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Dritter Teil

XIV.

Das erste, was Kilian Menke wahrnahm, nachdem er sich am Ende des fröhlichen Punschgelages von seinem Zechgenossen Wilster hatte einschläfern lassen, war ein beißender Geruch, der ihm in die Nase drang. Verwirrt schlug er die Augen auf.

»Was ist? Wo bin ich?« sagte er schläfrig. Er saß bequem im Fond eines großen Wagens, es war dunkle Nacht, der Wagen hielt. Der Mann neben ihm, den er nicht erkennen konnte, sprach:

»Ich bin's, Wilster, es wird Zeit, daß Sie aufwachen. Hier, nehmen Sie einen Kognak, um Ihre Lebensgeister zu sammeln. Hier ist auch Kaffee, der wird Ihnen gut tun. Haben Sie Hunger?«

»Ach so, ja richtig, Sie, Wilster, sind wir denn da?« fand sich Kilian Menke allmählich zurecht. »Der Wagen hält ja, haben wir eine Panne, oder was ist los?«

»Alles ist in Ordnung. Wir haben an dieser Stelle eine Verabredung. Hier wird Wagenwechsel sein, aber man ist noch nicht da.«

»Wer ist man? Wo sind wir hier denn?«

»Auf freier Strecke, wie Sie sehen. Alles Weitere wird sich finden, nur nicht so viel gefragt! Stärken Sie sich zunächst mal.«

Kilian Menke trank schwarzen Kaffee und nahm einige Butterbrote zu sich, so daß allmählich die Schlaffheit von ihm abfiel. Er entsann sich seiner Verpflichtung, mit größter Wachsamkeit sich zu orientieren, und dabei fiel ihm schwer auf die Seele, daß dieser Wilster ja im Grunde sein grimmiger Feind sei, dem er nur ein Werkzeug sein sollte. Ihm dünkte, in der letzten Zeit sei ihm dies nicht immer hinreichend gegenwärtig gewesen. Beim aufmerksamen Umblicken stellte er folgendes fest:

Der Wagen, allem Anschein nach der gleiche, in dem er von Hamburg entführt wurde, hielt in einer Waldschneise, unmittelbar an der Einfahrt in eine Betonchaussee, auf der man offenbar bis hierher gelangt war. Den Wagen führte wieder Robert, dessen breiter Buckel vor ihm ragte; sein Kopf war nach vorn gesunken; offenbar machte er ein Nickerchen. Außer dem neben ihm sitzenden Wilster war niemand im Wagen. Es brannte nur das Parklicht, so daß von der Gegend nicht viel zu erkennen war. Immerhin konnte man in der Sommernacht im Licht der Sterne ausmachen, daß man sich in einem Hügelland befand. Jenseits der Fahrbahn senkte sich die Gegend, und fern in einem Tal glimmten einige Lichter; dort mußte eine Ortschaft sein. Während Kilian Menke diese dürftigen Wahrnehmungen in sich verarbeitete, kam von links her auf der Chaussee ein andrer Wagen mit hellem Scheinwerferlicht angefahren, der dreißig Meter vor der Schneisenmündung anhielt. Es ertönte ein leiser Pfiff, offenbar das verabredete Signal. Menke wollte den Wagen verlassen.

»Halt doch«, fuhr ihn Wilster an, »noch nicht, ich sag Bescheid, wenn es so weit ist.«

Man blieb noch einige Minuten sitzen; dann ertönte von hinten aus dem Walde ein ähnlicher, aber etwas abgewandelter Pfiff.

»So, jetzt, umsteigen!« befahl Wilster.

Er nahm Menke an den Arm und führte ihn in den anderen Wagen, einen kleinen DKW, an dessen Steuer ein Mann saß. Dieser begrüßte Wilster mit den Worten:

»Bis auf die kleine Verspätung alles in Reih und Glied. Es kann losgehen, wie?«

Während er den Wagen zurücksetzte, um wieder dorthin zurückzufahren, woher er gekommen war, wandte er sich an Menke:

»Guten Tag, Herr Baskow, Sie können mich in der Dunkelheit ja nicht erkennen, ich bin Farchau, Sie wissen, damals in den ›Erossälen‹.«

»So, Sie sind das«, war alles, was Kilian Menke zu erwidern hatte. Ihm war recht verworren zumute. Die nun kaum überwundene Müdigkeit stieg wieder in ihm hoch und kämpfte mit Zweifeln und Bedenken, die er sich wegen seiner Wahrnehmungen machte. Er konnte mit dem besten Willen Sinn und Vernunft in den Geschehnissen um ihn nicht erkennen. Aber er gab es nach kurzer Weile auf, sich darüber weitere Gedanken zu machen, da sein müdes Hirn zu scharfen Meditationen sich unfähig erwies. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück, stellte noch fest, daß doch so ein großer Wagen ungleich bequemer sei, als diese Miniaturausgaben, und schlief wieder ein.

Als er wieder aufwachte, weil ihm alle Gliedmaßen wehtaten, war die Sonne schon weit über dem Horizont, es mochte einhalb fünf Uhr sein. Neben ihm war Wilster eingenickt, Farchau verlangte dem Wägelchen ab, was es hergeben wollte. Man fuhr nicht mehr auf einer Hauptverkehrsstraße, sondern auf einer Nebenchaussee mit guter, glatter Decke. Die Gegend hatte nicht mehr den Gebirgscharakter, sie war vielmehr ausgesprochen farblos, wenn auch dicht belebt. Eine Ortschaft nahte, Kilian Menke las am Ortsschild Nateln, ein Name, der ihm noch nie begegnet war. »Mein Gott, wo geht die Reise hin?« stieg es in ihm auf. Die nächste größere Ortschaft hieß Kirchwelver, ebenfalls eine nie gehörte Bezeichnung. Der Weg, den man einschlug, verwirrte sich, häufig bog man ab, nahm neue Richtungen auf, fuhr auch, nach dem Stand der Sonne beurteilt, manchmal eine Strecke wieder zurück, aber alles in allem klar nach Westen. Immer neue Ortsnamen tauchten auf; von keinem von ihnen hatte Kilian Menke je etwas gehört. Endlich nach langem Hin und Her, dessen Förderlichkeit nicht immer einzusehen war, kam man auf eine Hauptchaussee. Am nächsten Ortsausgang kam das erste verständliche Schild; es hieß da: »Nach Dortmund 16,6 km.«

Als bald darauf Wilster die Augen aufschlug, fragte er:

»Geht's noch weiter als bis Dortmund?«

»Herrje, ich hab ja wahrhaftig geschlafen. Sind wir schon so nahe ran? Nein, Dortmund ist unser vorläufiges Ziel. Dort pennen wir erst mal aus.«

Der Wagen hielt in Dortmund vor einem großen villenartigen Haus, das ein Schild mit der Aufschrift »Familienpension Kröchel« neben dem Haupteingang trug. Die Haustür war noch geschlossen, es war noch vor sechs. Auf das Klingeln antwortete ein verschlafener Hausdiener, der die drei mit einem kurzen »Morgen, die Herren, von der Reise zurück? Willkommen, Herr Wilster« begrüßte. Man fuhr mit dem Lift in das zweite Stockwerk, wo sich Farchau verabschiedete. Kilian folgte Wilster in ein großes zweischläferiges Zimmer, das bewohnt war, das heißt, es lagen Garderobensachen herum, das eine Bett war nicht frisch bezogen, die Schubladen und Schränke waren gefüllt.

»So, hier wären wir in Ihrem Zimmer, Baskow. Ich muß Sie schon bitten, mit dem nicht ganz neuen Bett vorlieb zu nehmen. Nachtanzug und alles Weitere steht Ihnen zur Verfügung. Ich denke, wir schlafen bis gegen zehn, was meinen Sie?«

»Also, ich muß schon sagen, ich verstehe von alledem keinen Deut mehr. Was wird hier eigentlich gespielt?«

»Das werden Sie schon früh genug spitz kriegen. Sie sind hier Herr Baskow, und damit basta! Und nun rasch ins Bett.«

Kilian Menke konnte zunächst vor tausenderlei besorgten Gedanken nicht einschlafen; dann aber forderte der Körper sein Recht und vier Stunden lang wußte er weder von Baskow noch von Menke das mindeste. Um zehn Uhr traf man sich mit Farchau im Frühstückszimmer. Eine frisch-freundliche Maid in Servierschürze begrüßte Kilian vertraut:

»Guten Morgen, Herr Baskow. Ausgeschlafen? Wie war denn die Reise?«

»Danke, danke«, antwortete Menke leicht verwirrt, »soweit ganz nett, nur anstrengend.«

»Kann ich mir denken. Und Ihren Freund Wilster haben Sie, wie verabredet, getroffen, das hat ja geklappt. Tag, Herr Wilster.«

»Tag, Fräulein Ina, nun aber rasch das Frühstück, ich nehme Kaffee.«

»Ihnen wie immer, Herr Baskow, nicht wahr?«

»Ja, bitte, wie immer.«

Baskow, der er bekanntlich war, trank morgens Tee, wie Menke mit Bedauern feststellte. Sonst aber war es ein reiches und wohlmundendes Frühstück, das man auftrug. Wilster wandte sich an Farchau:

»Also, was habt ihr uns hier zu bieten? Was treiben wir heute? Wenn ich euch hier besuchen soll, möchte ich was erleben.«

»Heute morgen gehen wir zunächst zu dem Juwelier Praller; der hat da ein tolles Stück in Kommission bekommen, ein Diadem, offenbar antik, aber das komische ist, zwischen echten Perlen und herrlichen Brillanten sind falsche hineingemogelt, aber so geschickt, daß der Teufel sich auskennt. Wir sind angemeldet.«

»Kommt Brechert auch hin?«

»Ja, wir treffen ihn da gegen elf Uhr.«

»Und dann? Ihr wißt, euer Schmucksachenfimmel ist nicht ganz meine Leidenschaft, jedenfalls nicht so ausschließlich wie bei euch. Was dann also?«

»Dann geht's zu Wiedenhopps an den Westwall. Heute ist hier nämlich großer Fez, mußt du wissen. Ein Westfalentag steigt heute mit riesigem Festzug, volkstümlichem Humor und stammverwandter Sonderart, genug, ein herrlicher Karneval im Sommer. Den dürfen wir uns vom Balkon bei Wiedenhopps aus mit ansehn. Es sind allerhand Bekannte außer uns da. Da hast du sie alle gleich auf dem Haufen. Nachher speisen wir dann in unserem Stammlokal bei Krefti auf der Terrasse.«

»Brillant, was meinen Sie, Baskow? Genehmigt?«

»Wie? Ich? Ich bin natürlich einverstanden.«

Auf der Straße nahmen Wilster und Farchau ihren Begleiter in die Mitte. Wüster bläute ihm ein:

»Aufgepaßt, Baskow, und nicht immer so aus tiefen Träumen aufgeschreckt, wenn man Sie anredet. Hören Sie gut zu. Bei dem Juwelier Praller, wo wir jetzt hingehen, sind Sie in den letzten Wochen häufig aus- und eingegangen; denn Sie sind ein Kenner von allen Erzeugnissen der Goldschmiedekunst. Auch das Diadem, das wir da besichtigen, ist Ihnen bekannt; Sie haben es vor einer Woche gründlich untersucht. Brechert, den wir dort treffen, den duzen Sie, er Sie natürlich auch, verstanden?«

»Ja, aber, mein Gott, was soll das alles, ich muß doch sehr bitten, mir nun endlich ...«

»Nun werden Sie nicht humorlos, alter Freund. Sie haben mir hoch und heilig versprochen, Ihre amüsante Rolle säuberlich bis zu Ende zu spielen. Ich bitte mir aus, daß Sir Ihr Ehrenwort halten.«

»Ich kenne mein Wort ganz genau und werde es halten. Aber ich will wissen, ob diese Sache da bei dem Juwelier darauf hinauslaufen soll, daß Sie das Geschmeide entwenden wollen. Ich denke nicht daran, dabei mitzuwirken, und brauche es auch nach meinem Wort nicht.«

»Mein lieber Baskow, wenn Sie sich nur nicht in immer neuen Kombinationen versuchen wollten, da kommt ja doch nur der größte Blech dabei heraus. Also mein Ehrenwort, daß wir unserm guten Bekannten Praller weder das Diadem noch sonst irgendeinen seiner wertvollen Artikel klauen wollen. Ich glaube übrigens auch nicht, daß uns das so einfach gelingen würde. Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?«

»Gut, ich habe Ihr Ehrenwort und halte meins, solange ich es verantworten kann. Ich muß Ihnen aber gestehen, daß mir bei diesem ganzen Treiben hier verdammt merkwürdig zumute ist.«

»Das läßt sich nicht ändern, dafür ist es auch recht interessant. Sie erleben hier zunächst mal in Dortmund als Baskow einen abwechslungsreichen und höchst spannenden Tag. Sie hätten allen Grund, uns dafür dankbar zu sein.«

»Na, hören Sie mal, dankbar?« wandte Kilian ein, aber er verstummte, da er Farchau mit einem düster-entschlossenen Gesicht neben sich schreiten sah und sich so daran erinnerte, daß er in den Händen dieser Banditen sei. Schließlich, so beruhigte er sich, hatte man bisher ihm nichts zugemutet, was gesetzwidrig sei, wenngleich unklar war, warum er hier in dem ihm wildfremden Dortmund die Rolle des Baskow spielen mußte.

Das Juweliergeschäft von Praller war das erste am Platze, ein kristallglänzender Verkaufsraum, ausgestattet im Geschmack einer gehobenen Wohnkultur. Man wurde erwartet und der Verkäufer führte die drei Herren sogleich in das hintere Kabinett, wo Praller, ein Mann Ende der fünfzig mit weißem Vollbart und einem Ansatz von Embonpoint, mit Brechert zusammen an einem Arbeitstisch saß. Praller begrüßte die Kommenden und trat auf Menke zu:

»Herr Brechert ist auf den ersten Blick doch nicht Ihrer Ansicht, Herr Baskow. Er hält es für ausgeschlossen, daß diese Fälschungen schon vor längst vergangener Zeit vorgenommen sind.«

»Nein, sieh doch mal genauer hin, Baskow, diese Fassung hier, das ist doch entschieden moderne Arbeit.«

»Was denn? Wenn du meinst ...« stammelte Menke, »ich weiß wirklich nicht ...«

»Aber Sie meinten doch neulich, lieber Herr Baskow, daß überhaupt kein Zweifel möglich sei, und ich mußte Ihnen beistimmen. Gerade diese Fassetten, sagten Sie ...«

»Nichts da, Baskow«, unterbrach Brechert den Juwelier, »diese Fassetten sind ja typisch antikisiert, eine, ich gebe zu, gute Nachbildung, aber eben doch nur Schwindel. Guck doch mal näher hin.«

Baskow-Menke ließ sich das Geschmeide aushändigen und schaute sich seine funkelnde Pracht mit blöden Augen an; er wußte kaum, was eine Fassette sei und hatte keine Ahnung, was er rollengemäß nun etwa antworten solle und könne. Außerdem widerte ihn dieses Versteckspiel an. Während er sich den Anschein gab, als ob er ernstlich und zu Studienzwecken das Schmuckstück besichtigte und sich auch der Linse bediente, die ihm Herr Praller reichte, überlegte er, daß er jetzt, in diesem Augenblick, in Gegenwart des einwandfreien und makellosen Juweliers dem ganzen Höllenspuk, der ihn umstrickt hielt, ein Ende machen könnte, daß es ja heller Wahnsinn sei, sich durch ein Wort, das er Verbrechern gegeben hatte, gebunden zu halten, und begann daher, nachdem es zwei Minuten in ihm gearbeitet hatte:

»Meine Herren, ich möcht hier folgendes erklären. Ich bin gar nicht ...«

»Du bist gar nicht danach aufgelegt, heute ersprießliche Arbeit zu leisten, mein guter Baskow. Man sieht dir ja die Strapazen deiner nächtlichen Autofahrt an. Nehmen Sie, lieber Herr Praller, es unserem trefflichen Baskow nicht übel, daß er heute versagt. Vielen Dank, Herr Praller, wir kommen zu gelegenerer Zeit wieder.«

»Du hast recht«, sagte Wilster, indem er lauthals gähnte, »auch ich spür es noch in allen Knochen, es war ein bißchen viel, diese Reiserei. Auf Wiedersehn, Herr Praller.«

Brechert und Wilster nahmen Kilian Menke in ihre Arme, Farchau folgte, und unter den Bücklingen des Herrn Praller begab man sich auf die Straße. Draußen fing Brechert an:

»Höre, mein lieber Freund Baskow, laß dir folgendes gesagt sein: ich weiß zwar nicht, was du da eben uns im Beisein des Herrn Praller für eine Erklärung abgeben wolltest, aber, unumwunden, ich wittere Verrat! Du bist ein toter Mann, eine fischstumme Leiche in demselben Moment, wo du noch einmal zu irgendeiner unerbetenen Erklärung den Zaun deiner Zähne öffnest. Du hast uns freiwillig und feierlich zugesagt, uns auf diesem Ausflug als Baskow zur Verfügung zu stehen, wir haben dir dafür ausgezeichnete Behandlung zugesichert, du kannst dich verdammt nicht beklagen. Du hast unsre Freundlichkeiten angenommen und sitzest jetzt mit uns in einem Boot. Da gibt es keine Extratouren, Freundchen. Unsre Suppe wirst du uns nicht versalzen können, aber dein Leben, wenn du seiner über bist, kannst du heute abschließen, verstanden?«

»Ich möchte wissen, wozu das alles gut ist, was man mir hier zumutet und abverlangt.«

»Das, Baskow, geht dich einen Dreck was an. Bilde dir ein, das ganze ist ein Scherz, und du kommst der Wahrheit einigermaßen nahe.«

»Mit wem wird dieser Scherz getrieben?«

»In erster Linie mit dir. Die anderen Leutchen kennst du doch nicht, also was soll das Gefrage?«

»Mir ist zum Ersticken zumute. Ich kann nicht mehr.«

»Kein Grund zum Verzagen, mein lieber Baskow«, nahm Wilster in seiner gewinnenden Weise das Wort, »das Schwerste ist schon getan. Was nun noch kommt, ist Kinderspiel. Du brauchst nur einfach Baskow zu sein und leere Redensarten zu dreschen, wenn man dich anquatscht. Sachverständigkeiten erwartet nun keiner mehr von dir. Im übrigen, morgen geht's weiter, nach Lüneburg, du weißt es ja.«

»Gut, ich mache weiter mit«, erklärte nach einigem Besinnen Kilian, dem das Wort »Lüneburg« wie ein Weckruf zum Ausharren in der Pflichterfüllung in die Ohren geklungen war.

»Das wollte ich mir auch ausgebeten haben«, schloß Brechert diese Unterhaltung ab.

Das Ehepaar Wiedenhopp bewohnte eine hochherrschaftliche Beletage am Westwall. Die Wohnung wies an der Straßenfront eine Flucht von vier saalartigen Zimmern auf, deren Fenster bis zum Fußboden reichten, so daß immer ein kleiner Austritt vor jedem Fenster lag, der durch eine Balustrade abgeschlossen wurde. Die Wohnräume waren wie geschaffen, um Umzüge, die sich auf der breiten Hauptstraße abspielten, zu besehen. Eine bunte Schar von Bekannten der Familie bewegten sich in den Räumen, wo Portwein und Gebäck bereitgestellt waren, um sich nach Laune zu bedienen. Herr und Frau Wiedenhopp, ein Ehepaar zwischen vierzig und fünfzig, begrüßten zwanglos ihre Gäste, die willkommen waren, um der öffentlichen Veranstaltung zuzuschauen. Brechert hielt sich eng an der Seite Menkes, während Wilster und Farchau sich freier bewegten. Der Hausherr trat auf die Eintretenden zu:

»Sie da, Herr Brechert, und Sie, Herr Baskow. Nun, wie war denn Ihr Ausflug?«

»Vielen Dank, Herr Wiedenhopp, daß wir von Ihrer Wohnung Gebrauch machen dürfen«, sagte Brechert in vollendeter Form, »unser Baskow ist von seinem Ausflug ein wenig ermüdet.«

Wiedenhopp guckte Baskow genauer an und sagte:

»Ja, man sieht es Ihnen an, Sie haben förmlich einen fremden Zug um die Augen.« Im gleichen Augenblick fühlte sich Kilian von Brechert heftig in den Arm gekniffen. Er mußte also etwas sagen:

»Das ist nicht gefährlich, Herr Wiedenknopp, das wird sich geben. Ich freue mich sehr, bei Ihnen den Festzug besichtigen zu dürfen.«

»Na, ganz munter scheinen Sie doch nicht. zu sein, mein Name ist Wiedenhopp, nicht Knopp.«

»Verzeihung, natürlich, wie komme ich nur auf Wiedenknopp, lächerlich einfach!«

Aber Herr Wiedenhopp wurde abgelenkt, es kamen neue Gäste. Brechert und dicht vor ihm Kilian Menke kamen in einer Fensternische zu stehen, wo außer ihnen noch zehn bis zwölf Personen dem Spektakel zuschauten. Neben Kilian Menke stand eine außerordentlich schöne und elegante junge Frau, die mit munteren Reden das bunte und erfreuliche Schauspiel begleitete. Der Zug war glänzend organisiert und mit Geist, Kunstsinn und Humor vorbereitet. Es gab volkstümliche, geschichtliche und technische Gruppen, die Handwerksinnungen waren vollständig vertreten, große Betriebe hatten ganze Wagenburgen mobil gemacht, der Sport, namentlich der König Fußball, war auf das drolligste dargestellt, kurz und gut, es war eine frohbelebte, farbenprächtige und sinnvolle Schau, die im Laufe einer Stunde an den begeisterten Zuschauern vorüberzog. Die junge Frau neben Kilian Menke wußte zu jeder gelungenen Darstellung ein passendes Wort zu sagen. Sie wandte sich wiederholt an ihren Nachbarn unmittelbar, und dieser antwortete mit kurzen Redensarten wie: »Weiß Gott« oder »Das kann man wohl sagen« oder auch »Wirklich fabelhaft«. Während einer Pause, die im Zuge entstanden war, bemerkte die junge Frau:

»So wortkarg wie heute habe ich Sie aber selten erlebt, Herr Baskow. Fehlt Ihnen was?« Ihr erwiderte Brechert:

»Hab mich auch schon den ganzen Morgen darüber geärgert, gnädige Frau. Aber Baskow ist von einer kleinen Nachtreise ganz down.«

»Mit wem waren Sie denn unterwegs?«

»Mit Herrn Wilster zusammen, es war eine endlose Fahrerei«, brachte Kilian Menke heraus.

»Das heißt, er hat Wilster aus der Heide abgeholt«, berichtigte Brechert.

»Da haben Sie wohl tüchtig zusammen gebummelt?«

»Ja, einigermaßen. Gestern abend haben wir ziemlich viel Schlummerpunsch getrunken, das wirkt dann nach.«

»Nanu, mitten im Sommer?« wunderte sich die junge Frau. Aber der Festzug ging weiter und das Gespräch brach ab. Im weiteren Verlauf bemühte sich Kilian Menke auf die munteren Reden seiner Nachbarin lebendiger zu antworten und auf ihre humorvollen Hinweise bereitwilliger einzugehen. Es gelang ihm, fand er, recht gut, um so besser, als ihm die Frau in ihrer spritzigen Anmut sehr gefiel. Gegen Schluß bemerkte sie daher:

»Gottlob, ganz und gar hat Sie diese Nachttour mit dem Grog doch nicht unter die Füße gekriegt. Zuletzt waren Sie wieder der alte. Aber heute nach Tisch würde ich doch ein tüchtiges Schläfchen einlegen, Herr Baskow.«

»Das habe ich mir auch schon vorgenommen. Es war reizend, mit Ihnen zusammen den Festzug zu erleben, gnädige Frau, ein glücklicher Zufall.«

Als man beim Hinausgehen war, wurde Menke, von dessen Seite Brechert nicht wich, plötzlich auf die Schulter geklopft:

»Hallo, Baskow!« redete ein jüngerer Mann ihn an, »lange nicht gesehen. Wie war's denn in Essen?«

»Sehr erfreut, mir geht's vortrefflich. Brillanter Festzug das, nicht wahr? Habe selten so was Gelungenes gesehen.«

Das Gewühle brachte den Fremdling aus der Nähe, und im sicheren Geleite von Brechert betrat Menke die Straße, wo Wilster und Farchau schon warteten.

»Bravo, mein trefflicher Baskow«, erklärte Brechert, »du hast deine Sache recht ordentlich gemacht, nachdem die Anlaufschwierigkeiten überwunden waren. Das zuletzt da mit Essen war ein Meisterstück, wie du der verfänglichen Frage ausgewichen bist. Du mußt nämlich wissen, ein gewisser Baskow, also der, für den man dich hier allgemein hält, hat in den letzten Wochen zwischendurch vielfach in Essen gearbeitet; von daher kennt ihn dieser Knabe. Bleib so bei, Baskow, und du bekommst ein Lob ins Klassenbuch.«

»Was ist mit diesem anderen Baskow, den ich hier mime? Was haben Sie mit ihm gemacht? Sie haben ihn doch nicht etwa ermordet?«

»Nun fängst du schon wieder an zu spinnen«, entgegnete Wilster, »wir sind doch keine Mörder, mein Junge. Das eine versichere ich dir heilig: dem Baskow geht es prima, da mach dir keine Sorgen. Doch nun haben wir uns unser Mittagbrot redlich verdient. Wir nehmen uns hier ein Auto und fahren nach Krefti.«

Krefti war das weithin bekannte Gartenlokal im Stadtpark. Auf der Terrasse war ein Tisch reserviert, an dem man sich mit drei anderen Gästen der »Pension Kröchel« zum Speisen verabredet hatte. Wilster und Brechert unterrichteten Kilian Menke unterwegs über die Persönlichkeiten dieser Bekannten; einer war ein Handlungsgehilfe namens Alving, mit Baskow von der Pension her gut bekannt, ein andrer namens Meiring war erst seit einer Woche in der Pension und suchte Anschluß; ihn kannte man nur flüchtiger. Der dritte war ein älterer Herr, ein Privatgelehrter, Dauermieter in der Pension, ein Sonderling mit dem zu ihm passenden Namen Düsterling. Kilian Menke, über das Wohlbefinden seines alter ego beruhigt, versprach auf diese drei Mittafler angemessen zu reagieren; man verabredete weiter, daß sowohl er wie auch Wilster gesteigerte Müdigkeit zur Schau tragen sollten.

Man fand sich an dem reservierten Stammplatz auf der Terrasse zusammen und speiste mit Behagen im Sonnenlicht, das allerdings etwas dunstig war. Das flatterhafte Gespräch, zu dem Baskow nur nichtssagende Bemerkungen beizutragen brauchte, bekam eine bestimmtere Wendung, als Düsterling, ein eingefleischter Pedant, sich folgendermaßen ausließ:

»Wir sprachen neulich darüber, Herr Baskow, ob die alten Assyrer den Rubin gekannt haben mögen. Haben Sie auf diesem Gebiete weitere Tatsachen ermittelt?«

»Wie beliebt? Die alten Assyrer den Rubin, sagten Sie?«

»Gewiß doch, davon war die Rede. Gewisse Funde bekanntlich deuten darauf hin. Aber Sie bezweifelten, daß es sich dabei um echte Korunde gehandelt habe.«

»Wie bitte?«

»Sie meinten neulich, die alten Assyrer hätten in Wirklichkeit doch bloß den Spinell gekannt.«

Kilian Menke sah sich hilfesuchend um. Er hatte keine Ahnung, ob der merkwürdige Düsterling einen Scherz mit ihm trieb oder ob Korund und Spinell wissenschaftliche Bezeichnungen für ihm wildfremde Dinge seien. Aber keiner meldete sich zum Wort, alles lächelte amüsiert in sich hinein, und nur der alte Sonderling blieb todernst bei seiner Stange:

»Der Spinell ist ja einwandfrei gefunden, der ist bei den Assyrern nachweisbar. Aber bitte, kannten sie den Korund? Korunde sind älter als das Menschengeschlecht, aber haben die Assyrer ...«

»Nun lassen Sie doch, lieber Herr Düsterling«, fiel Brechert ein, »merken Sie denn nicht, daß unser Baskow heute keine Lust zu Fachsimpeleien hat und Sie nur verkohlt? Und unsre Freunde Meiring und Alving verstehen von Ihrem mineralogischen Rotwelsch sowieso keine Spur.«

»Nein, allerdings«, bemerkte Meiring, »wer waren denn Korund und Spinell?«

»Das sind keine Männer, wie Sie anzunehmen scheinen«, klärte Wilster auf, »sondern Minerale verschiedener Wertigkeit. Baskow, tu uns die Liebe und setze deine Fachdebatte mal gelegentlich unter vier Augen zu Hause mit Herrn Düsterling fort, hier ist für deine Gelehrsamkeiten nicht der richtige Ort.«

»Gut, wenn Ihr meint«, erwiderte Menke-Baskow, der sich inzwischen gefunden hatte, »ich hätte gern diese höchst interessanten Fragen mit Herrn Düsterling weiter durchgesprochen. Nichts für ungut, Herr Düsterling, wir erörtern das dann ein andermal, wenn's Ihnen recht ist.«

»Mir soll das genehm sein, ich habe da nämlich eine Stelle ...«

»Lassen Sie's gut sein, Düsterling. Reden wir von was anderem, zum Beispiel vom Wetter. Wie ist es damit? Es bezieht sich«, lenkte Brechert ab.

In der Tat zog graues Gewölk von Westen herauf, in unfreundlicher, feuchter Wind hatte sich erhoben, und die Sonne verbarg sich hinter Schleiern.

»Dumm«, sagte Farchau, »das verpatzt uns ja unseren Nachmittagsausflug, aber ich denke wir fahren trotzdem.«

»Viel wichtiger ist, daß wir uns zunächst einen Tisch im Saale sichern, denn hier draußen wird es bald zu gießen beginnen«, schlug Wilster vor. Man stand auf und begab sich ins Innere des Lokals. Dabei geschah es, daß Kilian Menke für einen Augenblick nicht hart an der Seite eines seiner Bewacher war, und just in diesem Moment geriet er neben einen älteren Herrn, der plötzlich das Wort an ihn richtete:

»Seh ich recht? Potzblitz, Sie sind doch Kilian Menke, oder irre ich mich?«

»Wieso, ich wüßte wahrhaftig nicht«, stotterte dieser.

»Aber ich bin doch Tomscheck, Ihr Prokurist damals in Bremen, Sie müssen sich doch meiner noch entsinnen, Herr Menke, es ist allerdings gut und gern zehn Jahre her.«

»Herr Tomscheck, richtig! Das heißt ...«

Kilian Menke konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn Brechert und Wüster tauchten neben ihm auf. Sie griffen ihm unter die Arme, indem Brechert sagte:

»Aber, mein Freund, wo bleibst du denn, wir verlieren uns hier ja noch in dem Gedränge. Unser Tisch ist da ganz hinten in dem anderen Saal.« Und ehe zwischen Menke und dem Prokuristen Tomscheck noch ein weiteres Wort gewechselt werden konnte, zogen sie ihn von dannen.

»Was gibt es denn hier für Privatunterhaltungen, Baskow? Das ist gegen jede Verabredung, mein Lieber, Sie sind wohl des Teufels!«

Kilian Menke klärte die beiden über das Vorgefallene auf, und sie beruhigten sich, um so mehr, als man Tomscheck völlig aus den Augen verlor. Als man kaum Platz genommen hatte, wurde Brechert an das Telephon gerufen; anscheinend hatte er am Büfett Bescheid gesagt, den Anruf also erwartet. Ohne über das geführte Gespräch ein Wort zu verlieren oder irgend ein erkennbares Zeichen zu geben, kam er nach Verlauf von etwa zehn Minuten wieder an den Tisch. Inzwischen hatte sich, indem man das unterbrochene Mittagsessen fortsetzte, eine ungeregelte und flüchtige Unterhaltung fortgesponnen, bei der von Kilian Menke nur Redensartliches erwartet und von ihm gewissenhaft gewährt wurde. Beim Nachtisch aber gab es wieder einen kleinen Zwischenfall, der ihn vor eine schwere Aufgabe stellte:

Meiring verletzte sich beim Schälen einer Apfelsine ein wenig die linke Hand, da er mit dem Obstmesser infolge Ungeschick ausrutschte. Das gab Veranlassung, über Ungeschicklichkeiten allgemein zu sprechen, und Alving äußerte zu Baskow:

»Wissen Sie noch vor zwei Wochen, Baskow, wie wir die Scherben von dem heruntergefallenen Service aufsammelten. Fast im gleichen Augenblick schnitten wir uns beide in die rechte Hand. Bei Ihnen war's ein bißchen schlimmer als bei mir. Aber die Narbe habe ich hier noch am Mittelfinger. Ist Ihr Daumen auch so gut geheilt?«

Kilian Menke raffte alle Geistesgegenwart zusammen, was war zu tun? Hilfe von außen war unmöglich, eine Narbe hatte er nicht, also:

»Mein Daumen? Ich hab weiß Gott an den kleinen Vorfall überhaupt nicht mehr gedacht. Eine Narbe? Nein, wissen Sie, eine Narbe ist schon heute bei mir nicht mehr erkennbar.«

»Lassen Sie sehen, das ist ja fabelhaft, hier am Ballen war es, mindestens einen Zentimeter lang war der Schnitt; weiß Gott, nichts mehr zu sehen.«

»Das wundert mich nicht, ich habe von Kind auf an eine enorme Heilhaut. Ich hatte mir mal als Knabe bei einem Sturz hier am Auge eine Wunde zugezogen. Ob Sie es nun glauben oder nicht, nach zehn Tagen war davon überhaupt nichts mehr zu sehen.«

»Das grenzt ja beinahe ans Wunderbare.« Und damit war auch dieser Zwischenfall überwunden, glücklich und gut, stellte Menke mit sportlicher Befriedigung fest; denn mittlerweile machte ihm dieses offenbar harmlose, wenn auch unklare Spiel, das ihn verurteilte, ein anderer zu sein, als er war, Vergnügen, und es stachelte seinen Ehrgeiz, die einmal gestellte Aufgabe mit Verstandesschärfe und Umsicht so gut zu lösen, wie es nur möglich war. Wilster war es, der an dem Eifer, mit dem Baskow seine Rolle spielte, Gefallen fand und ihn daher mit den Worten versteckt belobte:

»Das ist mir auch schon mehrfach bei dir aufgefallen, Baskow, daß dir Verletzungen nichts anhaben können. Da muß es schon ganz dick kommen, ehe du dich verblüffen läßt.«

Man brach auf. Farchau schlug vor, ungeachtet des schlechten Wetters an dem Plan einer kleinen Autotour festzuhalten. Alving und Meiring entschuldigten sich mit anderen Verabredungen, Düsterling schied aus, weil er überhaupt keine Freude am Autofahren habe, und Brechert erklärte, er müsse arbeiten. So blieben außer Baskow, der nicht gefragt wurde, ob ihm der Vorschlag genehm sei, nur Wilster und Farchau für das Unternehmen übrig. Diese drei, begaben sich im Schlenderschritt – es regnete im Augenblicke gerade nicht – zur Garage, um den DKW zu holen.

»Wo soll's denn hingehn?« fragte Menke-Baskow.

»Irgendwohin ins Gebirgische«, war die lakonische Antwort Wilsters. Mittlerweile war es Nachmittag, etwa einhalbfünf Uhr, geworden. Man fuhr, Farchau wieder am Steuer, Wilster und Baskow hinten im Wagen, im geschwinden Tempo aus dem Weichbild der Stadt hinaus, soweit sich Kilian Menke orientieren konnte, diesmal etwa in nördlicher Richtung, also auf ihm unbekannten Bahnen. Aber von einer Hauptausfallstraße bog es sehr bald nach rechts hin auf Nebenchausseen ab; im allgemeinen wiederholte sich das Bild vom frühen Morgen: eine klare Richtung war nicht erkennbar, man konnte manchmal glauben, im Kreise zu fahren. Das Wetter wurde immer ungemütlicher, tiefe Wolken jagten über den Himmel, es wurde unangenehm kühl und immer neue Regenböen fegten über die Fluren. Kilian Menke, dem einigermaßen abgespannt zumute war, bemerkte, gähnend:

»Bisher dieser Tag war ja ganz amüsabel bei allen Rätseln, die er mir aufgab. Aber diese Kreiselfahrerei im Regen ist zwar auch rätselhaft, aber dafür nicht ein bißchen genußreich. Was soll das in aller Welt?«

»Mein lieber Baskow, wir sind ja nicht allein zum Vergnügen in diese Welt des Jammers gesetzt, bedenken Sie das bitte.«

»Dahinter bin ich auch schon in den letzten sieben Wochen gekommen, denken Sie! Aber das mochte eine verborgene Vernunft haben, diese Gondelei betreiben wir doch aber zu unsrer Belustigung, oder wie?«

»Nehmen Sie dies ruhig als Belustigung, lieber Baskow, denn es kann ja verteufelt viel schlimmer kommen«, sagte Wilster in einem Tonfall, in dem so etwas wie Wehmut oder Bedauern mitklang, so daß Kilian Menke unheimlich berührt aufhorchte und nichts Passendes zu erwidern wußte.

Inzwischen wurde das Unwesen da draußen immer ärger. Der Wettersturz schien von Gewittern begleitet zu sein, obwohl man weder Blitze sah noch Donner vernahm; aber der Sturm war voller Rumoren, und plötzlich peitschte Hagelschlag gegen die Windschutzscheibe, daß man keine zehn Meter voraus etwas sehen konnte.

»Das wird zu toll«, sagte Farchau, der die Fahrt wegnahm, »es ist noch recht früh, ich mache bei nächster Gelegenheit eine Pause; was meinst du, Wilster.«

»Wart mal, es ist eben erst fünf, ich denke, eine Viertelstunde haben wir über. Ein Täßchen Kaffee wird uns allen gut tun.«

Man fuhr gerade an einem Waldrand, und nach wenigen hundert Metern traf man auf eine Wirtschaft, die den Vorüberkommenden sich als »Waldeslust« empfahl. Man parkte neben einigen anderen Wagen, deren Insassen ebenfalls Unterschlupf gesucht haben mochten; in der nicht sehr geräumigen Wirtsstube, in die man, ungeachtet des kurzen Weges, ziemlich durchnäßt, Menke voran, die beiden andern dicht hinter ihm, eintrat, saßen allerhand Kaffeegäste. An einem Tisch sprang, kaum daß Baskow im Lokal war, ein Herr mittleren Alters auf, ersichtlich hocherfreut, und schritt ihm mit den Worten entgegen:

»So eine Überraschung! Wie in aller Welt kommen Sie denn hierher, Baskow!«

»Immer noch auf allen vier Beinen«, antwortete Menke-Baskow, wie man es ihm für derartige Fälle einstudiert hatte.

»Das will ich meinen. Und mit wem sind Sie denn da zusammen? Stellen Sie mich doch bitte den beiden Herren vor.«

»Gerne. Das sind meine Freunde Wilster und Farchau, bitte kommt doch näher heran, ich dachte übrigens, Sie kennen sie.«

»Woher denn, keinen Schimmer. Aber Sie haben mich noch nicht vorgestellt, alter Schussel Sie!«

»Bitte um Entschuldigung, aber wissen Sie, mit der feineren Lebensart, da hapert es bei mir manchmal bedenklich.«

»Na, so sagen Sie doch Ihren Freunden meinen Namen, das wird ja langsam peinlich.«

»Nun nennen Sie ihn schon lieber selber, ich habe mich nun einmal blamiert.«

»So etwas Albernes ist mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen! Habe noch nie beobachtet, daß Ihre Lebensart zu wünschen übrigließe. Daß Sie nach unserem letzten Zusammensein in Essen heute solch ein Theater machen, ist mir einfach unbegreiflich.«

»Nichts für ungut, mein werter Herr«, fiel Farchau ein, »aber wir müssen weiter, wir haben für derartige Auseinandersetzungen mit dem besten Willen keine Zeit.«

»Wieso denn nicht? Sie kommen doch eben erst hier an!«

»Das tut nichts zur Sache, wir gehen nun wieder. Kommen Sie, Baskow, raus!«

»Tatsächlich, mein Freund hat recht, es ist besser, wir brechen auf«, stammelte dieser.

»Das ist aber höchst merkwürdig! Wie kommen Sie mir überhaupt vor? Sind Sie eigentlich wirklich Baskow, hören Sie mal?! Sie haben da einen Unterton, einen Zungenschlag...«

Aber die drei hörten nicht mehr hin. Kurz entschlossen wurde Menke-Baskow in die Mitte genommen, und spornstreichs ging es zur Tür, durch die man soeben die Gaststube betreten hatte, wieder hinaus. Der Fremde folgte ihnen bis zur Haustür, wo ihm ein Schwall von Hagelschauern ins Gesicht fegte, der aber die Fliehenden nicht gehemmt hatte; sie waren schon nach links hin auf den Parkplatz verschwunden.

»Das ist ja eine höchst gediegene Geschichte«, murmelte der Zurückbleibende in seinen Bart, indem er kopfschüttelnd sich an seinen Platz zurückbegab, »wenn das Baskow war, will ich Meier heißen!«

Die Fahrt ging durch das Hagelgedünste in halsbrecherischer Geschwindigkeit weiter. In seinen nassen Kleidern begann Kilian Menke elendiglich zu frieren. Wilster wandte sich mit verbissener Miene nach hinten und schaute angespannt durch die rückwärtige Scheibe hinaus. Farchau bog bei nächster Gelegenheit in einen Waldweg ein, fuhr dann einige Male kreuz und quer und gelangte so wieder auf irgendeine Chaussee. Auf dieser ging die unübersichtliche Reise wie vorher weiter: mal rechts, mal links, es war keine Vernunft in diesen Richtungswechseln zu erkennen. Nirgends stieß man auf Kilian Menke bekannte Ortsnamen, nur einmal besagte ein Schild, daß man 18,4 Kilometer von Hamm entfernt sei, aber diese Richtung blieb rechts liegen. Bald nach Verlassen des Waldes bemerkte Wilster, indem er wieder sich nach vorn wandte:

»Es ist gut, Farchau, du kannst wieder vernünftig fahren, niemand folgt uns.«

Aber inzwischen hatte sich das Unwetter verzogen und einem rieselndem Landregen Platz gemacht, so daß kein Grund vorlag, die Geschwindigkeit zu mäßigen. Allmählich nahm die Landschaft wieder einen welligen Charakter an, man befand sich in den Ausläufern eines Mittelgebirges. Kilian Menke sammelte seine geographischen Kenntnisse und kam zu dem Ergebnis, daß, soweit er das Zickzack der Marschroute hatte verfolgen können, es sich um den Teutoburger Wald handeln müsse. Die letzte größere Ortschaft, die man passiert hatte, hatte Versmold geheißen, aber das hatte zu seiner Orientierung nichts beigetragen. Die Uhr der Kirche dort hatte fünf Minuten vor sechs gezeigt.

Eine Viertelstunde später machte Farchau vor einer einsam gelegenen ländlichen Gastwirtschaft dreimal laut hupend halt. Es handelte sich um einen etwas vom Wege abliegenden einfachen Ausschank, zu dem etwas Landwirtschaft gehörte. Hinter der Kate, die die Wirtschaft barg, befand sich ein Hofplatz mit Schuppen und primitiven Stallgebäuden. Das Anwesen lag am Rande eines Hains, der buschig und undurchsichtig war, seine Grenzen verloren sich ohne Zaun in den Waldbezirk. Vor dem Häuschen war ein kleiner Garten mit Lauben, und an seiner Front stand eine Reihe beschnittener Linden, unter denen sich Sitzplätze befanden. Wie immer ließen die beiden Begleiter Baskow vorangehen; er konnte daher nicht wahrnehmen, daß Farchau hinter ihm einen kleinen Zettel aufhob, der neben der Pforte am Boden gelegen hatte, auf dem nichts als ein Ausrufungszeichen stand, und den er Wilster wortlos hinhielt. Man nahm unter der Lindenreihe Platz und bestellte bei einem im Greisenalter stehenden und halbtauben Wirt Kaffee, der sich als eine bräunliche, dünn-heiße Brühe erwies. Beim Schlürfen dieser immerhin wärmenden Flüssigkeit begann Wilster:

»Während unser Baskow da in der ›Waldeslust‹ jenem Fremdling gegenüber – wer mag es bloß gewesen sein? – sich mit meisterlichem Geschick benahm –, wirklich: Hut ab, Baskow! – und im besten Begriff war, die heikle Situation zu meistern, hast du da, Farchau, wie ein Ochse im Porzellanladen gewütet.«

»Quatsch, es war die einzige Möglichkeit, Leine zu ziehen.«

»Ja, wenn wir es darauf anlegen wollten, daß jener Höflichkeitsfanatiker Lunte riechen sollte!«

»Der hat doch nichts spitz gekriegt! Der hat höchstens unseren Baskow für besoffen gehalten.«

»Wenn schon, aber was sollte er dann von dir Esel denken, da du, kaum daß wir das Lokal betreten hatten, plötzlich blödsinnige Eile hattest, wieder hinauszukommen? Wenn du dabei wenigstens auch dich betrunken angestellt hättest! Aber nicht die Bohne! Man sah dir glatt an, daß uns die Situation mulmig wurde, alter Hornochse!«

»Nun höre aber gefälligst auf! Was sollte Baskow wohl nach deiner unmaßgeblichen Meinung dem Burschen auf die Erinnerung an das letzte Zusammensein in Essen erwidern, he?«

»Das war seine Sache, und er hatte sie bis dahin vortrefflich gemacht, er saß noch lange nicht fest, mein Lieber, was du Döskopp allerdings schon nach der allerersten Anrede getan hättest! Fersengeld konnten wir immer noch geben, wenn die Kiste versiebt war. Soweit aber war es noch lange nicht. Was meinen Sie, Baskow?«

»Ach, das ist doch jetzt völlig Wurst. Mich friert übrigens schauderhaft, und dann: ich möchte mal austreten.«

»Bitte schön, immer zu doch!«

Menke-Baskow begab sich um die Hausecke auf den hinteren Hofplatz, wo ein Herz in einer unverschließbaren Holztür ihm den richtigen Weg wies. Er wunderte sich, daß man ihn alleine gehen ließ, und ihm fiel sogleich ein, daß sein Versprechen, nicht zu fliehen, auf einen solchen Fall sich ausdrücklich nicht bezog. Er hielt daher nach Verlassen des Verschlages vorsichtig Umschau; niemand war zu erblicken. Er ging mit behutsam-eiligen Schritten an einem Holzschuppen, einem halb verfallenen Stallgebäude und einer Mistkule vorüber und befand sich mit den nächsten Schritten in der freien Gegend des buschigen Haines. Nun nahm er Laufschritt auf und rannte, unsägliche Freiheitshoffnung in seinem pochenden Herzen, mit voller Kraft einen beiderseits von dichtem Buschwerk eingefaßten, engen Pfad entlang, der leicht verschlungen von dem Anwesen fortführte.

Als er vielleicht hundert Meter davongejagt war, trat unmittelbar vor ihm hinter einem Busch hervor Robert auf seinen Weg. Er schwang in seiner Rechten einen Gummiknüttel, den er mit voller Wucht hoch von oben her auf den Schädel Kilian Menkes niedersausen ließ. Wie ein gefällter Baum stürzte der Getroffene zu Boden.


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