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Illustration: Theophile Schuler

II

Eines Tages gegen Ende April war Fritz Kobus früh aufgestanden, hatte die Fenster zum Akazienplatz geöffnet und sich dann wieder ins warme Bett gelegt. Mit der Decke um die Schultern und dem Federbett auf den Beinen betrachtete er das rote Licht durch die geschlossenen Augenlider, gähnte behaglich, ließ seine Gedanken wandern und blinzelte von Zeit zu Zeit, um zu sehen, ob er wachte oder träumte.

Draußen war es so hell, wie man es bei der Schneeschmelze erlebt, wenn die Wolken abziehen und das Dach gegenüber, die spiegelnden Fensterchen, die Baumwipfel, eben alles glänzt; wenn man sich verjüngt fühlt, weil man neue Kraft verspürt und wiederentdeckt, was es seit fünf Monaten nicht mehr zu sehen gab: Den Blumentopf der Nachbarin, die Katze, die wieder die Dachtraufen entlang läuft, oder die lärmenden Spatzen, die ihren Zank von neuem beginnen.

Sanfte laue Windstöße bewegten Fritz' Bettvorhänge. Dann wieder verbreitete sich in der Kammer die Bergluft, kühl vom Eis, das langsam durch die schattigen Wildwasserschluchten herabfließt.

Von weitem hörte man auf der Straße die Hausfrauen miteinander lachen, während sie den Schneematsch mit kräftigen Besenschüben die Gossen entlang jagten. Die Hunde bellten hell, und im Hof hörte man die Hühner gackern.

Endlich war es Frühling.

Kobus war unter seinen Träumen schließlich wieder eingeschlafen, als der Klang einer Fiedel ihn aus dem Schlummer holte und ihm die Tränen in die Augen trieb. Eindringlich und lieb hörte es sich an, wie die Stimme eines Freundes, der lange fort war und nun »da bin ich, ich bin's!« sagt. Fritz atmete flach, um besser zu hören.

Was er da vernahm, war die Fiedel des Zigeuners Josef, begleitet von einer anderen Geige und einem Kontrabass. Sie sang in seiner Kammer, gleich hinter den blauen Bettvorhängen:

»Ich bin's, Kobus, ich bin's, dein alter Freund! Ich komme mit dem Frühling und der lieben Sonne zurück zu dir... Hör zu, Kobus, die Bienen summen um die ersten Blumen, die ersten Blätter regen sich, die erste Lerche zwitschert am blauen Himmel, die erste Wachtel läuft durch die Ackerfurchen, und ich komme, um dir meinen Gruß zu bringen. Jetzt ist das Elend des Winters vergessen, endlich kann ich wieder im Staub der Wege und im warmen Gewitterregen lustig von Dorf zu Dorf wandern. Doch wollte ich nicht vorübergehen, ohne dich zu besuchen, Kobus. Ich bin gekommen, um dir mein Liebeslied vorzusingen, meinen ersten Gruß an den Frühling.«

Noch vieles andere sang Josefs Fiedel, was tiefer ging: Einen Ruf an die alten Jugenderinnerungen, die jedem von uns... ganz allein gehören. Der glückliche Kobus war zu Tränen gerührt.

Als die Musik dann ernster und inniger weiterspielte, schob er sachte die Bettvorhänge auseinander und sah die drei Zigeuner auf der Türschwelle der Kammer. Dahinter stand die alte Katel in der Tür. Josef – groß, mager, gelb und zerlumpt wie immer – hatte gefühlvoll das Kinn an die Fiedel gelehnt und strich den vibrierenden Bogen mit Liebe über die Saiten. Seine Augenlider waren gesenkt, das dichte, wollige, schwarze Haar mit dem breiten, zerrissenen Filzhut obenauf fiel ihm auf die Schultern wie einem Merinoschaf das Fell, und über der dicken, bläulichen, gespannten Oberlippe blähten sich die Nasenflügel.

So erblickte er Josef, der seelenruhig vor sich hin musizierte. Neben ihm spreizte der bucklige, rabenschwarze Kopel mit dem geflickten Hosenknie und den zerfetzten Schuhen die langen, knochigen, bronzefarbenen Finger auf den Saiten des Basses, während auf der anderen Seite der junge Andres die großen schwarzen, hell umringten Augen vor Hingebung zur Zimmerdecke hinauf verdrehte.

Fritz betrachtete diese Szene in unsagbarer Rührung.

Doch jetzt muss ich Euch erklären, warum Josef ihm zum Frühling aufspielen kam, und warum Fritz davon so ergriffen war.

Lange Zeit zuvor war Kobus an einem Heiligabend in der Schenke zum Großen Hirschen gewesen, als draußen drei Fuß Altes Längenmaß, das in Deutschland – je nach Region verschieden – mit 25 bis 34 cm veranschlagt wurde. Schnee lagen. Im grauen Dunst des Schankraums umstanden die Raucher den großen gusseisernen Ofen. Manchmal bewegte sich der eine oder andere zum Tisch hinüber, leerte seinen Bierkrug und kam zurück, um sich still aufzuwärmen.

Man dachte an nichts Besonderes, als ein Zigeuner eintrat. Durch die Löcher in seinen Schuhen waren die nackten Füße zu sehen. Zitternd und mit traurigem Gesicht begann er aufzuspielen, und Fritz gefiel die Musik, denn sie kam ihm wie ein Sonnenstrahl vor, der durch die grauen Winterwolken dringt.

Hinter dem Zigeuner stand nahe bei der Tür im Dunkel der Wachtmann Fuchs Im Original Foux geschrieben. Ein des Deutschen nicht mächtiger Leser würde die Bedeutung des Worts im französischen Originaltext nicht erkennen und sich daher über diese Beschreibung des Stadtwächters lediglich wundern – auf Deutsch wirkt sie kitschig.. Sein Raubtierkopf lauerte, die Ohren waren aufgestellt, die Schnauze spitz, und die Augen leuchteten. Kobus spürte, dass mit den Papieren des Zigeuners etwas nicht in Ordnung war und dass Fuchs ihn am Ausgang erwartete, um ihn ins Kittchen abzuführen.

Da fühlte er sich herausgefordert. Er ging zum Zigeuner, legte ihm einen Taler auf die Hand, nahm ihn Arm in Arm und sagte zu ihm:

»Heute, am Heiligabend, bleibst du bei mir. Komm! So oder ähnlich sprach der etwa fünfzehnjährige Emile Erckmann an einem Weihnachtsabend zu einem bohémien namens Jôseph Almâni, den er aus dem Griff eines Phalsbourger Gendarmen rettete, vor den staunenden Augen der Mitbürger in sein Elternhaus führte und dort bewirten ließ ( Benoit-Guyod (s. Vorwort, Fußnote 4), S. 41).«

Inmitten des allgemeinen Erstaunens gingen sie hinaus, und einige dachten: »Dieser Kobus ist verrückt, eingehakt mit einem Zigeuner zu gehen. Das soll wohl ein Vorbild sein.«

Die Mauern entlang streichend folgte Fuchs ihnen. Der Zigeuner hatte Angst, festgenommen zu werden, aber Fritz sagte zu ihm:

»Fürchte nichts, er wagt nicht, dich anzufassen.«

Er führte den Zigeuner in sein Haus, wo der Tisch für das Christkindfest gedeckt war. Der Weihnachtsbaum stand in der Mitte auf dem weißen Tischtuch, in hübscher Ordnung umringt von den Küchlein mit weißem Zuckerstaub und dem Gugelhupf mit den dicken Rosinen. Drei Flaschen alter Bordeaux lagen in Tücher eingeschlagen zum Wärmen auf der Marmorplatte des Kachelofens.

»Katel, hol noch ein Gedeck«, sagte Kobus, während er den Schnee von den Füßen schüttelte. »Heute Abend feiere ich die Geburt des Erlösers mit diesem braven Mann, und wehe, wenn ihn jemand fortholen will!«

Die Magd ergänzte das Gedeck, und der arme Zigeuner setzte sich. Er war völlig verdutzt. Fritz füllte die Gläser bis zum Rand und rief:

»Auf die Geburt unseres Herrn Jesus Christus, des wahren Gottes der guten Herzen!«

Da trat Fuchs ein. Als er den Zigeuner mit dem Hausherrn am Tisch sitzen sah, verschlug es ihm den forschen Tonfall, und er sagte nur:

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Heiligabend, Herr Kobus.«

»Danke ebenso. Möchtest du ein Glas Wein mit uns nehmen?«

»Danke, ich trinke nie im Dienst. Nur – kennen Sie diesen Mann, Herr Kobus?«

»Ich kenne ihn und stehe für ihn ein.«

»Dann sind seine Papiere also in Ordnung?«

Mehr mochte Fritz nicht hören. Seine dicken Wangen wurden bleich vor Wut. Er stand auf, nahm den Wachtmann fest beim Kragen, warf ihn hinaus und rief dabei:

»Dich werde ich lehren, am Heiligabend einen ehrlichen Mann heimzusuchen!«

Dann setzte er sich wieder. Als er aber sah, wie sehr der Zigeuner zitterte, sagte er:

»Hab nur keine Angst, du bist bei Fritz Kobus. Sei so gut und trink und iss in Frieden.«

Er schenkte dem Zigeuner Bordeaux ein, und da er wusste, dass Fuchs trotz des Schnees immer noch draußen lauerte, wies er Katel an, dem Gast für die Nacht ein gutes Bett zu bereiten, ihm Schuhe und alte Kleider zu geben und ihn nicht ohne eine gute Wegzehrung fortzuschicken.

Fuchs wartete noch bis zum letzten Glockenschlag der Christmette und zog sich dann zurück. Und da der Zigeuner, der niemand anders als Josef war, sich frühmorgens davonmachte, geriet die Geschichte in Vergessenheit.

Kobus hatte sie auch schon vergessen, als er im folgenden Jahr an einem der ersten schönen Frühlingsmorgen im Bett lag und von der Tür seiner Kammer her plötzlich eine liebliche Musik hörte. Das war die arme Lerche, die er aus dem Schnee gerettet hatte und die sich mit dem ersten Sonnenstrahl bedanken kam. Auch der historische Jôseph Almâni (s. vorige Fußnote) besuchte Emile Erckmann im folgenden Frühling und spielte ihm ein Ständchen zum Dank für die Rettung ( Benoit-Guyod (s.o.,), S. 42 f). Ob Almâni in späteren Jahren wiederkam, ist nicht berichtet.

Seitdem kam Josef jedes Jahr zur selben Zeit vorbei, manchmal allein, manchmal mit einem oder zwei Kameraden, und Fritz empfing ihn jedes Mal wie einen Bruder.

Deshalb sah Kobus auch an jenem Tag seinen alten Freund wieder. Als der brummende Bass verstummte und Josef beim letzten Strich des Fiedelbogens die Augen hob, streckte Fritz die Arme durch die Bettvorhänge und rief: »Josef!«

Da kam der Zigeuner und umarmte ihn, lachte, dass man seine weißen Zähne sah, und sagte:

»Siehst du... ich vergesse dich nicht... das erste Lerchenlied ist für dich!«

»Ja... und es ist schon das zehnte Jahr«, sagte Kobus.

Sie hielten sich bei den Händen und schauten einander mit Tränen in den Augen an.

Dann sah Fritz, dass die beiden anderen mit ernster Miene warteten, brach in ein Lachen aus und sagte:

»Josef, reich mir meine Hose.«

Der Zigeuner tat es, und Fritz zog zwei Taler aus der Tasche.

»Das ist für euch beide«, sagte er zu Kopel und Andres, »ihr könnt im Drei Täubchen essen. Josef isst heute Mittag bei mir.«

Dann sprang er aus dem Bett, begann sofort, sich anzuziehen und sprach weiter:

»Hast du schon deine Runde durch die Wirtshäuser gemacht, Josef?«

»Nein, Kobus, noch nicht.«

»Also, dann beeil dich damit, denn pünktlich zu Mittag ist hier der Tisch gedeckt. Das gibt wieder einen Spaß! Der Frühling kommt, und wir werden ihn jetzt richtig einleiten. – Katel! Katel!«

»Dann gehe ich lieber sofort los«, sagte Josef.

»Ja, mein Lieber, aber vergiss nicht – Schlag zwölf!«

Der Zigeuner stieg mit seinen zwei Gefährten die Treppe hinab, und Fritz schmunzelte zur alten Magd hinüber.

»Tja, Katel, der Frühling ist da, und wir veranstalten eine kleine Schlemmerei... aber warte mal – zuerst müssen wir meine Freunde einladen.«

Er lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Ludwig! Ludwig!«

Unten kam gerade ein Knirps mit struppigem blondem Haarschopf vorbei, das war Ludwig, der Sohn des Leinewebers Koffel. Barfüßig blieb er im Schmelzwasser stehen und steckte die Nase in die Luft.

»Komm rauf!« rief Kobus ihm zu.

Das Kind beeilte sich, blieb aber mit scheuem Blick auf der Türschwelle stehen und kratzte sich verlegen am Nacken.

»Komm her und hör zu... ach richtig, hier erst einmal zwei Groschen.«

Ludwig steckte die zwei Groschen in die Tasche seiner Tuchhose und wischte sich mit dem Handgelenk unter der Nase, als ob er »in Ordnung!« sagen wollte.

»Geh und lauf zu Friedrich Schulz Im Originaltext Frédéric Schoultz. in der Zinnschüsselstraße und zu Herrn Steuereinnehmer Hahn Im Originaltext Hâan. im Hotel Zum Storchen... hörst du?«

Ludwig nickte kräftig mit dem Kopf.

»Sag ihnen, dass Fritz Kobus sie auf Schlag zwölf zum Essen einlädt.«

»Ja, Herr Kobus.«

»Warte doch, du musst auch zum alten Rebbe David gehen und ihm sagen, dass ich ihn gegen ein Uhr zum Kaffee erwarte Wie selbstverständlich berücksichtigt Fritz, dass ein Jude einem nicht-koscheren Essen fernbleiben muss.. Jetzt lauf!«

Der Bub sauste die Treppe hinunter. Kobus sah vom Fenster aus einige Augenblicke lang zu, als Ludwig die schlammige Straße hinauflief und dabei wie eine Katze über die Gossen sprang. Die alte Magd wartete immer noch.

»Hör zu, Katel«, sagte Fritz und wandte sich ihr zu, »du gehst jetzt auf den Markt und suchst das schönste aus, was an Fisch und Wild zu finden ist. Wenn's Frühlingsgemüse gibt, dann kauf's auch, egal zu welchem Preis. Hauptsache, es ist alles frisch und gut! Ich werde den Tisch decken und die Flaschen heraufholen, kümmere du dich also nur um die Küche. Jetzt aber fix, denn Professor Speck und all die anderen Leckermäuler der Stadt sind sicher schon zur Stelle und feilschen bereits um die feinsten Stücke.«


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