. Ich weiß, es ist gegen die Vorschriften; die Herren trauten der Brücke selbst nicht ganz. Aber gestraft wird er nicht mehr, das hat ein Ende. Und dann die losen Keile in den Zugstangen und der Höllensturm! Man kann sich denken, wie es kam, jetzt, seit es zu spät ist. Er war ein guter Sohn, mein George; ich hoffe, er hat nicht lange leiden müssen.«

Er schwieg und sah starr ins Wasser hinab.

»Wenn man denkt, was jetzt alles drunten liegt!« fuhr er fort. »Gelitten hat er nicht lange, das ist ein Trost. 's ist Flutzeit. Die Lokomotive mit dem ganzen Zug in den Gitterbalken, gut fünfzig Fuß unter Wasser. fünf Wagen, vielleicht hundert Passagiere, und alle so still wie Mäuse, die man in ihrer Falle ersäuft. Auch ein Wagen erster Klasse. Ich sah Herrn Stoß am Fenster, als er an meinem Posten vorbeifuhr. Ja, ja, auch erster Klasse! Es ist alles eine Klasse, wenn der allmächtige Gott Brücken umbläst. Aber ich fürchte, man wird sie wieder aufbauen.«

»Kommen Sie, Knox! Es tut nicht gut, hier hinunterzusehen,« sagte ich, mich zusammenfassend. »Wir können ihnen nicht helfen. Vielleicht sind sie besser aufgehoben als wir hier oben.«

Ich führte ihn am Arm; er folgte mir willig. Wir brauchten uns nicht mehr am Gitter zu halten. Eine Art Zyklon mußte in jener Nacht über die Bucht gefegt haben. Wir befanden uns jetzt ohne Zweifel in der ruhigen Mitte des Wirbelsturms.

Als wir das Ende der Brücke wieder erreicht hatten, war es fast windstill. Hoch über uns war der Himmel blaugrün und von unheimlicher Helle. Hinter uns, wie ein großes offenes Grab, lag die Ennobucht.

Der Herr des Lebens und des Todes schwebte über den Wassern in stiller Majestät.

Wir fühlten ihn, wie man eine Hand fühlt.

Und der alte Mann und ich knieten vor dem offenen Grab nieder und vor ihm.


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