Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Was er aber kaum mehr zu erwarten gewagt hatte, sollte geschehen: In der Oldenburgischen Heimat Kilian Menkes, die er als letzte Station seiner Erkundungsreise aufsuchte, erhielt er Mitteilungen, die nach seiner Ansicht mehr als nur ein Fingerzeig waren, denen man nur nachzugehen brauchte, um das Geheimnis um Kilian Menke zu enträtseln, wie er, Dr. Klotze, für seine Person jedenfalls überzeugt war.

Dr. Klotze logierte sich in der Kleinstadt ein, von der aus man in einem Fußmarsch von einer knappen Stunde den Weiler erreichen konnte, Bleckwarden war sein Name, in dem das Anwesen der Familie Menke lag. Die Familie, besonders natürlich Vater und Mutter, waren von dem rätselhaften Geschick, das den Sohn getroffen hatte, sehr erschüttert. Beide, ohnehin über ihre Jahre hinaus gealtert, waren geradezu gebrochen und beschworen Dr. Klotze, alles aufzubieten, den geliebten Jungen wieder herbeizuschaffen. Der alte Menke wollte sein gesamtes Vermögen zur Verfügung stellen, falls etwa mit den Ermittelungen besondere Unkosten verknüpft sein sollten. Dr. Klotze versuchte nach Kräften die beiden ratlosen Alten zu trösten und bedeutete ihnen, daß Mittel in jeder in Betracht kommenden Höhe von der Firma Lengfeldt Söhne zur Verfügung gestellt würden, soweit solche vonnöten seien. Im übrigen ergab sich, daß irgendwelche Auskünfte von den Eltern unmöglich zu erlangen seien, da diese umgekehrt hofften, von Dr. Klotze Mitteilungen erhalten zu können, um aus ihnen Trost schöpfen zu können. Es war nicht angezeigt, diesen gebeugten Menschen gegenüber auch nur anzudeuten, daß man vermutungsweise den Gedanken hege, Kilian Menke könne sich freiwillig verborgen halten.

Der älteste Sohn, der die Wirtschaft führte, Raimund, kam erst nachmittags nach Hause, da er bei einer Hengstkörung tätig gewesen war. Da Dr. Klotze sich für das Amt des Seelsorgers und Fürsprechs, das die Eltern von ihm erwarteten, wenig tauglich fühlte und im übrigen die Gefahr witterte, daß die Atmosphäre des Jammers, die um die alten Leute war, seinen klaren Blick benebeln könnte, so machte er einen Spaziergang durch die umliegenden Marschen, diese himmelhelle Landschaft, die in ihrer Horizontweite ozeanhaft anmutet und so glasklar und weithin offen ist, daß jedes Geheimnis vor ihrem frischen Anhauch unwahrscheinlich wird. Als er zur Kaffeestunde wieder vorsprach, war Raimund zurückgekehrt und erwartete ihn schon. Dieser hatte mit seinem jüngeren Bruder nur eine entfernte Familienähnlichkeit; gemeinsam war beiden Brüdern nur ein gewisser treuherziger Zug; aber bei Raimund war auch dieser wesentlich ländlich-gröber, wie er überhaupt an Statur und Miene einen grobschlächtigeren Typ hatte, der aber infolge seines klug-geweckten Wesens nicht unsympathisch war. Dr. Klotze begann, nachdem man sich an herrlichen Butterkuchen und unwahrscheinlich großen Scheiben von Honigbutterbrot gelabt hatte, die Unterhaltung:

»Lieber Herr Menke, es freut mich, Sie unter vier Augen sprechen zu können; denn mit Ihren armen Eltern ist für mich ja schlecht etwas anzufangen. Von ihnen kann ich offenbar nichts erfahren, was uns nur ein Tüttelchen weiterbringen könnte.«

»Ob ich Ihnen da mehr sagen kann, ist mir zweifelhaft. Wir hoffen natürlich, von Ihnen Angaben erhalten zu können, die Licht in diese entsetzlich dunkle Geschichte bringen. Wir stehen hier vor einem völligen Rätsel.«

»Alles, was ich weiß, will ich Ihnen gern darlegen, es mag ja sein, daß auf Grund Ihrer besonderen Kenntnisse für Sie das bisher erarbeitete Material mehr besagt als für uns.«

»Bitte, lassen Sie hören. Ich möchte aber gleich vorausschicken, daß wir hier in der Heimat unserem Bruder Kilian natürlich zwangsläufig ein wenig entfremdet sind, also besondere Kenntnisse kaum haben.«

Dr. Klotze berichtete ziemlich eingehend über das dürftige Ergebnis der bisherigen Ermittelungen, insbesondere also die Tatsache, daß bislang noch nicht die geringste Spur des Verschwundenen aufgetaucht sei, daß die intensiven Nachforschungen in Hamburg, wo der Vermißte ja zweifellos zuletzt gewesen sei, rein nichts ergeben hätten, und daß auch in Lüneburg nicht der leiseste Anhaltspunkt gefunden sei, der eine Erklärung für das Verschwinden abgebe. Raimund Menke meinte, nachdem er aufmerksam zugehört hatte:

»Das wird ja allerdings immer rätselhafter. Ich sehe, Sie haben auch auf Nebenpunkte großen Wert gelegt, aber es hat sich nichts ergeben. Mit all dem kann ich leider ebensowenig anfangen wie Sie und die Polizei.«

»Das befürchtete ich allerdings auch. Man weiß einfach nicht, wo man mit geeigneten Maßnahmen einsetzen soll. Der Schlüssel zum Geheimnis liegt, meinen wir nun, unzweifelhaft in dem Grunde des Verschwindens.«

»Na, selbstverständlich, worin denn sonst?«

»Wir mißverstehen uns. Ich meine, warum ist Ihr Bruder von Hamburg nicht zurückgekehrt?«

»Das ist doch klar: weil man ihn getötet oder geraubt hat.«

»Ist das wirklich so klar, wie Sie und übrigens andere auch meinen? Das ist die Frage!«

»Warum sollte er wohl sonst nicht zurückgekehrt sein?«

»Das ist es ja gerade, was wir nicht wissen, was wir aber unbedingt wissen müssen, wenn wir zu seiner Wiederauffindung das Richtige tun wollen.«

»Ja, bitte, was könnte da denn überhaupt in Frage kommen?«

»Er könnte wegen irgendwelcher Umstände oder Verhältnisse, die wir nicht kennen, ein Interesse daran haben, sich verborgen zuhalten.«

»Glauben Sie vielleicht, daß er ein Verbrechen begangen hat?«

»Lieber Herr Menke, ›glauben‹, glauben tue ich nichts! Für möglich halten, oder besser: in Erwägung ziehen, das ist noch lange nicht glauben.«

»Daß mein Bruder ein Verbrechen begangen habe, brauchen Sie weder für möglich zu halten noch in Erwägung zu ziehen, das scheidet vollkommen aus, lassen Sie sich das gesagt sein!«

»Ich bitte Sie dringend, mir nichts persönlich zu verübeln. Zu Ihrer Beruhigung hebe ich hervor, daß der gleichen Meinung wie Sie fast alle sind, die Ihrem Bruder persönlich nahegestanden haben.«

»Dann würde ich Ihnen empfehlen, sich dieser Auffassung von Menschen, die das besser als Sie beurteilen können, anzuschließen und nicht Vermutungen nachzuhängen, die absolut gegenstandslos sind.«

»Ich betone nochmals, von ›Vermutungen‹ kann keine Rede sein. Aber die Untersuchungsbehörden würden einfach ihre Pflicht versäumen, wenn sie bei der denkbar ungeklärten Lage nicht auch Möglichkeiten ins Auge faßten, die den Beteiligten unmöglich erscheinen mögen. Denn die Aufklärung wird vielleicht verhindert, wenn man nur einseitig eine einzige Theorie ins Auge faßte, und nicht auch anderen Denkbarkeiten nachginge, für die immerhin gewisse Anhaltspunkte vorliegen.«

»Wieso? Was für Anhaltspunkte? Hat sich mein Bruder in irgendeiner Beziehung nicht als voll zuverlässig erwiesen?«

»Das nicht, nein, aber bedenken Sie doch: Er fährt freiwillig nach Hamburg, das steht fest, von dort, für alle in der Heimat überraschender Weise, ins Rheinland. Er schreibt auf dem unzweifelhaft von ihm stammenden, eigenen Briefpapier einen Brief, hält sich dann, wie als sicher gelten kann, nur einen Tag am Rhein auf, veranlaßt aber, daß aus der dortigen Gegend noch zweimal nach Hause geschrieben wird, das letztemal wiederum auf seinem Papier.«

»Das sind doch aber im wesentlichen alles nur Annahmen von Ihnen, die noch des Beweises bedürfen, mein Herr!«

»Es steht einwandfrei fest, daß die Briefe auf dem Papier Ihres Bruders geschrieben sind; es ist hochwahrscheinlich, daß die beiden Unterschriften auf den Briefen von ihm herrühren. Aber lassen wir die Unterschriften. Das Papier allein genügt ja!«

»Das kann doch nachgedruckt oder gestohlen sein!«

»Ein Nachdruck kommt nach dem Urteil zweier Sachverständiger überhaupt nicht in Betracht. Ein Diebstahl? Aber Frau Dünning beteuert hoch und heilig, daß niemals ein Dieb in der Wohnung gewesen sei, daß nie irgend etwas vermißt sei und daß keinem Besucher, alles gute Bekannte Ihres Bruders, zuzutrauen sei, daß er ausgerechnet leere Briefbögen ihm entwendet habe. Hinzukommt, daß Ihr Bruder immer die Gepflogenheit hatte, von seinem eigenen Briefpapier einen kleinen Vorrat mitzunehmen, wenn er sich auf eine längere Reise begab.«

»Aber er hatte sich doch diesmal nicht auf eine längere Reise begeben.«

»Nein, das ist kein Argument! Denn ob dies der Fall war, soll ja gerade untersucht werden. Weiter: Tatsächlich war die Reise, die Ihr Bruder an jenem Sonnabend antrat, die längste, die er bisher unternommen hat, sie dauert bis heute rund acht Wochen und noch ist ihr Ende nicht abzusehen. Diese Tatsache in Verbindung mit der Mitnahme des Briefpapiers, die keinen Sinn gehabt hätte, wenn die Rückkehr schon nach einem oder zwei Tagen geplant war, begründet, wie Sie einsehen müssen, die Zweifel, ob die längere Abwesenheit von Ihrem Bruder bei seinem Aufbruch, wenn nicht geradezu geplant, so doch jedenfalls in Betracht gezogen war.«

»Ihre Erwägungen scheinen mir im Reich der Logik begründet, ich habe ihnen nur das eine entgegenzusetzen, daß mein Bruder, wenn er auch nur mit dem Gedanken umgegangen wäre, länger als bis Montag fortzubleiben, dieses irgend jemandem in Lüneburg mitgeteilt hätte.«

»Wenn er nicht zwingende, uns unbekannte Gründe hatte, dies zu unterlassen, sei es, daß ihm eine längere Abwesenheit allzu unwahrscheinlich schien, als er fortfuhr, sei es, daß er ein fremdes Geheimnis verletzen mußte, wenn er von der Möglichkeit einer längeren Abwesenheit gesprochen hätte.«

»Nun ja, dies alles mag rein theoretisch möglich sein, aber mein klares Gefühl sagt mir, daß es praktisch im höchsten Maße unwahrscheinlich ist.«

»Lassen wir, bitte, alle Gefühle beiseite, mit ihnen werden wir nicht hinter das Rätsel kommen. Noch eine Erwägung: Wenn man, wie Sie es tun, nur die Möglichkeit eines Verbrechens ins Auge faßt, also annimmt, daß Ihr Bruder getötet oder wahrscheinlicher geraubt ist, zu welchem denkbaren Zweck sollte das wohl geschehen sein? Welchen Nutzen versprachen sich die Verbrecher von der Beseitigung Ihres Bruders?«

»Das weiß ich nicht und kann ich nicht wissen. Darüber hofften wir grade von Ihnen etwas zu hören.«

»Eben dieser Frage gehe ich angespannt nach. Ich bringe sie allerdings in die etwas abweichende Fassung: Warum ist Ihr Bruder nicht zurückgekehrt? Und zwar um in die Fragestellung die Möglichkeit einzuschließen, daß sein Fernbleiben etwa auf seinem freien Willen beruht.«

»Ich beginne, Sie zu verstehen, so sehr sich in mir auch alles dagegen sträubt, daß meinen Bruder irgendein ehrenrühriger Vorwurf treffen könnte.«

»Das verstehe ich durchaus, es geht meiner Schwägerin genau wie Ihnen. Mit diesem Motiv des Verschwindens beschäftige ich mich jetzt beinahe vier Wochen lang ausschließlich. Ich habe in Lüneburg, in Hannover, in Bremen das Vorleben Ihres Bruders durchleuchtet, um Anhaltspunkte zu gewinnen; denn nach allgemeiner Erfahrung liegt hinter derartigen Unerklärlichkeiten meistens eine verborgene Vorgeschichte, und wenn man die kennt, wird alles plausibel und verständlich.«

»Daß die Angelegenheit, in die mein Bruder jetzt verwickelt ist, bis in seine Kinderjahre zurückreicht, kommt doch wohl überhaupt nicht in Frage. Ich halte es für ausgeschlossen, daß Ihre Nachforschungen hier in der Heimat, die mein Bruder mit fünfzehn Jahren schon verlassen hat, zu irgendwelchen Resultaten führen können. Mir als sechs Jahre älterem Bruder ist jedenfalls in der Beziehung nicht das mindeste bekannt.«

»Das habe ich bedauerlicherweise von vorneherein vermuten müssen. Aber vielleicht sind Ihnen Charakterzüge oder Eigentümlichkeiten Ihres Bruders in Erinnerung, aus denen sich irgend etwas schließen läßt?«

»Wir nächsten Angehörigen Kilians halten ihn für einen unbedingt rechtlichen und ehrlichen Menschen, der nie in seinem Leben im trüben gefischt hat, der seine schönen Erfolge allein seinem Streben und seiner Tüchtigkeit verdankt und der sich alle Zeit vor nichts mehr gehütet hat, als vor Unsauberkeit und Schweinereien. Andere Anhaltspunkte als diese kann ich Ihnen mit dem besten Willen nicht geben.«

»Nach dieser schönen Charakteristik Ihres Bruders fällt es mir nicht leicht, Ihnen mit weiteren Fragen zu kommen. Wenn ich es doch tue, so nur, weil meine Pflicht, mein Amt, dem ich mich hier unterziehe, es mir gebietet. Ich bitte ausdrücklich darum, meine Fragen in diesem Sinne aufzufassen, und überzeugt zu sein, daß ich damit Ihrer Familie nicht zu nahe treten will.«

»Bitte, stellen Sie die Fragen, die Ihnen Ihr Amt gebietet, wie kämen wir dazu, Ihnen eine Frage zu verargen? Ich stehe nach besten Kräften zur Verfügung.«

»Wie soll ich mich ausdrücken? Ich sagte ja schon, daß wir davon ausgehen müssen, daß das Motiv irgendwo im Vorleben Ihres Bruders verborgen liegen muß, selbstverständlich nicht in seiner Kinderzeit, sondern wahrscheinlich in der jüngeren Vergangenheit. Wir suchen also – entschuldigen Sie die abgekürzte Ausdrucksweise – nach einem solchen ›dunklen Punkt‹ im Leben Ihres Bruders, wie Sie wissen, bis heute ohne den geringsten Erfolg. Nun, aus Ihren Worten geht hervor, daß Sie solche ›dunklen Punkte‹ bei Ihrem Bruder sozusagen a limine ablehnen. Dennoch möchte ich Ihnen diese Frage ausdrücklich vorlegen.«

»Ein dunkler Punkt, also eine unaufgeklärte Geschichte, die unbekannte Hintergründe haben könnte? Lassen Sie mich nachdenken. Auch der Lauterste kommt mit Dingen in Berührung, die dunkel sein mögen. Das könnte ja auch meinem Bruder mal begegnet sein, ohne daß deshalb auf ihn ein Schatten fallen müßte.«

»Gewiß doch, nichts liegt dafür vor, daß so ein dunkler Punkt für Ihren Bruder belastend sein müßte«, sagte Dr. Klotze, um irgend etwas zu sagen, da der andere eine versonnene Pause einlegte, um sich zu erinnern. Da er aber seine Bemerkung als töricht empfand, schwieg er lieber, bis jener von selbst nach geraumer Weile wieder begann:

»Mir fällt da etwas ein, auf das ich mich aber nur höchst ungenau besinnen kann. Mein Bruder Uwe wird da genauer Bescheid wissen. Es war damals vor vierundeinhalb Jahren, ehe Kilian seine Stellung am 1. Januar in Lüneburg antrat. Er hatte zwei Wochen Urlaub, da er in Hannover schon Mitte Dezember wegging. Er war bei uns zu Hause. Damals spielte etwas mit einem seiner Freunde in Hannover, das ihm ungeheuer naheging. Jeden Tag gingen zwischen ihm und diesem Freunde – wie hieß er noch gleich, es war ein ganz simpler Name – Briefe hin und her. Ich weiß davon nur noch, daß Kilian diese Briefe, auch die seinen, von denen er stets einen Maschinendurchschlag zurückbehielt, sorgfältig aufbewahrte. Und nun passen Sie auf, nun kommt das Merkwürdige, was mich heute stutzig macht und weshalb mir diese Chose bei unserem Gespräch einfällt. Als Kilian nach Lüneburg fuhr, nahm er diesen Briefwechsel dahin nicht mit. Er versiegelte ihn sorgfältig, es war ein ziemlich dicker Packen. Den gab er mir zur Aufbewahrung; ich mußte ihm feierlich versprechen, unter keinen Umständen von dem Inhalt des Pakets Kenntnis zu nehmen und das Siegel unangetastet zu lassen. Er sagte mir, diese Briefe wären ihm eine Last – ich erinnere mich deutlich, er gebrauchte das Wort ›Last‹, was mich damals gleich peinlich berührte –, sie seien ihm also eine Last, weswegen er sie in Lüneburg nicht haben wolle. Er würde mir schreiben, was mit diesem Päckchen zu geschehen habe. Nach einem Vierteljahr – es muß so um Ostern gewesen sein – forderte er mich dann auf, das Paket ungeöffnet zu verbrennen, und bat ausdrücklich darum, ihm die Ausführung möglichst umgehend zu bestätigen. Ich habe seinem Wunsche entsprochen und das Paket im Küchenherd verbrannt. Ich weiß noch, daß ich dabei darauf geachtet habe, daß alles Papier zu Asche zerfiel, und mit dem Stocherer noch nachgeholfen habe. Ich habe ihm das dann gleich mitgeteilt. Bei seinem nächsten Besuch kamen wir noch kurz auf die Sache zu sprechen. Er sagte aufatmend, daß er heilfroh sei, daß die schauderhafte Geschichte –›schauderhaft‹, das war wörtlich sein Ausdruck – abgetan sei.«

»Das ist ja ungemein interessant. Und wie hieß dieser Freund aus Hannover?«

»Es war ein Dutzendname, Schulze, Meier oder so, ich kann mich mit dem besten Willen nicht besinnen. Ich führte hier damals schon die Wirtschaft und hatte wenig Zeit für die Privatsachen meines Bruders. Aber über Weihnachten war mein Bruder Uwe zu Hause auf Ferien; der hat bestimmt genauer über die Angelegenheit mit Kilian gesprochen und muß daher Näheres angeben können.«

»Dann muß ich unbedingt mit Ihrem Bruder Uwe sprechen. Wo kann ich ihn am besten erreichen?«

»Das machen wir so: Uwes Gestüt liegt mit dem Auto eine knappe Stunde von hier. Er wird sich bestimmt morgen nachmittag freimachen können. Wir treffen uns hier wieder zum Kaffee.«

Raimund setzte sich sogleich telephonisch mit seinem Bruder in Verbindung. Am nächsten Nachmittag wurde das Gespräch zu dritt fortgesetzt.

Uwe Menke war der aufgeschlossenste der drei Brüder. Er hatte ein forsches, reiterliches Wesen, einen gesunden Mutterwitz und ein heiter-offenes Gesicht, das sofort Vertrauen einflößte. Er stand seinem Bruder Kilian menschlich näher als Raimund, da sie nur vier Lebensjahre differierten, und hatte die gleiche hohe Meinung von seinem Bruder wie Raimund, nur fügte er mit vergnügtem Lachen seiner Charakteristik hinzu:

»Aber glauben Sie nur nicht, daß Kilian ein Säulenheiliger oder ein Duckmäuser sei, o nein, das nicht. Er kann höllisch fidel sein und läßt dann bestimmt nichts anbrennen. Ich habe ihn in späteren Jahren, als er so an die zwanzig war, manchmal in Bremen besucht. Ich sage Ihnen, wir haben uns da verflucht amüsiert!«

»Halten Sie ihn für leichtsinnig?«

»Was heißt leichtsinnig? In dem Sinne, daß er um des Vergnügens willen seine Pflichten versäumte? Nein, so keinen Augenblick. Die Pflicht geht ihm über alles. Aber wenn die Stunde da ist, kann er den ganzen Pflichtenkrempel wunderschön von sich abstreifen und gehörig über die Stränge schlagen, dessen bin ich Zeuge.«

»Ich für meine Person«, warf Raimund ein, »habe meinen Bruder in der Weise kaum kennengelernt. Hier zu Hause hat man von ›über die Stränge schlagen‹ nie etwas bemerkt.«

»Richtig, bei euch geht das immer etepetete zu, da macht Kilian brav mit, ich schließlich auch, es bleibt einem ja auch nichts anderes übrig.«

»Lassen wir das auf sich beruhen«, lenkte Dr. Klotze das Gespräch, »Ihre Ansicht war mir sehr interessant und vielleicht für die weiteren Ermittelungen recht förderlich.«

»Da möchte ich vor allzu großem Optimismus warnen«, bemerkte Raimund, »ich fürchte, Sie gehen in die Irre, wenn Sie annehmen, Kilians Verschwinden habe etwas mit den leichtsinnigen Anwandlungen zutun, von denen Uwe da erzählt hat. Aber wir haben dich gar nicht hergebeten, Uwe, um hier Räubergeschichten auszuplaudern, sondern wegen einer ganz speziellen Frage.«

»Sehr richtig«, fiel Dr. Klotze ein, »bitte berichten Sie doch alles, was Sie von diesem Hannoveraner Freunde Ihres Bruders und der mysteriösen Briefgeschichte wissen, die da Weihnachten vor fünf Jahren eine Rolle gespielt hat.« Und Uwe begann zu erzählen, beredt und aufgeweckt, man hörte ihm gern zu. Er wußte zu berichten:

Der Freund Kilians, mit dem er in den letzten zwei Jahren in Hannover häufig verkehrte, hieß Theodor Müller, im Bekanntenkreis stets kurz Thetsche Müller genannt. Er wohnte im dritten Jahr, das Kilian Menke in Hannover verbrachte, einige Monate Zimmer an Zimmer mit ihm bei der gleichen Vermieterin. Thetsche Müller, der damals etwa dreiundzwanzig Jahre alt gewesen sein mochte, war von Beruf Schauspieler; er spielte Chargen am Schauspielhaus, einen besonderen künstlerischen Ruf hatte er nicht. Er stammte aus Fulda; seine streng katholischen Eltern hatte er als Halbwüchsiger kurz nacheinander verloren und von ihnen ein kleines Kapital geerbt, von dem er in Hannover noch zu leben hatte. Er war, soweit Uwe unterrichtet war, bald nach dem Tode seiner Eltern aus der Unterprima des Gymnasiums davongelaufen und hatte einige Jahre sich herumgetrieben, wobei er an Hand einer natürlichen schauspielerischen Begabung dann und wann an Wanderbühnen ausgeholfen hatte. Von dieser Zeit auf dem Thespiskarren gab er oft prachtvolle Anekdoten zum besten. Mit zwanzig Jahren hatte er dann die Schauspielerei als Beruf ergriffen und nach einer Anfängerzeit in einer schlesischen Kleinstadt in Hannover sein erstes Engagement an einer angesehenen Bühne.

Wichtiger aber als der äußere Lebenslauf dieses Thetsche Müller war seine Persönlichkeit, die man nach Uwes Ansicht nur als »ulkiges Huhn« bezeichnen konnte. Er war der hervorragendste Gesellschafter, den man sich nur vorstellen konnte, eine Trallrübe, wie Uwe sich ausdrückte, wie es schwerlich eine zweite gab. In einem Kreise junger Männer, in dem er weilte, löste eine Lachsalve die andere ab, es ließ sich einfach nicht beschreiben, was er für hanebüchene Einfälle hatte, und seine Laune und Fähigkeit, Spießbürger zu verkohlen, war unübertrefflich. Dabei kam ihm seine mimische Begabung zustatten; er konnte aus dem Stegreif jede verlangte Type in einer Weise nachbilden, daß man um Einhalt bitten mußte, daß einem die Tränen hemmungslos über die Backen kullerten, und man zum Schluß ausgepumpt und geschwächt vor Heiterkeit kraftlos auf seinem Stuhle hing.

Kilian Menke hatte sich an diesen Thetsche Müller während ihrer Nachbarschaft eng angeschlossen und blieb mit ihm freundschaftlich verbunden, als dieser seine Wohnung dann wechselte. Die Freundschaft wurde geschlossen auf nächtlichen Bummelreisen, die meistens im Anschluß an den Besuch des Theaters stattfanden, zu dem Thetsche seinem Freunde Steuerkarten besorgte. Aber Kilian hatte nicht nur in diesen ausgelassenen Stunden der Lust Gefallen an dem Schauspieler gefunden, sondern in ihm auch, wie er Uwe damals berichtete, einen gehaltvollen, ernsten Menschen zu entdecken geglaubt. Was Kilian von deutscher Literatur wußte – übertrieben viel sei es immer noch nicht, bemerkte Uwe –, das verdankte er Thetsche; insbesondere war Thetsche ein huldigender Verehrer Kleists, dessen sämtliche Werke er sozusagen auswendig kannte; und zwar erstaunlicherweise nicht nur die Versdramen, sondern auch einen großen Teil der Novellen. Uwe hatte es selbst erlebt, wie Thetsche einmal am frühen Abend in einem Lokal das Kleistische »Erdbeben in Chili« erzählte, ja, so müsse man es bezeichnen: »erzählte«, nämlich so, als fielen dem Berichter die gepeitschten Worte der Erzählung erst in dem Augenblick ein, wo er sie aussprach, daß es für die Zuhörer einfach eine ungeheure Sensation gewesen sei. In dieser Weise hatte Kilian von dem Umgang mit Thetsche mehr als bloßes Vergnügen, er trat ihm im Laufe der etwa zweijährigen Freundschaft von Herzen nahe und hielt große Stücke auf ihn. Uwe, der Thetsche bei gelegentlichen Besuchen seines Bruders in Hannover auch genauer kennengelernt hatte, hatte volles Verständnis für diese freundschaftliche Beziehung, denn – so meinte er – eine Nacht mit Thetsche, das war wie ein Jungbrunnen.

Gegen Schluß von Kilians Hannoveraner Zeit aber war mit Theodor Müller irgend etwas vorgefallen, was im einzelnen, wußte Uwe nicht, es war aber etwas ungeheuer Ernstes und Wichtiges gewesen. Müller hatte diese Angelegenheit zum erstenmal kurz vor der Abreise Kilians mit diesem besprochen; die Erörterungen wurden daher fast ausschließlich brieflich zwischen Bleckwarden und Hannover gepflogen und nahmen einen Verlauf, der Kilian Menke außerordentliche Bedenken und Sorgen machte. Uwe wußte nichts Einzelnes, da sein Bruder ihm gesagt hatte, daß er seinem Freunde gegenüber zur strengsten Diskretion verpflichtet sei, aber ohne die Sache selbst zu berühren, war zwischen Uwe und Kilian die Angelegenheit, die damals die Gedanken Kilians stark in Anspruch nahm, last täglich besprochen. Aus den Andeutungen Kilians ging hervor, daß Thetsche von seinem Freund Unterstützung in einer sehr heiklen Angelegenheit erbeten hatte, einer Sache, die Kilian als »hundsgemein« bezeichnet hatte, und von der er seinen Freund mit Bitten, Beschwörungen und Ratschlägen abzubringen bestrebt war. Von Kilian Menke wurde die Aufbringung eines namhaften Geldbetrages – Uwe meinte, es habe sich um so was wie dreitausend Mark gehandelt – verlangt, und es kostete Kilian schwere Nöte, ehe er sich nach langem Hin und Her dazu aufschwang, seinem Freunde das Geld nicht zu gewähren. Kilian hatte in jenen Tagen mit seinem Bruder theoretische Erörterungen darüber gepflogen, ob die Freundespflicht dahin führen dürfe, daß man dem Freunde für eine »glatte Verruchtheit« – dies war sein Ausdruck gewesen – Hilfsstellung gewähre. Uwe hatte Kilian in der Meinung bestärkt, daß soweit die Freundespflicht unter keinen Umständen gehen könne. Das Ende vom Liede war damals, daß das Tischtuch zwischen den Freunden endgültig zerschnitten wurde. Das letzte Wort, was Kilian zu seinem Bruder über diese unangenehme Affäre gesprochen hatte, war gewesen: »Pfui Deubel, der Kerl ist ja ein Lump!«

Über die weiteren Lebensschicksale des Theodor Müller wußte Uwe nichts. Er meinte, Kilian habe ihm mal gesagt, der Bursche sei bald darauf ausgewandert. Aber ob das zutraf, stand dahin. Zwischen Kilian und Müller bestanden, seitdem Kilian in Lüneburg war, bestimmt keine Beziehungen mehr. Ein Jahr noch sei Kilian der Abbruch dieser so hoffnungsvoll begonnenen Freundschaft zu Herzen gegangen, jetzt sei längst Gras über die schmerzliche Erfahrung gewachsen.


 << zurück weiter >>