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Christl

Was eine richtige »Perfekte« ist, die läßt sich nichts dreinreden, aber auch schon von keinem Menschen; alle sind ihr Untertan, das ganze Haus zittert vor ihr. Und Resi, die Köchin, war eine richtige »Perfekte«, im Guten wie im Schlimmen. Jede ihrer Dienstgeberinnen war zuerst davon überzeugt, daß sie eine »Perle« sei, aber nur während der ersten vierzehn Tage. Dann kam es gewöhnlich zu einem Auftritt, und der süße Wahn riß entzwei.

Es gibt Naturen, die nichts weniger zu ertragen imstande sind als das Einerlei des Alltags. So schien auch die Resi darauf erpicht, sich eine möglichst reichhaltige Sammlung von Abgangszeugnissen anzulegen. Und nur ein einzigesmal wurde sie durch eine Kündigung unangenehm überrascht, zu einem Zeitpunkt nämlich, wo sie aus bestimmten, deutlich mahnenden Gründen gewünscht hätte, sich ein paar Schillinge zurückzulegen. Aber die Hofrätin, bei der sie damals bedienstet war, nahm Ärgernis an ihrer äußeren Erscheinung und erklärte, daß sie sie in ihrem ehrbaren Hause nicht länger dulden könne.

Anfangs war die Resi starr vor Staunen, daß eine »Gnädige« es wagte, ihr, der Resi, den Dienst aufzusagen. Bald aber faßte sie sich, suchte von den üblichen Szenen so viel wie möglich nachzuholen, sagte der Hofrätin tüchtig ihre Meinung und schwur hoch und heilig, sie habe ohnedies schon längst kündigen wollen und reiße sich nicht darum, ihre vierzehn Tage zu machen in einem Hause, wo man nicht einmal in Kupfer koche.

Damit packte sie ihre Siebensachen zusammen und verließ, während der Braten in der Herdröhre anbrannte, angetan mit ihrem schönen Federhute, in dem sie selbst aussah wie eine »Gnädige«, stolzen Schrittes diese schnöde Stätte.

*

Christl erblickte das Licht der Welt in jenem gewissen großen, düsteren Gebäude, wohin in ihrer schweren Stunde so manche mittellose Mutter ihre Zuflucht nehmen muß.

Niemand sehnte sich nach der Ankunft des jungen Weltbürgers, niemand freute sich darauf. Im Gegenteil: Wenn ein bloßer Wunsch sein Dasein in aller Stille hätte austilgen können, so hätte es überhaupt keinen Christl gegeben. Darum getraute er sich im Anfang nicht, auch nur das geringste Lebenszeichen von sich zu geben. Und da er fürs erste nicht einmal zu atmen, geschweige zu weinen wagte, so nahm man ohne weiteres an, daß er darauf verzichtet hätte, dies irdische Jammertal überhaupt zu betreten. Als er sich aber wider alles Erwarten schließlich doch dazu entschloß, ein klägliches, fadenscheiniges Stimmchen hören zu lassen, da richtete die Mutter in ihrem Bette sich auf und fragte enttäuscht: »Lebt er wirklich?«

Ja, er lebte, und da er nun sogar schrie, mußte die ganze Welt daran glauben. Er lebte und unterschied sich nicht sonderlich von anderen Altersgenossen; höchstens, daß er vielleicht ein bißchen schwer von Begriffen war. Denn die Kunst des Weinens, die man sonst eigentlich als selbstverständlich voraussetzt, hatte er erst erlernen müssen.

Das Lachen aber sollte er niemals lernen.

*

Für eine Dienstmagd, auch wenn man sie Hausgehilfin nennt, ist es keine Kleinigkeit, von ihrem Monatslohn mehr als die Hälfte an Kostgeld für ihr Kind zu entrichten. Aber Mutter bleibt Mutter, und was sollte sie schließlich tun? Der Vater hielt sich im Hintergrunde, so sollten die Leute sehen, daß eine »Perfekte« auch noch allein etwas vermag. Darum sollte der Christl nicht nur einen Kostplatz, er sollte sogar einen »besseren« Kostplatz haben.

Ein besserer Kostplatz, wie ihn die Mutter sich vorstellte, mußte vor allem in der Stadt sein, denn auf dem Lande verbauert man, und für den Bauerndienst war der Christl denn doch zu gut.

Seine Zieheltern waren Hausmeistersleute und wohnten eine Treppe tief auf einen engen Hof hinaus, der durch hohe Feuermauern gegen die Sonne geschützt war. Durch die knapp über dem Erdboden gelegene Fensterluke drang freilich nicht viel Luft in das kellerartige Wohnzimmer, das zugleich als Küche diente. Aber das ist gesund für ein Kind; die Luft ist ohnedies im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß, im Frühjahr und Herbst »giftig«. Die Hauptsache blieb doch die Kost. Und wie gut hatte es Christl da! Seine Ziehmutter stopfte in ihn hinein, was möglich war. Und am Feierabend, wenn der Ziehvater bei seinem Biere saß, versäumte er selten, dem Kinde etwas davon einzuflößen. »Damit er recht stark wird,« sagte er in seiner gutmütigen Art.

Der kleine Christl sah aber vorderhand nicht darnach aus, als sollte jemals ein Kraftmeier aus ihm werden. Mit sechs Monaten steckte er noch ebenso schmächtig und verhutzelt in seinem Kissen wie am ersten Tage. Und als er ein Jahr alt geworden war, konnte er noch kaum aufrecht sitzen, geschweige auf seinen dünnen Beinchen stehen.

Die Bankdirektors-Gattin, die im ersten Stock wohnte und sich in alles mischte, was sie nichts anging, sagte: »Was macht Ihr denn mit dem Kinde, gute Frau, daß es sich nicht erholen kann? Wird es denn ordentlich genährt?«

»Oh, der kriegt g'nug z'essen,« erwiderte die Ziehmutter etwas gekränkt. »Wir vergunnen ihm alles, was wir selber haben: Knödel und Salat, Fleisch, Bier, Kaffee... Wurst und Speckgrammeln sind ihm das Allerliebste. Nur g'rad Milli mag er halt keine.«

Daß Christl keine »Milli« mochte, erfüllte seine Mutter mit Stolz. Sie stimmte mit der Hausmeisterin überein: der Christl war viel zu gescheit, um Milch zu trinken; der wußte, was gut ist.

*

Die Bankdirektors-Gattin aus dem ersten Stock ließ es sich nicht ausreden, daß das blasse, schwächliche Geschöpf, das unten im Keller hinkümmerte und oft schrie wie am Spieß, ohne daß man gewußt hätte warum, seiner widersinnigen Ernährungsweise zum Opfer fallen müsse. Aber Christl hielt den Kopf hoch und mauste sich immer wieder heraus, so oft er auch am Verlöschen war. Er schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, einen neuerlichen Beweis für die bemerkenswerte Tatsache beizubringen, daß die menschliche Seele mit dem Leibe zäher verwachsen ist, als man gemeiniglich annimmt, und daß es manchmal recht schwer fällt, sie auszutreiben.

Als Christl endlich auf die Beine gekommen war, begann er sich im Hause nützlich zu machen. Der Ziehmutter half er das Grünzeug putzen und das Kochgeschirr säubern. Wenn sie die Stiege scheuerte, schleppte er Schaff und Zuber, wenn sie in der Waschküche hantierte, überwachte er die Feuerung und schleifte Kohlen herzu. Gab es nichts Dringenderes zu tun, so beschäftigte er sich damit, im Hofe die Katzen zu scheuchen, welche die Sperlingsnester beschleichen wollten.

Lachen und Springen, wie andere Kinder es treiben, lag nicht in seiner Natur. Alles strebte nach einem Zweck, schien wie eine ernste Pflichterfüllung. Freudlos war er wie ein Alter, aus sich heraus ging er fast nie. Nur wenn seine »Muatta« nach ihrem alle vierzehn Tage erneuten Besuch wieder Abschied von ihm nahm, da konnte es geschehen, daß er sie plötzlich überfiel und stürmisch umhalste; daß er sich an sie klammerte, sie nicht fortlassen wollte, oder inständig bat, ihn mitzunehmen. Bei solchen Gelegenheiten konnte man sehen, daß in dem kleinen, lichtlosen Arbeitstierchen mit den alten, faltigen Gesichtszügen doch kindliche Gefühle und Leidenschaften lebten.

Einmal, als sie ihm Gutmacht sagte und ihn küßte, brach er sogar in bittere Tranen ans.

»Muatta, warum därf i' denn net bei der Muatta bleiben?«

Die »Perfekte« wurde beinahe gerührt.

»Weißt, Christl, mir ham halt kein' Vattern. Dein Vatter is ein ... Na laß gut sein, wenn i' einmal ein' Terno g'winn', nachher nimm i' mir a möbliertes Zimmer und wir ziehn uns z'samm – gell? Und jetzt hör' amal auf mit deiner Weinerei, dalketer Bua!«

*

Im Winter, als viel Schnee gefallen war, schleppte Christl seinem Nährvater alles Nötige auf die Straße, den Gehsteig zu säubern, und half ihm auch selbst eifrig dabei. Seine Gönnerin, die Bankdirektors-Gattin, hatte ihm zum Heiligen Abend allerhand Geräte geschenkt, in verkleinerter Ausgabe. Die gute Dame hatte gedacht, ihm Spielsachen zu schenken; aber sie hatte ihm Arbeitszeug geschenkt.

Während Christl mit seiner kleinen Harke die Schneekruste lockerte, sah er am Nachbarhause einen glänzenden Kraftwagen vorfahren und anhalten. Ein vornehm aussehender Herr stieg aus dem Auto, warf den Wagenschlag zu und verschwand im Hausflur.

Der Hausmeister hatte ehrerbietig seine Kappe gelüftet, während Christl mit offenem Mund zur Seite stand.

»Herr Pölzl,« sagte er schüchtern; »Herr Pölzl? ... Der hat aber eine schöne Eklipasch!«

»Ja, das ist der Herr von Wolf, der erst neuli' ein'zogen is in sein neuches Pala-is. Du, der ist dir reich!«

»Hat er mehr als – hundert Schilling?«

»Ui je! Hunderttausend!«

»Hat er ein' Terno g'macht?«

»Nein, es heißt, er hat si' auffig'arbeit'. Jetzt wohnt er im eigenen Haus mit seiner alten Mutter, die soll eine ganz arme Person g'west sein. Aber der Bua, daß heißt der Herr von Wolf, wie er noch ein Bua war, der war immer der Erste in der Schul, und nachher ist er halt Baumeister worden und hat's auch richti' zu was 'bracht.«

Christl schwieg und überlegte. »Kann's jeder zu was bringen, wenn er viel lernen tut?« fragte er endlich.

»Freili'! Kannst's auch einmal zu was bringen, wennst fleißig lernen tust.«

Herr Pölzl sagte dies im Scherz, mehr obenhin, ohne viel dabei zu denken. Er nahm seinen Pfeifenkopf vom Rohre, ließ das Wasser herausträufeln und steckte ihn wieder an. Dann setzte er gemächlich seine Arbeit fort.

In Christls Seele aber war ein Samenkorn gefallen.

*

Das Jahr darauf schenkte die Bankdirektors-Gattin aus dem ersten Stock dem Christl einen Schulranzen und einiges Geld für Bücher und Hefte. Er war überglücklich, daß er nun zur Schule gehen durfte, und wachte jeden Morgen vor fünf Uhr auf, aus Angst, zu spät zu kommen. Jede Viertelstunde, die er sich von seinen häuslichen Geschäften absparen konnte, benutzte er für seine Aufgaben, und abends mußte man ihn zwingen, zu Bette zu gehn, er fand immer noch einen Buchstaben, den er nicht genügend geübt, ein Wort, das er nicht oft genug in sein Heft gemalt hatte.

Das Lernen wurde ihm furchtbar sauer. Die einfachsten Dinge, die seine Kameraden sofort begriffen, wollten ihm durchaus nicht in den Kopf.

Zu Hause saß er oft in einem dunklen Winkel und weinte. Er wollte so gerne recht viel lernen, es sollte etwas Rechtes aus ihm werden. Dann brauchte seine Mutter nicht mehr bei anderen Leuten in Dienst zu gehn. Dann würde er ihr ein eigenes Zimmer nehmen und bei ihr wohnen. Sie würden immer beisammen sein, und sie würde ihn lieb haben und herzen, was sie so selten tat. Es war eine dumpfe, unausgesprochene Sehnsucht nach Liebe in ihm. Und dabei ein beklemmendes Gefühl, als ob er doch nichts Gutes verdiene, denn er spürte es aus mancher Bemerkung, die die Mutter fallen ließ, daß er ihr zur Last war.

Nur lernen, etwas werden, etwas verdienen – das schwebte ihm als einziges großes Ziel vor Augen. Und nun ließen die Fähigkeiten den Willen im Stich! Auch im Sommer, wenn Ferien waren, gönnte er sich keine Erholung. Immer gab es nachzuholen, Lücken auszufüllen, oftmals des Nichts träumte er von Fehlern, die er gemacht, von Strafen, die er dafür eingeheimst hatte. Und erwacht, betete er dann mit demselben sorgenvollen Gesichtchen, mit dem er eingeschlafen war, pflichtschuldig das Morgengebet, das der Katechet ihn gelehrt: »Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie hab' ich geschlafen so sanft die Macht, hab Dank, du guter Vater mein ...«

Während des folgenden Schuljahres kam auch noch die Rechtschreibung hinzu, und im Rechnen drohte das Bestimmen des Stellenwertes. Waren das Probleme! Er verzehrte sich förmlich in Lerneifer, verlor alle Eßlust und blieb völlig stecken in seiner ohnedies unzulänglichen körperlichen Entwicklung.

»Geh, Christl,« sagte der gutmütige Pölzl, »plag' dich net so. Du hast halt kein' Kopf zum Lernen. Das macht nix. Ich bin auch immer mehr für's Praktische g'west, und es is doch was 'worden aus mir.«

Er ahnte nichts von den ehrgeizigen Plänen Christls, oder unterschätzte dessen hochfliegende Absichten. Auch hätte ja Christl selbst kaum ausreichende Auskunft erteilen können, was er sich eigentlich vorstellte. Aber der Traum seines sehnsüchtigen Kindergemüts, die Fata Morgana einer möglichen Zukunft, die in seiner Einbildungskraft webte, stand immer in einem gewissen unlöslichen Zusammenhang mit dem im Nachbarhause wohnenden Baumeister Wolf.

Er hatte ihn öfters wiedergesehen seit jenem Tage und beobachtete ihn jetzt mit großen, sehnsüchtigen Augen. Einmal, als er aus der Schule nach Hause ging, sah er auch die alte Dame aus dem Tore treten, am Arm des Baumeisters. Herr Wolf führte sie gewissermaßen behutsam, wie man etwas Zerbrechliches und sehr Wertvolles betreut, geleitete sie an den Kraftwagen, der bereit stand, half ihr hinein und hüllte sie liebevoll in warme Decken. Das war also die Mutter, von der es hieß, daß sie einst arm gewesen, und daß sie jetzt behaglich und sorglos bei ihrem reichen Sohn lebe! Wie fein und vornehm sie aussah! Die Begegnung machte auf Christl einen tiefen Eindruck. Es war für ihn ein Erlebnis.

*

Eines Abends, als die Pölzls sich eben zum Abendbrot hinsetzen wollten, erklärte Christl, er könne nichts zu sich nehmen, es sei ihm übel. Seine Wangen glühten, während ein eisiger Fieberschauer seinen schmächtigen Körper schüttelte.

Die Schule war an eben diesem Tage wegen einer ausgebrochenen Massenerkrankung an Scharlach in behördlichem Auftrag geschlossen worden. Schwer zu erraten war es also nicht, was dem Christl fehlte.

Kaum war er zu Bett gebracht, so begann er auch schon im Fieberwahn wirrzureden. Er rief und weinte nach seiner »Muatta« und hatte es wiederholt mit einem Brief zu tun, den er an sie geschrieben haben wollte, glaubte in der Schule zu sein und bekam eine Strafaufgabe nach der anderen, so sehr er auch beteuerte, seine Sache fleißig gelernt zu haben. Und beständig hatte er es mit dem Baumeister Wolf zu tun und mit einem Auto, in das die »Muatta« einsteigen sollte.

In aller Frühe eilte Pölzl ins Spital, um zu bitten, daß man das kranke Kind abhole. Auf dem Rückwege begab er sich in das Haus, wo Resi bedienstet war, und berichtete ihr von der Erkrankung Christls.

»Wär' eh' am besten, wenn ihn unser Herrgott glei' zu sich nehmet ... Na ja, was kann ma' machen? I' wer'n halt besuchen ...«

Aber der Christl befand sich auf der Abteilung für ansteckende Krankheiten, da gab es keine Besuche, nur der Torwart gab Auskunft. Die Konstitution des Kleinen hieß es, sei wohl allzusehr untergraben, sonst hätte sich schon etwas machen lassen.

*

Wochenlang war Christls Lebenslichtlein am Verlöschen. Schließlich wurde der Resi eröffnet, der Bub habe sich gegen alle Voraussicht doch wieder erholt, der Scharlach wäre jetzt überstanden, bloß eine Folgekrankheit sei noch da. Das nächste Mal könne sie ihn schon sehen, er werde in einigen Tagen aus der Infektions- in die Chirurgische Abteilung übertragen werden.

Sie erbat sich von ihrer Herrschaft eine freie Stunde, machte im Vorbeigehen in einer Spielwarenhandlung einen kleinen Einkauf und begab sich bangen Herzens ins Spital. Eine barmherzige Schwester kam ihr mit fragendem Blick entgegen und wies sie mit stummer Gebärde nach einer seitlichen Fortsetzung des Saales, wo etwas abseits von den übrigen zwei kleine Betten standen.

»Kann ich ihn sehen?« fragte die Mutter.

»Er schläft jetzt, ich möchte ihn nicht gerne wecken; er kann ohnedies so wenig Schlaf finden.«

»Auch nicht in der Nacht?«

»Gerade des Nachts kommen die ärgsten Schmerzen. Erst heute früh bat er mich, ihn ein anderes Morgengebet zu lehren. Das, was er sonst gebetet, passe nicht mehr auf ihn.«

»Was ist das für ein Gebet, das nicht mehr auf ihn paßt?« fragte die Mutter.

»Kennen Sie es nicht? Es beginnt mit den Worten: Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie hab' ich geschlafen so sanft die Nacht ...«

Die Resi weinte. Inzwischen begann etwas sich zu rühren in der Ecke, wo die beiden kleinen Betten standen. Die Krankenschwester winkte der wartenden Frau, sie möge näher treten.

»Sie können ihn sehen, er ist aufgewacht.«

Die Mutter erblickte zwei Geripplein, mit matten, traurigen Augen und erschreckend wächsernen Wangen. Sie zweifelte, daß eines davon ihr Christl sein sollte, und wußte jedenfalls nicht welches. Da ertönte aus einem der Betten ein schwaches »Muatta!«

Sie schrak förmlich zusammen, daß Geripplein auch sollten reden können, im nächsten Augenblick aber lag sie schon an der Seite des Bettes auf den Knien und hielt ihr Kind in den Armen, seine fahlen Wangen mit Küssen und Tränen bedeckend. Es war, als wollte sie in dieser einzigen Minute alles wieder einbringen und gutmachen, was das Leben, was widrige Verhältnisse, was der Vater, was sie selbst verabsäumt und gesündigt hatten an diesem liebedurstigen kleinen Kinderherzen.

Die barmherzige Schwester, die zur Seite stand, berührte sie leise an der Schulter und bedeutete ihr, daß sie an sich halten möge, sowohl wegen des Kindes selbst wie auch wegen der übrigen Kranken. Sie erhob sich, ihre Tränen trocknend, und reichte Christl das Spielzeug, das sie ihm mitgebracht hatte. Es war ein »Werkl«, eine kleine runde Dose, die, wenn man drehte, eine niedliche Melodie orgelte. Die Töne perlten hervor gleich fallenden Tropfen, es klang fein und gemessen wie ein winziges Glockenspiel.

»Geh', spiel' was, Christl,« ermunterte die Krankenschwester.

Er drehte ein paarmal die Kurbel, ließ aber bald wieder davon ab. Ein Seufzer hob seine eingefallene Brust. Er blickte traurig und teilnahmslos vor sich hin, die kleine Drehorgel gleichsam pflichtschuldig in den abgemagerten Händen haltend.

»Freut di' die Musi' net, Christl?« fragte die Mutter sanft. »Willst vielleicht was anderes? Soll i' dir was anders bringen, Christl?«

»Bittschen, Muatta?«

»Was willst denn, Christl, sag' was d' willst? Was soll dir denn die Muatta bringen?«

»Bittschen, mei' Rechenbuach!«

»Aber geh', Tschapperl, wirst do' net lerna wollen?«

Er sah ihr traurig in die Augen, als hätte er sie nicht verstanden. Dann wiederholte er: »Bittschen, Muatta, mei' Rechenbuach?«

Sie konnte der Bitte nicht widerstehen. »Ja freili', Christl, wennst willst, bring' i' dir's schon. Soll i' 's gleich holen geh'n?« Er nickte stumm.

Sie dachte an nichts mehr, als daß sie ihm einen Wunsch erfüllen konnte. Und da er nun einmal nach seinem Rechenbuch verlangte ... es war das einzige, was sie noch für ihn zu tun vermochte ...

»Wart' nur ein bissel, Christl, glei' bin i' wieder da, i' bring' dir's geschwind!«

Sie gab ihm noch einen Kuß und eilte fort. Mit fliegendem Atem jagte sie durch die Straßen, um nur ja rechtzeitig wieder zurück zu sein, bevor die Besuchsstunde im Spital zu Ende ging. Sie traf Frau Pölzl zu Hause, suchte und fand das gewünschte Buch und kehrte zurück, mehr laufend als gehend. Es fehlten fünf Minuten auf drei Uhr. Man ließ sie noch ein.

An der Tür des Krankensaales trat die Schwester ihr entgegen, ruhig wie immer, aber mit einer gewissermaßen feierlichen Miene. Sprachlos vor Schreck hing die Mutter an ihrem Mund.

»Unser Herrgott hat ihn zu sich genommen.«

*

Als Herr Pölzl nach der Beerdigung die wenigen Siebensachen Christls zusammenkramte, um sie seiner Mutter zu bringen, fand er in einem Schulheft jenen freilich recht unorthographischen Brief, von dem der Knabe am Abend seiner Erkrankung gefaselt, und den er, wie sich jetzt herausstellte, wirklich geschrieben hatte.

Er lautete:

»Liebe Muatter ich bin sehr grang bittschen kumm und bring mir eine Medazin ich muß bald wieder gsund wern weil ich lernen muß und zu etwas bringen wihl das ich dir nacher ein sebrates Zimmer nimm und mich zu dir ziech Christoph.«


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