Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII.

Die Besorgnis, daß die Untersuchung auf Irrwegen ginge, hatte Frau Sibylle Lengfeldt seit den ersten Unterredungen mit ihrem Schwager gehabt. Immer wieder im Laufe der Wochen und Monate hatte diese Sorge sie bewegt und sie hatte Dr. Klotze gegenüber aus ihren Empfindungen kein Hehl gemacht. Aber dieser hatte sie dann stets zu beruhigen gewußt, insbesondere seit Kenntnis von der Affäre Müller darauf hingewiesen, daß man nun ja gottlob nicht mehr in völligem Dunkel tappe, daß es nur darauf ankomme, dieses Gesellen habhaft zu werden, und daß sich dann alle Rätsel entschleiern würden. Frau Lengfeldt fand das, je mehr die Zeit fortschritt, um so weniger überzeugend, mußte aber auch ihrerseits die Hände geduldig in den Schoß legen, da sie auf die Frage ihres Schwagers, was man denn sonst zweckmäßiger- und erfolgversprechenderweise unternehmen könne und solle, nichts Stichhaltiges zu antworten wußte.

Da erhielt sie Ende Juli von Herrn Uwe Menke folgenden Brief:

»Sehr geehrte gnädige Frau!

Von Herrn Dr. Klotze erfahren auf meine Anfrage mein Bruder Raimund und ich, daß die Nachforschungen nach dem Verbleib unsres Bruders Kilian bisher völlig ergebnislos verlaufen sind. Meine Eltern leiden schwer und verfallen sichtlich unter dieser unabsehbaren Ungewißheit, und auch wir Brüder empfinden diesen Zustand untätigen Abwartens mittlerweile als unerträglich. Hinzukommt, daß wir bei unserer Aussprache mit Ihrem Herrn Schwager, so sehr wir ihm für seine mühevolle Arbeit im Interesse der Aufklärung dieses rätselvollen Falles zu Dank verbunden sind, nicht den Eindruck gewinnen konnten, daß die Untersuchungsstellen überall zutreffende Grundauffassungen ihren Erwägungen zugrunde gelegt haben.

Zu unserer Genugtuung berichtete uns Herr Dr. Klotze damals, daß auch Sie, gnädige Frau, Zweifel in der gleichen Richtung hegten. Wir möchten daher, ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten Dritter, die sich vielleicht dadurch verletzt fühlen könnten, anderweitigen Rat heranziehen, und zwar einen Berliner Privatdetektiv namens Dr. Roller, der uns als besonders findig und gewissenhaft von sachkundiger Seite empfohlen ist. Ich habe die Absicht, dies während meines unmittelbar bevorstehenden Urlaubs an Ort und Stelle selbst in die Wege zu leiten und dann mit Herrn Dr. Roller auch nach Lüneburg zu kommen. Ehe ich aber etwas veranlasse, wäre ich für eine kurze telegraphische Nachricht dankbar, ob Sie, gnädige Frau, unser Vorhaben billigen.

Mit den besten Empfehlungen meines Bruders und vorzüglicher Hochachtung zeichne ich als Ihr

gez.: Uwe Menke.«

Frau Sibylle Lengfeldt drahtete postwendend zurück, ohne fremden Rat eingeholt zu haben: »Dankbar einverstanden. Kosten trage ich.«

Zwei Tage später suchte Uwe Menke mit Dr. Arnold Roller, Kriminalkommissar a. D. aus Berlin, Frau Sibylle Lengfeldt in ihrer Wohnung auf. Auf dessen Wunsch war von Frau Lengfeldt Oberinspektor Jarmer hinzugezogen, der nach telephonischer Verständigung mit Kriminalrat Sack sich zur Verfügung gestellt hatte. Er brachte die beiden dicken Aktenbände mit, die die bisherigen Ermittelungen angefüllt hatten. Auf Bitten Dr. Rollers trug Jarmer an Hand dieser Akten zunächst in allen Einzelheiten, wenn auch in großen Zügen, das bisherige Ermittlungsergebnis vor. Dabei streifte er auch die verschiedenen Auffassungen über das mögliche Verhalten Kilian Menkes und betonte, daß er sich von Anfang an nicht mit der Idee habe befreunden können, daß der Vermißte freiwillig fortgeblieben sei, daß er aber unter dem Einfluß Dr. Klotzes und Kriminalrats Sack zeitweilig in seiner Ansicht wankend geworden sei, nunmehr aber angesichts der völligen Ergebnislosigkeit der vorliegenden Ermittelungen wieder zu seiner ursprünglichen Auffassung zurückgekehrt sei. Dr. Roller, ein gedrungener Vierziger mit vollem, dunklem Haar, dessen kluger Blick hinter einer kreisrunden, schwarz eingefaßten Hornbrille etwas eindringlich-Spähendes hatte, nahm sodann das Wort:

»Daß man von Anfang an beide Möglichkeiten ins Auge faßte, war bestimmt kein Fehler. Um so mehr als ja körperliche Spuren eines begangenen Verbrechens, als man nach zwei Wochen mit den Nachforschungen begann, nicht mehr festzustellen waren und auch irgendeine Fährte, die zum Tatort führen konnte, nicht in Frage kam. Zweifelhaft mag sein, ob man nicht im Verlauf der Ermittelungen der Theorie der Teilnahme Menkes an seinem Verschwinden allzusehr nachgegangen ist.«

»Ich halte das für sicher«, entgegnete Uwe Menke, »wenn Sie meinen Bruder kennten, würden Sie es für ausgeschlossen halten, daß er freiwillig sich in Geheimnisse verwickelt hat.«

»Ganz meine Meinung! Von Anfang an habe ich das meinem Schwager gesagt.«

»Bitte, Herr Kollege, welche Gesichtspunkte fielen doch noch für die gegenteilige Meinung ins Gewicht?«

»Außer gewissen Nebenumständen, die sich in den Wochen vor dem Verschwinden zugetragen hatten – Sie erinnern: die Wahrnehmungen Inspektor Michels in Birkenbüttel, das Begebnis in der Feuerbachstraße –, die Tatsache, daß durch die Zuschriften aus dem Rheinland die Spuren absichtlich verwischt wurden, wobei Kilian Menke mindestens durch Gewährung seines persönlichen Briefpapiers mitgewirkt zu haben scheint.«

»Darf ich mal um die Urkunden zur Einsicht bitten.«

Jarmer suchte die vier Postsachen und das Vergleichsmaterial aus den Akten heraus und überreichte sie dem Detektiv. Dieser las die Schriften zunächst durch, schob dann seine Hornbrille auf die Stirn, nahm eine Taschenlupe und prüfte die Urkunden sorgfältig. Dabei sagte er:

»Wenn ich richtig verstanden habe, ist der sachliche Inhalt dieser beiden wenig enthaltenden Briefe so, daß Zweifel sich ergeben, ob der Text wirklich von Menke herrührt?«

»Sehr richtig«, antwortete Frau Lengfeldt, »unserm Buchhalter Schwarz kam schon gleich der erste Brief eben wegen seines Inhalts irgendwie merkwürdig vor; ich gab ihm aber zunächst nicht recht. Aber daß Kilian Menke diesen zweiten Brief verfaßt haben sollte, das schien auch mir dann von vorneherein so unwahrscheinlich, daß ich unmittelbar nach seinem Eingang meinen Schwager zu Rate zog.«

»Danke sehr«, immer noch angespannt mit gefurchter Stirn prüfend fuhr er fort: »Diese Postkarte dagegen, nicht wahr? ist durch Schriftvergleich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als eine Fälschung festgestellt?«

»Allerdings«, erwiderte Jarmer, »übrigens ist auch ihr sachlicher Inhalt als auffallend nichtssagend erschienen.«

Mit einem bescheidenen »Darf ich?« nahm Uwe Menke die von Dr. Roller aus der Hand gelegten Schriftstücke, um sie auch seinerseits einzusehen. Er bemerkte dann:

»Ich kann nichts Sonderliches entdecken. Der Inhalt entspricht durchaus dem trockenen Ton, mit welchem Kilian mit uns in der Heimat zu korrespondieren pflegt. Der Mangel an sachlichem Inhalt mutet mich geradezu vertraut an. Die Unterschrift würde ich als ganz unverdächtig ansehen. Das ist ja ein komplettes Rätsel!«

Inzwischen war Dr. Roller mit seinem Studium am Ende. Er schob die Hornbrille wieder in die richtige Lage und erklärte:

»Ich nehme an, daß die daktyloskopische Untersuchung dieser Schriftstücke einen negativen Befund ergeben hat, weil sie nach der Niederschrift durch zu viele fremde Hände gegangen sind?«

»Stimmt.«

»Dann werden, denke ich, auch weitere wissenschaftliche Untersuchungen uns nicht weiterbringen; natürlich ließ sich aus einer Gruppe in Betracht kommender Maschinen mit großer Sicherheit diejenige ermitteln, mit der die Briefe getippt sind; aber solche Auswahlgruppe steht uns ja nicht zur Verfügung. Wir müssen uns also an den äußeren Befund halten. Da ist nun das eine bemerkenswert, worauf bislang scheinbar noch nicht geachtet ist: Auf beiden Briefen ist die vorgedruckte Ortsbezeichnung ›Lüneburg, den ...‹ nicht geändert, obwohl doch der eine angeblich in Remagen, der andere in Königswinter geschrieben ist. Sieht eine solche Nachlässigkeit Ihrem Bruder ähnlich?«

»Lassen Sie sehen, darauf habe ich noch gar nicht geachtet. Wirklich! Nein, hören Sie, das sieht ihm ganz und gar nicht ähnlich. Bei seiner pütscherigen Ordnungsliebe halte ich eine solche Flüchtigkeit für gänzlich ausgeschlossen. Was meinen Sie, gnädige Frau?«

»Daß uns das bisher nicht aufgefallen ist! In der Tat, so etwas wäre bei Kilian Menke absolut unmöglich!«

»Wir haben hier ja Vergleichsmaterial, elf Briefe, die Menke gelegentlich früherer Urlaubsreisen an seine Firma geschrieben hat. Bei allen ohne Ausnahme ist die Ortsbezeichnung durchstrichen und in die zutreffende geändert; bitte überzeugen Sie sich, Herr Kollege.«

»Ja, das trifft zu. Diesem Umstand haben wir, wie einzuräumen ist, bisher nicht die genügende Beachtung geschenkt.«

»Und dann ein weiteres: die Briefe sind mit der Maschine getippt, ein für einen Fälscher außerordentlich bequemes Verfahren, wenn man die Maschine nicht kennt, mit der gearbeitet wurde. Ich stelle fest, daß dagegen bei den Vergleichsbriefen nur bei zweien, beide kurz hintereinander aus Harzburg geschrieben, von Kilian Menke eine Maschine benutzt wurde. Alle übrigen aus vier verschiedenen Jahren und allen möglichen Ortschaften sind handschriftlich. Was war damals mit Harzburg? Lagen auf dieser Reise besondere Umstände vor?«

»Gewiß doch«, erwiderte Frau Lengfeldt, »Herr Menke hielt sich vor zwei Jahren vier Wochen lang zu einer Kur in Harzburg auf. Er nahm, wie ich mich erinnere, dorthin seine Reiseschreibmaschine mit, weil er dort schriftliche Arbeiten erledigen wollte. Er hatte auch Geschäftsbogen mitgenommen und beantwortete wichtige geschäftliche Briefe, die wir ihm dorthin sandten, direkt. Bei keinem anderen Urlaub war das wieder der Fall, da er sich an ein und demselben Ort immer nur vorübergehend aufhielt.«

»Menkes Reiseschreibmaschine befindet sich in seiner Wohnung?«

»Jawohl, sie ist dort«, erwiderte Jarmer, »daß mit ihr diese Briefe aus dem Rheinland nicht geschrieben sind, ergibt ja der Typenunterschied ohne weiteres.« Nach einigem Besinnen erklärte Dr. Roller:

»Also, meine Herrschaften, mir genügt das bisherige, um mit großer, für unseren weiteren Plan mehr als ausreichender Sicherheit die Möglichkeit auszuschließen, daß eine dieser Schriften von der Hand Menkes herrührt oder daß er auch nur bei ihrer Abfassung im geringsten mitgewirkt hat. Diese Feststellung – von einer solchen dürfen wir meines Erachtens sprechen – umfaßt selbstverständlich auch das Telegramm aus Winkel; denn dieses ist seinem genauen Wortlaut nach ja in einem gefälschten Brief bestätigt, kann also nur von dem Fälscher herrühren. Ich möchte meinen, dieses ist unwiderleglich.«

»Aber das Briefpapier, es ist doch festgestelltermaßen echt«, wandte Jarmer ein.

»Woher der Fälscher dieses echte Briefpapier bekommen hat, steht vorläufig dahin, vielleicht hat er in der Handtasche Menkes einige Bogen gefunden.«

»Da Menke nur auf größere Reisen einen Vorrat mitzunehmen pflegte, halten Dr. Klotze und Herr Sack dies für so fernliegend, daß sie eine solche Möglichkeit nicht in Betracht ziehen zu sollen geglaubt haben.«

»Das muß ich bestätigen; ich glaube bestimmt nicht, daß Menke auf seinen häufigeren Ausflügen nach Hamburg jemals Briefpapier mitgenommen hat. Er sprach immer davon, daß er in Hamburg ausspannen und mit der ganzen ›Lüneburgerei‹, das waren seine Worte, nichts zu tun haben wolle.«

»Nun gut, dann haben die Herren Verbrecher das Papier sich sonstwie zu beschaffen gewußt, das mag sich finden. Das einzige Argument der Echtheit des Papiers vermag meine Feststellungen nicht im mindesten zu erschüttern, lassen wir das für den Augenblick auf sich beruhen. Schwerwiegender scheint mir ein anderer Einwand, der sich aus dem bisherigen Ermittlungsergebnis aufdrängt.«

»Bitte, welcher?«

»Daß nach den Feststellungen Kilian Menke doch selbst in Winkel gewesen sein soll, dort jedenfalls als Gast gemeldet war und von dem Hotel – wie hieß es noch gleich? – richtig: »Rheinlust« – an Hand des Lichtbildes wiedererkannt ist.«

»Allerdings, natürlich«, sagte Uwe Menke ganz kleinlaut, »damit läßt sich ja nicht vereinbaren, daß er an der Aufgabe des Telegramms unbeteiligt sein soll.«

»Es folgt also: entweder ist es falsch, daß Menke die Schreiben nicht losgelassen hat, oder es ist falsch, daß er in Winkel gewesen ist.«

»Das letztere ist falsch, das steht für mich jetzt außerhalb jeden Zweifels«, rief Jarmer geradezu stürmisch aus, »denn an Ihrer Beweisführung wegen der Unechtheit der Briefe ist meines Erachtens nicht zu deuteln.«

»Es ist mir sehr wichtig, daß Sie, der Sie in den Ermittlungen ganz anders drinstehen als ich, das spontan sagen. Ich für meine Person muß rein logisch in dem Umstand, daß Menke anscheinend persönlich in Winkel gewesen ist, an sich einen ernsten Einwand gegen meine Theorie erblicken. Aber selbst, wenn Sie, Herr Kollege, mit Ihrer Überzeugung nicht recht hätten, würde ich aus taktischen Gründen zunächst einmal von der Tatsache ausgehen, daß Menke selbst nicht in Winkel gewesen ist, und untersuchen, was sich daraus für Schlußfolgerungen ergeben. Dies deshalb, weil im Verlauf der bisherigen unfruchtbaren Untersuchung die Feststellung, er sei dort gewesen, noch von niemanden in Zweifel gezogen ist, und auf der Basis dieser Annahme irgendwelche Ergebnisse nicht zu gewinnen waren.«

»O gut, vortrefflich einfach!« rief Uwe mit hochroten Wangen aus, der den Deduktionen des Detektivs angespannt folgte.

»Also, wenn der Mann in Winkel nicht Kilian Menke war, so bediente er sich eines falschen Namens und gab sich für jemanden aus, der um die gleiche Zeit im Begriff stand, spurlos zu verschwinden. Er veranlaßte weiter, daß unter dem falschen Namen, dessen er sich bediente, an die Heimat des Verschwundenen eine irreführende Nachricht gelangte. Ergo: er ist einer der Verbrecher, die Kilian Menke verschwinden ließen. Ist hieran irgendwie zu rütteln?«

»Auf keinen Fall!« stimmte Frau Lengfeldt mit so etwas wie Begeisterung bei, »Sie sind auf dem rechten Wege, das sagt mir mein untrügliches Gefühl.«

»Nun gut. Einer der Verbrecher, das wissen wir vom Standpunkt unserer Annahme aus, sieht Menke zum Verwechseln ähnlich. Aber wir wissen dann auch weiter, an der Tat sind mindestens noch zwei weitere Personen beteiligt, nämlich jene beiden, die sich ebenso wie ihr Spießgeselle mit falschen Namen – wie lauteten sie noch? na ja: Zeiner und Götze – eintrugen, offenbar beziehungslos-willkürlich gewählten Bezeichnungen, da es den Herrschaften nur darauf ankam, die Meinung zu erwecken, daß Menke in Winkel gewesen sei.«

»Das alles trifft den Nagel auf den Kopf«, äußerte Jarmer, »es scheint so naheliegend, daß man sich schämen muß, daß unsereiner nicht längst daraufgekommen ist.«

»Zu Vorwürfen in irgendeiner Richtung ist kein Anlaß, Herr Kollege, bedenken Sie, ich habe einen wesentlich leichteren Stand als Sie und die anderen Herren. Denn ich trete in einem ziemlich späten Stadium gänzlich unbelastet und mit unbestochenen Augen neu an die Sache heran. Unendliches ist mir vorgearbeitet, und ich habe deshalb das Prae, daß ich weiß, was verfehlt war, richtiger, was sich wegen seiner Ergebnislosigkeit mittlerweile als verfehlt herausgestellt hat. Mir ist es also ein leichtes, unter Wechsel der bisher für unbezweifelbar richtig gehaltenen Vorzeichen ein neues Untersuchungsgebäude aufzubauen.«

»Also bitte, bauen Sie weiter, wir hören Ihnen gespannt wie Flitzbögen zu«, bemerkte lächelnd Uwe, dem Frau Lengfeldt mit freundlichem Kopfnicken zustimmte.

»Ein Verbrecher also, soweit sind wir, sieht Menke zum Verwechseln ähnlich. Wenn man aber hiervon ausgeht, so fällt bei einer Gesamtwürdigung des bisherigen Untersuchungsergebnisses ein Umstand auf, der ebenfalls bisher als nebensächlich angesehen zu sein scheint, der mich aber gleich vorhin bei dem klaren Bericht des Herrn Jarmer merkwürdig berührte. Nämlich, daß Personen Verwechslungen mit dem Vermißten recht häufig vorgekommen zu sein scheinen, und zwar alle ausgerechnet in der jüngsten Zeit – von früher ist darüber anscheinend nichts bekannt, nicht wahr?«

»Nein«, erwiderte Frau Lengfeldt, »jedenfalls nicht, daß ich wüßte. Haben Sie davon früher mal etwas gehört, Herr Menke?«

»Niemals oder jedenfalls nicht häufiger, als das jedermann begegnet.«

»Dann ist das also eine unbedingt auffallende Tatsache. Wir müssen jetzt also in erster Linie diese Verwechselungsfälle an unserem geistigen Auge Revue passieren lassen und sie unter dem Gesichtswinkel betrachten, ob dabei die Persönlichkeit des Kilian Menke so ähnlich sehenden Verbrechers eine Rolle gespielt haben kann oder aus welchen Gründen etwa im einzelnen Falle dieser als der Verwechselte nicht in Frage kommen kann. Ich habe, Herr Kollege, die Einzelheiten nicht so genau im Kopf, ich bitte Sie daher, in der zeitlichen Reihenfolge die Vorfälle in die Erinnerung zu rufen.«

»Da ist zunächst die unklare Geschichte in Birkenbüttel, wo Herr Michels Kilian Menke getroffen haben will.«

»Richtig, Kilian Menke bestritt ernsthaft, dort gewesen zu sein; Michels verblieb dabei. Entweder lügt einer von beiden oder es gibt einen Doppelgänger, der Kilian Menke erstaunlich ähnlich sieht. Letzteren gibt es, also lügt keiner. Die Lösung wäre vielmehr, daß der Verbrecher in Birkenbüttel gewesen ist.«

»Herr Dr. Klotze meinte damals in Bleckwarden, Kilian habe seine Anwesenheit in Birkenbüttel unwahrerweise abgeleugnet, und wenn man nur wisse, warum er bei einem so gleichgültig erscheinenden Anlaß nicht die Wahrheit sage, sei man dem Geheimnis auf die Spur gekommen.«

»Aber Dr. Klotze geht doch von der Annahme aus, daß Theo Müller bei dem Verschwinden Ihres Bruders seine Hand im Spiele habe. Ich bitte Sie, daß dieser Müller in Birkenbüttel gewesen sein sollte und dort mit Ihrem Bruder zusammengetroffen sei, ist doch nichts als eine völlig leere Vermutung. Oder gibt es dafür den leisesten Anhaltspunkt?«

»Nein, dafür liegt nicht nur nichts vor; alles, was wir ermitteln konnten, spricht vielmehr entschieden dagegen; denn Theodor Müller ist niemals in Lüneburg und Umgebung aufgetaucht; daß er schon vor Weihnachten hier in der Gegend gewesen sein sollte, also ein Vierteljahr und mehr vor der Entführung, ist so gut wie ausgeschlossen«, bemerkte Jarmer.

»Da wir, immer von unserer Annahme aus, ja wissen, daß ein Doppelgänger bei dem Verschwinden Menkes beteiligt ist, so wissen wir in diesem Sinne, daß Kilian Menke mit Recht geleugnet hat, in Birkenbüttel gewesen zu sein. Aber daraus, daß er sich mit bloßem Leugnen begnügte, und nichts darüber anzuführen wußte, wieso eine Verwechselung, wie sie Michels passiert ist, nicht so ganz unwahrscheinlich sei, folgt für mich der zwingende Schluß, daß er damals nichts von der Person seines Doppelgängers wußte.«

»Das ist absolut einleuchtend«, fiel Frau Lengfeldt ein, »ich habe mich von Anfang an darüber geärgert, daß mein Schwager Herrn Menke eine Lüge in diesem Zusammenhang überhaupt zutraute. Aber er war ja geradezu verrannt in seine Vorstellung, daß Menke aus freien Stücken nicht zurückgekehrt sei, und wollte auf mich nicht hören. Herr Dr. Roller, ich beschwöre Sie, bei Ihren scharfsinnigen Theorien die Möglichkeit, daß Herr Menke sich beanstandbar benommen habe, von vorneherein als vollständig abwegig außer Betracht zu lassen.«

»Vielen herzlichen Dank, gnädige Frau, für die hohe Meinung über meinen Bruder, der Sie da Ausdruck geben. Ihre Einstellung, die wir von der Familie auf diese Weise erfahren, ist für uns der einzige Lichtpunkt in dieser düsteren Angelegenheit. Daß wir Verwandten auf Grund unserer genauen Kenntnis von dem Charakter unseres Kilian die Meinung von Frau Lengfeldt teilen, mag sich von selbst verstehen, ich möchte es aber doch ausdrücklich gesagt haben.«

»Das ist mir alles natürlich sehr wichtig. Aber im übrigen können wir die Betrachtung der Birkenbütteler Affäre nun wohl mit der Feststellung abschließen, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit der Verbrecher damals in Birkenbüttel gewesen ist. Wir kommen zum nächsten Vorfall, bitte Herr Jarmer.«

»Dann folgt Anfang März das Zusammentreffen Menkes in der Feuerbachstraße nahe seiner Wohnung mit jenem Unbekannten, der ihn für einen anderen hielt.«

»Jener Mann, der dann spornstreichs die Flucht ergriff, als Menke ihn stellen wollte, richtig! Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken«, sagte Dr. Roller, und schloß hinter seiner kreisrunden Brille seine Augen, während sich eine tief eingegrabene senkrechte Falte auf seiner Nasenwurzel bildete. Dann entspannten sich wieder seine Züge und er begann mit einem gedehnten, leisen Pfiff, indem er Jarmer an dem oberen Rockknopf anfaßte:

»Mein lieber Freund, wir sind auf dem richtigen Wege, unbezweifelbar auf dem richtigen Wege, hören Sie zu: Diese mysteriöse Geschichte war es ja wohl, mit der man bislang überhaupt nichts anzufangen wußte, nicht wahr?«

»So ist es, Herr Doktor«, antwortete Jarmer, »wir haben sie bis heute kurz zu den Unklarheiten in der Vorgeschichte geschoben und daraus höchstens ganz allgemein hergeleitet, daß es Punkte in des Verschwundenen Leben gäbe, die verworren seien und der Aufklärung bedürften. Weiter wußten wir mit dem Begebnis nichts anzufangen.«

»Natürlich, wenn man nicht ›weiß‹, wie wir es eben zu wissen uns den Anschein geben, daß einer der Übeltäter ein Doppelgänger Kilian Menkes ist, ist die Chose ja auch völlig sinnlos. Im gleichen Augenblick aber, wo dies als bekannt vorausgesetzt wird, kommt sprühendes Licht in das Dunkel. Wenn mir das Unglück passierte, daß ich infolge Duseligkeit meinen Komplicen mit dem Manne verwechsle, auf den ich ein Attentat vorhabe, so daß mein Opfer mich anspricht, so würde ich auch ventre à terre das Weite suchen, um mich allen Komplikationen zu entziehen.«

»Großartig, glattweg großartig!« rief Uwe wiederum aus. »Das geht ja alles auf wie ein simples Rechenexempel, fabelhaft!«

»Auch ich bin ehrlich verblüfft, wie selbst das Unverständlichste in Ihren Betrachtungen Sinn und Verstand bekommt«, meinte Jarmer, »Ihre Deutung ist schlechthin zwingend.«

»Ich bitte, meine Fähigkeiten nicht zu übertreiben, ich bin kein Hellseher. Dieses Aufgehen liegt nur daran, daß mein Ausgangspunkt, zufällig, richtig ist. Denn daß er das ist, nein, sein muß, das ist durch diesen Vorfall in der Feuerbachstraße allerdings schlagend bewiesen. Denn ich glaube, daß überhaupt nur und ganz allein, wenn man davon ausgeht, daß der Unbekannte Kilian Menke mit einem seiner Genossen verwechselt hat, und des weiteren davon, daß das Komplott gerade auf den Angesprochenen abgesehen war, die Flucht erklärlich ist.«

»So und nicht anders ist es, Herr Doktor, da bleibt nicht der kleinste Zweifel übrig«, bestätigte Frau Lengfeldt. »Damals als Herr Menke mir von dem sonderbaren Begebnis berichtete, haben wir beide in einiger Unruhe uns den Kopf darüber zerbrochen, was es wohl für eine Bewandtnis damit haben könne. Wir empfanden beide die Geschichte als irgendwie unheimlich, denn wir konnten uns nicht das geringste dabei denken. Wir haben eine Menge von Kombinationen angestellt, aber mit keiner war irgendwas anzufangen. Dabei war Herr Menke insbesondere davon so unheimlich berührt, daß der Fremde sein Verhalten, nachdem er die Verwechselung erkannt hatte, so von Grund aus änderte und mit ihm, wenn er nicht der andere war, auf keinen Fall auch nur ein Wort sprechen wollte. Er meinte damals, es habe sich nicht bloß um eine Ungehörigkeit, eine bloße Unart gehandelt; der andere sei aus Angst oder Schrecken in heftiger Bestürzung vor ihm geflohen! ›Was habe ich denn nur an mir, daß man vor mir auskratzt?‹ fragte er sich und mich damals ganz ratlos.«

»Das alles bestätigt meine Feststellung auf das willkommenste, gnädige Frau, es steht fest, der Unbekannte gehört zum Komplott. Aber damit sind wir mit der Auswertung dieses Vorfalls noch nicht am Ende; denn, bedenken Sie, es war damals Anfang März, die Entführung fand erst sechs Wochen später statt, die Tat war also von langer Hand vorbereitet, monatelang hat man das Opfer umlauert, das steht des weiteren fest. Was glauben Sie, Herr Kollege?«

»Ich stimme Ihnen in allen Stücken aus voller Überzeugung bei und möchte nur darauf hinweisen, daß wir schon immer vermutet haben, daß es sich um ein sorgfältig vorbereitetes Unternehmen gehandelt hat. Dafür sprach schon, daß alle Spuren in einzigartiger Weise verwischt worden sind und daß man mit bedeutendem Geschick falsche Fährten angelegt hat.«

»Das wäre also nichts Neues. Aber neu ist dagegen, daß wir nun wissen, Anfang März war der verbrecherische Doppelgänger nicht nur in Lüneburg, er war sogar in der Feuerbachstraße, wo das Opfer wohnt. Denn der Mittäter erwartete ihn ja dort, mußte sich also mit ihm in der Straße verabredet haben. Das war für den Mann eigentlich recht gefährlich, denn er konnte doch sehr leicht seinem anderen Ich direkt in die Finger laufen. Was folgt daraus?«

»Daraus folgt«, fiel Uwe ein, dem dieses Spiel mit logischen Schlüssen ein ständig wachsendes Vergnügen machte, »daraus folgt, daß er ein bedeutendes Interesse daran gehabt haben muß, dort in der Straße zu sein.«

»Gut so! Aber nur in der Straße? Was sollte er in der Straße zu schaffen haben?«

»Vielleicht wollte er den Grad der Ähnlichkeit erproben, sich von Passanten als Kilian Menke grüßen lassen und feststellen, ob jedermann auf die Ähnlichkeit ebenso hereinfiel wie Inspektor Michel.«

»Dazu genügte, daß er sich überhaupt in Lüneburg zeigte, in des Löwen Höhle brauchte er sich allein zu diesem Zweck nicht zu begeben; denn er wollte in die Höhle seines Opfers, also in dessen Wohnung, lassen Sie sich das gesagt sein. Vielleicht können wir sogar feststellen, daß er wirklich dort gewesen ist. Ist die Haushälterin des Herrn Menke erreichbar?«

»Das nehme ich bestimmt an; sie ist immer in seiner Wohnung, die sie, fest davon überzeugt, daß ihr Brotherr jeden Augenblick zurückkehren kann, stets für diesen Zeitpunkt in Ordnung hält. Ich lasse gleich bei ihr anwecken und sie herkommen.« Frau Lengfeldt veranlaßte das Nötige. Inzwischen fragte Uwe:

»Aber was mag er in der Wohnung gewollt haben?«

»Nun, das scheint mir nicht allzu schwer zu erraten zu sein. Er könnte dort zum Beispiel, wie denken sie darüber? einige Briefbögen entwendet haben, nicht wahr?«

»Aber das grenzt ja ans Unheimliche!« rief Jarmer mit herzhafter Verwunderung aus, »das ist selbstverständlich die Lösung des letzten Rätsels, das uns so unlösbar schien!«

»Wirklich, Herr Doktor«, sagte Frau Lengfeldt, indem sie in einiger Rührung dem Detektiv die Hand drückte, »Herr Jarmer und die anderen Herren, die sich so unsägliche Mühe gegeben haben, mögen es mir nicht übelnehmen, aber ich mache mir die schwersten Vorwürfe, daß wir Sie nicht früher herangezogen haben; das heißt, ich von mir aus wäre bis heute noch nicht auf den Gedanken gekommen, da ich es für unmöglich gehalten hätte, daß man allein an Hand logischer Schlußfolgerungen eine so grenzenlos verworrene Angelegenheit entwirren könnte.«

»Ehrerbietigsten Dank für Ihre wiederholte Anerkennung, gnädige Frau, aber noch ist das Rätsel nicht im entferntesten gelöst. Das wird erst der Fall sein, wenn die Übeltäter hinter Schloß und Riegel und Ihr Herr Menke wieder in seinem Kontor sitzt. So weit sind wir leider noch keineswegs.«

»Aber ich habe die feste Zuversicht, daß nach den bisherigen Proben Ihres Geschicks beides in absehbarer Zeit der Fall sein wird. Und dann: einen Alp haben Sie mir schon von der Seele genommen. Ich habe entsetzlich unter der immer wieder mir vorgehaltenen Vermutung gelitten, als sei Herr Menke, dem ich ebenso vertraue, wie ich meinem verstorbenen Gatten vertraut habe, in Schlechtigkeiten verwickelt. Mit diesem Unsinn – entschuldigen Sie, Herr Jarmer! – haben Sie jetzt endgültig und gründlich aufgeräumt. Ich kann es mir jetzt, wie ich es immer schon gewünscht habe, energisch verbitten, daß man alberne Verdachte gegen meinen bewährten Prokuristen ausspricht, ich kann wieder stolz und selbstsicher den Leuten gegenübertreten. Sie glauben gar nicht, was für eine Wohltat das für mich ist!«

»Genau so geht das auch mir. Ich freue mich ...« Aber Uwe wurde unterbrochen, da Frau Dünning gemeldet wurde.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Frau Dünning«, sagte Frau Lengfeldt, »der Herr hier, ein Kriminalkommissar aus Berlin, möchte einige Fragen an Sie richten.«

Als Frau Dünning das Wort »Kriminalkommissar« hörte, verdüsterte sich ihre Miene merklich und mit verschlossenem Gesicht nahm sie auf der vorderen Kante eines Sessels Platz.

»Frau Dünning, Sie sind in dieser peinlichen Sache mit Herrn Kilian Menke schon sehr viel gefragt worden, wie man mir berichtet hat. Ich möchte Sie nicht groß belästigen, sondern nur einige kurze Aufklärungen von Ihnen haben.«

»Was ich weiß, das sage ich. Was ich nicht weiß, kann ich nicht sagen. Herr Menke ist ein tadelloser Herr.«

»Gewiß doch, das sagt ja jeder, davon bin ich also auch überzeugt! Aber nun hören Sie. Ist es möglich, daß Sie Herrn Menke einmal mit einem anderen verwechselt haben?«

»Wieso? Herrn Menke? Aber den kenne ich doch ganz genau.«

»Natürlich. Aber wenn Sie nun hören, daß es jemand anders gibt, der ihm wie ein Ei dem anderen ähnlich sieht, könnte dann nicht ebenso wie anderen auch Ihnen einmal eine Verwechselung passiert sein?«

»Nein, das könnte mir nicht passieren, dazu kenne ich meinen Herrn Menke zu gut.«

»So, das ist also Ihre Meinung. Aber andere, die ihn auch genau kennen, haben Stein und Bein geschworen, sie hätten ihn irgendwo gesehen, und nachher war er es gar nicht.«

»Das begreife ich nicht, bei mir wäre das komplett ausgeschlossen.«

»Ja, das sagten Sie schon. Da werden Sie sich natürlich auch kaum irgendwelchen alltäglichen Vorfalls mehr erinnern, wo solche Verwechselung, wenigstens nach meiner Meinung, immerhin doch denkbar gewesen wäre?«

»Nein, sowas ist nie vorgekommen, da gibt es keine Vorfälle.«

»Daß Sie das sagen, verstehe ich durchaus. Dann müssen wir es anders versuchen. Passen Sie bitte einmal gut auf.«

»Ja doch, das tue ich sowieso.«

»Um so besser. Wir denken hauptsächlich an einen Sonntag zu Anfang März, es war genau sechs Wochen vor dem Sonntag, den Herr Menke in Hamburg war, von wo er dann nicht zurückkehrte. Können Sie sich wohl an diesen Sonntag erinnern?«

»Sonntage sind für mich eigentlich immer einer wie der andere, nur mit dem Unterschied, jeden zweiten Sonntag gehe ich abends aus, zu Bekannten oder so. Hatte ich an diesem Sonntag Ausgang?«

»Das müssen wir mal zu ermitteln versuchen; können Sie sich an einen bestimmten Stichtag erinnern, so daß wir zurückrechnen können?«

»Ich weiß nur, Ostersonntag hatte ich Ausgang, eigentlich war das gar nicht dran, weil ja der Karfreitag dazwischen lag, wo ich einen Extraausgang von Herrn Menke bewilligt bekam; ich war also zwei Wochen vor Ostern und so weiter abends aus.«

»Warten Sie mal, ich habe einen Taschenkalender. Der Sonntag, der uns interessiert, war vier Wochen vor Ostern; sie waren also abends nicht zu Haus.«

»Richtig, jetzt kann ich mich dunkel erinnern. Herr Menke war ja, das war bestimmt an diesem Sonntag, abends bei Bekannten eingeladen, ich habe ihm noch sein Zeug zurechtgelegt. Doch, den Sonntag habe ich noch im Kopf.«

»Vorzüglich. Was hat denn Herr Menke an diesem Sonntag, bevor er abends eingeladen war, getrieben, denken Sie doch mal nach.«

»Herr Menke? Der war doch nachmittags aus, spazieren war er, richtig! Er war von seinem Spaziergang noch nicht zurückgekehrt, als ich ihm seinen Smoking zurechtlegte. Wir haben uns an dem Abend nicht mehr gesehen.«

»Vorzüglich, ich bemerke, Sie haben eine einigermaßen klare Erinnerung an den Tag. Nun denken Sie doch bitte mal ganz scharf nach: wann und wieso haben Sie Herrn Menke an diesem Tag zuletzt gesehen?«

»Na natürlich, als er wegging.«

»Erinnern Sie das noch?«

»Warten Sie mal, da an dem Sonntag? Ich glaub, es war wie gewöhnlich; er ging fort und rief mir in die Küche irgendwas zum Abschied nach.«

»Und das war alles? Nur ruhig, Frau Dünning, wir haben keine Eile, lassen Sie sich Zeit.«

»War da noch was? Ich kann mich nicht recht besinnen ... Mir fällt nur ein, einmal an einem Sonntag, aber ob das nun grade an dem war, das soll ich nicht sagen, einmal, da kam er kurze Zeit später noch mal wieder, er hatte seine Schlüssel vergessen, und die wollte er holen.«

»Das ist ja hochinteressant, Frau Dünning. Haben Sie ihm die Schlüssel da aus seinem Zimmer geholt und übergeben.«

»Nein, so war das nicht, er ging allein hinein und holte sie selber. Ich war natürlich nicht mit drin.«

»Das läßt sich denken. Wie lange mag er da in seinem Zimmer gewesen sein?«

»Einige Minuten können darüber hingegangen sein, genau weiß ich das nicht mehr.«

»Also jedenfalls bißchen länger, als man braucht, wenn man nur ein Schlüsselbund in die Tasche steckt?«

»Doch, das glaube ich. Richtig, er sagte noch, er habe noch was sonst zu erledigen. Es war sicher ein bißchen länger.«

»Und dann?«

»Dann ging er wieder, ich weiß nicht, ob er mir noch mal was zurief.«

»Nein, sowas kann man unmöglich behalten, es ist ja auch ganz egal. Aber nun sagen Sie bitte noch dies. Sie wissen nicht mehr genau, an welchem Tag das mit den vergessenen Schlüsseln passierte. Aber genau wissen Sie doch, daß das an einem Sonntag war?«

»Ja, an einem Sonntag ist es bestimmt gewesen, es war ja so gegen fünf Uhr, ich wusch grade das Kaffeegeschirr ab; an einem Alltag geht Herr Menke ja immer viel früher aus dem Haus.«

»Das ist überzeugend, ein famoses Gedächtnis haben Sie, Frau Dünning. Glauben Sie nun, daß diese Schlüsselgeschichte an jenem Sonntag vier Wochen vor Ostern war?«

»Um die Zeit war es bestimmt, aber ob nun grade an dem Tag?«

»Mit aller Bestimmtheit kann das natürlich kein Mensch mehr sagen. Aber fällt Ihnen irgend etwas ein, warum es bestimmt an diesem Tage nicht gewesen sein könnte? Denken Sie doch mal darüber nach.«

»Warum sollte das nicht an dem Sonntag damals gewesen sein? Das kann gut sein, kann auch nicht sein, aber ich glaube eher, daß es gewesen ist.«

»Danke, Frau Dünning, Sie haben uns einen sehr großen Dienst erwiesen. Ich denke, wir werden nun bald Ihren guten Herrn Menke wieder herbeischaffen können.«

»Ach, das wäre zu und zu schön! Wenn die gemeinen Kerle ihm man bloß nicht was angetan haben!«

»Das wollen wir nicht annehmen, er hat ihnen ja auch nichts getan. Auf Wiedersehen, liebe Frau Dünning.«

»Ich habe die Ehre.«

Frau Lengfeldt geleitete die Frau bis zur Stubentür und verabschiedete sich herzlichst von ihr. Dann sagte Jarmer:

»Die Geschichte muß sich ja einfach an unserem Sonntag, wo die Begegnung in der Feuerbachstraße stattfand, abgespielt haben.«

»Ich glaube auch, das können wir bedenkenfrei als wahr unterstellen.«

»Und weiter: das kleine Rätsel, warum das Konzept des vorletzten Jahresberichts nicht bei den anderen lag, auch dieses dürfte gelöst sein. Das haben die Gauner natürlich als Schriftprobe mitgehen heißen«, ergänzte Jarmer.

»Ich falle von einer Verblüffung in die andere«, bemerkte Frau Lengfeldt, »was sagen Sie bloß zu alledem, Herr Menke?«

»Ich bin schon lange sprachlos, ich sage gar nichts mehr.«

»Das Ergebnis unsrer bisherigen Betrachtungen«, nahm nun wieder Dr. Roller das Wort, »möchte ich so formulieren, daß durch die Ausdeutung des Zusammentreffens in der Feuerbachstraße in Verbindung mit der Aussage der Frau Dünning die Annahme, die unser Ausgangspunkt war, so bekräftigt ist, daß wir fortan von einer feststehenden Tatsache zu sprechen berechtigt sind. Wenn wir bisher erklärten, zu wissen, daß der eine Verbrecher ein Doppelgänger Kilian Menkes sei, dabei aber in Gedanken das Wort ›wissen‹ in Anführungsstriche setzten, so können wir nunmehr die Anführungsstriche getrost fortlassen. Mit diesem so geläuterten Wissen wollen wir nun die weiteren Verwechselungsfälle betrachten. Bitte, Herr Kollege Jarmer!«

»Von solchen ist uns bis zum Verschwinden Menkes nichts bekannt.«

»Nu gut, dann die späteren.«

»Spätere? Ach so, Sie denken an die Fälle, wo man irrigerweise einen Dritten für Kilian Menke gehalten hat?«

»Natürlich, das sind doch auch Verwechselungsfälle, wenn man nämlich jemanden nach einer Photographie wiederzuerkennen glaubt. Da käme wohl zunächst der Hotelgast in Winkel in Frage. Er war der Ausgangspunkt aller unserer Betrachtungen. Wir halten für den Augenblick nur fest, daß wir jetzt also wissen, daß am Sonntagabend nach der Abreise Menkes der eine Verbrecher mit zweien seiner Spießgesellen in Winkel gewesen ist. Weiter!«

»Das Weitere ist dürftig; es kommt da zunächst die Meldung aus Dortmund, wir haben sie lediglich zu den Akten genommen, weil der Gestellte ja auf keinen Fall Kilian Menke war.«

»Gewiß nicht, aber vielleicht war er der Verbrecher?«

»Der Verbrecher? Wieso? Ich verstehe nicht recht ...«

»Aber verehrter Herr Kollege, jeder Mensch in der weiten Welt, der Kilian Menke zum Verwechseln ähnlich sieht, ist doch verdächtig. Je größer die Ähnlichkeit, um so größer der Verdacht!«

»Verzeihung, ich habe mich in Ihre mir neue Theorie noch nicht so recht hineingedacht. Ich muß erst umlernen. Ihre Bemerkung ist schlüssig, das muß man zugeben. Über den Grad der Ähnlichkeit des Mannes auf dem Bahnhofe liegen keine Anhaltspunkte vor.«

»Gehn wir also zunächst weiter. Was kommt dann?«

»Dann kommt die Begegnung des Prokuristen Tomscheck in Dortmund im ›Stadtpark-Restaurant‹.«

»Richtig! Da auch das in Dorfmund passiert ist, während sonst in der weiten Welt kein Mensch den Gesuchten nach dem Lichtbild erkannt zu haben glaubt, dürfte der Schluß nicht allzu gewagt sein, daß der Mann vom Bahnhof und der vom ›Stadtpark‹ ein und dieselbe Person gewesen ist. Was meinen Sie?«

»Das halte ich auch für naheliegend, es wäre ja immerhin auffallend, wenn in Dortmund ausgerechnet zwei Wesen herumlaufen sollten, die Menke enorm ähnlich sehen, und sonst nirgendwo.«

»Wir gehen konform. Was aber den ›Stadtparkmann‹ anlangt, so muß seine Ähnlichkeit mit Kilian Menke ziemlich erstaunlich sein; Tomscheck hatte doch Menke, wenn ich nicht irre, zehn Jahre lang nicht gesehen. Innerhalb dieser langen Zeit, namentlich zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Jahr, verändern sich die Gesichtszüge aber recht erheblich. Wenn man dennoch einen nach so langer Zeit wiederzuerkennen glaubt, so muß die Gesichtsbildung zwischen dem vermeintlich Erkannten und seinem Doppelgänger gewaltige Ähnlichkeiten aufweisen, wie mich bedünkt.«

»Andrerseits aber dürfte das Erinnerungsbild in so langer Zeit einigermaßen verblassen, so daß also Täuschungen besonders erleichtert sind. Herr Tomscheck selbst hielt daher eine Personenverwechselung für keineswegs ausgeschlossen.«

»Der Hinweis ist zweifellos zutreffend. Wir wollen also vorsichtigerweise davon ausgehen, daß uns über den Grad der Ähnlichkeit dieses Dortmunders nichts zuverlässig bekannt ist. Weil er aber überhaupt Kilian Menke jedenfalls ähnelt, ist er nach unserer These ebenso verdächtig wie jeder andere, auf den diese Voraussetzung zutrifft. Sie sagten doch, daß über dieses Individuum da noch irgendein Nachtragsbericht vorliegt. Was wird da eigentlich gemeldet?«

»Daß dem Unbekannten ein Diebstahl zur Last gelegt worden sei, daß er aber dann seine Unschuld habe beweisen können. Solange wir nur nach Kilian Menke fahndeten, interessierte uns das nicht, wenn aber nun der Unbekannte plötzlich der Täter sein soll ...«

»Soweit wollen wir ja nun nicht gleich gehen, Herr Kollege; vorläufig gehört er wegen seiner Ähnlichkeit nur zum Kreis der Verdächtigen, mehr nicht. Wenn Herr Dr. Klotze hinter der armen Seele dieses Thetsche Müller einher jagt, nur weil er ein übler Kerl ist und mal in Beziehungen zu Menke gestanden hat, so darf ich mir wohl mit gleichem Recht einen Sport daraus machen, dem Dortmunder nachzuspüren, weil er seinem äußeren Typ nach als Täter in Frage kommen kann. Also bitte, was ist bisher über meinen Mann aktenkundig?«

»Am besten ist es, ich lese Ihnen den Nachtragsbericht im Wortlaut vor; er ist nur kurz, aber ich habe mir seinen Inhalt nicht eingeprägt. Einen Augenblick, hier, ich habe ihn schon:

»Betr. Fahndung nach dem Vermißten Kilian Menke aus Lüneburg.

Vor ca. zwei Wochen berichteten wir, daß auf dem Hauptbahnhof Dortmund eine Person gestellt sei, die nach dem Lichtbild der Gesuchte sein konnte, daß der Betr. dann aber einwandfrei nachweisen konnte, nicht K. Menke zu sein. Wir teilen nunmehr zu den dortigen Akten mit, daß es sich bei der Person um den Kaufmann Hermann Baskow handelt und daß dieser vor ca. einer Woche in den Verdacht geriet, dem Industriellen Friedr. Schlünz in Essen Juwelen von Millionenwert entwendet zu haben. Er wurde dieserhalb festgenommen. Da er beweisen konnte, nicht der Täter zu sein, wurde er nach drei Tagen aus der Haft wieder entlassen.«

»Das ist alles.«

»So, das wäre also alles ... Steht da wirklich – lassen Sie doch mal sehen – ›Millionenwert‹? Weiß Gott, es stimmt! Ich meine übrigens, ich hätte vor paar Wochen in einem Fachblatt über diesen Diebstahl bei dem bekannten Schlünz – ich nehme an, gnädige Frau, der Name ist auch Ihnen geläufig, es handelt sich um einen der ersten westfälischen Industriemagnaten – einen Bericht gelesen. Ob wohl inzwischen der wahre Täter ermittelt sein mag? ... Das müssen wir auf alle Fälle erfahren. Herr Kollege, könnten Sie nicht sofort mal dringend bei der Kripo in Essen anrufen?«

»Gewiß doch, wenn Sie meinen.«

»Ja, ich meine das. Darf Kollege Jarmer mal eben die Verbindung herstellen?«

»Aber bitte sehr, meine Herren, der Fernsprecher ist nebenan.«

Jarmer begab sich an das Telephon. Dr. Roller brütete angestrengt vor sich hin, indem er mit der Rechten sein Kinn knetete. Dann langte er, in Gedanken verloren, in die Brusttasche, um seinem Etui eine Zigarre zu entnehmen. Aber Frau Lengfeldt kam ihm zuvor:

»Vielmals bitte ich um Verzeihung, meine Herren, ich habe Ihnen ja noch gar nichts angeboten. Hier sind Zigarren und Zigaretten, bitte, sich zu bedienen. Ich lasse Liköre kommen. Wie wäre es mit einigen Butterbroten?«

»Ehrlich gestanden, gnädige Frau, aber nehmen Sie mir es nicht übel, es wäre vorzüglich. Nach so angespannter Geistesarbeit meldet sich der Korpus, als hätte er wunder wie mitgewirkt.«

»Wird sofort gemacht.« Die drei Herren schenkten sich Kognak ein und begannen zu rauchen. Die Hochspannung im Zimmer verschlug allen die Sprache; mit vor Aufregung roten Gesichtern blickte jeder vor sich hin. Als die Butterbrote gebracht wurden, kam die Verbindung mit Essen. Jarmer ging an den Fernsprecher, Dr. Roller folgte ihm ins Nebenzimmer und ließ sich von dem Sprechenden stichwortweise das Vernommene berichten:

»Sachbearbeiter im Augenblick nicht erreichbar, der Sprecher, Inspektor Kluth, aber im wesentlichen unterrichtet. Täter bisher nicht ermittelt, seine Person bisher völlig unbekannt. Sah Baskow zum Verwechseln ähnlich. Baskow bei Schlünz seit Wochen bekannt, konnte dort nach Belieben ein- und ausgehen. Baskows Alibi durch viele makellose Zeugen nachgewiesen. Ermittlungen noch im Gange. Das wäre alles.«

»Halt, halt! Fragen Sie noch nach den näheren Umständen der Tat, Tageszeit, wer hat den angeblichen Baskow gesehen, Einbruchsdiebstahl?«

Jarmer berichtete die Antworten wie folgt: »Tat an einem Sonnabend Vormittag zwischen zehneinhalb und eineinhalb. Täter unter der Maske Baskows eingeschlichen. Zutritt bekommen, da für Baskow gehalten, der seit Wochen in den Sammlungen von Schlünz arbeitete. Täter von mehreren Hausangehörigen beim Eintreffen und Fortgehen für Baskow gehalten. Dieser zur Tatzeit aber in Dortmund durch viele Zeugen nachgewiesen. Alibibeweis lückenlos. Schaden auf mehr als zweiundeinehalbe Million Reichsmark geschätzt. Täter spurlos verschwunden. Ist das genug?«

»Danke, das ist mehr als genug.« Jarmer trennte die Verbindung.

Frau Lengfeldt und Uwe Menke hatten vom Nebenzimmer durch die offene Tür zugehört. Das betretene Schweigen wollte sich immer noch nicht geben. Man kaute die vorzüglichen Butterbrote. Endlich sagte Uwe:

»Was denken Sie, Herr Doktor? Diese Stummheit ist ja zum Ersticken.«

»Wenn ich wüßte, was ich denken soll, würde ich sprechen; denn das Reden ist die beste Methode der Gedankenbildung. Kennen Sie die kleine Abhandlung von Kleist?«

»Nein, nie von gehört. Aber lassen wir doch Kleist. Was halten Sie von diesem Baskow?«

»Blitzwenig halte ich von ihm, weniger als wenig, nicht das geringste halte ich von ihm. Aber Menschenskind, so sagen Sie mir um Gottes willen, was soll ich von Ihrem Bruder halten?«

»Von meinem Bruder? Wieso? Was meinen Sie?«

»Ach nichts meine ich, ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Alles Mögliche hätte ich erwartet, nur so etwas nicht, nein, so etwas wirklich und wahrhaftig nicht!«

»Verzeihen Sie, Herr Doktor, wir sind wohl nicht so schnell von Gedanken wie Sie. Herr Menke und ich verstehen von Ihren Bemerkungen sozusagen nichts. Können Sie uns nicht erklären ...?«

»Was soll ich sagen, erklären kann man doch nur, was man selber verstanden hat. Ich aber verstehe nichts mehr. Haben Sie noch einen klaren Gedanken, Herr Kollege?«

»Ich fürchte, daß dieser Baskow uns auf einen ebensolchen Holzweg führt, wie der unselige Thetsche Müller. Mit diesem Monstrediebstahl bei Schlünz hat unser Kilian Menke offenbar nicht das geringste zu tun.«

»So? Das ist Ihre Meinung? Ich bedaure, ich kann sie nicht teilen. Ich fürchte vielmehr, die Fährte ist schon ganz richtig, aber, aber!! Wo führt sie hin?!«

»Sie denken doch nicht etwa, unser Kilian Menke könnte diesen Diebstahl da ...?!« rief Frau Lengfeldt aus, ohne vor Entsetzen ihren Satz beenden zu können.

»Gnädige Frau, ich sagte doch schon, ich denke gar nichts. Aber ich frage mich, sollen wir, hören Sie: wir, die wir zum Schutze Kilian Menkes aufgerufen sind – die Polizei muß ihre Pflicht tun, sie braucht nicht cui bono zu fragen –, aber sollen wir diese Spur bis zu ihrem dunkeln Ende verfolgen?«

»Ja, Herr Dr. Roller, das sollen wir.«

»Auf jede Gefahr hin?«

»Auf jede Gefahr hin!«

»Ist das auch Ihre Ansicht, Herr Menke?«

»Bedingungslos ja!«

»Gut, ich habe Ihrer beider Wort. So hören Sie: Mit dieser Information aus Essen da ist unser Material, soweit ich sehe, vorläufig komplett. Oder gibt es noch weiteres, was wir in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen könnten, Herr Kollege?«

»Da wären noch einzelne Kleinigkeiten, so die Gespräche des Zeugen Frauböse beim Mittagstisch, der unklare Besuch dieses Mannes im Kontor mit den Grüßen eines gewissen Faustian ...«

»Ich glaube nicht, daß das uns weiterführen kann; hier handelt es sich nach meinem Eindruck unzweifelhaft um Umlauerungen des Opfers vor der Tat, die, wie wir ja schon feststellten, vorzüglich vorbereitet war, na ja, es lohnte sich ja auch!«

»Dann, meine ich auch, hätten wir wohl alles beieinander.«

»Also! Wir haben durch unsere Gedankenarbeit festgestellt, daß Kilian Menke geraubt worden ist von einem Mittäter, der dem Geraubten zum Verwechseln ähnlich sieht. Bei allen unseren Erwägungen haben wir nun einen bei jedem Verbrechen entscheidend wichtigen Punkt überhaupt noch nicht erwähnt; wir benötigten ihn einfach nicht, um zu den bisherigen Feststellungen zu kommen. Nun aber wäre es gegen Schluß unserer Betrachtungen ohnehin an der Zeit gewesen, diesem wichtigsten Punkt Beachtung zu schenken, da ohne seine Betrachtung eine vollständige Aufklärung keineswegs möglich gewesen wäre. Dieser bisher von uns so vernachlässigte Punkt aber ist: das Motiv der Tat! Bitte, meine Herrschaften, zu welchem Zweck wurde Kilian Menke von Tätern geraubt, von denen einer ihm zum Verwechseln ähnlich sieht Was hat das für Sinn und Verstand? Bitte?«

»Das können wir natürlich nicht wissen, was denken Sie denn?« bemerkte Uwe ziemlich niedergedrückt.

»Ich will es Ihnen sagen: das Motiv liegt so klar zutage wie das Sonnenlicht. Es besteht darin, Herrn Schlünz Juwelen im Werte von mehr als zweiundeinehalbe Million Reichsmark zu stehlen. Da haben Sie das Motiv!«

»Aber Herr Doktor, das ist doch nicht menschenmöglich!« rief Frau Lengfeldt in höchstem Entsetzen aus.

»Das ist nicht nur menschenmöglich, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche! Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, muß ich sie Ihnen so ungeschminkt sagen, wie die ungalante Wahrheit nun einmal zu sein pflegt.«

»Ihre Überzeugung hat etwas Hinreißendes«, sagte Jarmer, »ich kann Ihnen gut folgen und ich muß sagen, mit einer Wahrscheinlichkeit von tausend zu eins haben Sie recht.«

»Sagen Sie Millionen zu eins, und Sie kommen der Wahrheit näher, Herr Kollege.«

»Herr Doktor, es ist an mir, zureden«, begann Uwe, »ich bin von Ihren Eröffnungen ganz konsterniert. Aber ich sage Ihnen: Mein Bruder hat als seines Willens fähiger Mensch an keiner strafbaren Handlung teilgenommen, in dieser Überzeugung werden Sie mich nicht wanken machen. Ich bitte und beschwöre Sie, den von Ihnen mit so genialem Scharfsinn aufgedeckten Spuren bis an das Ende nachzugehen und dabei niemanden zu schonen. Wenn dabei ein Makel auf den Namen Menke fällt, so müssen wir Menkes sehen, ob wir umlernen können, oder wie wir sonst mit dem Leben fertig werden. Aber mit unbewiesenen Vermutungen werden wir uns unter gar keinen Umständen abfinden. Wo hier aber begründete Vermutungen geäußert worden sind und, wie ich zugebe, geäußert werden mußten, so gebietet unsere Familienehre, den Dingen bis auf den tiefsten Grund zu gehen.«

»Bravo! Vorzüglich gesprochen! Ich höre Kilian aus Ihnen reden. Im gleichen Sinne würde er sich auslassen, wenn er hier bei uns sein könnte.«

»Ich danke Ihnen, meine Herrschaften, die Gefahr, von der vorhin die Rede war, ist nun klar umrissen. Jetzt gilt es zu handeln. Das erste ist, wir, Herr Kollege, müssen noch heute nach Dortmund reisen, um mit diesem Baskow ein Wörtchen zu reden. Aber um des Himmels willen unangemeldet kommen, also keinerlei Winke an die dortige Kripo, verstehen Siel«

»Gewiß. Dann wollen wir uns rasch reisefertig machen.«

Die Herren verabschiedeten sich. Uwe blieb bei Frau Lengfeldt zum Abendessen.

»Was werden wir zu erfahren bekommen?« fragte sie bänglich.

»Hoffentlich Klarheit, und das ist unendlich viel besser als diese unabsehbare folternde Ungewißheit.« –

Dr. Roller und Jarmer trafen kurz nach sieben Uhr in der Frühe in Dortmund ein. Sie stellten die Wohnung Baskows in der »Pension Kröchel« fest. Um acht Uhr sprachen sie dort vor. Der Portier sagte und die Pensionsinhaberin bestätigte ihnen, daß der Kaufmann Hermann Baskow vor reichlich einer Woche Dortmund verlassen habe. Er sei auf Reisen in das Ausland abgemeldet.


 << zurück weiter >>