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Zum Geleit

Der 70. Geburtstag Emil Ertls, der im Vorfrühling dieses Jahres ein festliches Geschehen bedeutete, hat dadurch ein sehr beredtes Zeugnis für die verehrungsvolle Liebe einer innerlich-ergriffenen Gemeinde abgelegt: er wurde zum lauten Herold für die andauernde künstlerische Geltung eines gestaltungsstarken Erzählers und darüber hinaus zum zuverlässigen Künder von dessen enger seelischer Verbundenheit mit allen jenen, für die im Wogen und Werden unserer Zeit aus dem weise verstehenden, gütigen Dichterherzen durch die Darstellung des Allgemein-Menschlichen und Ewigen die beglückende Fülle edler Geistigkeit und tiefen Gemüts verheißungsvoll aufblüht.

»Alles was der Dichter uns geben kann,« meint Schiller, »ist seine Individualität; diese muß es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden.« Gilt dieses Wort, so besteht Emil Ertl groß vor uns, ist doch so viel edler Stil in seiner Erscheinung, quillt doch aus seiner seltenen Menschlichkeit der wundersame Brunnen, dessen Tiefe sein Werk speist. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommen bei ihm aus solchem Ursprung. Dieses starke, erdverwachsene und dabei fest in göttlichem Grunde ruhende Menschentum bewirkt seine geistige Haltung, bestimmt sein bedeutendes, von allen Mächten der Seele und von reifem Weltwissen erfülltes, in Höhen und Tiefen reichendes Dichtertum.

Hieraus erklärt es sich, warum der Verfasser des vorliegenden Buches das Erbe unvergänglicher Meister in so sicheren Händen trägt, daß wir seiner Kunst bis zu diesem Tage nirgends ein Ermüden oder Welken anmerken. Bei seinen unmittelbaren Beziehungen zum Leben, aus Blut ins Blut wirkend, hat er seine Schwerpunkte, wiewohl er sich oft im Reiche der Geschichte ergangen hat, beileibe nicht in verklungenen Tagen, wir spüren bei ihm überall den lebhaften Schwung eines mit der Zeit gehenden Willens. Sein Wirklichkeitssinn führt immer wieder zu hellspüriger Beobachtung des Kleinlebens, der Einzelheit; und doch zeigen seine Dichtungen trotz feinfühliger Erbötigkeit an die Natur und das pulsende Leben, trotz sozialer Einfühlung in das Poetische des Alltags, die zuweilen eine rührende Andacht zum scheinbar Unbedeutenden in sich schließt, jene hoch über der Erscheinung stehende Auffassung, die die Gemeinschaft alles Lebens bis in die stumme Kreatur hinein begreift und heiligt. Ein Dichter soll ja auch mehr geben als nur eine Nachbildung des Lebens in seinen charakteristischen Formen. Wir hoffen von seiner Kunst, daß sie uns den verhohlenen Sinn des Daseins entschleiern, den irdischen Tageslauf bezwingen lehren und uns eine innere Durchleuchtung für Arbeit und Pflichterfüllung verleihen werde.

Emil Ertls Muse hat dieses weihevolle Amt immer geübt, doch benötigte sie hiezu nicht immer den Schauplatz großer geschichtlicher Ereignisse, wie etwa in der gewaltigen Spiegelung der vier innerlich zusammenhängenden Romane aus den Geschicken einer österreichischen Seidenweberfamilie, sie in stolzem Bogen eine Brücke aus Napoleonischer Zeit bis herauf in unsere Tage schlagen, oder in dem für uns Deutsche gleichnisreichen Riesengemälde von Karthagos Kampf und Untergang. Ein Berufener, den längst die Erde deckt, traf denn auch ins Schwarze, wenn er, Jahre bevor die genannten Hauptwerke Emil Ertls entstanden, dessen dichterisches Können als ein vielverzweigtes und reichgestaltendes einschätzte. In einem Aufsatz, der »Ein guter Kamerad« überschrieben ist, und in dem Peter Rosegger eine Besteigung des Loser schildert, jenes aussichtsreichen Kalkgipfels, mit dem das Tote Gebirge gegen den dunkelgrünen Altausseer See abstürzt, rühmt der volkstümliche steirische Dichter in seiner Art die gewaltigen Eindrücke, die ihm die Erhabenheit der Bergwelt vermittelte, und freut sich zugleich über das offene Auge, Ohr und Verständnis, das sein um vieles jüngerer Freund und Wandergenosse von damals für das Größte und Kleinste in der Natur bekundet habe, sowie über dessen Sinn für das Geschichtliche der Gebirgsbewohner, deren wirtschaftliches Leben, ihren Volkscharakter, ihre Sitten, Kunstneigungen und Lieder. Und er fügt hinzu: »Da begriff ich, wie dieser Mann aus einem Tintentiegel Dorfgeschichten wie Stadtnovellen schreiben kann.« So zu lesen in dem letzten von Peter Rosegger noch selbst zusammengestellten Sammelband »Abenddämmerung«.

Einer Anregung des Verlages L. Staackmann in Leipzig freudig entsprechend, aus einer Anzahl verschollener älterer Novellenbände Emil Ertls, die wegen der Ungunst der Zeitverhältnisse derzeit nicht neu aufgelegt werden können, einen bunten Strauß der erlesensten solcher abwechslungsreicher Erzählungen und Geschichten, und zwar kleinsten Umfangs, zusammenzustellen, konnte ich mich der Zustimmung des Verfassers zu diesem Unternehmen umso leichter versichern, als im Laufe der Jahre nicht nur an die genannte Verlagsanstalt, sondern im Wege verschiedener Buchhandlungen auch an den Dichter selbst immer wieder Anfragen gerichtet worden sind, in welchem Band diese oder jene Geschichte zu finden sei, und auf welche Weise man sich selbe verschaffen könne; worauf denn keine andere Antwort gegeben werden konnte, als daß die betreffenden Bande gänzlich vergriffen und auch im Altbuchhandel kaum mehr aufzutreiben wären. Zehntausende schöngeistiger Werke, sagte ich mir, werden in deutschen Landen alljährlich mit mehr oder weniger Lärm auf den Markt geworfen, meist um für immer der Vergessenheit anheimzufallen. Und eine in aller Stille erblühte dichterische Schönheit, deren Duft und Farbe sich ihren Schätzern lebendig und dauernd eingeprägt hat, sollte den empfänglichen Gemütern, die ein Wiedersehen mit ihr feiern oder andere darauf aufmerksam machen möchten, für immer unzugänglich bleiben?

Schon allein aus dieser Erwägung scheint mir die Herausgabe der vorliegenden Auswahl gerechtfertigt, wobei ich mich übrigens auf ausdrücklichen Wunsch des Dichters zu der Feststellung veranlaßt sehe, daß seines Erachtens Peter Rosegger einem wohlwollenden Irrtum unterlegen sei, wenn er ihm seinerzeit die Fähigkeit zugetraut habe, »Dorfgeschichten« zu verfassen. Daß dieses nur einem Schriftsteller gelingen könne, der Gemüt und Seele jener ländlichen Umwelt, die er zum Gegenstand seiner Darstellung zu machen beabsichtige, von Jugend auf in sich eingesogen habe, dessen sei sich niemand besser bewußt als gerade er selbst, der als Heimatdichter der Großstadt seine nachhaltigsten Wirkungen dem Umstande danke, daß er seine Romangestalten dasjenige, was jeden Menschen betrifft und bewegt, in einem zum Greifen lebendigen, örtlich und zeitlich genau bestimmten und bedingten Geist habe aussprechen lassen, wozu ihn wieder nur seine von Kindheit auf bestehende Vertrautheit mit diesem Geiste und dessen Ausdrucksmitteln befähigt habe.

»Du wirst, lieber Freund,« fährt Emil Ertl in dem betreffenden an mich gerichteten Briefe fort, »vielleicht einen Widerspruch darin erblicken, daß sich trotzdem in meinen Werken Erzählungen genug finden, die in den mannigfachsten Umgebungen spielen, in der Stadt oder auf dem Lande, unter Gebildeten oder Bauern, großen und kleinen Leuten, Edelmenschen und Strolchen, manchmal sogar im fremdsprachigen Ausland. Indessen löst sich der scheinbare Widerspruch bei genauerer Betrachtung der Form. Der Roman, der künstlerische Ernte einbringen will, muß seine Gestalten, auch wenn sie erst als reife Menschen in ihn eintreten, von Kindheit auf, womöglich gar vor ihrer Geburt, nämlich in ihren Vorfahren kennen, muß mit ihren Beziehungen und Verhältnissen aufs Genaueste vertraut sein, um ihr geheimstes Sinnen und Trachten wissen und sie in vollster Lebensfülle, das heißt in innigstem Zusammenhang mit ihrer Umgebung darstellen. Ungefähr dasselbe, wenn auch in gewisser Abschwächung, gilt auch von jener die ehemalige »Dorfgeschichte« in sich begreifenden Erzählungsform, die zwar oft Novelle genannt wird, grundsätzlich aber so wenig zur Verschwiegenheit neigt wie der Roman und sich von diesem im wesentlichen nur durch geringeren Umfang nach Breite und Tiefe unterscheidet. Ganz anders die richtige Novelle. Sie weiß absichtlich und grundsätzlich von den handelnden Gestalten, deren Charaktereigenschaften und Schicksalen nicht mehr, als was eine bestimmte Begebenheit, die an sie herantritt, ein Ereignis oder Erlebnis, dem sie unterliegen, scheinwerferartig davon erhellt. In dem abgegrenzten Lichtkegel leuchtet dann für einen Augenblick ein Stück Wirklichkeit auf, was rechts und links davon liegt, bleibt unbekanntes Land, wird höchstens angedeutet. Man fühlt die Verwandtschaft mit der Radierung. Aus einem Lebenskreise nun, in dem ich durch Erfahrung oder Studium nicht gründlich zuhause bin, würde ich niemals wagen, einen Roman zu gestalten. Aber unbedenklich ergibt er mir, wenn das Glück hold ist, eine Novelle, kein Gemälde zwar, aber eine Radierung, die auch ihre Reize hat ...«

Soweit Emil Ertl. Es ist damit genugsam erklärt, warum der Dichter, der auf der einen Seite so strenge Anforderungen an die Kenntnis der Umwelt stellt, wie etwa in seiner oben erwähnten vierbändigen Romanreihe »Ein Volk an der Arbeit« oder in dem wuchtigen dichterischen Geschichtsdenkmal »Karthago«, anderseits vor der abwechslungsreichsten und mannigfaltigsten Stoffwahl nicht zurückschreckt. Er sieht im Roman oder der romanartigen Erzählung gewissermaßen einen zwischen begrünten und beblumten Ufern hingleitenden Strom, Bäume und Häuser, die am Rande stehen, spiegeln sich darin, sogar das Bild des Himmels, der sich darüber wölbt, wirft er zurück. Die Novelle dagegen scheint ihm herausgeschöpftem Wasser vergleichbar, das die Form des Gefäßes anzunehmen gezwungen ist, dessen Wände es umgrenzen. Die Verschiedenheit der künstlerischen Technik bedingt auch eine andere Einstellung des Schaffenden seinem Stoff gegenüber. Nach solchen Gesichtspunkten beurteilt dünkt es mich kein Überschwang, wenn die vorliegende Sammlung in nachdrucksamer Betonung eines vielerfahrenen Kunstverstandes, der den Inhalt durch Form bändigt, den Titel »Meisternovellen« trägt. Wie griffig und packend bewegt, schürzt und löst in diesen knappen kleinen Kunstwerken die bewährte Meisterhand, wie hellt sie Dunkles und Verborgenes auf, um es durch die Macht des dichterischen Wortes zu tragischen Erschütterungen zu steigern oder trostreich ausklingen zu lassen, wieviel Beobachtungsgabe und Weltkenntnis birgt der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der großen und kleinen Ereignisse in sich, die gleichsam aus dem Leben selbst herausgerissen sich in diesem Bande zusammenfinden!

Emil Ertl, in seiner Gesamterscheinung einer der vornehmsten Träger altösterreichischer Geisteskultur, ist in seinem Wesen uns Donau- und Alpendeutschen für die eigene seelische und geistige Haltung vollgültig wie wenige neben und mit ihm. Gerade aus den lauteren Quellen, aus dem Wurzelgefühl dieser Dichtung, die nicht bloß zeitvertreiben und unterhalten, die vielmehr auch Dienst an der Seele unseres Volkes tun will, ist mannigfach echte Kraft zu schöpfen. Man wird schon deshalb dem Dichter und Denker eines selten gewordenen verinnerlichten Deutschtums, der aus der andrängenden Vielfalt des buntwirbelnden Lebens durch den sanft überredenden Geigenstrich einer wundervoll gepflegten Sprache die köstlichsten Schätze hervorzuzaubern weiß, allenthalben im weiten deutschen Vaterlande gerne mit beschwingter Seele lauschen.

Graz, im Sommer 1930.
Heinrich Wastian.


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