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Illustration: Theophile Schuler

IX

Wenn dienstags und freitags morgens Markt war, pflegte Kobus sich ans Fenster zu setzen, Pfeife zu rauchen und den Hüneburger Hausfrauen zuzusehen, die auf dem Akazienplatz geschäftig zwischen den langen Reihen der Körbe, Kisten, geflochtenen Käfige, Buden, Töpferstände und Karren hin und her eilten. Stets genoss er dieses Schauspiel und amüsierte sich unsagbar über all den Lärm und die tausend Gesten, mit denen Händler und Käufer schreiend feilschten.

Wenn er von fern ein schönes Stück erblickte, rief er sogleich Katel herbei und sagte ihr:

»Siehst du den Kranz aus Krammetsvögeln oder Meisen dort hinten? Siehst du den großen rötlichen Hasen auf dem dritten Stand der letzten Reihe? Geh dort einmal nachschauen.«

Katel ging dann hinaus, und er verfolgte interessiert, wie sie verhandelte. Kam die alte Magd mit den Meisen, den Krammetsvögeln oder dem Hasen zurück, dann sagte er zu sich: »Wir haben's!«

Eines Morgens merkte er, dass er ganz gegen seine Gewohnheit geistesabwesend war, ständig in die Hand gähnte und gleichgültig zuschaute. Keine Ware lockte ihn, und das Getümmel und das Hin und Her der Leute kamen ihm eintönig vor. Manchmal richtete er sich auf, schaute zum fernen Ginsterhang und dachte: »Wie schön die Sonne jetzt aufs Meisental scheint.«

Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er hörte das Vieh brüllen und sah Susel, die in Hemdsärmeln mit dem Eimer aus Tannenholz in der Hand und Mopsel bei den Fersen unter der Scheune entlang zum Stall schlüpfte. Diese Erinnerungen ergriffen ihn.

»Die Mauer im Fischbecken müsste jetzt trocken sein«, dachte er, »bald kann man das Gitter einsetzen.«

Während er vor sich hinträumte, kam Katel herein.

»Herr Kobus«, sagte sie, »dies habe ich in Ihrem Winterumhang gefunden.«

Es war ein Stück Papier. Er faltete es auseinander.

»Ach ja«, sagte er betroffen, »das Krapfenrezept! Wie konnte ich's nur drei Wochen lang vergessen? Ich habe eben meine Gedanken nicht beisammen.«

Er sah die alte Magd an und rief erregt:

»Das ist ein Rezept für Krapfen, für ganz köstliche Krapfen! Rate mal, Katel, wer mir das Rezept gegeben hat?«

»Die große Fränzel vom Roten Ochsen

»Ach, geh mir doch mit der Fränzel! Als ob die irgendetwas erfinden könnte, ganz zu schweigen von solchen Krapfen! Nein... es ist Susel, die Tochter des Mennoniten.«

»Oh die«, sagte Katel, »das wundert mich nicht, denn sie steckt voller guter Einfälle.«

»Ja, sie ist ihrem Alter voraus. Katel, du musst mir diese Krapfen machen. Folge aber genau dem Rezept, hörst du, denn sonst geht's schief.«

»Nur ruhig, Herr Kobus, ich werd's schon besorgen.«

Katel ging, und Fritz setzte sich ans Fenster, während er sorgfältig seine Pfeife stopfte. Jetzt kam ihm alles verändert vor, die Gesichter, die Mienen, das Gerede und Geschrei überall – es war, als ob der Platz plötzlich im Sonnenschein lag.

Fritz dachte wieder an das Landgut und fand, dass das Leben in der Stadt eigentlich nur im Winter angenehm sei und dass es gut tue, manchmal den Speisezettel zu ändern, denn immer dieselbe Küche sei auf die Dauer fade. Ihm fiel ein, dass die guten frischen Eier und der Quark beim Mennoniten zum Frühstück besser geschmeckt hatten als sämtliche Schleckereien von Katel.

»Wenn ich nicht unbedingt Jucker spielen, Bier trinken und David, Friedrich Schulz und den dicken Hahn sehen müsste,« sagte er zu sich, »dann würde ich lieber sechs Wochen oder zwei Monate im Jahr im Meisental verbringen. Doch meine Annehmlichkeiten und Angelegenheiten sind nun einmal hier. Schade, dass man nicht alle Freuden zusammen haben kann.«

Diese Gedanken setzten sich in seinem Geist fest.

Nachdem es elf geschlagen hatte, kam die alte Magd und deckte den Tisch.

»Also, Katel«, sagte Fritz und wendete sich ihr zu, »und meine Krapfen?«

»Sie haben recht, Herr Kobus, sie sind wirklich delikat.«

»Sind sie dir gelungen?«

»Ich habe mich an das Rezept gehalten, da konnt's gar nicht schiefgehen.«

»Wenn sie gut geraten sind«, sagte Kobus, »dann muss ein passender Wein her. Ich gehe in den Keller hinunter und hole mir eine Flasche Forstheimer

Als er aber mit dem Schlüsselbund in der Hand hinausging, fiel ihm etwas ein, und er fragte:

»Und das Rezept?«

»Habe ich in der Tasche, Herr Kobus.«

»Gut, es darf nicht verlorengehen. Gib's mir bitte, ich leg's in den Sekretär. Darauf werden wir gern zurückkommen.«

Er faltete das Papier auseinander und las es von neuem.

»Hübsch schreibt sie«, sprach er, »eine runde Schrift, wie gestochen! Ganz erstaunlich, diese Susel, weißt du?«

»Ja, Herr Kobus, sie ist wirklich hell im Kopf. Sie sollten sie einmal in der Küche hören, wenn sie herkommt. Immer hat sie einen Scherz parat.«

»Oh ja? Ich hätte geglaubt, sie sei eher ernsthaft.«

»Ernsthaft? Ach was!«

»Wovon spricht sie denn?« fragte Kobus, dessen breites Gesicht vor Freude strahlte, als er daran dachte, dass das Mädchen heiter sei.

»Was weiß ich schon? Nur dies: Wenn sie über den Platz geht, bekommt sie alles mit. Sie beschreibt alle Gesichter, aber derart lustig...«

»Ich wette, dass sie sich auch über mich lustig gemacht hat.«

»Oh nein, niemals, Herr Kobus. Über den langen Friedrich Schulz vielleicht, aber über Sie...«

»Hahaha!« unterbrach Kobus, »sie hat sich über Schulz lustig gemacht! Sie findet ihn wohl etwas dumm, oder?«

»N-nein, das nicht. Ich erinnere mich nicht mehr daran... verstehen Sie?«

»Es ist gut, Katel, ist gut«, sagte Fritz und ging heiter davon.

Die alte Magd hörte, dass er bis hinunter an den Fuß der Treppe laut lachte und ständig wiederholte: »Suselchen macht mich froh.«

Als er zurückkam, war der Tisch gedeckt und der Eintopf aufgetragen. Er entkorkte die Flasche, heftete sich mit dem Gesichtsausdruck tiefer Zufriedenheit die Serviette unters Kinn, streifte die Hemdsärmel zurück und aß mit gutem Appetit.

Katel servierte ihm die Krapfen vor dem Dessert.

Da füllte Fritz sein Glas auf und sagte:

»Jetzt wollen wir doch einmal sehen.«

Die alte Magd blieb am Tisch stehen, um sein Urteil zu hören. Fritz nahm sogleich einen Krapfen und probierte ihn schweigend, dann einen zweiten und einen dritten. Schließlich drehte er sich um und sprach mit Nachdruck und Überlegung:

»Die Krapfen sind vorzüglich, Katel, vorzüglich! Man merkt sofort, dass du dem Rezept nach Möglichkeit gefolgt bist. Allerdings, verstehe mich bitte richtig – ich mache dir jetzt keinen Vorwurf –, die auf dem Landgut waren besser. Sie hatten etwas Feineres und Köstlicheres an sich, ein besonderes Aroma« – Fritz hob den Finger, während er sprach – »ich kann's nicht beschreiben. Es schmeckte vielleicht nicht so kräftig, aber leckerer.«

»Habe ich etwa zuviel Zimt genommen?«

»Nein, nein, es hat gestimmt, ganz sicher. Aber siehst du, Susel hat einfach die richtige Hand für Krapfen, so wie du eine Hand für Truthahn mit Kastanienfüllung hast.«

»Das kann schon sein, Herr Kobus.«

»Ich bin mir sicher. Ich täte unrecht, wenn ich diese Krapfen nicht ausgezeichnet finden sollte. Doch über dem Besten steht etwas, was Professor Speck ›das Ideal‹ nennt. Das ist etwas Poetisches, etwas...«

»Ja, Herr Kobus, ich verstehe«, sagte Katel. »Zum Beispiel Mutter Hafens Würste, die ihr niemand nachmachen konnte, weil die drei Gewürznelken fehlten.«

»Nein, das meine ich nicht. Hier fehlt nichts, dennoch...«

Er wollte weitersprechen, aber da ging die Tür auf, und der alte Rabbiner trat ein.

»Gut, dass du da bist, David«, rief Fritz, »komm her und erkläre Katel, was man unter dem ›Ideal‹ versteht.«

Bei diesen Worten zog David die Augenbrauen zusammen.

»Willst du mit mir Unfug treiben?« fragte er.

»Nein, es ist mir ernst. Sag Katel, warum ihr den Zwiebeln und Karotten von Ägypten Während die Kinder Israels in Ex 16, 3 wehmütig an die Fleischtöpfe und das Brot Ägyptens dachten, ist in Num 11, 5 die Rede von Fleisch, Fischen, Gurken, Melonen, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch. so sehr nachgetrauert habt...«

»Hör mal, Kobus«, rief der alte Rebbe, »kaum bin ich hier, da ziehst du schon über alles her, was mir heilig ist. Das gehört sich nicht.«

»Du verstehst alles falsch, Posche Jisroel. Setz dich her, und ich werde nichts mehr über ägyptische Zwiebeln sagen. Wenn du kein Jude wärst...«

»Aha, du willst mich doch verjagen.«

»Ach nein, ich sage ja nur, dass du diese Krapfen essen könntest, wenn du kein Jude wärst. Und dann müsstest du anerkennen, dass sie tausendmal besser sind als das Manna, das vom Himmel fiel, um euch die Lepra und die anderen Krankheiten auszutreiben, die ihr euch bei den Ungläubigen geholt hattet.«

»Jetzt gehe ich, das ist mir zuviel!«

Katel ging hinaus, aber den alten Rebbe hielt Kobus am Ärmel fest und sagte:

»Nun hör doch, zum Teufel! Setz dich hin. Ich habe schweren Kummer.«

»Was für Kummer?«

»Weil du nicht mit mir ein Glas Wein trinken und diese Krapfen probieren kannst. Sie sind wirklich außerordentlich gut.«

David setzte sich, und jetzt lachte er.

»Du hast sie erfunden, nicht wahr?« fragte er, »du entwickelst doch dauernd solche Sachen.«

»Nein, Rebbe, nein, weder ich noch Katel. Ich wäre stolz, wenn ich diese Krapfen erfunden hätte, aber geben wir Cäsar, was Cäsars ist – die Ehre steht Susel zu... du kennst doch die Tochter des Mennoniten?«

»Aha«, sagte der alte Rebbe und heftete seine grauen Augen auf Kobus, »schau an! Also findest du die Krapfen gut?«

»Köstlich, David.«

»Hihihi, ja... dieses Mädchen kann alles... sogar dich Feinschmecker zufriedenstellen.«

Dann änderte er den Tonfall.

»Susel hat mir von Anfang an gefallen, denn sie ist gescheit. In drei oder vier Jahren wird sie so gut kochen können wie deine alte Katel. Dann führt sie ihren Mann wie an der Leine, und wenn er klug ist, wird er zugeben, dass ihm kein größeres Glück geschehen konnte.«

»Hahaha, diesmal stimme ich dir zu, David, du hast nicht übertrieben. Es ist erstaunlich, dass Vater Christel und Mutter Orschel, die keine drei Gedanken im Kopf haben, ein solch hübsches Geschöpfchen in die Welt setzen konnten. Weißt du, dass sie schon den ganzen Hof führt?«

»Was habe ich gesagt?« rief David, »ich hab's gewusst! Siehst du, Kobus, wenn eine Frau klug ist, dann ist sie damit noch nicht zufrieden. Also versucht sie, sich ihren Mann zu unterstellen, um sich selbst zu erheben, und macht sich bald zur Herrin. Dennoch gehorcht man ihr irgendwie gern.«

In diesem Moment ging Fritz Gott weiß welcher Gedanke durch den Kopf. Er schaute den alten Rebbe aus dem Augenwinkel an und sagte:

»Die Krapfen kann sie ja, aber sonst...«

»Hör gut zu«, rief David, »sie wird dem braven Bauern, der sie heiratet, Glück bringen und ihn sehr reich und froh machen! Ich kenne mich bei den Frauen aus, denn ich beobachte sie schon lange. Ich sehe sofort, was sie sind, was sie können und was sie später sein und können werden. Susel hat mir stets gefallen, und es freut mich zu hören, dass sie gute Krapfen machen kann.«

Fritz war in Tagträume verfallen. Plötzlich fragte er:

»Sag mal, Posche Jisroel, warum kommst du denn am Mittag zu mir? Das ist doch sonst nicht deine Zeit?«

»Ach richtig, du musst mir zweihundert Taler leihen.«

»Zweihundert Taler? Oho«, sagte Kobus halb ernst und halb im Scherz, »alles auf einmal, Rebbe?«

»Alles auf einmal.«

»Ist's für dich?«

»Wenn du so willst, ist's für mich, denn ich allein verpflichte mich zur Rückzahlung. Eigentlich will ich jemandem damit einen Gefallen tun.«

»Wem denn, David?«

»Du kennst doch den alten Hausierer Herzberg. Also, der junge Salomon freit um seine Tochter. Zwei brave Kinder«, rief der alte Rebbe und faltete mit bewegtem Gesicht die Hände, »aber du weißt ja, es braucht eine kleine Mitgift, und da hat Herzberg mit mir gesprochen...«

»Änderst du dich denn niemals?« unterbrach ihn Fritz, »hast du nicht genug eigene Schulden, dass du dir obendrein die Verbindlichkeiten anderer Leute aufladen musst?«

»Ach Kobus, Kobus!« rief David mit durchdringender und leidenschaftlicher Stimme, gekrümmter Nase und verdrehten Augen, die zu Boden schielten. »Wenn du die lieben Kinder sehen könntest! Übrigens ist der alte Herzberg zuverlässig, er zahlt innerhalb von ein oder zwei Jahren ab.«

»Also gut«, sagte Fritz und erhob sich, »aber hör zu: Diesmal zahlst du Zinsen, fünf Prozent. Dir selbst leihe ich gern zinslos, für andere jedoch...«

»Ach mein Gott, wer widerspricht dir denn?« sagte David. »Es geht doch nur um das Glück dieser armen Kinder! Der Vater wird mir die fünf Prozent erstatten.«

Kobus öffnete seinen Sekretär und zählte zweihundert Taler auf den Tisch, während der alte Rebbe ungeduldig zusah. Dann nahm Fritz Papier, Schreibzeug und Feder und sagte:

»Also, David, zähle nach.«

»Ist unnötig, ich habe zugesehen, und du hast richtig gezählt.«

»Nein, nein, zähle.«

Da zählte der alte Rebbe nach und steckte mit sichtbarer Befriedigung die Münzstapel in seine große Hosentasche.

»Also, jetzt setz dich her und stell mir den Schuldschein zu fünf Prozent aus. Und denk daran, wie ich dir mit diesem Papier kommen kann, wenn dir meine Späße nicht gefallen.«

David lächelte vor Glück, während er schrieb. Fritz schaute ihm über die Schulter. Als er sah, dass David kurz davor war, die Zinsen einzutragen, rief er:

»Halt, alter Posche Jisroel, halt!«

»Willst du sechs?«

»Weder sechs noch fünf. Sind wir denn nicht alte Freunde? Ach, du verstehst wirklich keinen Jux. Mit dir muss man immer so ernst sein, als wenn man einen Esel striegelt.«

Da erhob sich der alte Rebbe, reichte ihm die Hand und sagte ergriffen:

»Danke, Kobus.«

Dann ging er.

»Braver Mann«, dachte Fritz und sah dem Rabbi nach, der mit krummem Rücken und der Hand auf der Tasche die Straße hinaufging. »Jetzt läuft er hin, als ob's um sein eigenes Glück ginge. Er wird dem Glück der Kinder zusehen und mit einer Träne im Auge leise dazu lachen.«

In diesem Gedanken nahm er seinen Gehstock und ging aus, um Zeitung zu lesen.


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