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In der Großen Kartause

Das war einer aus der langen Reihe ungetrübt schöner Herbsttage, die ich im südlichen Frankreich zubrachte...

In Saint-Laurent-du-Pont hatte ich die Zweigbahn verlassen, um zu Fuß nach der Grande-Chartreuse zu wandern. Der Weg war herrlich, die gutgehaltene Fahrstraße stieg durch Felsenschluchten aufwärts, immer dem schäumenden Gebirgsflüßchen entlang. Die Gegend erinnert ein wenig an das Höllental hinter Reichenau, nur daß dort unten im Süden das Laubholz vorherrscht. So flammende Herbstfarben hab' ich nie wieder gesehen, wie sie damals an den Berghängen der Dauphiné loderten.

Das Gebirge wird immer wilder, die Schlucht enger, die Straße muß sich durch einen Tunnel Bahn brechen und dann auf einer hochgeschwungenen steinernen Brücke den Guiers-Mort übersetzen, weil jähe Abstürze ihr am diesseitigen Ufer den Weg verlegen.

Ich hatte die Entfernung unterschätzt, es begann heiß zu werden, und ich war nicht böse, als sich mir ganz unerwartet eine Fahrgelegenheit bot. Ein stattlicher Kraftwagen, den ich hinter mir dreinkommen sah, und dem ich jetzt Platz machte, um ihn vorbeifahren zu lassen, hielt plötzlich an, und der alte Herr, der in den roten Polstern saß, fragte beinahe barsch, ob ich zu ihm einsteigen wolle?«

»Wenn ich Sie nicht störe –?«

»Es ist Donnerstag heute,« sagte er mit einem halben Lächeln; »da ist es sogar den Pères Chartreux erlaubt, miteinander zu plaudern.«

An der Wirtstafel von Grenoble hatten wir einander ein paarmal gesehn, ohne daß es zu einer Annäherung gekommen wäre; der verschlossene alte Herr hatte mir den Eindruck gemacht, als ob er lieber für sich bliebe. Um so dankbarer empfand ich jetzt die willkommene Einladung. Ich nahm an seiner Seite Platz, und der Chauffeur setzte den Wagen wieder in Bewegung.

»Leider werden wir keine Kartäusermönche mehr antreffen,« sagte ich, den Gegenstand festhaltend, den er zur Sprache gebracht. »Wie ich höre, sollen sie sich vor der Staatsgewalt nach Spanien geflüchtet haben.«

»Nach Italien,« verbesserte er mich. »In die Certosa di Farneta bei Lucca.«

»Wird dort jetzt auch der berühmte Likör hergestellt?«

»Die Likörerzeugung haben sie allerdings nach Tarragona in Spanien verlegt. Das sind aber bloß die Frères donnés, die sich damit abgeben, Laienbrüder, die keine Gelübde abgelegt haben.«

»Sie sind gut unterrichtet,« bemerkte ich.

Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er kurz, ohne mich anzusehen: »Ich bin in dieser Gegend einmal zu Hause gewesen; da fährt man fort, die Dinge im Auge zu behalten.«

Es klang wie ein Schlußpunkt, ich wollte nicht fragen und nahm an, daß er, aus der Dauphiné gebürtig, durch irgendein Schicksal ins Ausland verschlagen worden sei. Ein Deutscher konnte er kaum sein, das ließ sich aus seiner Aussprache erraten, doch hätte ich ihn eher für einen Amerikaner genommen als für einen Franzosen. Auch im Gasthof zu Grenoble hatte man ihn für einen Amerikaner gehalten, und wenn ich mich nicht täuschte, so war erzählt worden, er hätte sein eigenes Auto über den Ozean mit herübergebracht.

Wie dem auch sein mochte – auf alle Fälle hatte ich es mit keinem alltäglichen Menschen zu tun, das sah man auf den ersten Blick. Der Kopf war wie aus wuchtigem Sandstein, das Leben selbst mit seiner gewaltigen Künstlerhand mußte diese Züge gemeißelt haben, die an Charles Darwin erinnerten; es waren dieselben schwerlastenden Augenbrauen, die dem Gesichte einen Ausdruck von schier leidenschaftlichem Ernst verliehen. Aber die wasserhellen Augen blickten milde, fast heiter, und in seinem ganzen Gehaben schien er mir so recht, was man einen Gentleman nennt. Man kommt rasch dahinter, hundert Kleinigkeiten offenbaren diese seltsam zurückhaltende und doch so vertraueneinflößende, ich möchte sagen, kurzangebundene Liebenswürdigkeit, die in starkem Gegensatz zu der Unsitte steht, auf Reisen, im Verkehr mit Fremden und Unbekannten, alles Mögliche für erlaubt zu halten.

Es wurde nicht eben viel gesprochen. Gelegentlich ließ er eine knappe Bemerkung über Land und Leute fallen und machte mich aufmerksam, wenn der Straßenbau sich durch besondere Kühnheit auszeichnete und wir an landschaftlich bedeutenden Punkten vorüber kamen. Weil ich in seinem Wagen fuhr und sein Gast war, so mochte er sich dazu für verpflichtet halten. Dazwischen verfiel er immer wieder in jenes brütende Schweigen, das seinem Wesen gemäßer schien als das Sprechen. Als ich ihn so neben mir sitzen sah, wie in stiller Versunkenheit unter der herben Sonne des Herbstes, durch den wir fuhren, und der seine müden Blätter auf uns niederstreute, da hätte ich ihn in seinem langen weißen Barte beinahe für einen jener Kartäusermönche halten mögen, deren uralte Siedelung in diesen Bergen zu besuchen wir im Begriff standen.

Der Kraftfahrer hatte den Gang des Wagens gemäßigt, der setzt durch eine steile bewaldete Schlucht von überwältigender Schönheit emporkletterte.

»Das ist die Fourvoirie,« sagte der alte Herr. »Der heilige Bruno mit seinen Mönchen hat diese Einöde erst zugänglich gemacht.«

»Der heilige Bruno?« fragte ich, ohne meine Unwissenheit zu bemänteln.

»Der heilige Bruno ist nämlich der Gründer der großen Kartause und Stifter des Ordens gewesen. Hier beginnt das ehemalige Bereich des Klosters. Jetzt ist alles staatlich ...«

Das Gespräch kam auf die Maßregelung der Klöster durch die französischen Behörden, über die er den Kopf schüttelte.

»Mit den Mönchen der Grande-Chartreuse ist ein gut Stück Poesie aus diesem Lande verschwunden,« sagte er ungehalten.

Ich hatte ihn vorhin mit dem Wagenlenker englisch sprechen hören und mich der Überzeugung zugeneigt, er müsse doch ein Amerikaner sein. Der Anteil, den er dem Kloster der Chartreuse entgegenbrachte, befremdete mich. Der Gegenstand schien ihn zu beschäftigen, er blickte mit zusammengezogenen Brauen vor sich nieder. Nach einer kurzen Weile setzte er den Gedankengang fort.

»Es ist ein unerhört parteiisches und gemütloses Vorgehen!« sagte er lebhaft. »Wem haben die stillen, arbeitsamen Brüder, die diesen Urwald rodeten und diese Felsenwüste urbar machten, etwas zu leide getan?«

Plötzlich richtete er sich auf und streckte die Hand aus: » Voilà

Die Enge hatte sich aufgetan, im Talkessel vor uns lag zu Füßen eines wilden Felskolosses der ziemlich ausgedehnte schmucklose Häuserblock der Großen Kartause.

Es ist etwas Eigenes um geschichtlich denkwürdiges Gemäuer. Den meisten bleibt es tot, sie besuchen es nur, weil es einmal so herkömmlich ist, und empfinden in Wahrheit nichts dabei als Ermüdung. Bei Engländern und Amerikanern wieder findet man nicht selten eine pöbelhafte Neugier, die platte Kuriosität ist es, die sie lockt. An meinem Reisegefährten indessen glaubte ich jetzt etwas wie innere Bewegtheit wahrzunehmen. Ich konnte mich kaum täuschen, ich bemerkte es schon, als wir uns näherten, und noch deutlicher, als wir unseren Fuß über die Schwelle des altersgrauen, verlassenen Gebäudes setzten: er war ergriffen, erschüttert, irgendein rätselhafter Umstand wühlte seine Seele auf, rührte ihm ans Herz.

Wir wurden durch die leeren, frostigen Räume geführt, die von unseren Schritten widerhallten. Wir sahen den Kapitelsaal, aus dessen Wänden die Bilder der Äbte herausgerissen und fortgeschleppt waren, wir sahen das Refektorium, das die gleichen Spuren der Zerstörung aufwies, und die Kapellen mit verödeten Altären, des Marmors und allen Schmuckes beraubt. Wir sahen die Zellen der Mönche, von denen jeder seine Schlafkammer und seinen Arbeitsraum besessen hatte, seinen Kreuzgang, in dem das schwarz gestrichene Holzkreuz hing, das dereinst seinen Grabhügel bezeichnen sollte, und sein Gärtchen, in welchem er seine Blumen und seine Gemüse gezogen hatte. Wir sahen die Schubfenster in der Mauer, durch die den stillen Brüdern ihre Nahrung hineingereicht worden war, und wir sahen endlich den Friedhof, den einzigen Ort, der unverändert geblieben, und aus dem man nichts davongetragen hatte, mit den stummen namenlosen Kreuzen auf den Gräbern, die schweigsam waren wie die Mönche, die darin zur ewigen Ruhe gebettet lagen.

Ich hatte an der Stätte etwas länger verweilt, es webte ein eigen wehmutsvoller Zauber um diesen engen, eingefriedeten Raum, über dessen halbverfallene Mauer die gelb- und rotgefärbten Waldberge lugten, um diesen Gottesacker der Vergessenen, die nicht einmal in einer Grabschrift fortlebten.

Als ich mich nach meinem Gefährten umsah, war er verschwunden. In der Annahme, daß er mit dem Führer das Gebäude bereits verlassen hatte, beeilte ich mich, den Ausgang zu erreichen. Da sah ich ihn durch eine offenstehende Tür in einer der Mönchszellen an der Wand lehnen, er hatte den Arm über den Kopf geschlagen und preßte die Stirn gegen die Mauer. Erschrocken, weil ich im ersten Augenblick meinte, ein Unwohlsein hätte ihn befallen, näherte ich mich. Er warf einen halben Blick nach mir herüber, ich sah, daß seine Augen feucht waren; da zog ich mich rasch zurück, befangen und beschämt, und eilte von dannen.

Ich machte einen weiten, einsamen Spaziergang durch die Wälder, dann nahm ich eine Mahlzeit in dem bescheidenen Wirtshause, das schlecht und recht für die Fremden sorgt, um diese Jahreszeit aber nicht mehr eigentlich im Betrieb stand. Ich war der einzige Gast, den Amerikaner hatte ich nicht mehr zu sehen bekommen.

Schließlich blickte ich nach der Uhr. Wenn ich zu Fuß den letzten Zug in Saint-Laurent-du-Pont erreichen wollte, so war es Zeit, aufzubrechen. Ich hielt es für unpassend, länger zu zögern, weil ich den fremden alten Herrn dadurch genötigt hätte, mich abermals in seinem Wagen mitzunehmen. Und ob er dies gern tun würde, war schwer zu erraten. Der Kraftfahrer, der mit einem Speisekorb den Berg herunterkam, riet mir, noch ein wenig zu warten; sein Herr befinde sich in den Wäldern, werde aber voraussichtlich bald zurückkehren. Ich blieb indessen bei meinem Vorhaben, trug dem Burschen auf, meine Grüße zu bestellen, und machte mich auf den Weg. Da wurde ich angerufen, der Amerikaner kam rüstig und aufgeräumt den Waldpfad herabgeschritten.

»Sie machen mir doch wieder das Vergnügen, meinen Wagen zu benützen?«

Es war unmöglich abzulehnen. Das Auto fuhr vor und wir stiegen ein. Kaum hatte der Wagen sich in Bewegung gesetzt, so wendete der alte Herr sich zu mir herum und sagte: »Es war diesen Morgen etwas wie Selbstsucht dabei, als ich Sie einlud, mit mir zu fahren. Ich hoffte leichter meiner selbst Herr zu bleiben, wenn ich mich in Gesellschaft befände. Nun hat es mich dennoch übermannt. Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. In der Zelle, in der Sie mich heute Vormittag überraschten, habe ich zehn Jahre meines Lebens hingebracht.«

Ich sah ihn an, mein stummes Staunen stellte hundert Fragen.

»Da kamen nun alle alten Erinnerungen über mich,« sagte er. »Sollten Sie es glauben, daß ich an diese einsame stille Zelle wie an eine traute Heimat zurückdenke?«

»Wie waren Sie zu dem Entschluß gelangt, sich in ein Kloster zurückzuziehen?« fragte ich verwundert.

»Als junger Mensch«, sagte er, »war ich, einer ursprünglich deutschen Familie aus Chikago entstammend, übers große Wasser gekommen, um an der Ecole des ponts in Paris zu studieren. Ich war nicht gerade leichtsinnig, aber doch ein Weltkind, die unvergleichliche Stadt, die große Verführerin, verstrickte mich in ihre Netze. Mit einem gleichgestimmten Freunde, einem prächtigen Jungen, bestand ich manches Abenteuer. Er war gebürtiger Pariser und kannte sich aus, schön, feurig, bezwingend, hielt er es ein bißchen gar zu viel mit den Weibern: durch einen unglücklichen Zufall holte er sich den Keim einer schrecklichen Krankheit. Es war entsetzlich mitanzusehen, wie er verfiel, wie er Schritt für Schritt mit fürchterlicher Unerbittlichkeit zerstört wurde. Er war von grenzenlosem Lebensdrange erfüllt gewesen, sprühend von Geist und Laune, ein Liebling der Götter. Nun machte der Gedanke, daß alles aus sein sollte, ihn rasend. Mit wütender Leidenschaftlichkeit kämpfte er gegen den Tod. Er wehrte sich sozusagen bis zum letzten Atemzuge, es war ein grausam schweres Sterben. Die letzten Tage und Nächte wich ich nicht von seinem Bette, die Schreie seiner Todesangst gellen mir noch heute in den Ohren, nachdem fast ein halbes Jahrhundert darüber vergangen ist. Diese Eindrücke sind so stark gewesen, daß sie eine völlige Umwälzung in meinem Innern bewirkten. Ich beschloß der Welt zu entsagen, wurde katholischer Theologe und trat trotz des verzweifelten Widerstandes meiner Eltern in den Kartäuserorden.«

Er schwieg, ich lauschte und hoffte, daß er weiter erzählen würde. Endlich fragte ich: »Hat das Klosterleben Ihr Gemüt beruhigt?«

»Vollkommen!« antwortete er rasch. »Ich betete, ich webte an meinem Webstuhl das weiße Wollzeug für die Kutten der Brüder, ich schwieg. Sie glauben gar nicht, wie heilsam das Schweigen ist, fast all unsere Not stammt aus unserem eigenen Munde. Dreimal täglich bereitete ich mich vor dem schwarzen Kreuze, das für mein Grab bestimmt war, auf den Tod vor. Es sind vielleicht meine glücklichsten Jahre gewesen, die ich in der Grande-Chartreuse zubrachte. Eine merkwürdige Tatsache: daß das Leben dem am meisten schenkt, der nichts mehr von ihm begehrt.«

»Und dennoch sind Sie nicht dauernd im Kloster geblieben?« fragte ich.

»Sollten Sie es für denkbar halten,« antwortete er lebhaft, »daß man sich täuschen kann, wie ich mich getäuscht hatte? ... Im zehnten Jahre meiner Anwesenheit erkrankte ich an Typhus. Solange das Fieber mäßig war, lag ich im Delirium. Als aber mein Blut wie geschmolzenes Eisen durch meine Adern tobte, da kehrte mein klares Bewußtsein wieder, ja, ich befand mich in einem Zustand des Hellsehens. Und es kam plötzlich ein unsägliches Mitleid mit meinem armen jungen Leben über mich, das eigentlich kein Leben gewesen war, nur eine stete Vorbereitung auf den Tod. Was hatte ich geleistet, was hatte ich gewirkt? Was meinen Nächsten Gutes getan? Was zum Nutzen, was zur Entwicklung der Menschheit beigetragen? Nichts!«

»Aber Sie gestehen selbst, daß Sie glücklich gewesen sind?«

»Gerade das war es! Sind wir geschaffen, unser enges Glück zu pflegen? Sind wir nicht vielmehr geschaffen, Pflichten gegen die Mitmenschen, gegen die Allgemeinheit zu erfüllen? Und ein solches Leben, wie ich es geführt hatte, sollte Gott wohlgefällig sein? All diese Gedanken fingen jetzt an mich zu martern, wahrend ich krank lag.«

Der Kraftwagen fuhr langsam und vorsichtig über eine kühn geschwungene steinerne Brücke, turmhoch unter uns im Abgrund rauschte der Fluß.

»Das ist die Brücke St. Bruno,« sagte der Amerikaner. »Bruno ist auch mein Klostername gewesen, nach dem Stifter des Ordens. Als der Heilige an der Bahre eines Verstorbenen die Tagzeiten betete und die Worte las: Responde mihi! da soll der Tote sich aufgerichtet haben: Aus gerechtem Urteil Gottes bin ich verdammt! So erzählt es die Legende. Das Wort hallte in mir wieder, während ich im Sterben zu liegen glaubte. Die Todesangst, genau so wie mein armer Freund sie durchgemacht hatte, schüttelte mich. Zehn lange Jahre hatte ich mich auf ein sanftes Sterben vorbereitet – aber der gehoffte Erfolg blieb aus, es war nicht anders, als hätte ich die ganze Zeit her ein Leben der Weltlust geführt.«

In Erinnerung verloren, sah er vor sich nieder, die qualvollen Stunden von damals mochten ihm mit wiedererwachter Deutlichkeit vor die Seele getreten sein. Meine Gedanken arbeiteten, sich den seltsamen Fall zurechtzulegen. Und je mehr ich die Sache erwog, um so erklärlicher erschienen mir die Erfahrungen, die er gemacht hatte.

»Es dringt für gewöhnlich aus den Klostermauern keine Kunde,« sagte ich. »Sonst wüßten wir es vielleicht längst, daß auch die strengste Kasteiung die Natur des Menschen nicht bändigt. Der Tod bleibt eben unter allen Umständen der Gegensatz des Lebens.«

»Hierin irren Sie!« sagte er, sich aufrichtend. »Es gibt einen Weg, den Tod zu überwinden, und er läßt sich finden. Aber die Weltflucht führt ebensowenig zum Ziel wie die Weltlust, denn beide, wenn auch durch Abstufungen der Feinheit von einander unterschieden, sind letzten Endes doch ein und dasselbe: Genußsucht! Nur daß wir in dem einen Falle mit den Sinnen, im andern mit den Organen unsrer Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit genießen.«

»Und welches wäre der richtige Weg?«

»Die Weltpflicht!«

Er sah mich mit hellen, jugendlichen Augen an.

»Es sind vierzig Jahre hingegangen, seit ich das erstemal gestorben bin. Ich habe diese Zeit nicht ungenützt verstreichen lassen. Ich habe gearbeitet, ich habe geschaffen, ich habe Wohlstand, Bildung und Gesittung verbreiten helfen. Ich habe eine Gattin geliebt und ihr ein glückliches Los an meiner Seite bereitet, ich habe wohlgeratene Kinder großgezogen, tüchtige und freudige Menschen aus ihnen gemacht, die zum Wohl und zum Gedeihen ihres Volkes und ihres Landes beitragen. Mit einem Wort: ich habe gelebt. Gelebt im besten und schönsten Sinne des Wortes. Und wenn heute der Tod an mich heranträte, so hätte er keine Schrecken mehr für mich. Er ist nicht der Gegensatz des Lebens, er ist der natürliche Abschluß – um nicht zu sagen, die natürliche Fortsetzung des Lebens. Aber ein wirkliches Leben muß ihm freilich vorausgegangen sein, nicht ein bloßes Hindämmern in mäßigem Spintisieren, ein besonnenes, werkfreudiges Leben, ein Leben in Sorge, Müh' und Tätigkeit, kein feig verbrochenes Schwelgen in jenseitigen Gefühlen.«

»Und nach einem solchen Leben, meinen Sie, stürbe sich's leichter?«

»Ich halte es jedenfalls für die beste Vorbereitung auf das Sterben, die es gibt. Ich fühl' es an mir selbst. Kein Übersättigter, aber ein natürlich Gesättigter und darum Befriedigter und innerlich Beruhigter, werde ich mich vom Tisch des Lebens erheben, sobald die Stunde ruft. Mein irdisches Werk ist vollbracht, ich weiß meine Aufgabe erfüllt, mein Haus ist bestellt. Ich wiederhole es: jetzt hat der Tod für mich keine Schrecken mehr.«

»Solange wir gesund und froh sind,« meinte ich, »wird uns das Scheiden vom Licht der Sonne niemals ganz leicht fallen.«

»Sie sind um Vieles jünger als ich,« sagte er milde lächelnd. »In meinem Alter ist man vorbereitet. Diesmal, wenn es Ernst wird, hoffe ich meine Prüfung zu bestehn.«

Um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, fragte ich: »Und als Sie damals wieder gesund geworden waren, verließen Sie das Kloster?«

Er nickte.

»Und man ließ Sie ohne weiteres ziehen?«

»Ich habe mich heimlich davongeschlichen. Ich wollte keinen der Brüder in seinen Überzeugungen wankend machen. Sollte jeder nach seinen eigenen Erfahrungen leben und sterben – die meinigen behielt ich bei mir. Ich wendete mich in meine Heimat, ich arbeitete, es glückte mir, was ich anfing. Seit Jahren hegte ich den Wunsch, vor meinem Ende die Stätte wiederzusehn, wo mir die richtige Erkenntnis aufgegangen ist. Die richtige Erkenntnis des Lebens und – des Todes. Nun wissen Sie, warum wir einander heute begegnet sind.«

»Und jetzt werden Sie wieder nach Amerika zurückkehren?« fragte ich.

»Nicht sofort. In wenigen Tagen treffe ich mit meiner Familie an der Riviera zusammen, wo meine jüngste Tochter ihre Hochzeit feiert.«

Er blickte fröhlich drein, es war leicht zu erraten, daß er mit großer Liebe an den Seinen hing.

»Die Tochter eines ehemaligen Kartäusers,« fügte er lächelnd hinzu; »eines Kartäusers, der die Gewohnheit des Schweigens heute einmal gründlich – verleugnet hat.«

»Ich bin Ihnen dankbar dafür.«

Und sogleich wieder ernst geworden, sagte er noch mit seiner früheren Trockenheit: »Sie haben mich schwach werden sehen in der Zelle des Bruders Bruno, darum war ich genötigt zu sprechen.«

Ich muß sagen, daß ich es als Vorzug empfand, Einblick in dieses seltene Schicksal gewonnen zu haben. Auf drei verschiedene Wege des Lebens, auf drei verschiedene Möglichkeiten, sich mit den letzten Dingen abzufinden, warf es ein unerwartet klares Licht. Wie lautete doch die Formulierung, die der Amerikaner den ewigen Gegensätzen gegeben? Weltlust – Weltflucht – Weltpflicht ... Es war das alte, allerdings sonst mehr der deutschen als der angelsächsischen Seele eingeborene Bedürfnis, in die Tiefe zu schürfen, die Dinge begrifflich zu verdichten und zuzuspitzen. Und das reizvollste schien mir dabei, daß dieser Mann, der den zeitgemäßen Weg der rüstigen Pflichterfüllung und freudigen Arbeitsamkeit für sich erwählt hatte, doch seine stille Neigung für die Poesie des mittelalterlichen Ideals der Weltentsagung noch immer nicht ganz verleugnen konnte und nach seinem eigenen Geständnis an die verträumte Klosterzelle wie an eine traute Heimat zurückdachte.

Bald aber sollte ein unvorhergesehener Zufall mich belehren, daß ich selbst – so wenig wie mein merkwürdiger Reisebekannter – noch nicht am Ende aller Erfahrungen angelangt sei.

Wir fuhren die letzte Schleife der steilen Gebirgsstraße hinunter, plötzlich gab es einen Knall, ein Radreifen mußte geplatzt sein. Der Wagen wurde aus seiner Richtung geschleudert, stieß gegen einen Baum und schlug um. Ich weiß nicht, flog ich kopfüber heraus oder wurde ich sanft abgeleert, es war alles das Werk eines Augenblicks, vielleicht bin ich auch eine kurze Spanne Zeit nicht ganz bei klarer Besinnung gewesen. Als ich mich aufraffte, lag der Wagenlenker auf der Straße, er blutete an der Stirn, bewegte sich aber und stand gleichfalls auf. Den Amerikaner sahen wir nirgends. Entsetzt beugte ich mich über das Geländer, da lag er an einer abschüssigen Stelle, hing mehr, als er lag, hilflos fast über dem Abgrund schwebend. Zum Glück hatte sein Mantel sich im Rad des Kraftwagens verfangen, das ihn festhielt, sonst wäre er unrettbar in die Tiefe gestürzt. Er bewegte die Arme und rief mit schreckverzerrter Miene: »Helft mir!«

Der Chauffeur hatte in fliegender Eile den Werkzeugkasten geöffnet, wir warfen ihm eine starke Leine zu, zogen ihn nicht ohne Mühe und Gefahr herauf und lösten ihn endlich aus seiner Verstrickung, die ihm zum Segen geworden war; denn ohne sie wäre er unrettbar verloren gewesen. Wir trugen ihn auf den Rasen, betteten und labten ihn. Er war angegriffen, halb ohnmächtig, aber unversehrt.

Wir konnten von Glück sagen, daß der Unfall so glimpflich abgelaufen war. Keiner von uns hatte eine erhebliche Verletzung davongetragen. Schon war der Fahrer an der Arbeit, den Schaden am Wagen wieder gutzumachen. Er hämmerte und schraubte, ersetzte den geplatzten Gummireifen und lud uns ein, einzusteigen.

Bleich und finster saß der Amerikaner an meiner Seite, in tiefes Schweigen gehüllt. Es fing leise zu dämmern an, als wir uns schließlich vom Gebirge lösten und in die Ebene hinausfuhren. Der Wagenlenker, ingrimmig über den erlittenen Unfall, an dem er doch keine Schuld trug, schien von dem Ehrgeiz beseelt, seinen Ruf wieder herzustellen. Mit unvergleichlicher Tollkühnheit jagte er über die glatten Fahrstraßen der Niederung dahin.

Einmal, bei einer jähen Wendung um die Ecke, während wir beinahe herausflogen, rief der Amerikaner ihm zu: »Langsamer fahren!«

» Dinner is ready!« antwortete der trutzige Lenker und sauste weiter.

Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten die Abendmahlzeit versäumt und die Fahrgeschwindigkeit dafür gemäßigt. Aber da sahen wir schon die ersten Lichter von Grenoble, das zu Füßen seiner hohen Berge und Rebhügel hingebettet lag.

Wir fuhren an unserem Gasthof vor und stiegen aus. Ich bedankte mich, und wir trennten uns. Weniges später begab ich mich in den Speisesaal zur Abendtafel. Gleichzeitig mit mir trat auch der Amerikaner ein, der noch immer bleich und angegriffen aussah. Er mußte einen gehörigen Schreck durchgemacht haben. Schließlich war es auch keine Kleinigkeit gewesen, ein paar Augenblicke lang hatte er in wirklicher Lebensgefahr geschwebt. Besorgt erkundigte ich mich nach seinem Befinden. Aber er beteuerte, während er mir gegenüber Platz nahm, daß er sich vollkommen wohl fühle. Der Unfall hatte gottlob keinerlei üble Folgen hinterlassen.

Die Mahlzeit schien ihm gut zu munden, doch blieb er einsilbig, wie es wohl sonst seine Gewohnheit gewesen, ein Kartäuser in Frack und weißer Halsbinde.

Zwischen Fasan und Kompott sagte er plötzlich zu mir herüber: » Well – Sie haben recht!«

»Inwiefern?«

»Man mag sich noch so gut darauf vorbereiten – man erlernt es doch nicht!«

»Sie meinen –?«

»Niemals erlernt man es!« wiederholte er, den Kopf schüttelnd. »Nie!«

Ich glaubte zu verstehen und schwieg.

Die hohen und breiten, bis auf den Fußboden herabreichenden Fenster nach dem Garten standen weit offen, das tausendfaltige Glitzern der milden Herbstnacht wetteiferte mit dem Glanz der elektrischen Lichter, mit dem Blitzen des Kristalls, mit dem milden Scheine des Tafelsilbers.

Fahrende Musikanten hatten sich draußen aufgestellt, nun setzten sie plötzlich ein und ließen auf drei oder vier Lauten und Mandolinen eine schmachtende Melodie erklingen, über die sich eine helle jubelnde Männerstimme wie eine Lerche emporschwang:

Je suis né pour le plaisir,         Mais je ne puis le choisir;
Bien fou qui s'en passe.          Souvent le choix m'embarrasse.

Aime-t-on, j´aime soudain:
Boit-on, j´ai le verre en main.
Je tiens partout ma place.

Bin zur Lust da, nicht zum Leiden,          Doch wie schwer ist's, sich entscheiden,
Töricht, wer entsagt!          Oft macht mich die Wahl verzagt.

Liebe, wo man liebt und singt!
Trinke, wo der Becher klingt!
Tausendfach gewinnt, wer wagt.

Mit gesteigertem Lebensgefühl lauschten wir dem leichtbeschwingten Gesang. Es war eines jener provencalischen Lieder voll Glut und südlichem Zauber, die trunken machen. Und indem wir von dem öligen, goldgelben Wein in unsere Gläser gossen und schweigend miteinander anstießen, empfanden wir dankbar, nach all dem vielfältigen Memento mori, die Schönheit dieser rätselvollen Erde.


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