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Das Konzert

Wie eine dunkle Frauenstimme sang das Cello durch den Saal, wie ein reifer Alt, in dem alle Erkenntnisse des Lebens zittern. Und dann wieder ganz anders, wie die eherne Stimme eines Jünglings, der von Kampf und Taten singt. Und wiederum anders, nicht wie Mann noch Weib – Urlaute des Alls, Töne aus dem Chaos gärend, die stöhnend das letzte sagen, das niemand auszusprechen vermag, weil es keine Worte dafür gibt.

So reich war die Welt auf einmal geworden, so voll Mut, Kraft, Sehnsucht und Erfüllung, so voll Glanz und so voll Dunkelheiten, daß man sich die Kleider vom Leibe reißen und alle zehn Finger ins Haar hätte vergraben mögen, um darin zu wühlen – und wußte doch nicht, ob vor Seligkeit oder vor Weh.

Ein tausendstimmiger Jubel brauste auf, als ob die Schloßen eines Hagelschauers von der Decke prasselten. Die Wände bebten und die Luft schütterte. Unzählige Hände in Bewegung, ein Winken und Sichneigen, glatte Scheitel, Locken und Glatzen, Smokings und nackte Frauenschultern wirr durcheinander. Hochgehende Wogen, von Begeisterung aufgepeitscht.

Übermütig hüpfte das Licht der Kronleuchter über den Aufruhr, glitt lachend über blendendweiße Herrenhemdbrüste, schaukelte sich glitzernd in Juwelen und balgte sich mit dem Wirbel der auf und ab flirrenden weißen, perlgrauen und fleischfarbenen Hände, die wie wahnsinnig klatschten. Und schließlich sammelte es sich auf einem rötlichblonden Frauenhaupte, das wie ein Bild war, so schön, so unbeweglich, und machte sich ein weiches Kissen von gesponnenem Golde darauf zurecht und rastete aus. Aber es liegt nicht in seiner Art, lange zu verweilen. Rasch schnellte es wieder empor, huschte tändelnd die schön geformten Schultern und Arme hinab und spielte zärtlich und liebkosend um die stillen, schmalen Hände, die in langen schneeweißen Handschuhen wie ermattet in den jugendlichen Schoß heruntergesunken waren und darin ruhten.

Weil der Lärm kein Ende nahm, so zeigte der Künstler sich noch einmal, kam heraus und machte Verbeugungen. Aber er lächelte nicht wie eine Tänzerin oder ein Varietéturner auf dem Trapez. Sein junges bartloses Gesicht war bleich, seine Augen blickten finster und sprühten, seine Bewegungen waren unbeholfen wie die eines trotzigen Knaben. Wild und scheinbar grollend schaute er in die Menge um maß die tausendköpfige Bestie da unten mit einem Zucken um die Mundwinkel, das fast wie Hohn aussah. Ist er ungehalten, weil der Beifall eine Zugabe zu fordern scheint? Oder dröhnt ihm dieser noch immer nicht laut genug? Hat er die weißbehandschuhten Hände erblickt, die sich nicht regen und gefaltet im Schoß liegen? Wartet er nur darauf, daß auch sie sich heben und ihm ein Zeichen geben, noch weiter zu spielen?

Ja, bei Gott, der Wann da oben ist taub für den Jubel der Menge, blind für den wahnwitzigen Eifer der tausend hingerissenen Menschen! Scheint es nicht, als suche sein Äuge nur die Eine, die in einer der vordersten Reihen sich von dem Fieberschauer der Begeisterung ausschließt und keine Hand rührt, als könnte sie nicht mit einstimmen in den allgemeinen Beifall, vor Erschöpfung, vor tiefster Ergriffenheit? Oder als wollte sie nicht mit einstimmen, um ihm ihre Anerkennung zu versagen? Rütteln seine verzweifelten Blicke nicht an ihr wie in stummer Wut, als wollten sie diese säumigen Hände emporreißen vor ihrer wonnigen Ruhestatt? Ist es nicht sie, auf die seine düsteren Augen ihre sengenden Pfeile schießen wie in wortlos heißem Flehen: »Nur dir allein ertönt mein Lied, und du bleibst unbewegt?«

Jetzt könnte mau vielleicht ein Herz pochen hören, wäre das Tosen durch den aufgewühlten Saal nicht so ohrenbetäubend. Ein Herz, das bis zum schlanken Hals heraus schlägt in atembeklemmendem Schrecken. Hat er denn wirklich unter den zahllosen Menschen nur sie allein ins Auge gefaßt, nur Sinn und Gedanken für sie?

Mit Blut übergössen, im strahlenden Heiligenscheine, den die Wogen des Lichtes um ihr goldiges Haar weben, sitzt sie wie versteint mit stockenden Pulsen inmitten des forttobenden Beifalls, der wie kreisende Windräder flitzt und schwirrt. In den Boden sinken möchte sie vor Scham und Glückseligkeit. Und langsam hebt auch sie endlich die behandschuhten Hände, die schwer sind, als wären sie schneeweißer Marmor, und klatscht damit ineinander, einmal, zweimal, bis sie ihr wieder niedersinken.

Da legt sich plötzlich der Sturm, totenstill wird's im Saal, man könnte eine Stecknadel fallen hören. Schon hält der Künstler sein Instrument im Arm, schon steigen die Töne wie Lerchen in den blauen Himmel hinein. Und alles lauscht ...

Was er spielt? Weiß Gott! Weiß Gott, was er spielt! Aber er spielt für sie. Den ganzen Abend schon hat er nur gegen sie hin gespielt, den ganzen Abend schon hat er nur für sie allein gespielt. Längst hatte sie es bemerkt, aber sich's nicht eingestehen wollen. Und wer hätte auch daran glauben dürfen? War es nicht wie ein Wunder? Ahnte er denn, daß niemand im weiten Saal die Seele seines Bogenstriches verstand wie sie? Ahnte er denn, daß keiner ihn so begriff, keiner so dankbar, so hingerissen war, so erfüllt von seiner Musik, keiner von den vielen, die ihre Hände hatten arbeiten lassen, die ihre Begeisterung in Kraftleistungen äußerten? Ahnte er es? Gleichviel! Er spielte für sie und hatte für sie gespielt, jetzt wußte sie es.

Und nun erst sagte er das allerletzte, das ein Mensch zum Wünschen sagen kann, das Tiefste, das sich überhaupt gar nicht mehr sagen, nur seufzen und jauchzen läßt. Das Unausgesprochene und ewig dazu Verurteilte, unausgesprochen zu bleiben, weil es kein Organ der Mitteilung hat und keine Sinne gibt, die es fassen, weil es vermenschlich und außermenschlich ist wie der Wind, der zum Wasser kommt, wie die Luft, die den Weiher kräuselt, während sie über ihn hinstreicht, so naturalltäglich und so rätselvoll ...

Und dann war das Ende. Nein, es mußte längst gekommen sein. Hatten die Leute nicht abermals Beifall geklatscht? Länger und wütender als früher? Hatten sie nicht geschrien und gestampft, mit jenem aufdringlichen Eifer, mit dem sie Gnaden auszuteilen, Lorbeerkränze zu verleihen glauben? Noch immer gab es da und dort ein paar Vereinzelte, die sich wie toll gebürdeten, mitten im allgemeinen Aufbruch. Aber endlich erstarb doch der letzte Ton dieses widerlichen, possenhaft übertriebenen Klatschens.

Alles stand, schob sich vorwärts, drängte gegen den Ausgang und plauderte und schwatzte dabei geschäftig durcheinander, sofort in den Alltag zurückgekehrt, während Staub die Luft erfüllte. Die Sitzreihen leerten sich. Bloß sie allein saß noch immer auf ihrem Platz, wie gebannt, wie verzaubert.

Ganz allein saß sie da, im goldigen Schein ihres Haars, rein vernichtet, mitten unter lauter leer gewordenen Sesseln.

Und plötzlich gewahrte sie an einer Tür hinter der Vortragsbühne den Kopf des Künstlers, der sie zu beobachten schien. Das Herz wollte ihr stille stehn, denn jetzt stieg er die Stufen hinauf und kam über den erhöhten Platz gegangen, geradenwegs auf sie zu. Immer mehr näherte er sich, halb zögernd, aber immer dieselbe Richtung einhaltend und ohne sie aus den Augen zu lassen. Da erhob sie sich, von fürchterlicher Angst gejagt, und eilte gegen den Ausgang.

Als ob Feuer ausgebrochen wäre, stürzte sie nach der Tür, halb besinnungslos vor Schreck, sie wußte nicht warum. Vielleicht peitschte der entsetzliche Gedanke hinter ihr her, er könnte anders sein als sein Spiel, gewöhnlicher, alltäglicher, Dann wäre dieser hohe, einzige, unvergeßliche Eindruck zerstört, die Wirklichkeit hätte die holden Luftgebilde der Schönheit in alle Winde zerblasen. So ungefähr mochte es ihr in der Geschwindigkeit durch den Sinn geflogen sein. Aber recht deutlich wurde ihr wohl nicht viel mehr, als daß sie Angst hatte. Es war nichts Überlegtes, nichts, was sie hätte rechtfertigen können. Nur davonlaufen wollte sie vor ihm, nur ein Zusammentreffen mit ihm vermeiden!

Und Hals über Kopf flüchtete sie sich in die Kleiderablage, ließ sich den Pelzmantel um die nackten Schultern schlagen und stolperte blindlings die Treppe hinab, daß sie beinahe gestürzt wäre. Ein Wagenschlag wurde aufgerissen, halb entseelt sank sie in die Kissen, eine Hupe trompetete, der Wagen rollte davon ...

*

Die ganze Nacht lag das schöne, junge, blonde Mädchen – oder war sie eine Frau? ich weiß es nicht – wach, und unzählige Male schrak sie am darauffolgenden Tag zusammen, so oft die Flurglocke tönte.

Aber es kam niemand. In der Abendzeitung las sie, der große Künstler sei schon am Morgen wieder abgereist. Sie wollte es nicht glauben, aber schließlich mußte sie daran glauben, denn in der Zeitung stand, er befinde sich auf einer Kunstreise und sei bereits diesen selben Abend für die nächstgelegene größere Stadt verpflichtet.

Am zweiten Tage brachte der Postbote eine Ansichtskarte aus eben jener Stadt, wo er das nächste Konzert gegeben hatte. Die Karte zeigte eine Abbildung des allbekannten Gemäldes, wo zwei Frauengestalten, eine prächtig gekleidete und eine himmlisch nackte, aber beide von gleicher Schönheit, einander am steinernen Bord eines Brunnens gegenübersitzen. Am untersten Rande, in einer krausen, ungelenken Schrift, die ihr gar nicht zu ihm zu passen schien, stand gekritzelt: »Du hattest recht. Kein Wort und kein Wiedersehen! So leuchtet diese Stunde durch ein ganzes Leben!«

Als sie es gelesen, hoben ein paar stürmische Atemzüge ihre Brust, und ihr Batisttüchlein hervorholend, drückte sie es an die Augen. Dann erhob sie sich, trat an ihren zierlichen Schreibtisch ans Rosenholz und warf mit ihrer großzügigen, festen Schrift die Antwort auf eine ihrer zartfarbigen Briefkarten, denen ein ganz eigener süßer Wohlgeruch entströmte: »Wir haben einander verstanden!«


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