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Illustration: Theophile Schuler

XII

Bittere Gedanken über die Weisheit, die größte aller Eitelkeiten, machte sich der gute Kobus, während Hahn ihn eines Morgens auf einem holprigen Weg durchs Rehtal fuhr und scharf aufpasste, damit er den Wagen nicht in den Schlaglöchern umwarf. Arg bedrückt sagte Fritz zu sich:

»Was nützt es dir jetzt, dass du zwanzig Jahre lang einen kühlen Kopf, einen unbeschwerten Magen und warme Füße behalten hast? Trotz aller Vorsicht hat ein schwaches Geschöpf deine Ruhe mit einem einzigen Blick seiner Augen zerstört. Was hat's dir genützt, weit von daheim zu fliehen, wenn dieser verrückte Gedanke dir überallhin folgt und du ihm nirgends entkommen kannst? Wozu war es gut, dass du in rechtschaffener Vorausschau über Jahre hinweg kostbaren Wein gesammelt und manchem damit Zunge und Nase erfreut hast, wenn du nicht einmal mehr ein Glas Wein trinken kannst, ohne wie ein altes Waschweib daher zu schwatzen und Geschichten zu erzählen, die dich bei David, Schulz, Hahn und der ganzen Gegend ins Gerede bringen würden, wenn herauskäme, weshalb du sie zum besten gibst? Sowas Trostloses!«

Bei diesem Gedanken schrie er innerlich auf wie König Salomo Vgl. zum Folgenden im Alten Testament Koh 2,1-15.:

»Ich sprach zu meinem Herzen: Auf, ich will dich jetzt durch Glückseligkeit prüfen, genieße die Güter dieser Erde! Doch auch das war bloß eitel und nichtig. Ich habe mein Herz nach Gelegenheiten erforscht, um mich an Köstlichkeiten zu erfreuen, damit mein Herz derweil der Weisheit folge. Ich habe mir Häuser errichtet, Gärten und Weinberge gepflanzt, Wasserbecken angelegt und wohlschmeckende Fische darin ausgesetzt. Reichtümer habe ich angehäuft und noch hinzugewonnen, und als ich auf all diese Werke zurückschaute, da war alles bloß eitel! Wenn's mir heute genauso ergeht wie einem Toren, wozu war ich dann weise? Susel stört mich unsagbar, und doch erfreut sich meine Seele an ihr! Ich und mein Herz, wir haben uns nach allen Seiten gewendet, um die Weisheit zu prüfen und zu erforschen, und sind nur auf das Übel der Verrücktheit, des Schwachsinns und der Unvernunft gestoßen. Wir haben dieses Mädchen gefunden, deren Lächeln ein Netz und deren Blick ein Band ist – ist es nicht Wahnsinn? Warum hat sie sich nicht an jenem Tag den Fuß verstaucht, als sie nach Hüneburg kam? Warum habe ich sie in der Laune meines Festessens gesehen? Warum hat sich alles geradeso und nicht anders abgespielt? Und jetzt, Fritz – warum kommst du von dieser Narretei nicht los?«

Er brütete in unaussprechlicher Verzweiflung vor sich hin und schwitzte dicke Tropfen. Am meisten angewidert war er jedoch, als Hahn die Flasche aus dem Stroh zog und sagte:

»Da, nimm einen kräftigen Schluck, Kobus! So eine Hitze hier unten im Tal!«

»Danke«, sagte Fritz, »ich bin nicht durstig.«

Er hatte Angst davor, nochmals die Liebesgeschichten all seiner Vorfahren und obendrein seine eigenen zu erzählen.

»Was? Du hast keinen Durst?« rief Hahn, »das kann doch nicht sein, na los!«

»Nein, nein, mir liegt dort etwas schwer drin«, sagte er und legte mit verzerrtem Gesicht die Hand auf den Magen.

»Das kommt davon, dass wir gestern Abend nicht genug getrunken und uns zu früh schlafen gelegt haben«, sagte der dicke Steuereinnehmer. »Trink einen Schluck, dann geht's dir besser.«

»Nein danke.«

»Du willst nicht? Das ist ein Fehler.«

Hahn hob nun den Ellenbogen, und Fritz sah, dass sein Hals in unsagbarer Befriedigung anschwoll und schrumpfte. Dann stieß der Dicke einen Seufzer aus, klopfte den Korken fest, stellte die Flasche zwischen seine Beine und sprach:

»Das tut gut – hüh, Fuchs, hüh!«

»Ein alter Materialist, dieser Hahn« sagte Fritz zu sich, »er denkt nur an Trinken und Essen!«

»Kobus«, fuhr der andere ernst fort, »nimm dich in acht, du brütest eine Krankheit aus! Seit zwei Tagen hast du nicht mehr getrunken, und das ist ein schlechtes Zeichen. Du magerst ab. Wenn die Dicken abmagern oder die Dünnen fett werden, dann wird's gefährlich.«

»Hol dich der Teufel«, dachte Fritz, und manchmal meinte er, dass Hahn etwas gemerkt haben könnte. Mit rotem Kopf beobachtete er ihn dann aus dem Augenwinkel, aber Hahn war völlig friedlich, und der Verdacht verflog.

Nach zwei Stunden Abstieg erreichten sie einen ebenen Sandweg im Tal. Hahn wies mit der Peitsche auf ein Hundert altersschwacher Hütten auf halber Höhe des nächsten Hügels, überragt von einer Kapelle, die in den Wolken verschwand. Dumpf sagte er:

»Da ist das Wildland, die Gegend, von der ich dir in Hüneburg erzählt habe. Hier am Baum hängen zwei Votivbilder, und drüben in dem Felsloch ist noch eins, das wie eine Kapelle aussieht. Wir werden jetzt bei jedem Schritt auf sowas stoßen. Das ist ein Elend. Nicht eine Landstraße, nicht ein Feldweg ist in gutem Zustand, aber überall diese Votivgaben! Stell dir vor, die Leute hier lassen sich Messen lesen, sobald sie vier Pfennige zusammen haben, und der arme Hahn muss auf den Tisch hauen und sich die Seele aus dem Hals brüllen wie ein Tobsüchtiger, um die Gelder für den König zu bekommen! Ob du's glaubst oder nicht, Kobus, mir blutet das Herz, wenn ich hierherkomme, Geld verlange und Hütten für vier Kreuzer oder Möbel für zwei Pfennige verkaufen lasse.«

Mit diesen Worten schlug Hahn Fuchs, der in Galopp fiel.

Das Dorf lag jetzt zwei- oder dreihundert Schritt über ihnen. Hufeisenförmig umgab es eine steile, tiefe Schlucht.

In dem Hohlweg, durch den es aufwärts ging, behinderten Sand, Steine und loser Schutt die Fahrt, denn die schweren Ochsenkarren der Bauern hatten die Gleise tief ausgefahren. Es wurde so eng, dass die Achsnaben des Wagens manchmal zu beiden Seiten am Fels aufsetzten. Fuchs war in den Schritt zurückgefallen.

Eine Viertelstunde später kamen sie bei den ersten zwei Bauernhäuschen an. Es waren regelrechte Holzbuden von fünfzehn bis zwanzig Fuß Höhe, mit dem Taubenschlag auf der Talseite und der Tür sowie den beiden Fensterchen zur Straße hin.

Eine Frau, die ihren rötlichen Haarschopf in eine Haube aus gefärbtem Kattun gesteckt hatte, stand auf der Türschwelle der ersten Hütte. Ihr Gesicht war hohlwangig, und der Hals verlief lang und dünn wie der einer Flasche vom Unterkiefer bis zur Brust hinunter. Mit spitzer Nase und starrem, verstörtem Blick glotzte sie den Wagen an.

Vor der Tür der Kaschemme gegenüber hockte ein Dreijähriges, das nichts anhatte als einen Hemdfetzen, der ihm von den Schultern bis zu den Oberschenkeln hinab reichte. Neugierig und lieb schaute das braunhäutige, blonde Kind herüber.

Fritz besah sich diese merkwürdige Szene.

Die schlammige Straße führte schräg zum Dorf hinab, wenn man ein Durcheinander aus Schuppen voller Stroh, Scheunen, trüben Fensterchen, offenstehenden Türchen und eingesackten Dächern so nennen darf. Zusammengedrängt auf engem Raum stach dieses Wirrwarr vom grünen Hintergrund der Tannenwälder ab.

Als der Wagen dem Weg zwischen den Misthaufen folgte, kam ein kleiner schwarzer Schäferhund mit buschigem Schwanz und bellte Fuchs an. Jetzt erschienen auch die Leute auf den Schwellen ihrer Hütten. Alt und jung standen da in schmutzigem Blauzeug oder Tuchhosen, mit bloßer Brust oder im offenen Hemd.

Nach fünfzig Schritt ins Dorf sah man links die Kirche. Sie war sauber und frisch geweißt, hatte neue Fenstergläser und wirkte lustig und keck inmitten dieses Elends. Ringsherum lag der Friedhof mit den kleinen Kreuzen.

»Da wären wir«, sagte Hahn.

Der Wagen war in einer Bodenvertiefung vor einem gelbgetünchten Haus stehengeblieben, das nach dem Pfarrhaus wohl das ansehnlichste im Dorf war. Es hatte ein Obergeschoß und auf der Vorderfront fünf Fenster, drei oben und zwei unten. Die Tür war an der Seite unter einer Art Vordach, wo Reisigbündel, eine Säge, ein Beil und Keile aufgestapelt lagen. Daneben bildeten zwei oder drei dicke Steinplatten eine Schräge, um das Wasser vom Dach auf den Weg zu leiten, wo der Wagen stand. Fritz und Hahn mussten nur über das Geschirr des Wagens steigen, um den Fuß auf diese Platten setzen zu können.

Soeben trat ein Männchen mit einer neugierig wirkenden Elsternase, flachsblondem, auf der Stirn flachgelegtem Haar und fayenceblauen Augen in die Tür und sagte:

»Hihi, Herr Hahn, Sie kommen zwei Tage früher als letztes Jahr.«

»Das stimmt, Schneegans«, antwortete der dicke Steuereinnehmer, »aber ich habe mich ja angemeldet. Sie haben doch den Ausruf angeordnet?«

»Ja, Herr Hahn, der Büttel Im Original beutel genannt. ist seit heute Morgen unterwegs. Hören Sie... er trommelt gerade auf dem Platz.«

Tatsächlich rumpelte soeben auf dem Dorfplatz ein holpriger Trommelwirbel. Kobus hatte sich umgedreht und sah beim Brunnen einen großen rothaarigen, hohlwangigen Burschen im Hemd, der sich einen Klappzylinderhut in den Nacken geschoben hatte und ein Horn auf dem Rücken trug. Mit dem Bein stemmte er die Trommel vor, schlug darauf herum und schrie dann mit kreischender Stimme, während eine Menschenmenge von den umliegenden Fensterchen her zuhörte:

»Es wird bekanntgegeben, dass der Herr Einnehmer Hahn im Gasthaus Zum Rappen die Steuerzahler erwartet, die noch nichts entrichtet haben. Er wird bis zwei Uhr warten. Wer bis dahin noch nicht bezahlt hat, wird sich innerhalb von zwei Wochen nach Hüneburg begeben müssen, wenn er's nicht mit dem Steuerboten Im Originaltext steuerbôt, vermutlich ein Vollstrecker von Steuerrückständen. zu tun bekommen will.«

Dann ging der Büttel die Straße hinauf und wiederholte den Trommelwirbel. Hahn trat mit seinen Steuerbüchern in der Hand in die Schankstube des Gasthauses, und Kobus folgte ihm. Sie stiegen eine Holztreppe hinauf und fanden oben einen Raum, der dem unteren ähnlich, aber heller war. Es gab dort zwei Alkovenbetten, die so hoch lagen, dass man einen Stuhl brauchte, um hineinzusteigen. Rechts stand ein viereckiger Tisch. Zwei oder drei hölzerne Stühle in der Fensterecke, ein altes Barometer, das hinter der Tür hing, und wundersam lichtvolle Bilder des Heiligen Meinertreu Im Originaltext Saint Maclof, also ein frei erfundener Heiliger., des Heiligen Hieronymus Eremit und Kirchenlehrer des 4./5. Jahrhunderts, Verfasser der lateinischen Bibelübersetzung Vulgata. und der Heiligen Jungfrau an den kalkgeweißten Wänden ringsum ergänzten die Einrichtung des Raums.

»Endlich sind wir da«, sagte der dicke Steuereinnehmer und setzte sich mit einem Seufzer. »Fritz, jetzt wirst du Augen machen.«

Er öffnete das Register und schraubte das Tintenfass auf. Kobus stand an einem Fenster und schaute über die Dächer der Häuser gegenüber in das tiefe bläuliche Tal. Die Wiesen unten in der Schlucht und die Obstgärten voller Bäume davor, die Gärtchen mit den wurmstichigen Lattenzäunen oder Hecken darum und die schweigenden Tannenwälder umher erinnerten ihn an sein Landgut im Meisental.

Alsbald hörte man ein lautes Getöse vom unteren Raum her, denn das ganze Dorf, Männer und Frauen, kam in das Gasthaus. Zugleich trat Schneegans ein und stellte eine Flasche Wein und zwei Gläser auf den Tisch.

»Sollen sie alle auf einmal heraufkommen?« fragte er.

»Nein, einer nach dem anderen, wie ich sie aufrufe«, antwortete Hahn und füllte die Gläser. »Da, Fritz, nimm einen Schluck! Den großen Sack müssen wir heute wohl nicht öffnen, denn sie haben sicher noch ein gutes Werk an der Kirche getan.«

Dann beugte er sich über die Treppe und rief:

»Franz Laer!«

Sofort ließ ein schwerer Schritt die Treppe erdröhnen, während der Steuereinnehmer sich wieder hinsetzte. Ein großer Kerl in blauer Bluse und mit einem breiten Filzhut auf dem Kopf kam herein. Sein langes, knochiges, gelbes Gesicht sah gefasst aus. Er blieb auf der Türschwelle stehen.

»Franz Laer«, sagte Hahn zu ihm, »Sie sind mit neun Talern im Rückstand und schulden vier Taler neu dazu.«

Der andere hob sein Hemd, steckte die Hand bis an den Ellenbogen in seine Hosentasche, zählte acht Taler auf den Tisch und sagte:

»Hier.«

»Wie bitte, hier! Was soll das? Sie schulden dreizehn Taler.«

»Mehr kann ich nicht geben. Meine Kleine hatte vor acht Tagen Erstkommunion, und das hat mich viel gekostet. Außerdem habe ich vier Taler für den neuen Mantel des Heiligen Meinertreu gespendet.«

»Für den neuen Mantel des Heiligen Meinertreu?«

»Ja, die Gemeinde hat einen wunderschönen neuen Mantel mit goldener Stickerei für unseren Schutzpatron gekauft, den Heiligen Meinertreu.«

»Ah, sehr gut«, sagte Hahn und blinzelte Kobus aus dem Augenwinkel zu. »Hätten Sie's nur sofort gesagt. Da Sie einen neuen Mantel für den Heiligen Meinertreu gekauft haben... Sehen Sie bloß zu, dass er nächstes Jahr nicht wieder etwas braucht. Also – acht Taler erhalten.«

Hahn schrieb die Quittung, gab sie Laer und sagte:

»Bleiben fünf Taler, die innerhalb der nächsten drei Monate zu begleichen sind, da ich sonst beitreiben muss.«

Der Bauer ging hinaus, und Hahn sagte zu Fritz:

»Das ist noch der beste im Dorf, ein Amtsgehilfe. Jetzt schau dir die anderen an.«

Dann rief er von seinem Platz aus:

»Joseph Besmer!«

Der Steuerpflichtige war ein alter Holzhauer, der vier Taler von zwölf zahlte. Dann kam jemand, der sechs Taler anstatt siebzehn gab, dann einer mit zwei Talern statt dreizehn, und so weiter. Alle hatten für den schönen Mantel des Heiligen Meinertreu gespendet, und jeder von ihnen hatte einen Bruder, eine Schwester oder ein Kind im Fegefeuer, die nach Messen schrien. Die Frauen wimmerten, hoben die Hände zum Himmel und riefen die Heilige Jungfrau an. Die Männer blieben ruhig.

Als schließlich fünf oder sechs nacheinander nichts bezahlt hatten, sprang Hahn wütend zur Tür und schrie mit einer Sturmesstimme:

»Kommt herauf, kommt alle herauf, ihr Bettellumpen! Kommt alle miteinander!«

Auf der Treppe entstand ein gewaltiger Lärm. Hahn nahm wieder Platz, und Fritz, der neben ihm stand, sah die Leute zur Tür hereinkommen. In zwei Minuten war die Hälfte des Raums voller Männer, Frauen und Mädchen in Hemden, Jacken und geflickten Röcken. Alle waren ausgemergelt, hager und zerlumpt, und hatten regelrechte Pferdeköpfe: Enge Stirnen, hervorstehende Backenknochen, lange Nasen, trübe Augen und gleichmütige Mienen.

Die Stolzesten trugen eine hochmütige Gleichgültigkeit zur Schau, indem sie ihre breiten Filzhüte zurückschoben, beide Fäuste in den Jackentaschen ballten, ein Bein vorstellten und die Ellenbogen spreizten. Bei zwei oder drei ausgemergelten alten Frauen sah man den Zorn in den Augen aufblitzen und ahnte die Verachtung auf ihren Lippen. Bleiche Mädchen mit flachsfarbenem Haar und kleinere mit Stupsnasen, braun wie wilde Heidelbeeren, stießen einander mit den Ellenbogen an und stellten sich auf die Zehenspitzen, um sehen zu können.

Der Steuereinnehmer saß mit purpurrotem Gesicht da; seine drei rötlichen Haare hatten sich auf dem dicken Schädel aufgerichtet. Er wartete, bis jeder seinen Platz gefunden hatte, und tat, als ob er in seinem Steuerregister lese. Schließlich drehte er sich ruckartig um und fragte, ob noch jemand etwas bezahlen wolle.

Eine Alte kam und legte zwölf Kreuzer hin. Alle anderen blieben unbeweglich.

Da drehte Hahn sich erneut um und rief:

»Ich habe mir sagen lassen, dass ihr dem Patron eures Dorfes einen schönen neuen Mantel gekauft habt. Weil nun drei Viertel von euch kein Hemd am Leib haben, dachte ich, dass der glückliche Heilige Meinertreu mir wohl aus Dank für euren guten Einfall eure Steuergelder selbst vorbeibringen würde. Schaut her, meine Säckchen lagen schon bereit, und ich war voller Vorfreude. Doch niemand ist gekommen. Da kann der König lange warten, wenn er hoffen soll, dass ihm die Heiligen aus dem Kalender die Geldtruhen füllen!

Ich würde nur zu gern wissen, welchen Gefallen euch der Heilige Meinertreu getan und welche Dienste er euch erwiesen hat, dass ihr ihm all euer Geld gebt.

Legt er euch denn einen Weg an, damit ihr euer Holz, Vieh und Gemüse zur Stadt fahren könnt? Bezahlt er die Gendarmen, die hier für ein wenig Ordnung sorgen? Würde euch der Heilige Meinertreu daran hindern, einander zu bestehlen, auszuplündern und euch gegenseitig totzuschlagen, wenn's keine öffentliche Gewalt gäbe?

Ist es nicht unverschämt, dass ihr dem König alle Kosten lasst und euch über ihn lustig macht, der er das Heer bezahlt, um das deutsche Vaterland zu verteidigen, die Botschafter, die das alte Deutschland würdig vertreten, die Architekten, Ingenieure und Arbeiter, die das Land mit Kanälen, Landstraßen, Brücken und allen anderen Bauwerken überziehen, die unserem Volk zur Ehre und zum Ruhm gereichen? Er bezahlt die Steuerboten, die Beamten und die Gendarmen, die es jedem ermöglichen zu behalten, was er hat, und die Richter, die nach unseren alten Gesetzen, herkömmlichen Bräuchen und nach unserem geschriebenen Recht die Justizgewalt ausüben... Ist es nicht schändlich, dass ihr nicht daran denkt, dem König etwas zu bezahlen und ihm zu helfen wie ehrliche Leute, sondern alle eure Kreuzer lieber dem Heiligen Meinertreu, der Lalla-Rumpfel und den anderen Heiligen hintragt, die seit Adam und Eva kein Mensch gekannt hat, von denen in der Heiligen Schrift kein Wort steht und die euch im Übrigen wenigstens fünfzig Tage im Jahr kosten, die zweiundfünfzig Sonntage gar nicht gezählt?

Glaubt ihr denn, dass das ewig so weitergehen kann? Seht ihr denn nicht, dass es gegen die Vernunft ist, gegen die Gerechtigkeit und... gegen alles?

Wenn ihr ein wenig Herz hättet, würdet ihr dann nicht an die Dienste denken, die euch euer gnädiger Landesherr leistet, der Vater seiner Untertanen, der euch das Brot zum Mund führt? Schämt ihr euch denn nicht, euer Allerletztes zum Heiligen Meinertreu zu bringen, während ich hier darauf warte, dass ihr eure Schulden gegenüber dem Staat bezahlt?

Hört her! Wäre der König nicht so gütig, so voller Geduld, dann hätte er schon vor langer Zeit eure Bruchbuden verkaufen lassen, und dann würden wir ja sehen, ob euch die Heiligen aus dem Kalender neue Häuser bauen.

Wenn ihr ihn derart verehrt, diesen großartigen Heiligen Meinertreu, dann macht's doch wie er! Warum verlasst ihr nicht eure Frauen und Kinder, warum geht ihr nicht mit einem Sack auf dem Rücken durch die Welt und ernährt euch von Brotkanten und Almosen? Es wäre doch nur natürlich, seinem Beispiel zu folgen! Andere würden das Land bestellen, das ihr brach lasst, und dafür sorgen, dass sie ihre Pflichten gegenüber dem Souverän erfüllen könnten.

Schaut euch einmal um und seht die Leute aus Schneematt, Hackmatt, Urmatt und anderswo, die Cäsar geben, was Cäsars ist, und Gott geben, was Gottes ist, nach den heiligen Worten unseres Herrn Jesus Christus. Schaut sie an, das sind gute Christen, denn sie arbeiten, anstatt jeden Tag neue Heiligenfeste und Vorwände zu erfinden, damit sie in Faulheit verkommen oder ihr Geld im Wirtshaus ausgeben können. Sie kaufen keine goldbestickten Mäntel, sondern lieber Schuhe für ihre Kinder, während ihr barfuß geht wie die Wilden.

Fünfzig Feste pro Jahr bei tausend Personen macht fünfzigtausend verlorene Arbeitstage! Wenn ihr arm und elend seid und dem König nichts bezahlen könnt, dann steht die Ehre dafür den Heiligen im Kalender zu.

Ich sage euch das, weil's auf der Welt nichts Widerlicheres gibt, als alle drei Monate hierher zu kommen, um seine Pflicht zu erfüllen, und euch Strolche vorzufinden, die ihr aus eigener Schuld elend und nackt seid und einen dabei noch wie den Antichristen anseht, wenn man von euch verlangt, was in allen christlichen Ländern dem Souverän zusteht und sogar bei den Wilden, etwa den Türken und den Chinesen. Das ganze Universum zahlt Abgaben, um Ordnung und Freiheit bei der Arbeit zu haben, bloß ihr gebt alles dem Heiligen Meinertreu, und gottlob kann jedermann euch ansehen, wie er euch dafür belohnt!

Jetzt mache ich euch auf etwas aufmerksam. Wer innerhalb von acht Tagen nicht bezahlt, erhält Besuch vom Steuerboten. Die Geduld seiner Majestät ist lang, aber sie hat ihre Grenzen.

Ich bin fertig – jetzt geht und bedenkt, was Hahn euch eben gesagt hat: Der Steuerbote ist euch gewiss.«

Da ging der ganze Haufen ohne Antwort davon.

Fritz war über die Redegewalt seines Freundes verblüfft. Als die letzten Schuldner die Treppe hinunter verschwunden waren, sagte er zu ihm:

»Hör mal, Hahn, du sprichst ja wie ein gelernter Redner. Doch unter uns, du bist zu hart mit diesen Armen.«

»Zu hart!« schrie der Steuereinnehmer und hob seinen dicken, ungekämmten Kopf.

»Ja, du hast kein Gefühl... verstehst nichts vom Gefühlsleben...«

»Vom Gefühlsleben?« sagte Hahn. »Auch das noch. Sag mal, willst du mich veralbern, Fritz? Hahaha, darauf falle ich nicht herein wie der alte Rebbe Sichel... deine ernste Miene kann mich nicht täuschen... ich kenne dich!«

»Ich sage dir doch«, rief Kobus, »dass es ungerecht ist, diesen Bauern ihren Glauben vorzuwerfen und dann auch noch ein Verbrechen daraus zu machen. Der Mensch ist doch nicht nur auf Erden, um Geld aufzuhäufen und sich den Bauch zu füllen... Vielleicht sind diese Armen mit ihrem naiven Glauben und ihren Kartoffeln glücklicher als du mit deinen Omeletten, Schweinswürsten und gutem Wein.«

»Hehe, du Schwindler«, sagte Hahn und legte ihm die Hand auf die Schulter, »sprich bitte auch für dich. Ich glaube, dass keiner von uns beiden bisher nur von Votivgaben und Kartoffeln gelebt hat, und ich hoffe auch, dass es auf keinen von uns so bald zukommt. Ach, so willst du dich also über deinen alten Hahn lustig machen. Das sind mir ja völlig neue Ideen und Theorien!«

Während sie diskutierten und sich zur Abreise fertigmachten, kam ein leises Geräusch von der Tür. Sie drehten sich um und sahen, dass dort an der Wand ein Mädchen von sechzehn oder siebzehn Jahren mit niedergeschlagenen Augen stand. Sie war bleich und schwächlich, ihr Kleid aus grauem Leintuch war mit großen Flicken ausgebessert und an den Hüften zu eng. Schönes blondes Haar rahmte die Schläfen ein. Die Füße waren bloß, und Gott weiß welche ferne Ähnlichkeit Kobus vor Mitleid sofort so sehr bewegte, wie er es noch nie verspürt hatte. Er glaubte, dort Susel zu sehen, aber durch große Not geschwächt, krank, zitternd und erschöpft. Sein Herz schmolz, und ein kalter Schauer fuhr ihm über die Wangen.

Hahn jedoch schaute lieblos auf das Mädchen.

»Was willst du?« fragte er hart, »die Steuerregister sind geschlossen, die Einnahme ist beendet. Ihr müsst jetzt alle zum Bezahlen nach Hüneburg.«

»Herr Einnehmer«, antwortete das arme Kind nach einem Moment des Schweigens, »ich komme für meine Großmutter Ewig. Seit fünf Monaten kann sie sich nicht aus dem Bett erheben. Wir hatten großes Unglück. Mein Vater ist im letzten Winter beim Kohlplatz unter seinen Schlitten geraten... er ist tot... sein Seelenfrieden hat uns viel gekostet.«

Hahn, dem dies allmählich naheging, warf ein ungnädiges Auge auf Fritz. Hörst du, schien er zu sagen, immer wieder St. Meinertreu.

Dann erhob er die Stimme und antwortete:

»Solches Unglück kann jedem passieren, mein Beileid. Doch wenn ich zur Hauptkasse komme, fragt man mich nicht, ob die Leute glücklich oder unglücklich sind. Man fragt mich, wie viel Geld ich bringe, und wenn's nicht genügt, dann muss ich aus eigener Tasche drauflegen. Deine Großmutter schuldet acht Taler. Letztes Jahr habe ich für sie bezahlt, aber's kann nicht immer so weitergehen.«

Das arme Mädchen war traurig geworden. Man sah ihr an, dass sie kurz vor den Tränen war.

»Also«, sagte Hahn, »du wolltest mir sagen, dass nichts zu holen ist, nicht wahr, dass deine Großmutter keinen Pfennig hat? Um mir das zu sagen, hättest du daheim bleiben können, ich hab's schon gewusst.«

Da schob sie langsam und ohne die Augen zu heben die Hand vor und öffnete sie. Man sah einen Taler darin.

»Wir haben unsere Ziege verkauft... um etwas zu bezahlen...« sagte sie mit gebrochener Stimme.

Kobus drehte seinen Kopf zum Fenster. Sein Herz bebte.

»Teilzahlungen«, sagte Hahn, »nichts als Teilzahlungen! Wenn's doch bloß die Mühe wert wäre.«

Dennoch schlug er sein Register wieder auf und sagte:

»Also, komm her.«

Sie kam näher, aber Fritz beugte sich über die Schulter des Steuereinnehmers, während der schrieb, und sagte leise zu ihm:

»Ach, lass doch.«

»Was?« sagte Hahn und schaute ihn erstaunt an.

»Streich das aus.«

»Bitte? Ausstreichen?«

»Ja! – Nimm dein Geld zurück«, sagte Kobus zu dem Kind und flüsterte in Hahns Ohr:

»Ich bezahle.«

»Die acht Taler?«

»Ja.«

Hahn legte die Feder beiseite. Er sah aus, als ob er in Gedanken weit weg wäre. Dann schaute er das Mädchen an und sagte in ernstem Ton zu ihr:

»Das ist Herr Kobus aus Hüneburg. Er bezahlt für euch, sag das deiner Großmutter. Nicht der Heilige Meinertreu bezahlt, sondern Herr Kobus, ein seriöser und vernünftiger Mann, der's aus gutem Herzen tut.«

Das Mädchen hob die Augen, und Fritz sah, dass sie hellblau wie Susels Augen waren, allerdings voller Tränen. Sie hatte ihren Taler bereits auf den Tisch gelegt. Er nahm ihn, fuhr in seine Tasche, gab fünf oder sechs Taler dazu und sagte:

»Hier, mein Kind, versucht, eure Ziege zurückzubekommen oder eine andere als Ersatz zu kaufen. Du kannst jetzt gehen.«

Als sie sich nicht regte, sagte Hahn, der ihre Gedanken erriet:

»Du willst Herrn Kobus danken, nicht wahr?«

Sie neigte schweigend den Kopf.

»Ist gut, ist gut«, sagte er, »wir wissen doch, was du denkst. Euch ist eine Wohltat des Himmels geschehen. Zahlt von jetzt ab pünktlich. Es ist doch keine große Sache, wenn man jede Woche zwei Groschen beiseitelegt, um ein ruhiges Gewissen zu haben. Nun geh, deine Großmutter wird sich freuen.«

Das Mädchen warf Kobus noch einen Blick voll Dankbarkeit zu, ging hinaus und stieg die Treppe hinab. Fritz war völlig verwirrt zum Fenster gegangen. Er sah, dass das arme Kind zu laufen begann, während es die Straße hinaufeilte. Man hätte meinen können, dass es Flügel hatte.

»Jetzt sind wir hier fertig«, sagte Hahn. »Abfahrt!«

Kobus drehte sich herum und sah ihn schon mit dem Registerbuch und gebeugtem Rücken die Treppe hinuntergehen. Er wischte sich die Augen und ging auch hinab.

»He!« rief ihnen Schneegans unten in der großen Stube zu, »wollen Sie nichts essen, bevor Sie abreisen, Herr Einnehmer?«

»Hast du Hunger, Kobus?« fragte Hahn.

»Nein.«

»Ich schon gar nicht. Sie können Ihr Essen dem Heiligen Meinertreu vorsetzen! Jedes Mal, wenn ich in diese verlauste Gegend komme, bin ich zwei Wochen lang wie zerschlagen. Völlig durcheinander bin ich. Schirren Sie das Pferd ein, Schneegans, mehr verlangen wir nicht.«

Der Wirt ging hinaus. Hahn und Fritz sahen ihm von der Tür aus zu, während er das Pferd aus dem Stall zog und vor den Wagen spannte. Kobus stieg ein. Hahn bezahlte die Rechnung, ergriff die Zügel und die Peitsche, und schon fuhren sie ebenso davon, wie sie gekommen waren.

Es mochte gegen zwei Uhr sein. Alle Leute im Dorf standen vor ihren Hütten und schauten ihnen nach, ohne dass einer auf den Gedanken gekommen wäre, seinen Hut zu lüften.

Sie kamen wieder in den Hohlweg am Abhang. Lang fiel der Schatten des St. Meinertreu-Felsens ins Tal. Die andere Seite des Berges war in Licht getaucht. Hahn starrte träumerisch vor sich hin. Fritz ließ den Kopf auf die Brust sinken und gab sich zum ersten Mal den Gefühlen der Zärtlichkeit und der Liebe hin, die seit einiger Zeit seine Seele bedrängten. Er schloss die Augen und sah auf den roten Innenseiten seiner Augenlider Susels Bild vorüberziehen, dann das des armen Kindes vom Wildland. Der Steuereinnehmer sagte auch nichts, denn er musste sehr darauf achten, zwischen den Felsen im Gleis zu bleiben.

Gegen fünf Uhr rollte der Wagen auf dem Tiefenbacher Ein Ort namens Tieffenbach liegt ca. 10 km nördlich von Phalsbourg. Sandweg. Hahn warf jetzt einen Blick auf Kobus und meinte, der sei eingenickt, denn sein Kopf lag auf seiner Schulter und wiegte sich sanft. Da zündete Hahn seine dicke Pfeife an und ließ die Zügel schießen. Eine halbe Meile weiter wählte er eine Abkürzung, stieg ab und führte Fuchs am Zaum auf dem steilen Weg durch den Tannewald.

Fritz blieb auf dem Bock sitzen. Er schlief nicht, wie sein Freund glaubte, sondern gab sich seinen Träumen hin... niemals in seinem Leben hatte er so viel geträumt.

Schon kam der Abend in den Wald hinunter, und die Talgründe füllten sich mit Schatten. Nur die hohen Wipfel standen noch im Sonnenlicht.

Nach einer guten Stunde Anstieg – Fuchs und Hahn waren von Zeit zu Zeit stehengeblieben, um Atem zu schöpfen – erreichte der Wagen die Hochebene. Jetzt musste man nur noch durch den Wald fahren, um Hüneburg vor sich zu haben.

Der Steuereinnehmer, der trotz seines dicken Bauchs energisch marschiert war, stellte jetzt den Fuß auf die Deichsel, knallte mit der Peitsche, und sein breites Hinterquartier versank im Ledersitz.

»Na los, hopp, hopp«, rief er.

Fuchs zog den Holzschleifweg entlang und schlug einen Trab ein, als ob er nicht bereits drei gute Meilen im Gebirge zurückgelegt hätte.

Ach, welcher Anblick, wenn die Sonne untergeht. Man kommt aus dem Tal, plötzlich fällt purpurnes Abendlicht durch die hohen, fein auslaufenden Birkenwipfel, und tausend Wohlgerüche des Waldes erfüllen ringsherum die Luft mit ihrem duftigen Atem!

Der Wagen folgte jetzt dem Waldrand. Stellenweise, unter den herab geneigten Zweigen der hohen Bäume, war es schon dunkel. Manchmal kam ein Eckchen des roten Himmels hinter den tausend Sträuchern hervor, die aus dem Dickicht ragten, dann verbarg sich alles erneut, Gestrüpp zog vorbei, und die Sonne sank weiter. Jedes Mal, wenn man sie durch eine Schneise sah, stand sie etwas niedriger. Bald schon hoben sich die Spitzen der hohen Sträucher vor ihrem Bonvivantgesicht ab, einem wahrhaften Puttengesicht, purpurrot und mit Weinlaub gekrönt. Schließlich verschwand sie, lange goldene Flügel schlossen sich über ihr, und die grauen Farbtöne der Nacht drangen auf dem Himmel vor. Einige Sterne standen bereits zitternd in der unendlichen Tiefe über der dunklen Masse des Waldes.

Jetzt wurden Kobus' Phantasien stärker und inniger. Er hörte die Räder im Sand mahlen, den Schlag des Pferdehufs gegen ein Steinchen oder ein paar Vögelchen, die vor dem herannahenden Wagen flohen. So ging es lange, bis Hahn auffiel, dass sich am Wagen ein Riemen gelockert hatte. Er hielt an und stieg ab. Fritz öffnete die Augen und sah ihm zu. Soeben ging der Mond auf, und der Weg lag im fahlen Licht.

Als der Steuereinnehmer den Riemen zurrte, stimmten plötzlich Mäherinnen und Schnitter, die von der Arbeit kamen, im Chor das alte Lied an:

Wenn ich an mein Liebchen denke! Vermutlich eine Variante des im 19. Jahrhundert verbreiteten Liedes Wenn ich an den letzten Abend denke, das auch in Elsass-Lothringen bekannt war.

Da schwieg die Nacht noch stiller, und der Wald hörte den ernsten und weichen Stimmen zu, denen die Liebe Einklang verlieh.

Die Leute konnten nicht weit weg sein. Man hörte ihre Schritte am Waldrand. Sie gingen im Takt.

Hahn und Kobus hatten das alte Lied hundertmal gehört, aber in dieser stillen Stunde sprach es sie besonders an, und sie lauschten in poetischer Ergriffenheit. Fritz empfand allerdings etwas anderes als Hahn, denn unter den Stimmen klang eine fein und hoch heraus. Gleich einem Seufzer vom Himmel stimmte sie jede Strophe an und verstummte als letzte. Fritz meinte, diese junge, zärtliche und verliebte Stimme zu erkennen, und sein ganzes Herz lag in seinem Ohr.

Nach einer Weile sagte Hahn, der Fuchs beim Zaumzeug hielt, damit der nicht den Kopf schüttelte:

»Ach richtig! So singen die Kinder im alten Deutschland. Da kann man anderswo lange suchen...«

»Pst!« machte Kobus.

Das alte Lied erklang wieder und zog davon, und immer noch erhob sich dieselbe Stimme hoch und tragend über die anderen, bis sie schließlich vom Geraschel des Laubs übertönt wurde.

»Schön sind diese alten Lieder«, sagte der Steuereinnehmer und stieg wieder auf.

»Wo sind wir denn?« fragte Fritz, der bleich geworden war.

»Beim Turteltaubenfelsen, zwanzig Minuten oberhalb deines Landguts«, antwortete Hahn, während er sich setzte und das Pferd antrieb, das wieder anzog.

»Das war Susels Stimme«, dachte Kobus, »ich hab's doch gewusst!«

Als sie aus dem Wald kamen, fing Fuchs an zu galoppieren, denn er witterte seinen Stall. Hahn, der froh war, heute Abend ein Glas Bier zu bekommen, sprach von den Gaben des alten Deutschland, den alten Liedern und den Minnesängern. Kobus hörte ihm nicht zu, denn er hatte seine Gedanken woanders.

Jetzt waren sie schon durchs Hildebrandttor, und die Lichter, die in allen Häusern brannten, leuchteten Fritz ins Auge, ohne dass er sie wahrnahm. Der Wagen hielt.

»Also, mein Guter, du kannst absteigen, wir sind vor deiner Tür«, sagte Hahn.

Fritz sah auf und stieg ab.

»Guten Abend, Kobus«, rief der Steuereinnehmer.

»Gute Nacht,« sagte er und ging in Gedanken versunken die Treppe hinauf.

An diesem Abend war die alte Katel so froh, Kobus wiederzusehen, dass sie die ganze Küche anheizen wollte, um seine Rückkehr zu feiern. Doch er war nicht hungrig.

»Nein,« sagte er, »lass gut sein, ich habe schon gegessen... bin müde.«

Er ging schlafen.

So kam es, dass Kobus der Bonvivant, das Leckermaul, der Feinschmecker sich von einer Scheibe Schinken am Morgen und von einem alten Lied am Abend ernährte. Wie hatte er sich verändert!


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