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II.

Das also war die bescheidene, tüchtige und freundliche Persönlichkeit Kilian Menkes, der es vom Schicksal vorbestimmt war, in geheimnisvolle und verworrene Geschehnisse hineingerissen zu werden, die widersinnig und aberwitzig erschienen. Warum all das Unheimliche und Quälende gerade auf ihn herniederprasseln mußte, das war der Inhalt der verzweifelten Gedanken und Bedenken, die Kilian Menke durch lange Wochen hindurch unter abenteuerlichen und fragwürdigen Umständen sich machen konnte. Wenn er so unter Verhältnissen, die zu ihrer Zeit noch genau zu schildern sein werden, über sein mysteriöses Los nachdachte, so verfielen seine Erwägungen immer wieder auf die Frage, wann eigentlich zum erstenmal in seinem Leben das Geheimnis sich angekündigt haben mochte. Denn es schien ihm in seinem späteren Nachsinnen erwiesen, daß schon Wochen, ja Monate vor der Katastrophe selbst, die in der zweiten Hälfte des April eintrat, und die ihn für lange Zeit dann aus der gewohnten Lebensbahn warf, Geheimnisvolles um ihn zu spielen begonnen hatte. Einzelnes verleugnete, rückschauend betrachtet, seine unmittelbare Beziehung zu dem unbekannten Verbrechen, dessen fragwürdiges Opfer er geworden war, nicht und lag nun in seinem Kausalzusammenhang klar zutage. Aber anderes war umstritten und zweifelhaft; doch konnte es sehr wohl so sein, daß der Schlüssel zu dem Geheimnis gerade in diesem Zweifelhaften lag. So grübelte er und besann sich beispielsweise auf folgendes:

Einmal im Herbst vorigen Jahres – der September war schon vorgeschritten, aber es herrschte noch köstliches Sommerwetter – hatte er in der ihm vertrauten Badeanstalt einem Sportfest als Zuschauer beigewohnt. Es handelte sich um die Austragung von Wettkämpfen, Schwimmen, Springen und Wasserball, die zwischen dem Lüneburger Verein, dessen Mitglied er war, und Hamburger Vereinen stattfanden. Mit den Hamburgern war allerhand großstädtisches Publikum zu der Veranstaltung herbeigeeilt, meistens Jugendliche und junge Männer, die, vermischt mit ortsansässiger Bevölkerung, die an der Uferlände aufgeschlagene Tribüne fast ganz füllten. Kilian Menke saß zusammen mit einigen Vereinskameraden in einer der ersten Bankreihen und beteiligte sich mit höchster Aufmerksamkeit und häufig auch mit lebhaften Ermunterungszurufen an den sportlichen Vorgängen, bei denen die Lüneburger gegenüber den großstädtischen Konkurrenten meistens einen schweren Stand hatten. Da, in einer kleinen Pause, die zwischen dem Turmspringen und der 800-Meter-Staffel sich ergab, geschah es zum erstenmal ... Und das »Es«, das da geschah, war so nichtssagend und unbeachtlich, daß er es eigentlich überhaupt vergessen hatte und sich daran nur deshalb wieder erinnerte, weil er mit all seiner vielen Zeit krampfhaft bestrebt war, in das Dunkel der Zusammenhänge hineinzuleuchten.

Es war so: Während Kilian Menke mit geteilter und leicht ablenkbarer Aufmerksamkeit die Vorbereitungen für den bevorstehenden Staffelkampf verfolgte, verspürte er am Hinterkopf in der Gegend des Haaransatzes einen flüchtigen Kitzel, der zunächst im Unterbewußten blieb, dann aber doch über die Schwelle der erkannten Wahrnehmung trat und ihn veranlaßte, sich, leicht geniert, nach hinten umzusehen, was ihm da wohl diesen merkwürdigen Kitzel verursachen könne. Was er wahrnahm und als Ursache seines flüchtigen Gefühls zu erkennen glaubte, war folgendes: Etwa sechs Bankreihen zurück, links schräg hinter und über ihm, saßen zwei Männer, der eine vielleicht vierzig Jahre alt, der andere entschieden jünger, beide sportlich und großstädtisch gekleidet, beides übrigens Menschen, die Kilian Menke bestimmt noch nie in seinem Leben gesehen oder jedenfalls nicht beachtet hatte. Im Umblicken konnte er erkennen, daß sie in dem Augenblick, wo er sie in das Auge faßte, ihre bohrenden Blicke von ihm abwandten, so rasch und so unauffällig, wie dies nur immer geschehen konnte. Kilian dachte flüchtig: »Was haben die da mich denn zu fixieren?« und wandte, ohne gegenüber seinen Kameraden von dem nichtigen Vorfall ein Wort zu verlieren, seine Aufmerksamkeit wieder dem Sportgeschehen zu.

Einen weiteren Kitzel verspürte er an diesem Nachmittag nicht. Wohl aber kamen seine Gedanken während der Pause, die etwa eine kleine Stunde später vor dem Wasserballspiel der beiden ersten Mannschaften stattfand, ganz von selber auf das Begebnis zurück. Kilian hatte seinen Platz verlassen, um in der Kantine eine Erfrischung zu sich zu nehmen, und schlenderte nun lässig, hier und da mit Sportfreunden ein Wörtchen wechselnd, auf seinen Platz zurück. Als er sich, an der Tribüne angelangt, ohne Hast durch die Bankreihen hindurchdrängte, fielen ihm die beiden Großstädter wieder ein; ohne besondere Absicht nahm er seinen Weg so, daß er sie möglichst ins Blickfeld bekam, und stellte eindeutig, wie ihm bedünkte, fest, daß man sein Wiedererscheinen mit einer gewissen Spannung erwartet zu haben schien und sich nun über ihn unterhielt. Das alles ergab sich klar aus ihren Mienen und ihrem Gebaren, und weiter ließ sich vermuten, daß sie sich hinsichtlich seiner Person in irgendeiner Beziehung nicht ganz einig seien. »Na, sowas«, dachte Kilian, »für die beiden scheine ich ja der Clou der Veranstaltung zu sein!« Und mit leichtem inneren Kopfschütteln nahm er seinen Platz ein, um angesichts der erregenden Vorgänge bei dem Wasserballspiel die beiden Männer völlig aus dem Sinn zu verlieren.

Das war alles. Er hatte seines Wissens die beiden Männer dann nie wieder gesehen. Er hielt es für möglich, aber er wußte es nicht mehr genau – es war ihm zu gleichgültig gewesen –, daß er am Schluß beim Weggehen noch einen Blick in die Gegend geworfen hatte, wo die beiden gesessen hatten. Auf keinen Fall hatte er sie wieder zu Gesicht bekommen; möglicherweise hatten sie den Sportplatz vorzeitig verlassen. Nicht mit einem Hauch seiner Gedanken hatte sich Kilian Menke mit diesem belanglosesten aller Vorkommnisse wieder beschäftigt, bevor die Katastrophe über ihn hereinbrach; er hatte es in all seiner Ödigkeit stillschweigend in die Abteilung seines Gehirns verwiesen, wo der Zeitablauf die Wahrnehmungen zerreibt, um für Neues und Wesentlicheres Platz zu schaffen.

Was gab es noch im Strom der gleichmäßig dahinfließenden Tage, Wochen und Monate, was sich als beziehungsvoll und bei näherer Betrachtung als aufschlußreich erweisen konnte?

Daß man einmal ohne erkennbare Ursache stolperte, daß man einen Gebrauchsgegenstand, den man verlegt hatte, an seinem Platze wiederfand, obwohl er beim ersten Nachsuchen dort offenbar nicht gelegen hatte, daß man mal von jemandem gegrüßt wurde, der sich ersichtlich in der Person geirrt hatte, das und Ähnliches waren Zufälle und Erfahrungen, die sich immer wieder und geradezu regelmäßig wiederholten; kein bohrender Verstand konnte hinter solchen Harmlosigkeiten Hintergründe und verborgene Beziehungen zu dem Geheimnis wittern, das ihn umstrickt hielt. Aber es gab anderes, flüchtig betrachtet zwar ähnlich Nichtiges, aber fragwürdigeren Charakters, das den Grübelnden zum mindesten nachträglich stutzig machte und ihm Fingerzeige zu enthalten schien.

Da war zum Beispiel folgendes: Zu Beginn des Dezember, am zweiten Adventssonntag, fand bei Frau Lengfeldt Familientag statt. Beim Abendessen kam das Gespräch auf eine volkstümliche Lustbarkeit, die alljährlich um diese Zeit in dem unweiten Heidestädtchen Birkenbüttel veranstaltet wurde, ein traditionelles Gänseessen mit allem möglichen Drum und Dran, hauptsächlich einer Tanzerei in allen Lokalen des Nestes, wobei Stadt und Land sich fröhlich mengten und die Jugend bis zum Hahnenschrei auszuharren pflegte. Dieses Fest hatte vor einer Woche stattgefunden und diesmal deshalb besonders von sich reden gemacht, weil bei der Heimfahrt zu sehr später Nachtstunde ein Autobus an einem Bahnübergang verunglückt war. Man besprach bei der Tafel das erregende Ereignis. Als die Unterhaltung hierüber sich nahezu erschöpft hatte, wandte sich Landgerichtsrat Dr. Klotze, ein Schwager von Frau Lengfeldt, an Kilian Menke mit den Worten:

»Na, Menke, alter Schwede, Sie hüllen sich ja in düsteres Schweigen. Ihnen geht's wohl durch den Schädel, daß das Malheur Sie auch leicht hätte erhaschen können?«

»Mich, Dr. Klotze, wieso gerade mich?«

»Nun tun Sie man nicht so verschämt! Sie waren doch in Birkenbüttel mittenmang.«

»Wie meinen Sie? Ich sollte in Birkenbüttel gewesen...?«

»Ja, wo denn sonst, und warum auch nicht? Sie sind doch auch sonst nicht als Kostverächter bekannt.«

»Gewiß doch: warum auch nicht? Ich hätte keine Veranlassung, aus meiner Teilnahme ein Geheimnis zu machen. Aber es läßt sich nun mal nicht ändern: ich war nicht da.«

»Aber, ich hab's von Inspektor Michels, der hat mir ihr Zusammentreffen doch erzählt.«

»Inspektor Michels, sagen Sie? Gewiß, den kenne ich flüchtig vom Briefmarkensammeln her. Und der will mich in Birkenbüttel getroffen haben?«

»Was heißt: ›will mich?‹ Der hat Sie getroffen! Warum sollte er mir sonst groß und breit davon erzählen? Aber wenn es geheim sein soll, bitte, ich will dann in Gottes Namen nichts gesagt haben.«

Im Verlauf des Gesprächs wiederholte Dr. Klotze, was Inspektor Michels ihm erzählt hatte, etwa, daß Menke in einem der Lokale, »Heidekrug« hieße es wohl, kurz nach Mitternacht mit einem Bauernmädel getanzt hätte und höllisch fidel gewesen wäre, und daß Michels in einer Tanzpause an der Theke mit Menke auch ein paar Worte gesprochen hätte. Michels hätte gemeint, Menke wäre bei der Unterhaltung auch mordsvergnügt gewesen und hätte immer wieder gesagt: »Leben und leben lassen«, sei sein Grundsatz. Das Gespräch endete mit Menkes bestimmter Erklärung, er wäre nicht in Birkenbüttel gewesen.

Diese absonderliche Geschichte hatte Kilian Menke zunächst nicht weiter groß beunruhigt, erst nachträglich gab sie ihm allerhand zu denken. Beim nächsten Wiedersehen berichtigte ihm Dr. Klotze, daß Michels steif und fest dabei bleibe, mit Menke und niemandem anders sich unterhalten zu haben. Er sei nur zum Schutze seiner halbwüchsigen Tochter mit nach Birkenbüttel gegangen, habe sich also völlig mäßig gehalten, es komme nicht in Betracht, daß seine Wahrnehmung durch Alkohol etwa getrübt gewesen sei. Eine Verwechselung sei nach seiner, Michels, Überzeugung auch deshalb völlig ausgeschlossen, weil ihn doch auch sein Gesprächspartner offenbar erkannt und auf die Anrede ›Herr Menke‹ ohne jede Verwunderung reagiert habe. Das aber wisse er ganz genau, daß er den andern mit kräftigem Händedruck mit seinem vollen Namen angeredet habe. Irrtum? Ausgeschlossen! Ein Wort hätte ja genügt, die Verwechselung aufzuklären. Kurz und gut, Michels schwöre Stein und Bein, daß er Menke in Birkenbüttel getroffen habe.

Das war beunruhigend, jetzt, nach der Katastrophe, ganz entschieden beunruhigend und ein bedeutsamer Fingerzeig. Doch auch gleich zu Anfang hatte es Menke ein wenig unheimlich berührt; denn die Frage drängte sich ja geradezu auf, was jenen Fremdling, seinen Doppelgänger, veranlaßt haben mochte, den harmlosen Michels in seinem Irrtum zu bestätigen und sich da als Kilian Menke aufzuspielen (den jener doch gar nicht kannte). Aber Menke hatte sich sehr bald bei der Erwägung beruhigt, daß die allgemeine Trallstimmung dem Manne eingegeben haben mochte, den Spießbürger zu mystifizieren, so wie man im Karneval gern für jemand anders gelte, als man sei. Über dieser einschläfernden Erwägung war die Erinnerung an diese Absonderlichkeit bald verblaßt, zumal ein Verdacht, daß ein Zusammenhang zwischen dieser Birkenbütteler Geschichte und jener Nichtigkeit in der Badeanstalt bestehen könne (die inzwischen abgetan und vergessen war), ihn nicht im leisesten beschleichen konnte.

Dagegen schien irgendein Zusammenhang zwischen der Irreführung des Inspektors Michels und dem nachstehenden Vorfall von Anbeginn an gegeben: Es war an einem Sonntag anfangs März – auffallend übrigens, daß alle Vorgänge, die stutzig machten, sich an Sonntagen zugetragen hatten –, als Kilian Menke bei erster einfallender Abenddämmerung von einem Spaziergang sich in seine Wohnung zurückbegab, um sich für eine Abendvisite umzukleiden. Er ging, erfreut über das milde Vorfrühlingswetter, gelassen fürbaß, inmitten eines mäßig belebten Sonntagsverkehrs. Zu Ehren der linden Lüfte hatte man zum erstenmal Frühlingsgarderobe angelegt, und Kilian Menke trug einen neu erstandenen Trenchcoat. Als er in die Feuerbachstraße einbog, gewahrte er an der nächsten Straßenecke einen Herrn, der dort auf jemanden zu warten schien. Kaum ward der Fremde Menkes ansichtig, als seine Haltung sich belebte. Er ging einige Schritte dem Herankommenden entgegen und suchte ihn durch Winke zur Beschleunigung anzuhalten. Menke betrachtete sich das merkwürdige Verhalten des Unbekannten einige Augenblicke und hörte dann, wie jener ihm zurief: »Menschenskind, was bummelst du denn so entsetzlich!« Menke, der dem andern sich in diesem Augenblick bis auf etwa fünfzig Schritte genähert hatte, antwortete mit einem verwunderten Achselzucken. Urplötzlich aber änderte sich nun das Verhalten des anderen: er machte kehrt und suchte mit sich beschleunigenden Schritten die Seitenstraße zu gewinnen; dabei gab er sich verzweifelt den Anschein, als habe all das frühere überhaupt nicht stattgefunden.

Blitzartig schoß es Menke durch den Kopf, daß diesem Fremdling die umgekehrte Verwechselung passiert sei, die Inspektor Michels in Birkenbüttel begegnet war, daß er also die beste Gelegenheit habe, sich bei diesem Manne da nach der Person seines Doppelgängers, den es geben mußte, zu erkundigen. Er beschleunigte daher seine Gangart, um den Mann zu stellen. »He, Sie da! Verzeihung, darf ich eben mal bitten«, rief er ihm nach, und als dieser unberührt seine Schritte fortsetzte: »Ach bitte doch, mein Herr, nur für einen ganz kurzen Augenblick!« Aber jener war taub und verschwand im Geschwindschritt in der Seitenstraße. Menke fing nun zu laufen an, mußte aber an der Straßenecke feststellen, daß jener unheimlich gerannt war, so daß er nur noch mit einem Blick erkennen konnte, wie der andere nach rechts hin in die Parallelstraße einbog. Es lag am Tage, daß der Mann sich nicht stellen lassen wollte. Auf das peinlichste von diesem unerklärlichen Geschehnis berührt, gab Menke die Verfolgung auf. Eine Woche lang war seine Gemütsruhe erheblich gestört; er berichtete auch Frau Lengfeldt von seiner Beobachtung, und man tauschte blinde Vermutungen aus, wie man das Rätsel vielleicht erklären könne. Dann wuchs Gras über die Affäre, wichtigere Angelegenheiten drängten sich in den Vordergrund, und bis Mitte April war jede kleinste Besorgnis geschwunden.

Diese drei Begebnisse beschäftigten Kilian Menke späterhin vornehmlich, die Sache in der Badeanstalt, die Geschichte in Birkenbüttel und das Erlebnis in der Feuerbachstraße, wenn er sich um die Enträtselung bemühte. Es stand für ihn fest, daß ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Vorkommnissen bestünde, so harmlos und unwichtig jeder einzelne für sich auch erscheinen mochte. Bei anderen Absonderlichkeiten, die sich zugetragen hatten, schien der Zusammenhang ungeklärter, so zum Beispiel bei folgender Angelegenheit:

Etwa eine Woche nach der Geschichte in der Feuerbachstraße an einem Wochentag war Menke frühmorgens geschäftlich für einen Tag nach Berlin gefahren. An diesem Tage just erschien ein etwa dreißigjähriger Herr im Kontor und stellte sich als Siegfried Bannewitz vor, so jedenfalls hatte man den Namen verstanden. Er wollte Menke einen persönlichen Besuch machen; er bedauerte lebhaft, daß Menke nicht anwesend sei, und erklärte, daß er nur gekommen sei, um von einem gemeinschaftlichen guten Bekannten, einem Herrn Faustian, Herrn Menke Grüße zu bestellen. Menke wurde am nächsten Tage beiläufig von dem Besuch dieses Bannewitz in Kenntnis gesetzt und verwunderte sich höchlich, daß Faustian Gelegenheit genommen hatte, ihm Grüße ausrichten zu lassen. Mit Faustian war er reichlich zwei Jahre lang zusammen in der Hannoverschen Firma tätig gewesen. Man hatte sich schlecht und recht vertragen, ohne einander persönlich näherzutreten; die schwatzhafte und wichtigtuerische Art Faustians lag Menke nicht. Seit ihrer Trennung vor vier Jahren hatten sie keinerlei Verbindung mehr miteinander gehabt; soweit Menke, dem das ziemlich gleichgültig war, erfahren hatte, hatte Faustian irgendwo in Süd-Hannover, Salzderhelden oder so, eine Anstellung erhalten. Er fand, es sähe diesem Wichtikus ähnlich, sich gelegentlich der Reise eines Bekannten nach Lüneburg aufdringlich in Erinnerung zu bringen. So geriet auch diese Absonderlichkeit in Vergessenheit.

Bei seinen späteren Grübeleien aber verfiel er immer wieder auf diesen Besuch des sogenannten Bannewitz, der ihm bei kritischer Durchleuchtung doch wesentlich ungereimter vorkam, als er in seiner Harmlosigkeit zunächst angenommen hatte. Jede Taktlosigkeit und auch Gespreiztheit dieses Faustian vorbehalten, war es wirklich anzunehmen, daß er einen Bekannten darum bitten konnte, ihn eigens aufzusuchen, um ihm nach so langer Zeit die nichtssagendsten aller »Grüße« auszurichten? Kam sowas überhaupt vor? Gesetzt, jener Bannewitz hätte ihn angetroffen, wie hätte er, Kilian Menke, als Empfänger solcher verwunderlichen Grüße sich eigentlich benommen? Wenn er sich diese Frage vorlegte, so konnte er nur zu dem Ergebnis kommen, daß er den Besucher gefragt hätte, womit er ihm dienen könne, da er die Bestellung solch aberwitziger Grüße nur als Einleitung einer Bettelei auffassen konnte. Das Gespräch hätte bestimmt für den anderen eine peinliche Wendung genommen, das schien ausgemacht! Aber die Absicht einer Bettelei lag ja allem Anschein nach überhaupt nicht vor; denn Bannewitz, wie man ihn ihm geschildert hatte, sollte ein gutgekleideter, übrigens sehr gewandter Mann gewesen sein, dem keinerlei Not anzusehen gewesen war. Überdies war er ja gar nicht wiedergekommen, obwohl man ihm gesagt hatte, daß Menke nur gerade an dem einen Tag seines Besuches verreist sei. Bei dieser Sachlage lag die Frage recht nahe, ob es denn auch wirklich ein Zufall war, daß Bannewitz Menke verfehlt hatte.

Menke bei seinen Grübeleien kam zu der Vermutung, daß es doch wohl kein Zufall gewesen war, daß vielmehr der angebliche Besucher ihn gar nicht hatte antreffen wollen, daß also auch dieser Besuch mit den Geheimnissen, die ihn umgaben, in Verbindung stünde. Diese Vermutung wäre in ihm zur Überzeugung geworden, wenn er gewußt hätte, daß der gewandte Herr Bannewitz es verstanden hatte, die Kontoristen in ein eine gute halbe Stunde währendes Gespräch zu verwickeln, in dessen Verlauf er unauffällig und nebenher allerhand Tatsachen über die Neigungen und Lebensumstände ihres Chefs aus den Angestellten herausgelockt hatte. Das hatte man ihm lieber nicht mitgeteilt, denn das Geschwätz mit jenem Bannewitz war einfach auf eine streng verbotene Privatunterhaltung herausgelaufen; es wäre unvernünftig gewesen, wenn die Kontoristen Herrn Menke hiervon Mitteilung gemacht hätten.

Es gab noch weiteres, was Menke Stoff für seine Grübeleien geliefert hätte, wenn er davon gewußt hätte, so insbesondere folgendes: An jenem Sonntag Anfang März nahm seine Haushälterin, Frau Dünning, wahr, wie er am Nachmittag sich auf den Weg zu seinem Spaziergang machte. Er rief ihr vom Korridor aus in die Küche zu, er wolle Spazierengehen, käme erst in einer guten Stunde wieder und brauche sie für den Tag nicht mehr. Nach zehn Minuten hatte es dann an der Wohnungstür geschellt und in dem Halbdunkel des Treppenhauses hatte wiederum Kilian Menke gestanden. »Ich habe meine Schlüssel vergessen«, sagte er. Frau Dünning öffnete ihm die Wohnzimmertür, aber Menke dankte mit den Worten: »Lassen Sie nur, ich habe auch noch eine Kleinigkeit zu erledigen« für ihre Hilfe. Darauf war er in den Zimmern verschwunden. Er verweilte dort knappe fünf Minuten, und Frau Dünning hörte dann, wie er sich mit einigem Geräusch entfernte, diesmal ohne ihr noch irgend etwas zuzurufen. Frau Dünning sah Herrn Menke erst am nächsten Tag wieder und es ergab sich keine Gelegenheit, noch irgendein Wort über die vergessenen Schlüssel zu verlieren. So erfuhr Kilian Menke nichts davon, daß er an diesem Nachmittag gleichzeitig in den Anlagen an der Lüne sich ergangen und in seiner Wohnung sich seine Schlüssel geholt hatte. Denn in seinen Zimmern ließen sich keine Spuren von dem Besuch dieses alter ego wahrnehmen; Menke, der allerdings auch nicht besonders nachgeforscht hatte, hatte von seinen Sachen nichts vermißt.


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