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Der Eliteball

Die Klänge der Bundeshymne brausten durch den Saal, dessen mit Blumengewinden geschmückten Wände von Goldstoff flimmerten, unter dem zauberhaften Lichte, das aus den Tausenden und Abertausenden rosenroter Glastulpen der Kronleuchter herniederflutete. Von den Veranstaltern geleitet, bewegten sich die Ehrengäste mit dienstlichem Gefolge durch die dichtgedrängten Reihen von Ballgästen gegen den Ausgang, und an der Spitze des Zuges sah man die vornehme Gestalt des Bundespräsidenten schreiten, der auf der Patronessenestrade eine Stunde lang Vorstellungen entgegengenommen hatte und jetzt, nachdem er den Pflichten seiner Standeswürde Genüge getan, leutselig nach allen Seiten grüßend im Begriffe stand, den Saal zu verlassen. Allmählich kam Bewegung in die unübersehbare Menge weißer Hemdbrüste und entblößter Nacken. Die Förmlichkeiten der Eröffnung waren beendet, das eigentliche Fest konnte seinen Anfang nehmen. Die Bundeshymne setzte plötzlich ab, und die Musik stimmte den Donauwalzer an. Da wirbelten auch schon die Paare im Dreivierteltakt durcheinander.

Ein kleiner, runder Herr, dem die Schweißperlen auf der Glatze standen, eilte die Stufen der Patronessenestrade empor, über der, wie ein Märchentraum, eine riesige Wolke blühender Rosen schwebte. Auf der obersten Stufe stieß er mit einem Ausschußmitgliede zusammen, das eine ganze Kette winziger Orden in Gold und Email auf der linken Frackseite trug, entschuldigte sich verbindlich, indem er ein paarmal »Pardon! Pardon!« stammelte, und schoß weiter.

»Wer ist denn der?« fragte eine der Patronessen, während sie, um ihre Heiterkeit zu verbergen, den Fächer entfaltete.

»Der? Das ist der kleine Fritsch, der Chef des Hauses Schwegel & Fritsch, Metallwarenexport,« sagte der Komiteeherr und lächelte. »Der Präsident hat ihn durch eine längere Ansprache ausgezeichnet, das macht ihm halt eine riesige Freud'.«

»Da muß er aber auch eine Nummer Eins sein?« meinte die Dame.

»Gewiß ist er das,« versetzte der Befragte ernst. »Ein genialer Kerl in seiner Art, wenn man es ihm auch nicht ansieht, am wenigsten im Ballsaal.«

Inzwischen war der dicke kleine Herr behende zwischen den glänzenden Ballkleidern auf der Estrade hindurchgesteuert und hatte sich einer der Patronessen genähert, die, halb in die Ecke gedrückt, zwischen Lorbeerbüschen unter einem goldenen Blumenkorb voll prachtvoller Orchideen Platz genommen hatte und durch ihr Lorgnon eifrig die tanzenden Paare musterte.

»Wie geht's, Liebste? Du hast ja alles aus nächster Nähe mit ansehen können – wie?«

Sie nickte ihm freundlich zu.

»Leider nur sehen. Was der Präsident sprach, konnte ich nicht verstehen. Worüber hat er sich so lange mit dir unterhalten?«

Herr Fritsch strahlte.

»Nach der Firma hat er sich erkundigt und nach der Metallbranche überhaupt. Und ganz paff war er, daß wir soviel exportieren! Du, das ist ein entzückender alter Herr! Und auskennen tut er sich, man sollt's nicht für möglich halten. An dem können wir unsere Freude haben! ... Darf ich vielleicht«, sagte er, sich verschmitzt an ihr Ohr neigend, »eine kleine Erfrischung besorgen – Frau Rat?«

»Nein, danke!«

Sie stutzte, zog die Augenbrauen hoch und blickte zu ihm auf: »Frau Rat?«

»Ganz im Vertrauen: Ich höre, daß etwas in der Luft schwebt.«

»Oho?«

»Es heißt nämlich, daß ich durch den Titel eines Kommerzialrates ausgezeichnet werden soll.«

»Bravo!« sagte sie lächelnd. »Wenn es dir Freude macht, den Kommerz zu beraten, so freue auch ich mich darüber.«

»Persönlich halte ich nicht viel auf solche Dinge, das weißt du. Aber der Firma gibt es immer ein gewisses Ansehen.«

»Ganz recht, das ist es ...« sagte sie müde. Aber sogleich belebten sich die großen, leuchtenden Augen wieder: »Hast du beobachtet, wie reizend Erna als Vortänzerin aussah? Ich glaube, sie ist das hübscheste und anmutigste Mädchen auf dem ganzen Ball.«

Frau Fritsch hatte sich erhoben und war an die Balustrade vorgetreten. Durch ihr Glas suchte sie unter den unzähligen tanzenden Paaren nach ihrer Tochter. Sie war noch immer eine schöne Frau. Die hohe stattliche Erscheinung wurde durch den großartigen Staat aus Silberlamé mit blaßlila Straußfedernbesatz aufs Vorteilhafteste zur Geltung gebracht.

Eine Weile stand das Ehepaar schweigend nebeneinander und blickte auf den Wirbel von Tänzern und Tänzerinnen nieder, von dem der ganze Saal wogte. Ein paarmal bildeten sie sich ein, das strahlende Gesicht Ernas im Gewühl auftauchen zu sehen; dann lächelten sie und versuchten es, ihrem Kinde einen Gruß zuzunicken. Aber schon der Bruchteil eines flüchtigen Augenblicks genügte, die schwankende Erscheinung wieder zu verwischen, daß sie wie für immer verschwunden schien im endlosen Strudel der schwarzen Fräcke und blendenden, manchmal fast den ganzen Rücken entblößenden Kleidausschnitte.

»Ich habe mich zu einem Spielchen verabredet,« sagte Herr Fritsch endlich. »Du entschuldigst mich eine Zeitlang – wie? Später komm' ich natürlich wieder nachsehn, ob du keine Wünsche hast.«

»Leg dir meinethalben nur keinen Zwang auf,« sagte sie liebenswürdig. »Ich werde mir die Zeit auch allein zu vertreiben wissen.«

Sie stand noch einige Zeit an der Balustrade und sah dem fröhlichen Treiben zu. Dann setzte sie sich wieder unter den goldenen Blumenkorb, aus dem, wie gefleckte und getigerte Giftschlangen mit aufgesperrten Mäulern, an leicht geschwungenen Luftwurzeln und Trieben die abenteuerlichen Blüten der Orchideen prangten.

Es war eine kleine Tanzpause eingetreten, die Hunderte und Hunderte von heißen Paaren wandelten jetzt im Saal und schwatzten vielstimmig durcheinander. Frau Fritsch drückte ihr kostbares Spitzentüchlein an die Lippen, ihre Nasenflügel blähten sich kaum merkbar unter einem halbunterdrückten Gähnen. Plötzlich zuckte sie zusammen, ein außergewöhnlich hochgewachsener, bartloser Herr, den sie nicht kannte, stand vor ihr und verneigte sich. »Darf ich Sie vielleicht um einen Rundgang durch den Saal bitten, gnädige Frau?«

Befremdet blickte sie zu ihm auf, in ein Gesicht von jenem sportlich entschlossenen, bronzeüberhauchten Blühen, das es oft so schwer macht, das Alter von Angehörigen der angelsächsischen Rasse richtig abzuschätzen.

»Ich habe nicht das Vergnügen ...«

Aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen, zwangsläufig erhob sie sich und legte ihren Arm in den seinen, und im nächsten Augenblicke schritt sie an der Seite des stattlichen Mannes, der ihren hohen Wuchs noch um einen halben Kopf überragte, die Stufen der Estrade hinab.

Unten, als das Gewühl sie aufnahm, kam Frau Fritsch erst recht zur Besinnung. Sie neigte sich seitlich von ihm weg, um ihn besser betrachten zu können. Ihr Herz klopfte, daß man auf der zartgeäderten Haut über der Kante des Ausschnittes seine stürmischen Stöße hätte wahrnehmen können.

»Hab' ich Sie erschreckt?« fragte er ruhig.

»Ich bin förmlich überrumpelt worden,« antwortete sie, nach Fassung ringend. »Beinahe hätt' ich Sie nicht wiedererkannt. Sind Sie es denn wirklich?«

Er beugte sich lächelnd zu ihr nieder.

»Ja, ich bin es wirklich, Artur, wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben wollen, sich des Namens noch zu entsinnen.«

Sie fühlte, daß alles Blut aus ihrem Antlitz gewichen war.

»Habe ich mich so sehr verändert?« fragte er.

»Eigentlich nicht,« sagte sie, indem sie sich bemühte, den leichten Ton der Weltdame zurückzugewinnen. »Nur der Bart, den Sie einst trugen ... und an den Schläfen –«

»Spuren von Grau? Mein Spiegel sagt es mir. Wenn ich Sie ansehe, gnädige Frau, so scheint es mir fast unglaubwürdig.«

Sie fühlte sich wie neu belebt und seufzte auf.

»Sie schmeicheln, ich weiß es. Da wir uns all die vielen Jahre nicht wiedergesehen haben, müssen Sie ja beinahe – erschrocken sein?«

»Ein freudiger Schreck, als ich Sie erblickte.«

»Sie haben mich sogleich wiedererkannt?«

»Auf den ersten Blick!«

Er sprach so ruhig und überzeugt, daß es echt klang. Es tat ihr unendlich wohl. Die Musik setzte jetzt mit einem Charleston ein, die jungen Paare unterbrachen den Rundgang und begannen auf dem weiten Parkett nach der kopfzerbrecherischen Regeldetri moderner Tanzkunst sich zu bewegen.

»Wenn Sie nichts dagegen haben und nicht vielleicht selbst tanzen wollen,« sagte er, »so würde ich Sie einladen, in einem der stilleren Nebengemächer mit mir Platz zu nehmen. Ich möchte so gerne erfahren, wie es Ihnen ergangen ist, und von alten Zeiten mit Ihnen plaudern.«

Sie wurde unruhig, aber in der Geschwindigkeit fand sie keinen Vorwand, seine Bitte abzuschlagen.

»Ich tanze längst nicht mehr. Ich bin sogar schon Ballmutter, denken Sie!«

»Sie scherzen!«

»Nein, leider nicht! Es ist der erste richtige Ball, den meine Älteste heute mitmacht. Freilich ist sie noch recht jung – kaum achtzehn.«

»Ja, die Zeit vergeht!« sagte er ... »Sie haben also mehrere Töchter?«

»Zwei Töchter und einen Sohn. Der ist auch schon Mittelschüler.«

Sie hatten ein einsames Plätzchen in einem kleinen, lauschigen Gemach gefunden, das mit Blattpflanzen geschmückt war. Niemand befand sich sonst in dem mild erleuchteten Raume, in den die Musik nur gedämpft aus der Ferne herüberklang. Sie setzten sich einander gegenüber und musterten sich gegenseitig eine Zeitlang stumm, mit aufmerksamen Blicken.

»Und Ihr Leben ist immer nach Ihren Wünschen verlaufen?« leitete er die Unterhaltung ein.

»Ich kann mich nicht beklagen.«

»Das ist schon etwas. Das ist sogar ziemlich viel.«

»Meine Kinder sind gesund und ganz lieb und nett, mein Gatte ein seelenguter Mensch und ein – ich darf fast sagen: hervorragender Geschäftsmann. Seine Tätigkeit nimmt ihn sehr in Anspruch. Er hat keine üblen Launen, keine hervorstechend schlechten Eigenschaften, er liebt mich sogar in seiner Weise. Wir leben ziemlich gesellig, besuchen Theater und Konzerte, im Sommer reisen wir ... Ich hab' es ganz gut getroffen und bin leidlich zufrieden. Und Sie?«

»Ich? Ich bin wieder in Europa, wie Sie sehen. Seit zwei Monaten. Und da will ich die paar Wochen noch bleiben, bis eine neue Arbeit mich ruft. Dann empfehle ich mich wieder. Denn für einen Ingenieur ist drüben doch bedeutend mehr zu holen. Überhaupt ein ganz anderer Zug in der Sache. Nur müde wird man es manchmal ein bißchen. Besonders wenn man kein rechtes Heim hat und tun und lassen kann, was man mag. Dann ist es anstrengend. Dieses ganze geräuschvolle Leben dort und die vielen kühnen Unternehmungen und der Strudel des Vergnügens und diese prachtvollen stolzen, gescheiten Frauen. Großartig und herrlich alles, aber keine rechte Gemütlichkeit, wissen Sie ... Übrigens hatte ich sehr schöne Erfolge – in meinem Beruf, mein' ich natürlich.«

»Sie sind unvermählt geblieben?«

»Ja.«

»Und waren die ganze Zeit drüben?«

»Nahe an zwanzig Jahre.«

»Ich hörte damals wohl davon, daß Sie hinübergegangen seien ...«

Sie stockte und fragte lächelnd, indem sie sich vorneigte und ihm unsicher in die Augen sah: »Es geschah doch nicht – aus Liebesgram?«

»Aber, gnädige Frau, was denken Sie von mir!«

Sie schwiegen eine kleine Weile, dann sagte er ernst: »Wissen Sie, um aufrichtig zu sein – leicht ist es mir damals nicht geworden, den Gedanken an Sie aufzugeben. Ich hatte Sie ganz verdammt lieb ... Aber die eigentliche Ursache, warum ich hinüberging, war es nicht. Ganz einfach: es boten sich mir verlockende Aussichten, meinen Weg zu machen, das war der Anlaß, und ich hab' es nie bereut. Eigentlich bin ich Ihnen nachträglich dankbar gewesen.«

»Dankbar? Nun also, sehen Sie!« stieß sie ein wenig enttäuscht hervor und lachte gezwungen.

»Ja, wirklich und aufrichtig dankbar! Trotz des Schmerzes, trotz der Enttäuschung, trotz der Ernüchterung, die mir die Trennung damals verursacht hatte. Denn im Grunde wäre es doch eine Unklugheit gewesen.«

»Warum eigentlich?«

»Ich war doch überhaupt noch zu unreif, um zu heiraten. Ein grüner Junge war ich, unerfahren!«

»In der Liebe hatten Sie allerdings schon gewisse Erfahrungen hinter sich!« flammte sie plötzlich auf, wahrend eine leichte Röte in ihre Wangen stieg.

Er stutzte, lehnte sich in die Kissen zurück und blickte ihr forschend ins Antlitz.

»Eigentlich wäre ich Ihnen verbunden, gnädige Frau, wenn Sie mich nachträglich darüber aufklären wollten, warum Sie mir damals jenen herzlosen Brief schrieben, der unsere heimliche Verlobung löste.«

»Warum?« sagte sie, sich ausrichtend. »Weil ich mich betrogen fühlte!«

»Das ist ein etwas starker Ausdruck, den Sie da gebrauchen.«

»Ich finde keinen andern, der der Wahrheit näher käme. An dem Tage, bevor unser Verlöbnis öffentlich gemacht werden sollte, erfuhr ich durch einen Brief ohne Unterschrift, daß ich nicht die erste war, die Sie mit Ihrer Neigung beehrten.«

»Also wegen eines anonymen Briefes!« sagte er bitter.

»Ich überzeugte mich davon, daß er die lautere Wahrheit enthielt. Denn ich habe jene Putzmachermamsell selbst aufgesucht, die Ihre Geliebte gewesen war, bevor Sie mich kennen lernten.«

»Also, wenn ich ohnedies mit ihr brach, als ich Sie kennen lernte –?« sagte der Ingenieur; »was wollen Sie mehr?«

»Sie sind frivol!« brach sie empört aus. »Können Sie nicht begreifen, was da alles in mir zusammenstürzte? Ich war ein junges Mädchen aus guter Familie, das Ihnen in unschuldsvoller Hingabe die Pforten ihres reinen, unberührten Herzens jubelnd aufgetan hatte, ohne zu ahnen, daß Sie – aus den Armen einer andern kamen!«

Er zuckte die Achseln und schwieg. Wie aus weiter Ferne klangen die Rhythmen der »Ballsirenen« in das versteckte Zimmer, in dem sie saßen, halb beschattet unter den riesigen Fächern einer Latania.

Endlich sagte der Ingenieur mit einer Stimme, in der leichter Spott lag: »Die kleine Putzmacherin, die eine so bedeutsame Rolle in Ihrem Leben gespielt hat, wird mich vermutlich wacker verleumdet haben?«

»Verleumdet meinen Sie? Nein, da tun Sie ihr Unrecht. Sie hatte sich längst getröstet, das können Sie mir glauben! Sie lobte Sie sogar über den grünen Klee und redete mir förmlich zu, recht glücklich mit Ihnen zu werden.«

»Und trotzdem?«

»Vielleicht eben deshalb. Gott, wenn Sie wüßten, wie ich geweint habe! Aber ich hatte meinen Mädchenstolz. So einen Bräutigam aus zweiter Hand gewissermaßen – nein, dafür bedankte ich mich lieber.«

»Und Ihren Herrn Gemahl, den bekamen Sie dann natürlich aus allererster Hand?«

»Von seinem Vorleben wußte ich wenigstens nichts. Und dann war ich auch reifer geworden inzwischen ... Sie waren meine erste Liebe gewesen. Oh, was für ein Blütenreich träumt sich da ein junges Mädchen, das in einer reinen häuslichen Atmosphäre aufgewachsen ist! Falsch vielleicht – meinetwegen! Aber doch voll Schönheit und Poesie!«

»Kann das Falsche auch voll Schönheit und Poesie sein?«

»Warum nicht, da die Wirklichkeit so leer davon ist? Leider fährt nur allzuleicht der Frost in so einen jungen Frühling, wie es mir geschah. Aber müßte es sein?«

»Nein, wenn man die Mütter unserer künftigen Kinder rechtzeitig daran gewöhnen wollte, Manneswert nicht nach zimperen Jungmädchenbegriffen einzuschätzen.«

»Ich bin nicht für die Aufklärerei. Das Leben, wie es nun einmal ist, lernt man früh genug kennen. Ein junges Mädchen soll ahnungslos sein wie ein Engel. Besteht nicht gerade darin ihr süßester Zauber?«

»Die Mädchen von heute, gleicherweise hüben wie drüben, die dem Leben ziemlich offen ins Auge schauen, verlieren dadurch nicht an Liebreiz.«

»Es kommen auch bei uns allmählich solche Meinungen auf, ich weiß es; aber ich kehre mich nicht daran. Ich habe meine Tochter genau so erzogen, wie ich selbst erzogen wurde.«

»Wird Ihnen dies gelungen sein?« fragte er, ein ungläubiges Lächeln auf den Lippen.

»Warum nicht?«

Er dachte nach.

»Ich bin kein Erzieher und Jugendbildner. Aber soweit ich das Leben kenne, so scheint mir, daß es eigentlich gar nicht die Eltern sind, die die Kinder erziehen, wie sie selbst immer meinen.«

»Das klingt etwas widersinnig!«

»Ich glaube, daß eine jede Generation das, was sie ist, unabhängig von der vorhergegangenen wird, vielleicht sogar im Gegensatz zu ihr.«

»Und Sie meinen, daß sich die jetzige von der früheren wesentlich unterscheide?«

»Es liegt mindestens ein halbes Jahrtausend dazwischen!«

Frau Fritsch lachte und widersprach. Sie redete sich mit Absicht in Eifer. Es war ihr lieb, daß das Gespräch unversehens sich vom Persönlichen entfernte und einen allgemeinen Charakter annahm. Sie sorgte dafür, daß es die eingeschlagene Richtung nicht mehr verließ, und gewann allmählich die gewohnte königliche Ruhe und volle Herrschaft über sich selbst zurück. So gerieten sie vom Hundertsten ins Tausendste und befanden sich mitten in einer ebenso angeregten als harmlosen Unterhaltung, als plötzlich ein hochgewachsenes Mädchen ins Zimmer stürzte, mit in Auflösung begriffenem Haar. Eine goldschimmernde Strähne war ihr auf der einen Seite bis in den Zwacken hinabgesunken, daß sie fast einer jungen, blühenden Walkürenmaid glich.

»Mama, wo bleibst du, ich suche dich wie eine Stecknadel! Sieh mich bloß an! Was läßt sich da machen?«

»Aber Kind, Kind, wie siehst du aus!«

»Weil du mich immer noch zu diesem lächerlichen Aufbau zwingst!« schmollte die Walkürenmaid mit einem gleichsam hilfesuchenden Seitenblick nach dem fremden Herrn hinüber. »Ich glaube, ich bin die einzige auf dem Ball, die noch keinen Bubikopf trägt!« Die Mama hatte sich erhoben und zog sie eilends mit sich fort in einen Nebenraum, wo für Spiegel und die notwendigsten Putzgegenstände gesorgt war. Der Ingenieur, durch die rasch wieder entschwundene Erscheinung des schönen Mädchens seltsam aufgewühlt, lauschte in Gedanken versunken den Klängen der fernen Musik. Man spielte jetzt einen »Blue.« Er dachte an das Land jenseits des Ozeans, wo man eine sehnsuchtsvolle Schwermut, die einen gelegentlich befällt, »die blauen Teufel« nennt, » the Blues«, und fühlte, daß er doch eigentlich fremd geworden sei, hier, in seiner Heimat ...

Als die Damen zurückkehrten, trug das junge Mädchen ihr reiches Haar nur ganz lose und einfach aufgesteckt, und ihm schien, daß es so ihren fast klassischen Kopf viel natürlicher und freier kleidete als früher, wo es zu einem gezierten Aufbau verkünstelt gewesen. Er war aufgestanden und bat darum, dem Fräulein vorgestellt zu werden.

»Es ist ganz verblüffend, wie Sie Ihrer Mutter gleichen,« sagte er, von ihrem Anblick bezaubert.

»Wirklich? Das hat mir noch niemand gesagt!«

Sie errötete, und indem sie ihre Mutter zärtlich umfing, meinte sie lachend: »Dann bin ich ja schön!«

»Geh, geh!« sagte die Mutter abweisend und kühl. »Herr Ingenieur Klausen meint es nicht so. Er will sagen, du erinnerst ihn entfernt an mich, wie ich als junges Mädchen aussah.«

»Kennen Sie meine Mutter schon so lange?«

»Es ist nicht so übermäßig lange her, gnädiges Fräulein,« sagte er galant. »Hätten Sie vielleicht einen Tanz frei?«

»Sie tanzen noch?« wunderte sich Frau Fritsch mit leiser Spitze unter einem starren Lächeln.

»Noch? Nein. Wieder! Das heißt, wenn ich keinen Korb bekomme.«

»Einen Korb? Im Gegenteil!« rief die Walkürenmaid, ohne sich im geringsten zu zieren. »Kommen Sie, aber schnell, da hebt eben ein reizender uralter Wiener Walzer an, die ›Rosen aus dem Süden‹.«

»Gott, gibt es die noch immer?« seufzte Frau Fritsch, indem sie den Arm annahm, den der Ingenieur ihr bot. »Dazu hat man ja schon zu unseren Zeiten getanzt!«

Herr Klausen lachte.

»Die Lieder sind noch dieselben, aber die Vögel sind andere geworden.«

Er führte sie in den Saal und auf ihren erhöhten Ehrenplatz zurück, während Erna neben ihnen herschritt, als wäre sie ihre Tochter. Alls er die Stufen wieder herabschritt, wartete das schöne, große Mädchen auf ihn. Er legte seinen Arm um ihre Mitte und wirbelte mit ihr über das glatte Parkett davon.

»Sie sind sicher Wiener, trotz Ihrer fremden Aussprache,« sagte Erna, während sie durch den Saal flogen.

»Warum?«

»Weil Sie's so schön links herum können.«

»Es sind die ›Rosen aus dem Süden‹, die mir ins Blut gehn. Ich habe vor zwanzig Jahren in demselben Saal zu demselben Walzer getanzt.«

»Da müssen Sie ja fast noch ein Knabe gewesen sein! Übrigens blieben Sie wohl immer in Übung?«

»Ich hatte wenig Gelegenheit zum Tanzen – drüben.«

»Wo – drüben?«

»In Cincinnati.«

»Was taten Sie dort?«

»Arbeiten.«

»Davon müssen Sie mir später erzählen!« sagte das junge Mädchen.

»Gerne! Wollen Sie noch eine Runde?«

»Ich bin gar nicht müde!«

»Also, los!«

*

Mittlerweile hatte Herr Fritsch sich bei seiner Frau eingefunden, um sich dienstbeflissen nach ihr zu erkundigen.

»Wie geht's, Liebste, was machst du immer – wie?«

»O danke,« sagte sie mit einem tief heraufgeholten Seufzer, ich unterhalte mich glänzend.«

Er mußte ein wenig genippt haben, war rot im Gesicht und summte, während er den kurzen Oberkörper im Takte hin- und herbewegte, die »Rosen aus dem Süden« mit: »Dahi dihi, plum plum plum – dahi dihi, plum plum plum – dahi dihi, plum – dihi, plum – dihi, plum plum plum ...«

»Die Melodie kommt mir so bekannt vor,« sagte er. »Ich habe kein Gedächtnis für Musik, aber wenn ich mich nicht sehr täusche, so haben wir selbst schon in unserer Jugend zu diesem Walzer getanzt.«

»Du sprichst, als ob wir Großeltern wären,« sagte sie, ohne aufzublicken.

»Na, das gerade nicht, aber es kann bald werden – wie?« Ein ungehaltener Augenaufschlag streifte flüchtig seine untersetzte, fast lächerliche Gestalt, aber sofort kehrte das gewohnte liebenswürdige Lächeln zurück.

»Das läßt sich freilich nicht leugnen.«

»Dahi dihi, plum plum plum – dahi dihi, plum ...«

»Wenn es dir nicht lästig wäre,« unterbrach sie mit einem leisen Anflug von Ungeduld, »so würde ich dich bitten, mir eine kleine Erfrischung zu besorgen?«

»Aber mit Wonne, dazu bin ich ja da!«

Er schoß davon, indessen Frau Fritsch durch ihr Lorgnon angelegentlich in den Saal hinausstarrte. Und während auch sie ihr stolzes Haupt unwillkürlich im Rhythmus des alten Walzers leise zu wiegen begann und der Blick der schönen, großen Augen sich trübte, verschwamm ihr das flimmernde Gold, das von den Wänden niederfloß, und das ernste Grün der festlichen Gewinde darüber und das Meer von rosig glühenden Tulpen an der Decke und das ungestüme Wogen der unzähligen schwarzen Fräcke und weißen Busen und backen in ein einziges Chaos voll Weh und Sehnsucht ...

*

Der Ingenieur tanzte nicht bloß diesen einen Walzer mit Erna, er wich fast die ganze Ballnacht nicht mehr von ihrer Seite. Und das junge Mädchen verstand sich so gut mit ihm, daß die Mutter mehr als einmal zum Aufbruch mahnen mußte. Es war spät am Morgen, als die Familie sich endlich anschickte, den Ball zu verlassen. Herr Klausen half den Damen noch ihre Mäntel umlegen und bemühte sich bis zum letzten Augenblick gefällig, wenn auch mit einer gewissen freien Gelassenheit, nicht weniger um die Mutter wie um die Tochter. Er verabschiedete sich nicht eher, als bis er sie bis an ihren Wagen geleitet halte.

»Ein scharmanter Mann das,« sagte Herr Fritsch, während sie über den Ring sausten. »Es war mir wirklich ein Vergnügen, seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Du hast ihn doch aufgefordert, unser Haus zu besuchen – wie?«

»Leider versäumte ich es,« antwortete die Gattin knapp.

»Na, es läßt sich nachholen. Einen so munteren Gesellschafter hab' ich selten getroffen.«

Frau Fritsch schwieg. Sie kannte die aufreibende Eigenheit ihres Mannes, zu ungelegener Zeit, wenn man schon halb ans Schlafen dachte, auf einmal unendlich redselig zu werden, und mußte jedesmal ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, wollte sie die gewohnte Haltung darüber nicht verlieren.

»Während des Soupers«, begann Herr Fritsch abermals, »hat er den ganzen Tisch mit seiner sozusagen erotischen Fröhlichkeit angesteckt. Übrigens war es nicht zu verkennen, daß er unsere Erna auszeichnete. Er hat sie nicht nur zum Souper geführt, ich sah ihn auch schon vorher wiederholt mit ihr plaudernd in einem der kosigen kleinen Nebenräume sitzen. Hab' ich nicht recht, Erna? Wie –?«

»Eine Auszeichnung möchte ich das wirklich nicht nennen,« verbesserte die Mama und gähnte.

»Ich meine nur – es ist ja vielleicht nicht der richtige Ausdruck; aber es hat mich gefreut. Denn bei all dem muß man zugestehen, daß er sich tadellos benahm, obgleich er in Cincinnati zu Hause ist. Nach dem Abendessen zum Beispiel – das war entschieden korrekt, daß er zuerst dir den Arm bot und dich auf die Patronessenestrade führte, eh' er mit Erna den Souperwalzer tanzte. Ein junger Mann, der zweifellos Savoir vivre hat.«

»Für einen jungen Mann kann der Ingenieur wohl kaum gelten,« bewerkte die Gattin, während ihr schon fast die Augen zufielen.

»Es ist schließlich ein jeder so jung oder so alt wie ... wie ...«

»Wie er eben ist,« ergänzte die Mama nicht ohne Schärfe.

Jetzt fiel es Herrn Fritsch, der stets ein besorgter Familienvater war, plötzlich auf, daß Erna den Eltern die ganze Zeit stumm gegenübersaß, ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Er tätschelte zärtlich ihre Handschuhe und fragte beunruhigt: »Dir fehlt doch nichts, Kind? Oder hast du dich am Ende nicht unterhalten?«

»O sehr! Ausnehmend gut, Papa! Es war einfach herrlich!«

Beim flüchtigen Schein einer Straßenlaterne, die an ihnen vorüberflog, sah er für einen Augenblick ihre Augen glänzen, die groß und strahlend waren wie die Sterne in einer dufterfüllten Frühlingsnacht ...

Da überkam auch ihn ein jugendliches Gefühl unbestimmten Glückes.

»Bei diesem Walzer,« sagte er zu seiner Frau, »bei diesem alten, weißt du, zu dem wir selbst noch getanzt haben ... dahi dihi, plum plum plum ... Wie –?«

Frau Fritsch erwachte. Aufgereizt durch sein beharrliches Gerede, herrschte sie ihn an: »Gut, gut, ich weiß, bei diesem Walzer – wie? Und wieder: wie? Und noch einmal wie –? Also, bitte, was ist nun eigentlich mit diesem Walzer? Wie –?«

»Ja, bei diesem Walzer ist mir ganz eigen zumute gewesen. Fast, als ob ich noch was anstellen müßte, eh' es endgültig zu spät ist. Wie –?«

Er lachte aufgeräumt vor sich hin.

»Das fehlte dir gerade noch!« sagte sie empört.

Aber da hielt endlich der Kraftwagen vor dem stattlichen Geschäfts- und Familienhaus von Schwegel & Fritsch.

»Da wären wir!« sagte die Mama aufatmend und versuchte selbst den Schlag zu öffnen, um nur schnell aus dem Wagen zu kommen.

*

Vor dem Schlafengehen war sie noch eine Zeitlang mit Erna beschäftigt, das Ablegen des Putzes forderte allerlei Handgriffe. Es gab Schleifen zu lösen, Haften aufzunesteln, Stecknadeln herauszuziehen. Auch in der Kleidung hielt Frau Fritsch allzugroße Freiheit der Jugend für unpassend, weshalb sie der Tochter eines jener Stilkleider aufgezwungen hatte, wie sie zum Glück gerade modern waren. Plötzlich fiel das junge Mädchen der Mutter um den Hals und preßte sie an sich, als ob sie sie erdrücken wollte.

»Na – Kind, Kind! Was ist denn?«

»O, Mama, ich bin so glücklich! Wirst du mir nicht böse sein? Ich habe mich verlobt!«

»Um Gotteswillen!«

»Du hast doch nichts gegen ihn einzuwenden?«

»Ja, wer ist es denn? Mit wem denn? So sprich doch!«

»Mit dem Amerikaner!«

»Mit – Artur Klausen?«

»Gott, du siehst so erschrocken drein, Mama! Du wirst doch nicht dagegen sein?«

Frau Fritsch schluckte und schöpfte Atem.

»So laß mich nur erst zu mir kommen!«

»Mama,« rief das junge Mädchen glühend, »er ist ein prächtiger, ein einziger, ein herrlicher Mann!«

»Kind, Kind!« stammelte die Mutter, nach Fassung ringend ... »Mit einem so reifen, mit einem so viel älteren Manne!«

»Aber das ist doch gerade das Schöne, daß er schon so viel, so viel gesehen und erlebt hat!«

Die Mama hatte sich setzen müssen.

»Jawohl, erlebt!« sagte sie bitter und mit Tränen in den Augen. »Du armes, unschuldiges Kind! Viel erlebt hat der freilich! Bildest du dir vielleicht ein, daß du seine erste Liebe bist?«

»Nein!« versetzte Erna lächelnd. »Das bild' ich mir wirklich nicht ein, Mama, dafür kenn' ich die Welt und die Männer zu gut, das kannst du mir glauben! Seine erste Liebe bin ich sicher nicht, aber vielleicht – seine letzte! Was meinst du? Die müßte dann doch vorhalten?«

»In dieser Angelegenheit«, sagte Frau Fritsch streng, »werden deine Eltern auch noch ein Wort mitzureden haben!«

Sie erhob sich und küßte ihre Tochter auf die Stirn.

»Du bist noch sehr, sehr jung, mein Kind. Eine solche Sache will gut überlegt sein. Dazu haben wir noch Zeit genug vor uns, reichlich viel Zeit. Für heute wollen wir zu Bette gehn.«

»Gute Nacht!« hauchte Erna, die ganz blaß geworden war. »Aber, liebste Mama –«

»Noch etwas?«

»Damit du es gleich weißt: Gar soviel Zeit haben wir wirklich nicht mehr, siehst du. Denn in drei Wochen muß er nämlich nach Amerika zurück ...«

»Nun?«

»Und da haben wir also ausgemacht, daß er gleich heute an die Red Star Line telegraphiert, um Plätze zu belegen.«

»Plätze? So fest beschlossen ist das schon alles?« rief die Mutter starr.

»Sonst könnt' es uns nämlich leicht passieren, daß wir mit einer geringeren Kabine vorlieb nehmen müßten. Und das wäre dann wirklich lästig – das mußt du einsehn, Mama! Es handelt sich doch um eine Hochzeitsreise, nicht wahr, wen sie uns auch zugleich an unseren Bestimmungsort führt.«

Frau Fritsch schlug kopfschüttelnd die Hände zusammen und zog sich stumm in ihr Zimmer zurück. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie noch ihren Gatten verständigen und sich mit ihm besprechen sollte.

Als sie an der Tür lauschte, hörte sie ihn in seinem Schlafzimmer hin- und hergehen und die »Rosen aus dem Süden« trällern: »Dahi dihi, plum plum plum – dahi dihi, plum plum plum – dahi dihi plum – dihi plum – dihi, plum plum plum ...«

Da fiel ihr das Wort Klausens wieder ein: »Die Lieder sind noch dieselben, aber die Vögel andre geworden.« Und sie verzichtete darauf, mit ihrem Manne zu sprechen. Hatte er sich nicht in den wärmsten Ausdrücken über den Amerikaner geäußert? Und selbst wenn es ihr gelang, ihn auf ihre Seite zu bringen – würde das entschlossene Paar, das sich auf diesem unglückseligen Balle gefunden hatte, nicht trotzdem seinen Willen durchzusetzen wissen? Zum ersten Male wurde sie der ganzen ungeheuerlichen Große jener Umwandlung sich bewußt, die Zeiten und Menschen erfahren haben mußten, seit sie selbst ein junges Mädchen gewesen. Wie hatte der Ingenieur, der Grausame, doch gesagt? Mindestens ein halbes Jahrtausend liege dazwischen! ...

So alt war sie also schon? Sie fühlte, daß ihr schließlich nichts übrig bleiben würde, als nachzugeben.


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