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Ein Kind der Liebe

In den Bergen, auf verschneiten Halden hatten sie einander kennen gelernt. Er liebte den Schneeschuhsport über alles. Und wenn sie auf ihren Skiern angefahren kam, in weißem Loden und bunter Wolle, strahlend vor Vergnügen, die Wangen von der eisigen Winterluft gerötet, dann sah sie noch hübsch und anziehend genug aus.

Seither trafen sie sich öfters, fast jeden Sonntag, und waren fröhlich wie die Kinder, unter dem blauen Winterhimmel, auf den makellos weißen, von der Sonne beglänzten Schneefeldern.

Nach und nach fing er an, sie auch in der Stadt zu besuchen, und kam manchmal zum Tee, wenn seine Geschäfte es erlaubten. Er hieß Weyland und war ein gesuchter Kunstgewerbler. Beide standen sie fast allein und waren ohne Familienanhang. Und so oft er kam, begrüßten sie einander mit einem fröhlichen »Ski-Heil!«

Einmal – er hatte sie wieder in ihrer Wohnung aufgesucht – da fand er sie ganz gegen ihre Gewohnheit gedrückt und traurig.

Er legte seine Hand auf die ihrige, das durfte er sich bereits erlauben, und fragte scherzend: »Tauwetter heute?«

»Ach, es ist eigentlich nicht der Rede wert, ich habe nur alte Briefe geordnet. Und wenn man so wunde Stellen in sich hat, von früher her, wissen Sie, da genügt manchmal der kleinste Anlaß, und alles erwacht wieder und tut neuerdings weh.«

»Ja, wenn man alte Briefe liest! ...« sagte er.

Das Dienstmädchen trat ein und brachte den Tee. Frau Berta goß das goldene Getränk in die chinesischen Tassen, durch deren seine Wände das Licht schimmerte wie ein liebliches Wunder. Er betrachtete die schlanke Biegung ihres Handgelenks und hatte seine Freude daran.

»Hier ist Rum und Sahne,« sagte sie, »Hier Haselnußzwieback. Hier sind Brötchen. Hier Zigaretten!«

»Gott, ist das Leben schön!« sagte er.

»Ja, wenn es keine alten Briefe gäbe!«

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen,« sagte er. »Versuchen wir es, einander bloß als freundliche Gegenwart zu nehmen. Gleichsam als waren wir neu geboren von dem Tage an, wo wir einander zum ersten Male begegneten. Was vor dieser Stunde liegt, sei ausgelöscht für immer, alles Unholde, Quälende, Belastende der Erinnerung! Wir wollen es mit keinem Worte, keiner Frage, keinem Gedanken berühren! Was denken Sie darüber?«

»Es wäre freilich schön, wenn man so gewissermaßen ganz von vorne anfangen, gleichsam ein neues, befreites Leben beginnen könnte. Halten Sie es für möglich?«

»Ich halte es nicht nur für möglich, ich glaube sogar, daß in gewissen Zeitabschnitten jeder Mensch, der in sich stark und frei werden möchte, einen solchen Entschluß fassen muß. Die Vergangenheit ist manchmal wie Ballast, der uns niederzieht. Der Luftschiffer, der höhersteigen will, muß sich entschließen, ihn auszuwerfen.«

»Sie meinen also, daß wir sozusagen gar keine Vergangenheit mehr hätten, Sie und ich?«

»Nur eine Gegenwart und eine Zukunft! Sind Sie es zufrieden?«

Er streckte ihr die Hand hin, und sie schlug ein.

»Gut, werfen wir Ballast aus!« sagte sie dankbar.

Er sprang auf und schritt mit gesteigertem Lebensgefühl im Zimmer auf und nieder.

»Wir heben uns von der Erde, wir fliegen, ich spür' es, daß wir fliegen!«

»Gemach, lieber Freund! Daß wir nicht bis in die Wolken fliegen, dafür ist schon gesorgt. Dazu waren wir wohl auch beide nicht mehr jung genug, meinen Sie nicht? Und in der zweiten Hälfte des Lebens wird man überhaupt bescheidener. Man weiß, daß es nicht gleich das sogenannte Glück sein muß. Ein bißchen froh sein ist auch schon etwas ... Glauben Sie, daß wir nächsten Sonntag noch einmal ins Freie kommen?«

Da sprachen sie wieder vom Schnee und von der Lust des Skifahrens und hofften, daß es noch einmal Winter werden sollte.

Vom letzten Skiausflug, den sie diesen Winter unternahmen, kehrten sie als Verlobte heim. Es hatte sich wie von selbst gemacht, ganz schlicht und besonnen.

Nun gab es allerhand Formsachen zu erledigen, Schwierigkeiten zu beseitigen – eine geraume Zeit ging hin, ehe die Trauung endlich in aller Stille stattfinden konnte. Sie unternahmen eine weite Hochzeitsreise und ließen stillvergnügt eine Menge Natur- und Kunstschönheiten an sich vorüberziehn.

Es war ein dämmernder Novemberabend, als sie in die Stadt zurückkehrten und an dem Hause vorführen, wo sie wohnen sollten. Sie fanden die Fenster erleuchtet. Gespannt stiegen sie die Treppe hinauf. Freunde hatten es übernommen, die Einrichtung der Wohnung zu überwachen. Bertas treue Hausgehilfin von früher erwartete sie, öffnete ihnen in weißer Latzschürze die Tür und begrüßte mit Freuden ihre Herrschaft.

Die Heimgekehrten traten ein und legten ab. Sie fanden es entzückend, daß sie sich nur so ins fertige Nest zu setzen brauchten, das Gefühl des eigenen Heims nach so vielen Gasthofzimmern umflutete sie mit wohliger Wärme. Es war alles so behaglich und geschmackvoll wie möglich eingerichtet, nach Weylands eigenen Plänen und Entwürfen, jeder Raum sprach seine eigene Sprache, je nach seiner Bestimmung. Nichts fehlte, sogar an ein Kinderzimmer war gedacht; da lachte Frau Berta und schüttelte den Kopf: »Phantast!«

Eben hatten sie sich an den frisch gedeckten Speisetisch gesetzt, auf dem alles von Neuheit funkelte, und den Suppenlöffel zur Hand genommen, als die Flurglocke klingelte.

»Wer kommt noch so spät?« fragte Weyland.

Sie lauschten.

Das Mädchen kehrte zurück, verlegen, befremdet, hilflos. Ein Kind stehe vor der Tür, ein kleiner Bub. Aber es sei nichts aus ihm herauszubringen.

»Also hereinführen!«

Es war ein hübscher Junge, mehr als ärmlich gekleidet, verwahrlost geradezu, nicht einmal ordentlich gewaschen und gekämmt. Verschüchtert stand er da, mit offenem Mund, und ließ die großen dunklen Augen an der Decke umherirren. Auf die Fragen, die an ihn gerichtet wurden, blieb er jede Antwort schuldig, gerade als verstünde er nicht deutsch.

Da bemerkte Frau Berta, daß er einen Brief an einem Faden um den Hals hängen hatte. Die Anschrift lautete auf ihren Namen. Jawohl, an sie selbst war der Brief gerichtet, an Frau Weyland. Sie erbrach ihn und las. Sie wurde rot, befahl dem Mädchen, die Suppe hinauszutragen und warm zu stellen.

»Von wem ist der Brief?« fragte Weyland gespannt.

Sie reichte ihm das Blatt, und er las: »Ich sterbe im Elend! Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Mein Kind hungert und friert! Die Abfindung, die sein Vater einst gezahlt hat, ist durch meine Krankheit verbraucht. Was soll aus dem Knaben werden? Die Männer sind hartherzig. Üben Sie Gnade, gnädige Frau! Seien Sie barmherzig! Nehmen Sie sich des Kindes an!« Die Unterschrift lautete: »Eine Verlassene.«

Weyland schüttelte den Kopf: »Eine Verlassene –?«

Unten stand noch eine Nachschrift: »Der Bub heißt Peter.« Frau Berta hatte sich erhoben und nahm den Knaben an der Hand.

»Zuerst wollen wir ein Bad nehmen, Peterl – was meinst du? Und uns ein bißchen nett machen? Hm? Komm, komm!«

Und ruhig, ohne ein Zeichen von Erregung, ohne sonst ein Wort zu sagen, oder auch nur um sich zu blicken, führte sie das Kind hinüber.

Mit großen Schritten ging Weyland im Speisezimmer auf und nieder. Immer ging es ihm im Kopf herum: »Ich sterbe im Elend ... Eine Verlassene« ...

Als Frau Berta zurückkehrte, trug sie den Knaben im Bademantel sorglich auf dem Arm und setzte ihn neben sich an den Speisetisch: »Die unsauberen Kleider kann Peterl überhaupt nicht mehr anziehen, die sind zu garstig. Morgen werden wir neue kaufen, schöne, reine! Und setzt wollen wir uns das Essen recht gut schmecken lassen, nicht wahr? Hat Peterl Hunger?«

Sie sagte das alles zu dem Kinde und vermied es, ihren Mann anzusehen. Weyland setzte sich schweigend auf seinen Stuhl, das Mädchen brachte die Suppe. Es war eine sonderbare Mahlzeit zu dritt. Frau Berta ging ganz darin auf, den kleinen Peter zu füttern, der sich's übrigens weidlich schmecken ließ.

Nach Tisch brachte sie den Knaben zu Bett. Die neue Kinderstube wurde eingeweiht.

Weyland wartete im Speisezimmer auf seine Frau. Als sie endlich eintrat, sagte er gepreßt: »Ich möchte ein paar Worte mit dir sprechen.«

Sie setzten sich einander gegenüber.

»Es ist eine sonderbare Lage, in die wir geraten sind,« begann er. »Ich bin selbstverständlich nicht gesonnen, mir irgendeinen Wechselbalg, den man uns anonym ins Haus schickt, ohne weiteres aufdrängen zu lassen. Was denkst du darüber?«

»Wir können das hilflose Kind doch nicht auf die Straße hinausstoßen.«

»Für heute bleibt uns freilich nichts übrig, als es bei uns aufzunehmen.«

»Und morgen?«

»Morgen werde ich den Knaben der Behörde übergeben, ihre Aufgabe wird es sein, seine Herkunft auszuforschen.«

»Die Mutter sollte man allerdings ausforschen lassen,« sagte Frau Berta. »Schon aus dem Grunde, um die letzten Stunden einer Sterbenden womöglich zu erleichtern. Vielleicht kannst du der Behörde dabei sogar behilflich sein.«

»Wieso?«

»Ihr gewisse Anhaltspunkte an die Hand geben, meine ich.«

»Ich?«

»Der reine Zufall wird es doch wohl nicht sein, daß gerade uns dieses seltsame Hochzeitsgeschenk ins Haus geschneit kommt.«

»Ich kann dich versichern ...«

»Versichere nichts, bitte! Du bist mir durchaus keine Rechenschaft schuldig.«

»Rechenschaft! Es handelt sich darum, den Knaben wieder los zu werden.«

»Warum eigentlich?« fragte Frau Berta. »Wir könnten ihn ja auch bei uns behalten.«

»Diesen stummen Fisch, der uns nichts angeht?«

»Er war durch die fremde Umgebung und besonders vielleicht durch deine Anwesenheit verschüchtert, auch fehlt es ihm an Pflege und Erziehung. Aber ich halte ihn, nach allem, was ich unter vier Augen mit ihm redete, für ein ganz aufgewecktes Kind. Ich glaube, es wohnt eine kleine Menschenseele in ihm. Und wenn wir keine eigenen Kinder bekämen ...«

Weyland stutzte und dachte nach. »Soll ich mich gewissermaßen – zwingen lassen, ohne daß irgendeine rechtliche Verpflichtung...«

»Bist du sicher,« fiel Frau Berta ihm ins Wort, »daß an der Rentier dieses Knaben und an dem Kinde selbst nicht ein großes Anrecht begangen wurde?«

»In dem Brief wird die erfolgte Auszahlung einer Abfindungssumme doch ausdrücklich zugegeben. Was verlangst du mehr? Damit ist doch jedes Unrecht getilgt!«

»So? Wir Frauen denken anders in diesem Punkte. Die Männer sind hartherzig, steht in dem Briefe. Und wer von ihnen könnte behaupten, daß er schuldlos sei uns Frauen gegenüber? Mein Peterl ist nur eins der unzähligen Zeugnisse ihrer Schuld.«

»Erlaube, du widersprichst dir einigermaßen. Du sagst, ich sei dir keine Rechenschaft schuldig, und dennoch fühle ich ans deinen Worten etwas wie einen Vorwurf heraus ... gegen mich ... oder gegen meine Vergangenheit.«

»Gegen dich? Gegen deine Vergangenheit? Erinnere dich, bitte! Du hast doch gar keine Vergangenheit, nicht wahr? Die haben wir doch als Ballast über Bord geworfen. So kannst du auch keine Schuld auf dir sitzen haben, das ist klar. Ich spreche auch bloß von den Männern überhaupt. Und die haben alle ihre Vergangenheit, das kannst du mir glauben, und alle sind sie einmal auf diese oder jene Art schuldig geworden uns Frauen gegenüber.«

Weyland war aufgestanden und ging mit gesenktem Haupt auf und nieder.

»Besser als die Männer überhaupt bin ich natürlich auch nicht! Das ist mir wohl bewußt. Und auf meinem Kerbholz steht sicher soviel Schuld verzeichnet wie auf dem aller andern.«

»Dann hilf mir, Freund, wenigstens einen kleinen Bruchteil der allgemeinen Schuld, von der ich spreche, sühnen! Laß sie uns gemeinsam wieder gutmachen, soweit es in unseren Kräften steht. Laß sie uns gutmachen an diesem Kinde, dessen Mutter im Sterben liegt, und das nie einen Vater kannte!«

Er blieb stehen und sah sie zweifelnd an.

»Wenn ich dich recht verstehe, so ist es ein großmütiges Anerbieten, das du mir machst. Aber ich fürchte, es könnte früher oder später ein Augenblick kommen, wo du dieses Kind, das nicht dem eigenes ist, als störend in unserer Ehe empfändest, als – Ballast, wenn wir bei dem Vergleich bleiben wollen, den ich unberechtigterweise in unser neues, befreites Leben mit herübergeschleppt hätte?«

»Fürchte nichts, ich weiß, was ich tue!« sagte sie fest. »Ich tu' es in der Überzeugung, daß wir Frauen Mutter werden können, nicht bloß durch die Schmerzen der Geburt, wir können es auch werden durch die Liebe. Und an Liebe soll es unserm Peterl nicht fehlen, das verspreche ich dir. Ich werde mir dieses Kind, das heute noch nicht mein Kind ist, weil eine andere es geboren hat, ehrlich zu verdienen suchen. Wir wollen es zu einem tüchtigen Menschen und – wackeren Skifahrer erziehen. Ist es dir recht so?«

Da eilte er auf sie zu, beugte sich nieder und küßte ihre Hände.

»Du Gütige!«


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