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Eigentümlich war es doch, so mußte Matthias denken, als er nun durch die mehr und mehr zunehmende Dämmerung zum Burgberge hinaus und den Hügel wieder hinunter zwischen den Feldern entlang ging, die schon ihre gelbe Frucht hatten hergeben müssen, … eigentümlich, wenn er sich die Tage vor seiner Konfirmation vorstellte.

Der Pastor hatte da eines Nachmittags die Segenssprüche an die werdenden Christen verteilt, indem er ihnen nur die Bibelstellen nannte, damit sie sie aufschreiben und hernach selbst in der heiligen Schrift nachschlagen sollten.

Zu Tedebus sagte er: »Psalm 119, Vers 71.«

Am andern Nachmittage mußten ihm die Knaben und Mädchen ein jedes seinen Spruch hersagen.

Tedebus erhob sich.

»Es ist mir lieb, daß du mich gedemütiget hast, daß ich deine Rechte lerne.«

»O nein, mein lieber Junge!« rief da der Pastor und sah auf seinen Zettel, »da habe ich mich versprochen, oder du hast dich verhört. Du solltest haben, warte mal …«

»Ach, Herr Pastor,« meinte der junge Tedebus, »kann ich nicht diesen Spruch behalten?«

»Wenn du was für dich darin findest, lieber Junge, – warum nicht?«

Ja, Matthias hatte gleich, als sein Auge auf dieses Psalmwort fiel, Neigung dafür in sich gespürt, und sein gottliebendes Herz ließ den Vers oft vor sich aufsteigen, wenn ihm etwas mißlungen war, wenn er einen Fehler gutmachen mußte, auch wenn ihm Menschen Unrecht taten. Alles begriff er als eine verdiente Demütigung, auf daß er nicht stolz werde und überall den Herrn sah, dessen Rechte er im Leben immer mehr kennen lernen sollte. Mußte ihm solche Demütigung, die ihn auf den Höchsten hinwies, nicht wert sein?

So war er, von seinem Konfirmationsspruche geleitet, über manches Schwere hinweggekommen. Er sah einen Zweck in allen Prüfungen und beschied sich stille vor Gott. Bis heute war es so gewesen.

Und heute? Ja, nun war ihm, – und das war das erste Gefühl, mit dem er dahinschritt, – war ihm die tiefste Demütigung zuteil geworden, die ein Mann überhaupt durchmachen kann. Er hatte sehen müssen, wie sein Weib, – also mit dem Kinde in Zweieinigkeit zusammen das einzige Heilige, was er auf Erden besaß, – von unreinen Händen angetastet wurde … sich, – und damit war er auf den untersten Grund seiner Erniedrigung gesunken, – antasten ließ!

Denn keine Macht auf Erden kann eine Frau, die es nicht will, dazu zwingen, daß sie es duldet, wenn ein Fremder den Arm um ihre Schulter legt.

Alle Arbeit, die Matthias an dieser Frau geleistet hatte, alle Liebe, die er auf sie häufte, selbst das Mutterbewußtsein, das sie ihm verdankte: nichts war genug gewesen, um ihm Finens Herz zu eigen zu machen.

Konnte er sich einer Versäumnis anklagen? Er sagte nein. Mit tausendfältiger Zartheit hatte er um sie geworben, war beglückt gewesen von jedem sachten Streicheln ihrer Hand, er hatte sie, ins ernste Alter tretend, zu seiner echten Lebenskameradin erhoben, wie er es für würdig erachtete, und so hatte er denn geglaubt, daß er sie aus der trüben, wolkenbedeckten Luft, worin sie seit Jugendtagen atmete, erlöste und erlöste auch für ihr ganzes Dasein von jenem ihm unverständlichen Schlaffen, das sie an sich hatte, so lange dieser … Mensch als Bräutigam in ihr Haus kam.

Er, Matthias, stand diesem Weibe gegenüber redlich rein da. Und dafür entehrte sie ihn, so daß er sich schämen mußte, selbst hier auf freiem Felde im Dunkeln zu gehen, denn wenn er auch keine Leute traf, die Sterne sahen ihn doch und blinkerten auf seine Schande herab.

Die Sterne. Matthias richtete scheu den Blick empor. Sie waren ja das Sinnbild der Ewigkeit, Augen des Höchsten.

Und alles, was da geschah in dieser Welt, Gutes und Böses, Gerechtes und Ungerechtes, es kam aus der Vaterhand dort oben.

Was sie dem Menschenherzen auferlegte, das mußte es tragen, tragen in dem fröhlichen, unzerstörbaren Glauben, daß jedem nur so viel Bürde zuteil wurde, als es auch aushalten konnte.

Vaterhand … Vaterfügung … selbst das Schlimmste.

Mancherlei hatte Matthias Tedebus schon erfahren. War sein Dasein äußerlich bisher auch ohne große Bewegungen verlaufen: er hatte doch vor Entscheidungen gestanden, wo es sich darum handelte, ob er noch ein durchaus ehrenhafter Mann bleiben werde, oder ob er nachgäbe und auch so würde wie die meisten anderen, so, wie es nach gemeiner Ansicht der Welt Lauf verlangte. Er hatte auch unedle Regungen in sich verspürt, ja, es war sogar vorgekommen, daß er wohl einmal einem Menschen weniger Vorteilhaftes wünschte, um selber einen Vorteil davon zu haben. Er hatte seine Kämpfe zu bestehen gehabt mit Begierden und dumpfen Dingen, vor denen ihm graute, – er hatte endlich auch dulden und sich fassen gelernt, wenn ihm jemand mit offenbarer Kränkung kam.

Für alles war ihm der Spruch bis jetzt gut gewesen: Es ist mir lieb, daß du mich gedemütiget hast, daß ich deine Rechte lerne.

Aber, was er bis zur Stunde erfahren hatte, das lag völlig ausgelöscht hinter ihm, das kannte er jetzt so wenig mehr, wie er etwa einen Wald kannte, durch den er ein einziges Mal bei Nacht und Nebel gepilgert war. Nur das Eine sah er: das Haupt seiner Frau dicht bei jenem Menschen und die Hand jenes Menschen um die Schulter seiner Frau.

Nun kam es darauf an: konnte er nach dieser schlimmsten aller Demütigungen jetzt zu den Sternen da oben, zu den Vateraugen, die ihn da – so sagt man ja wohl, – so mildig und tröstlich anschauten, – konnte er da hinaufrufen, selbst unter dem Drucke des Leides: ›Es ist mir lieb?‹

Da blieb Matthias plötzlich stehen und stampfte mit dem Fuße auf: Nein! Und Millionen Male nein! –

Das war der Augenblick, wo dieser fünfunddreißigjährige Mann mit seinem Kinderglauben brach. –

Eine Vaterhand sollte er darin erkennen, daß ihn sein Weib schmachvoll herabwürdigte und in seiner Mannesehre beschimpfte?

Lieb sollte es ihm sein?

Die Rechte Gottes sollte er daran lernen?

In diesem Schmutz?

Nie!

Denn wenn er jetzt nur eine Spur nachgab, sich nur im geringsten vor den Worten: Schickung und unerforschlicher Ratschluß und wie die schönen Sachen alle hießen, womit in der Kirche aufgewartet wurde, – wenn er sich davor nur im geringsten verbeugte, – so war es nicht nur seine Frau, die ihn erniedrigte, – nein, so war er selber es, der nichts auf sich gab, der sich unehrlich machte für Lebenszeit.

Gedemütigt war er worden … das weiß Gott. Aber der Teufel hole die Demut vor solchem Schlage!

Den Konfirmationsspruch konnte sein Pastor in Kappeln wiederkriegen. Matthias brauchte ihn nicht mehr.

Er war ein Mann, und wenn es wirklich von Gott kam, was er jetzt erlebte, so tat Gott …

Matthias wollte das Wort Sünde denken. Aber da überfiel ihn ein Schrecken.

Er sah am nächtlichen Himmel vor sich einen gewaltigen Finger warnend ausgestreckt. Sein Herz neigte sich nun doch, bei allem Mannestrotz, und war er sich eben noch im Bewußtsein seines eigenen lauteren Wandels groß und schier gottebenbürtig erschienen, so sank er nun in sich zusammen, und das Gefühl einer unsagbaren Kleinheit, Ödheit, Nichtigkeit schlich in ihn hinein und fraß an seinem Stolze.

Nur dazu, daß er sich willig demütigen ließ, zwang ihn auch dieses Gefühl nicht in die Kniee.

Mochte, was da gekommen war, Fügung sein, – mochte es denn in Wahrheit unerforschliche Ratschlüsse geben, vor denen man einfach schweigen mußte: einen freien Willen hatte der Mensch nach Gottes Schickung in der Brust, und es hieß diese kostbarste aller Gottesgaben elend zertreten, wenn der Mensch vor jeder Demütigung wehrlos und stumpf in Ergebung verfiel: Es ist mir lieb … daß ich deine Rechte lerne …

Lieb? – Nein, Gott! Und bis zum letzten Atemzuge, bis in die Ewigkeit hinein: Nein!

So war es Matthias Tedebus, als habe er bis dahin nur von Gott geträumt, von einem allmächtigen Wesen, das unendlich gütig auf die Welt herniederblickte und von dem man nur mit Inbrunst reden konnte: ›Er weiß, daß dir alle Dinge zum besten dienen.‹

Jetzt aber, so dünkte es den Buchbinder, war er auf einmal vom Schlafen ins Wachen gerissen worden und schaute Gott, wie er richtig war: in seiner Allmächtigkeit, schaffend, die ganze Welt nach einem geheimen und sicherlich weisen Plane regierend, aber dem einzelnen Geschöpfe gegenüber, wenn es auch noch so streng nach den Forderungen des Gewissens lebte: war Gott da nicht vielleicht mitleidslos und starr?

Also setzte sich Matthias zuerst mit seinem Herrgott auseinander, zu dem er vor dieser Stunde immer mit einem einfältigen und schlichten Vertrauen gebetet hatte, und den er auch jetzt nicht verlor, dessen Allgütigkeit und Gerechtigkeit aber verzerrt, als sähe er sie durch ein Glas voller Schlieren, vor ihm standen.

Und dann, als er mit seinem Herrgott soweit ins Reine gelangt war, wie er es nur vermochte, da wandte Matthias seine Gedanken wieder nach der Frau hin, die ihm – ob aus freiem Willen, ob als Werkzeug einer dunkeln Macht, was ging es ihn an? – diese glaubenverstörenden Zweifel ins Herz geworfen hatte.

Fine … seine Frau … von einem andern umarmt.

Matthias war über das, was er da hatte sehen und entdecken müssen, nicht eigentlich erschrocken.

Er spürte auch nun auf seinem immer weiter ausgedehnten Wege durch die Felder noch keinen Zorn gegen Fine. Sondern was da in seiner alten Junggesellenstube geschehen war, das war für Matthias etwas von dem völlig Unbegreiflichen, über das es sich gar nicht lohnt nachzugrübeln, weil man von vornherein weiß, daß man die Lösung doch nicht findet.

Dennoch lockt und nötigt einen gerade die Undenkbarkeit des Lösens, gerade dies unerklärbare Schwere, daß man immer und immer wieder ansetzt, um es zu ergründen.

Oben spielte die kleine Elli, oder sie war vielleicht schon ins Bett gesteckt, und unten stand Fine bei diesem Menschen und duldete oder wollte, daß er sie … Unmöglich!

Die – bei diesem Menschen, – das war nicht Fine gewesen. Das war von der Wurzel aus unnatürlich, so etwas von seiner Frau auch nur zu mutmaßen. Es war Lüge. Verleumdung.

Indes der Anwalt in Matthiassens Innerem, der so kräftig und überzeugungsstark für Josefine eintreten wollte, mußte in der Sekunde verstummen, denn des Richters Augen hatten selbst das geschaut, wessen die Frau da angeklagt war, und eines Richters Augen lügen und verleumden nicht.

Und genau wie vorhin wider Gott so stampfte Matthias setzt wider seine Frau auf den Boden: vor Gott aus Trotz, vor Fine aus Haß!

Aber das hielt nicht an. Den Menschen da bei ihr, – ach, er warf ihn mit Verachtung beiseite, und so blieb es; doch hassen … die Frau, die seines Kindes Mutter war? Nein. Das konnte ein Matthias Tedebus nicht, trotz alledem.

Schnell wie dieses Gefühl gleich einem unheimlich wachsenden, giftigen Pilze sich aufgebläht hatte, runzelte es auch ein, und bald erinnerte daran nur noch eine feuchte Spur, – und das war in Matthiassens Herzen die tiefe Wehmut, daß seine Fine ihm das antun konnte.

Aus der Wehmut der Schmerz, und aus dem Schmerz ein Aufstöhnen, das ihm endlich Tränen lockerte.

Er ließ sie, indem er hastig weitaus schritt, als solle er noch schnell heute abend ein Ziel erreichen, ungehindert auf die Erde tropfen. Noch hatte er, die Stadt im großen Bogen umkreisend, niemand gesehen. Die Häuser lagen zu seiner Linken als ein düsterer, hier und da mit mattbrennenden Lichtern besteckter Haufe.

Jetzt hub die Turmglocke aus: zwei kleine und dann sieben kräftige Schläge.

Da erwachte in Matthias unter seinem Kummer das Pflichtbewußtsein. In der Druckerei warteten die Arbeiter darauf, daß er ihnen den Wochenlohn zahlte und sie nach Hause entließ. Allsobald, zumal ihm die Tränen Linderung verschafft hatten, kehrte sich der Buchbinder Tweetenhorn wieder zu. Er kam an der Mühle vorbei, ging durch den Hohlweg abwärts, … sieh, da huschte von unten herauf eine Gestalt. Wie war ihm? Hatte er nicht in fernen, vergangenen Zeiten etwas Ähnliches, nein, eben dasselbe gesehen? War er nicht schon einmal dieser Gestalt in diesem Hohlwege eilends entgegengegangen?

Wahrhaftig: jetzt erkannte er sie, – die Zierlichkeit – ihr Schweben – das feine Wiegen des Kopfes: Lilly.

Sie hatte furchtsam nach dem Wanderer da oben hingeschaut und drückte sich zur Seite an die Wand des Weges, daß der Sand von ihrem Ärmel gestreift wurde und herabrieselte.

Nun waren sie beieinander. Matthias grüßte. Lilly fuhr zurück und stand still, so daß er auch nicht anders konnte, als seinen Fuß hemmen. Um die kleine, sichtlich erschrockene Frau nur zu beruhigen, indem sie seine Stimme vernahm als die eines Menschen, der ihr sicher nichts Arges tat, fragte er:

»So spät noch, Frau Beowulf?«

Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, da zuckte es ihm durch den Sinn: das war ja das Weib dieses Menschen, den er zwar mit Verachtung auf die Seite geworfen hatte, der aber doch sehr unheilvoll mächtig in seinem Leben geworden war.

Das war das Weib. Hier standen sie sich nun gegenüber, die beiden von diesem Menschen Betrogenen.

Nun konnten sie sich ihr Leid klagen, sich zu trösten suchen.

Aber nein, dafür wollte er sich denn doch zu gut fühlen, als daß er jemand sein Elend beichtete, – und erst recht nicht dem armen Weibe des Betrügers.

»So spät?«

»Ja,« entgegnete Lilly. Sie war nahe bei ihm, sie streckte die Hände aus, als wollte sie an seine Brust flüchten, um vor Unglück bewahrt zu werden. »Ich will nach Haus.«

»Geht der Weg hier hinauf?«

»Ich meine, wo ich früher zu Hause war.«

Gleich schlug sie die Hände vor das Gesicht und schluchzte.

»Herr Tedebus, es ist zu, zu schrecklich da unten bei mir! Ich komme nie wieder. Jetzt eben – mein Mann –«

Matthias schüttelte sich: »Ach, lassen Sie doch, Frau Beowulf! Was soll ich, was soll überhaupt jemand anders davon etwas wissen? Eheleute müssen alles für sich alleine tragen.«

»Ich brauche aber Menschen, die Mitleid mit mir haben. Sie waren doch einmal so gut zu mir, Herr Tedebus! Jetzt eben – mein Mann kam nach Hause, – ich weiß nicht, wo er gewesen ist, – furchtbar aufgeregt … da lag eine Kleinigkeit im Wege, und da hat er mich halbtot geschlagen!«

Sie fiel zitternd, vom Schluchzen erstickt, in sich zusammen.

Es half Matthias nichts: wollte er sie nicht auf die Steine stürzen lassen, so mußte er sie auffangen und an sich halten.

Ihr blasses Antlitz war hinten über gesunken, ihre Augen waren geschlossen. Als sei sie bewußtlos, so ruhte ihre ganze Last auf ihm. Allmählich sah sie wieder um sich, erst fremd, dann voll erwachend auf Matthias hin und flüsterte ihm zu:

»Ja, so gut waren Sie. Wissen Sie noch? Unsere Stunden hier auf diesem Wege? Das einzige Mal in meinem Leben, daß ich glücklich gewesen bin.«

Matthias dachte: am Ende ich auch.

Aber er verriet sich nicht. Er suchte nur, die Weinende empor zu richten, damit sie auf ihren Füßen Halt fand, aber Lilly ließ sich wie ein müdes oder launisches Kind, das durchaus getragen werden will, immer von neuem auf ihn fallen, jammerte über ihr Elend und klagte sich an, daß sie einst nicht so stark gewesen sei, ihrem Vater zu trotzen und ihrer Liebe, ihrer einzigen, wahren, nie vergehenden Liebe zu folgen.

Matthias sprach ruhig auf sie ein: »Von den alten Zeiten zu reden, was hat das für Zweck, Frau Beowulf? Sie müssen sich nur für Ihre Kinder gesund erhalten. Eine Nacht gut schlafen. Dann sieht die Welt morgen schon wieder sonniger aus.«

Lilly lauschte ihm. Die vertraute Stimme, die einst so viel Liebes für sie wußte, durchrieselte sie wohlig, und je länger er sprach, desto weniger zitterte sie und desto geduldiger schien sie wirklich zu werden. Sobald er aber schwieg, begann ihr Zittern und ihr Geklage abermals, und plötzlich, in einem Krampf aus tiefster Seelennot aufschreiend, warf sie ihm beide Arme um den Nacken, preßte sich mit aller Gewalt an seine Brust und drückte ihm den Mund so hart auf seine Wange, daß er ihre Zähne hindurchspürte.

»Matthias! Du!«

Da riß der Buchbinder ihre Arme mit so schonungsloser Kraft von sich herab, daß sie wiederum, diesmal aber mit einem heftigen Wehlaut körperlichen Schmerzes, aufschrie, und stellte sie, ihre Handgelenke umklammernd, einen langen Schritt weit von sich hin. Dann ließ er sie los, auf die Gefahr hin, daß sie zusammenbrach.

»Danke, Frau Beowulf. Von so was hab' ich heute schon gerade genug gehabt. Gute Nacht!«

Waren denn alle Frauensleute heute abend toll auf Manner?

Diese Dinger! An nichts anderes dachten sie! –

Matthias eilte zu seinen Arbeitern, zahlte ihnen reichlich aus und ließ sich vom Lehrling sein Abendbrot aus dem Hause holen.

Dabei mochte sich ja seinetwegen Fine ihr Teil denken, Frau Clasen konnte es aber weiter nicht auffallen, denn es geschah oft so am Sonnabend, wenn Matthias seinen Wochenabschluß machte.

Und nun arbeitete er, als er allein in der Druckerei saß, mit schärfster Anspannung in seinen Büchern herum, malte jede Ziffer auf das Peinlichste hin und zog jeden Strich auf das Genaueste mit dem Lineal. Es war ein wahrer Staat, wie solche Seite in seinen Berechnungen aussah!

Gott sei Dank! Diese Zahlen und die Summen, die man daraus ziehen konnte und mußte, das war doch was Echtes, Verläßliches, zu Begreifendes. Die standen klar auf dem Papier und sagten die feste Wahrheit.

Matthiassens Kopf glühte vor Eifer. Die Freude über die Sauberkeit seiner Schrift und vor allem darüber, daß er wieder so bedeutende Zahlen zu seinen Gunsten aus der Kladde in die Rubriken seiner Bücher einfügen konnte, nahm ihn ganz ein.

Hier war Fleiß, Tat, Männlichkeit, Vorwärtskommen, – dabei wollte er das kümmerliche, weichliche Wesen, wie es sich heute zu seinem Leide ihm dargestellt hatte, ganz vergessen.

Ganz? Nun, es gelang ihm solches Vergessen wenigstens für Minuten. Bis auf den dumpfen Druck vor der Brust fühlte er sich frei. –

Auf einmal klopfte etwas draußen an die Tür der Buchdruckerei. Matthias hatte die Gewohnheit, den Schlüssel herumzudrehen, wenn er so für sich arbeitete.

»Ja?«

Keine Antwort, nur ein erneutes, zaghaftes und doch dringendes Klopfen.

Matthias stand auf, öffnete. Draußen war kein Licht. Von drinnen gab die Lampe mit ihrem Schirm wenig Schein.

Matthias erblickte zuerst nur eine Frauengestalt, völlig in ein Umschlagetuch gehüllt. Seine Schwiegermutter?

»Fehlt Elli was?« war seine Frage.

»Nein, Matthias.«

Ach so. Seine Frau. Sie stand zögernd auf der Schwelle.

»Elli schläft ganz fest, Matthias. Darf ich hineinkommen?«

»Bitte. Das versteht sich von selbst.«

Er trat zurück. Schade. Mit dem ungestörten Rechnen war es nun vorbei. Nun fing die Jammerei wieder an.

Er zeigte so halbwegs auf einen Stuhl. Dann wollte er wieder an seinen Schreibtisch, aber er besann sich. Irgend etwas mußte jetzt doch geredet werden. Also ging er auf und ab, während Fine hinten an dem Balken stehen blieb, der die alte, ausgebogene Decke des niedrigen Zimmers stützte. Endlich machte Matthias Halt:

»Nun?«

»Heute nachmittag, – ich habe nicht so viel Schuld, als du wohl meinst, Matthias.«

»Ich meine allerdings, daß eine Frau immer und die allermeiste Schuld daran hat, wenn jemand anders so mit ihr zusammensteht.«

»Als er kam, wollte ich nach dem Laden. Da drängte er mich förmlich in die andere Stube hinein, und dann … du weißt ja doch, Matthias, wie er früher …«

»Ja, ich weiß, wie erbärmlich er an dir gehandelt hat.«

»Er hat mich dafür um Verzeihung gebeten. So schlecht, wie du immer denkst, ist er nicht.«

»Das sagst du?«

»Ja, ich. Was er mir auch getan hat. Hätte er bloß jemand, der ihm den Halt gibt.«

»Ein Mann muß sich selber halten.«

»Ja, ein Mann wie du kann das auch. Mancher hat aber einen andern Menschen nötig, der ihn stützt und versteht, und wenn ihm der fehlt …«

»So darf er ein Lump werden?«

»Darf nicht, aber …«

»Er wird einer, nicht wahr? Und macht andere mit dazu! Der Mensch ist öfters bei dir gewesen, als du mir verraten hast.«

»Da ist nichts geschehen, was ich mir vorwerfen muß. Heute nachmittag, – das war das einzige Mal, daß er mich angerührt hat. Ohne meinen Willen.«

Matthias rückte den grünen Schirm von der Lampe, so daß das Licht voll auf Finens Gesicht fiel. Er schaute sie lange an und prüfte sie bis auf den Grund ihrer Seele.

»Fine, denk' an unser Kind!«

Sie hielt seinen Blick aus und errötete nicht, sondern sagte nur:

»Bei Gott! Das einzige Mal!«

»Wenn du so sprichst, gut. Aber dann hab' ich ja ein verdeubeltes Pech oder –« und er trat nahe zu seiner Frau heran, – »was dich angeht, vielleicht das größte Glück gehabt, daß ich gerade darüber zugekommen bin!«

»Er war so verzweifelt über alles, was ihm verkehrt geht. Er will ein Ende mit sich machen.«

»Das erzählt die Sorte immer, wenn sie sich festgerannt hat. Nun? Und dann?«

»Dann erinnerte er mich an damals. An unsere Brautzeit. An unsere Touren über Land. Überhaupt an alles.«

Matthias wurde ungeduldig. »Und so weiter. Und zuletzt?«

»Das kam mir alles so mit Gewalt lebendig herauf. Matthias, du magst es nun glauben oder nicht: ich hab' es nicht gemerkt, als er so nahe bei mir war!«

Matthias fuhr auf: »Siehst du? Das wollte ich bloß hören. Es war dir so einfach das Natürliche, daß er dich in den Arm nahm, wie?«

»Das hat er nicht getan!«

»Aber Hand hat er an dich gelegt! Für die feinen Unterschiede bin ich nicht bei meiner Frau! Gesteh' es rund heraus: natürlich?«

»In dem Augenblick hab' ich mir nichts dabei gedacht.«

So schwer Matthias unter dem Geständnis litt, wenigstens das Eine empfand er als Wohltat: er hatte nicht gegen Lügen anzukämpfen. Das stimmte ihn milder.

»Du mußt ihn doch sehr lieb gehabt haben, Fine, so lieb, daß immer noch ein Rest davon in dir sitzt, den ich nicht ausgelöscht habe und den unsere Elli nicht auslöscht.«

»Es war alles weg, Matthias, aber in der letzten Zeit, – kaum, daß ich dich noch beim Essen sah. Ich wußte gar nicht mehr, zu wem ich eigentlich gehörte. Denn zu Mutter und Großmutter will ich nicht mehr gehören, das halt' ich nicht mehr aus. Das dank' ich ja eben dir, wenn ich von den beiden los bin. Aber nun: Geschäft und immer nur Geschäft. Da hab' ich manchmal gedacht, ich bin dir schon zu alt und zu … Aber das ist nicht so. Ich bin eben in mir viel jünger, als du meinst, und deshalb … ja, gewiß, ich bin nicht so gewesen, wie ich sein sollte, aber,« sie senkte das Haupt und sagte leise, »zu wenig um mich gekümmert hast du dich doch, Matthias.«

»Hm.«

Matthias setzte sich an seinen Schreibtisch und legte die eine Hand über die Augen.

Er war sich bewußt, daß er sich der Frau dort ganz zu eigen gegeben hatte. Als ihm heute nachmittag, wenn auch auf andere Weise, das begegnete, was sie erlebt hatte, daß nämlich das Menschenkind, dem er ehemals sein Herz schenken wollte, ihn an die Stunden seiner ersten Liebe erinnerte, – da war auch nicht ein Hauch von Zweifel oder Sehnsucht in ihm aufgestiegen, im Gegenteil: als ihn die Arme umschlangen, die er einst so gern um seinen Nacken fühlte, da hatte er sie als etwas ihm beinahe häßlich Fremdes abgeschüttelt.

Er also, er war nicht dazu geschaffen, Stümpfe einer versunkenen Liebe in sich aufzubewahren, – Stümpfe, die wohl übergrünt wurden, die aber doch nicht so vermoderten, daß die Phantasie nicht, wenn die Gelegenheit sich bot, noch irgend etwas, und war es auch nur ein Schloß aus allerhand Nebeln, darauf erbauen konnte, – eine täuschende Erinnerungsfatamorgana, worin sich das für Augenblicke der strengen Wirklichkeit entrückte Herz in einem falschen Empfinden des Befreitseins umschaute.

Jene Frau aber, – sie war eben von anderer Art, sie war nicht er selber. In ihr war die alte Liebe eben, – vielleicht ja in Wahrheit mit deshalb, weil er, Matthias, immer nur Geschäft und Geschäft im Kopfe hatte, – noch einmal mächtig geworden, obwohl sie einem Unwürdigen galt, ja, obschon diese Frau selbst genau wußte, daß sie sie einst einem Unwürdigen geschenkt hatte. Hingen nicht Frauen oft gerade am Unwürdigsten mit einer seltsamen Zähigkeit?

Was wollte er ihr vorwerfen? Daß sie sich heute nachmittag von dem zudringlichen Menschen hatte anrühren lassen?

Schließlich, wenn man es bei Licht besah, so war das doch wohl nicht sowas Ungeheuerliches, wenigstens nichts, worüber er ihr hier nun noch lange einen großen Auftritt machen konnte, zumal da sie sich selbst unrecht gab und zu ihm kam mit diesen Reden, die doch alle auf eine Bitte um Vergebung hinausliefen.

Auf diese Weise suchte Matthias Tedebus der Mutter seines Kindes gegenüber die mancherlei empörten und verächtlichen Regungen, die in ihm herumflackerten, zu besänftigen. Er wollte sich fern halten von aller Übertreibung, wollte nur das sehen, was in der Tat da war. Und es gelang ihm, dank der großen Kraft seines Gemütes, seine Bitterkeit und den Anflug von Hohn, womit er Fine, da er sie vor seinem geistigen Auge in der Begleitung des Zahnarztes erblickte, bisher behandelt hatte, nun nach und nach zu dämpfen. Trotzdem aber hatte der Arm, den er noch immer um Finens Schulter sah, über den an sich am Ende kleinen und einzelnen Fall hinaus, eine schwere, weit in sein gesamtes Dasein hineinreichende Bedeutung als ein Sinnbild dafür, daß jene Frau … bei all seiner Liebe und obschon sie die Mutter seines Kindes war, … doch im Grunde zu denen da draußen gehörte, die bei ihm nicht allzu hoch im Ansehen standen, und daß es ihm nicht gelungen war und nun auch nicht mehr gelingen würde, ihre Seele mit der seinen in eine unteilbare Einigkeit zu verschmelzen.

Zorn war hier also eigentlich nicht am Platze. Mehr: Schmerz und vor allem Verzichten …

Die da draußen … die mit ihrem Fieber nach allen möglichen Dingen, … nein!

Damit ließ Matthias die Hand wieder von den Augen herabsinken. Er, Matthias Tedebus, verstand was anderes unter Liebe!

»Nicht um dich gekümmert, Fine? Arbeiten wir denn nicht zusammen? Bin ich nicht immer von ganzem Herzen gut gegen dich gewesen? Das andere, Fine, das, was dieser Mensch gewiß viel besser versteht als ich und womit er dir damals und auch jetzt wieder den Kopf verdreht hat, ja, ist das denn wirklich so wichtig im Leben? So wichtig, daß du mich darum auch nur für eine Sekunde vergessen durftest? Daß du nicht mal an deinen Ruf dachtest? Nun setzt sich dieser Mensch ins Wirtshaus hin und prahlt mit seiner Heldentat! Und es hätte dir auch wohl aufdämmern können: er hat selber eine Frau, und auch der hast du, wenn sie auch schon Kummer gewohnt ist, das gebrannte Herzeleid angetan, weil du den Menschen mit seinen verlogenen Redensarten überhaupt anhörtest und ihn nicht schlankweg zur Tür hinauswiesest. Mann und Weib, Fine, und nichts Drittes! Und um deinetwillen rede dich nicht in Entschuldigungen hinein. Nimm auf dich, was geschehen ist. Ich trag' es mit dir. Das kannst du glauben. Ob ich will oder nicht. Nun laß das Weinen. Nun wollen wir nach Haus.«

Er löschte das Licht. Fine fand sich im Dunkeln nur tastend zurecht.

Da nahm Matthias die Hand seiner Frau und geleitete sie vor das Tor. Und auch dann ließ er die Hand, obschon sie schlaff in seiner lag, nicht fahren, sondern hielt sie den Heimweg über fest und drückte sie dann und wann, wie um seiner Frau Trost und Mut zu spenden.

Gering nur war es, wie Fine diese warme Freundlichkeit erwiderte. Aber das billigte Matthias. Sie hatte ja alle Ursache, bescheiden und scheu zu sein.

Zum kräftigen Händedruck gehört ein gutes Gewissen.

Nun, er wollte sich, wofern sie nur selbst an ihrer Seele arbeitete, redliche Mühe geben, damit diese Frau, die er nicht als halben, geduckten Menschen an seiner Seite sehen mochte, sich's bald wieder zutrauen durfte, ihm tüchtig frei und rechtschaffen die Hand zu reichen.

Er wollte das, denn seine Liebe zu Fine war ebensowenig zerstört worden wie seine Liebe zu Gott, wenn auch etwas anderes, was er noch nicht genauer nennen konnte, durch das Ereignis in ihm gelitten hatte.

Er wollte es, – und das war beinahe der ernsteste Grund, – damit sein Kind eine fröhliche, aufrechte Mutter hatte!

So kam Matthias, während er schweigend neben seinem Weibe durch die leeren Straßen hinschritt und sich alles so klar zurechtlegte, wie es seiner Natur entsprach, zu einer Art von Frieden und gelangte sogar zu einem Schimmer von jener Freudigkeit, die den echten Mann immer erfüllt, sobald er eine Pflicht, eine Aufgabe, für die es sich lohnt zu ringen, vor Augen sieht.

Aber als er mit Fine vor dem Hause stand, dessen oberer Teil jetzt völlig hinter den Bäumen verschwand, da kam ihm auf einmal, wie das bei guten und bösen Tagen oft geschah, sein Lieblingschoral in den Sinn:

»Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet …«

So? mußte Matthias denken.

Ja. Mochte sein.

Aber warum denn bloß gerade hierher?

*

Das Unheil, das er bei Tedebuffens angerichtet hatte, sollte denn so ziemlich das letzte sein, was der schöne Beo in Tweetenhorn ausübte.

Im Laden ließ er sich nicht mehr sehen. Um ihn fern zu halten, hätte es nicht erst des Briefes bedurft, worin der Buchbinder, – dieser ungebildete Mensch! – ihm in plumpen Ausdrücken das Haus verbot und die Bekanntschaft aufkündigte. O nein! Ein Mann wie der schöne Beo war viel zu zartfühlend und hatte eine viel zu ausgeprägte Kavaliersehre, als daß er es ertrug, sich gerade dann in dieser rücksichtslosen Weise überraschen zu lassen, wenn sein magnetischer Blick und seine vibrierende Stimme anfingen, ihre Wirkung auf ein Frauenherz zu tun.

Die Frauen aber, wenn man sich nach solchem Zusammenstoße mit den Ehemännern doch noch überwand und wiederkam, die trieften bloß von Sentimentalität, – und das noch dazu für nichts und wieder nichts.

Nein, für so etwas war der schöne Beo nicht zu haben. Er machte mit den kleinen Leuten da jenseits des Marktes ein für allemal seinen Schluß.

Und überhaupt! So wie ihm schon der Kopf stand, da konnte er sich mit solchen Geringfügigkeiten gar nicht mehr abgeben.

Es war eben seine unversiegliche Jugend gewesen, die ihn immer wieder mal verleitete, irgendwo Huldigungen anzubringen und dafür süßen Lohn einzuheimsen.

Eigentlich hatte er ganz was andres zu bedenken. Der Leichtsinn mußte aufhören. Diese Aktionäre! Was wollten die Menschen?

Beowulf konnte noch so oft sagen: »Stecken Sie mehr Geld hinein, meine Herren, dann werden wir was,« – diese Dummköpfe wollten immer gleich bare Münze sehen und liefen sogar zuletzt aufs Gericht, weil sie den Badedirektor als Betrüger hinstellten.

O, der kam ihnen aber! Erst sollten sie ihm einmal nachweisen, daß er nicht seinen guten Glauben an das Sanatorium hatte! Das vermochten sie nicht, und das konnte auch kein Richter von der Welt. Und dann: für sich hatte er nicht mehr gebraucht, als zu Gunsten des Unternehmens unumgänglich notwendig war.

»Meine Herren! Die Spesen! Bedenken Sie: ich darf doch unterwegs nicht in der Herberge zur Heimat absteigen. Und ich muß einfach erster Klasse fahren. Da sitzen die Grafen und die New-Yorker Milliardäre, und dann laß ich mal so ganz eben unversehens unsern Prospekt aus der Tasche gleiten. Was ist das? fragen die. O, das? Das kennen Sie nicht? Kurbad Tweetenhorn … energischer Brunnen … Luft … reines Ozon … Promenadenkonzerte … Jeu … Flirt … Nun, meine Herren? Kennen Sie einen andern Weg, um die Grafen und die spleenigen Jankees einzufangen? Dann machen Sie's doch besser!«

Entgegen seinen krampfhaften Reden aber und seinem rasenden Kampfe wider den Untergang wurde die Stellung des Badedirektors von Monat zu Monat unhaltbarer.

Er fühlte es: da mußte irgend eine Kraft sein, die ihm die Erde unter den Füßen weg grub. Er konnte den unsichtbaren Feind nicht ausfindig machen, soviel er auch suchte, – um so schrecklicher und zerrüttender aber wirkte diese heimliche Macht.

Gerüchte wurden über ihn ausgesprengt, von denen er nur bisweilen eine Andeutung zu hören bekam, denn man hütete sich wohl, ihm offen ins Gesicht zu sagen, was man wußte oder doch zu wissen glaubte.

Seine Vergangenheit, – das spürte er deutlich, – war von irgend einer Seite durchforscht worden, und die Ergebnisse dieser Forschungen wurden nun benutzt, um ihn zu vernichten.

Ein verzweifeltes Ringen im Dunkeln, bis ihm denn auf einmal alles ins grelle Licht getaucht ward.

Wieder war Lilly eines Tages vor den Schlägen, mit denen er sich an ihr austobte, aus dem Hause gelaufen. Diesmal aber nicht zu ihrem Vater, sondern zu Arthur Schenk, bei dem sie sich verborgen hielt.

Die alte Katharine kam immer zur Stadt, um nach den Kindern zu sehen, und auf die Art erfuhr Beowulf endlich, daß seine Frau nicht in der Mühle sei.

Gleich erriet er den Ort, wohin sie geflüchtet war.

Längst hatte es Schenks wegen die heftigsten Auseinandersetzungen zwischen ihm und Lilly gegeben, denn wie alle Männer, die sich alles gestatten, so war auch der schöne Beo gegen das eigene Weib und gegen jeden, der Lilly nur ansprach, von fürchterlicher Eifersucht. In seinem von den Aufregungen und Bedrängnissen verwirrten Kopfe malte er sich das Schrecklichste aus.

Er stürzte hinaus … zu Schenk.

»Wo ist meine Frau?«

»Die bleibt bei mir, bis du vernünftig geworden bist.«

»Ich will meine Frau haben! Ich hole sie mit der Polizei!«

»So, mein Junge?« meinte Schenk, »nun will ich dir mal was sagen, weil du gerade von der Polizei redest. Wenn du mir nicht ganz muckstill nach Hause gehst und wenn du es noch einmal wagst, meine Cousine auch nur scheel anzusehen, dann geh' ich mal zur Polizei, verstehst du? und erzähl' ihr, daß der Heilgehülfe und Masseur Mar Meier, der auf merkwürdige Art und Weise zu den Papieren eines Zahnarztes Beowulf gekommen ist und noch für frühere Großtaten in Glückstadt allerhand kleine Reste absitzen soll, hier dicht nahe bei wohnt. So! Ich denke, jetzt hast du dein Brausepulver weg, nicht wahr?«

Der arme Mensch, der nach diesen Worten sich erst wie wahnsinnig am Bart zerrte, dann die Hände über dem Kopf zusammen krampfte und irgend einen ganz unverständlichen Laut hervorstieß, – das war wahrlich kein schöner Beo mehr.

Man sagt wohl, ein toter Körper könne lange Jahre durch irgend welche Umstände den Schein blühenden Lebens bewahren, sobald ihn aber eine Hand berührt, zerfällt er in Moder und Staub.

Also ging es auch mit Lillys Mann. Sein Leben, sein Selbstbewußtsein und sein Wille, die anderen zu bezwingen, hörten plötzlich auf.

Eine morsche Masse, die nicht einmal Kraft und Lust besaß, Arthur Schenk um Schonung anzuflehen, schleppte sich über den Markt hin.

»Der tut dir nichts mehr,« sagte Schenk zu Lilly.

»Aber was hast du ihm –?«

»Laß, mein Kind. Männersachen. Freu' dich, daß du jetzt obenauf bist. Briefe schreiben ist doch eine nützliche Erfindung.« – – –

In der Nacht: »Feuer! – Das Sanatorium! – Muß angesteckt sein, rundherum! Keine zehn Spritzen können den alten Kasten retten!«

Hui, prasselten die Funken von den Holzveranden und von dem ganzen lockeren Gefüge in die Luft!

Der Josefinenbrunnen sollte zum Löschen gebraucht werden. Aber nicht einmal dazu war er tauglich. Er floß zu dünn.

Die Aktionäre standen herum und sahen ihr Werk untergehen.

»Immer noch besser,« meinte der eine oder der andere, »als wenn es langsam verfault.«

Mit Müh' und Not wurden der Ökonom und der Arzt ins Freie gezogen, dann sorgte man nur noch dafür, daß die Mauern nach innen stürzten, und ließ im übrigen die Ruine ruhig ausglimmen.

Zu verlieren war da nichts mehr, – es war ja alles schon verloren.

Aber wo hielt sich denn der Herr Badedirektor auf? Hier wäre doch ein Platz gewesen, wo er immer noch hätte kommandieren können.

Nicht zu sehen. Auch im Hause – nicht zu finden. Selbst in der ›Post‹ saß er nicht. Der war sicher wieder erster Klasse auf Geschäftsreisen. Aber kein Schaffner hatte ihm die Wagentür geöffnet.

Ein alter Bauer, der frühmorgens zur Stadt kam, war der Meinung, er sei ihm auf der Eutiner Chaussee begegnet. Aber gewiß konnte der Bauer es auch nicht sagen, denn es war noch zu dämmerig gewesen.

Verschwunden. – »Oder was man so nennt: in die Luft befördert,« sagte Arthur Schenk.

Und verschwunden blieb der schöne Beo für immer. Kein Mensch hat in Tweetenhorn wieder was von ihm gesehen oder was Bestimmtes von ihm gehört.

Möglicherweise ist er der Reisende gewesen, von dem vier Wochen nachher die Zeitungen schrieben, daß er bei der Überfahrt nach Amerika ins Wasser gestürzt und ertrunken sei. Ob durch Zufall oder mit Absicht, – wer wollte das entscheiden? Aber einen Bart wie der schöne Beo hatte dieser Reisende, von dem übrigens gar keine Papiere aufgefunden wurden, nicht getragen, und sein Haar war schwarz gewesen. Sonst konnte es mit der Beschreibung wohl stimmen. Insbesondere war es bemerkt worden, daß der Verunglückte gern das Wort brillant in einer – wie soll man sagen? – recht auffallenden Betonung gebrauchte.

Kurzum: genaue Nachricht über den schönen Beo ist nicht mehr nach Tweetenhorn gedrungen, als aber ein Jahr vergangen war, da betrachtete man Lilly als seine Witwe. Und sie tat das auch. Dem Müller blieb nichts andres übrig, als seine Tochter und ihre Kinder ins Haus aufzunehmen, denn alles, was der schöne Beo besessen hatte, wurde von den Gläubigern verkauft.

Der Müller fluchte und tobte über das Familienunglück, das ihn, den braven Mann, unverdientermaßen getroffen habe.

Die alte Katharine aber hielt schützend die Hand über der jungen, allmählich wieder zu einem Reste ihrer früheren Hübschheit aufatmenden Frau, und den Kindern war die Magd Großmutter und Mutter zugleich.

Das tat not, denn als sich Lilly nur erst ein bißchen von der bösen Zeit erholt hatte, da fing sie davon an, es sei doch in der Mühle und in ganz Tweetenhorn eigentlich recht langweilig, und in Lübeck, bei der guten Tante, würde sie erst wieder zu Kräften kommen und auch die Zerstreuungen haben, die ihrem Gemüte sehr wohl tun müßten.

Sie reiste nun oft nach Lübeck und vergaß des Leides, das die vorigen Jahre ihr brachten. Die flotten jungen Herren vom Gericht und die Offiziere schworen ihr, sie sei jetzt zehnmal reizender, zehnmal pikanter denn als junges Mädchen.

Das vernahmen klein Lillys rosige Ohren mit Freuden, ihre großen Augen bekamen neuen Glanz, und ihre weichen Hände ließen sich gern bald an diese, bald an jene Lippen drücken.

Arthur Schenk ermahnte seine Cousine freilich, – selbstverständlich in durchaus uneigennütziger Weise! – daß sie sich doch vor den Windhunden in acht nehmen sollte. Zu solcher Mahnung war er ja auch gerade der rechte Mann. Aber Lilly bedurfte ihrer gar nicht.

Ihr Herz hatte viele Kammern zu vermieten, und jeder, der ihr nahte, bekam nur eine davon.

Das ganze Haus, so daß er ihres Herzens Herr und Besitzer wurde, gönnte sie keinem mehr.

*

Des Buchbinders Lebensstrom hatte einen tiefen Fall getan. Nun rann er lange in einer Ebene gemächlich weiter.

Matthias war durchaus nicht mehr der fröhliche Mensch von früher. Strenger als ihm seine, gegen die Vierzig neigenden Jahre eigentlich erlaubten, hatte er sich in Ernst gehüllt. Aber darum achtete man ihn in der Stadt nur um so höher, und in seinem Hause, – nun, es war ja alles wohl und in Ordnung.

Fine gab an Kräften her, was sie besaß, um die Zeit, wo sie nicht so ganz bei ihrem Manne gewesen war, in ihrem und seinem Gedächtnis auszulöschen, und sie erfuhr nie eine Unfreundlichkeit von Matthias.

Als es dann beinahe zur Gewißheit geworden war, daß jener Mensch die Reise auf Nimmerwiederkehr angetreten hatte, da fühlte Matthias, daß ihm leichter ward, denn nun brauchte er wenigstens nicht mehr zu befürchten, daß im Wirtshaus über seine Frau geredet wurde. Und als zuletzt das Gerücht von dem Reisenden kam, der über Bord gestürzt und ertrunken war, da merkte Fine noch einmal, daß doch etwas in ihr lebte, was mit Harry Beowulf zusammenhing, und wenn sie ihrer Natur gefolgt wäre, so hätte sie ihm ein paar Tränen geweiht.

Aber sie bezwang sich tapfer und ging zu ihrem Kinde.

Wirklich, es gab keine ehrlich friedsamere Alltagsehe als die zwischen den Buchbindersleuten.

Wer spähte auch in Matthiassens Herz hinein? Und wer, wenn er noch so genau gespäht hätte, wäre imstande gewesen zu erkennen, daß Matthias in seinem Allerinnersten einen Gram darüber barg, weil ihm, so einträchtig er mit seinem Weibe lebte, doch das Größeste, von ihm Ersehnteste: das volle Einssein mit seinem Weibe, versagt geblieben oder mißlungen war? Über diese Enttäuschung kam Matthias nicht hinweg, wollte er nicht hinwegkommen, aber er ließ sie Fine nicht merken. Nur daß er etwas zurückhaltenden Wesens war, daran mußte sie sich eben gewöhnen, danach mußte sie sich richten, und sie tat es auch.

Für alle im Hause hatte Matthias Güte.

Er wachte sogar manche Nacht an dem Bette der alten Amundsen, die nun zum Sterben ausersehen war und doch noch zu sehr am Leben hing, als daß sie bald zur letzten Ruhe kommen konnte.

Der Tod rang schwer wider die hageren Arme, mit denen die Greisin ihn immer und immer noch fortstieß.

»Ick? Mit mi sall 't vörbi sin? Nee, nee! Mi kriggt ji noch lang nich ünner de Eerd!«

So lag sie, lachte krächzend, nahm danklos hin, was ihr an Pflege dargebracht wurde, hatte Angst um die Schlüssel zu ihrer Kommode, belauerte jeden Schritt, den Frau Clasen oder jemand anders in ihrer Stube tat, denn immer hatte sie den Verdacht: jetzt nehmen sie die Sparkassenbücher, und dann lassen sie mich hier liegen und verderben.

Kein noch so gutes: ›So, so, Großmutter!‹, womit Matthias ihr auf die Hand klopfte oder über das eingefallene Gesicht strich, vermochte sie zu erwärmen.

»Blots los sin wüllt ji mi! Blots dat Geld!«

»Ach, Großmutter, Geld haben wir selber wie Heu. Wir behalten dich doch so gern!«

»All nich wohr!«

Eine Weile ließ es sich der Tod gefallen, scheinbar überwunden zu werden, dann aber, als gerate er in Wut über das ewige Wehren, holte er zu einem fürchterlichen Schlage gegen den dürren Körper auf der Lagerstatt aus. Da zerbrach das Sein. Die Augen der Alten sanken tief in ihre Höhlen zurück, und die engen Wände der Giebelstube vernahmen nicht mehr das Röcheln und Rasseln, womit die gequälte Brust sich ihr bißchen Lebenslust einsaugen mußte. – – –

Unten im Flur stand der Sarg.

Neben Frau Clasen und Fine hockte weinend Adelaide Poggenstohl, der einzige Mensch, dem die Verblichene etwas wie Freundschaft und Wohlwollen geschenkt hatte.

Die Weißwarenmamsell war mit einem großen Kranz gekommen, für den sie selber eine Schleife aus Schirting mit langen Fransen genäht hatte.

Nun saß sie bei den andern Leidtragenden und lauschte auf des Pastors Worte:

»… und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. Aber köstlich, Geliebte, ist in der Tat das Leben dieser frommen Frau gewesen, die wir nun in der gewissen Hoffnung auf ein Wiedersehen zur Ruhe geleiten, köstlich allen Gebresten zum Trotze, denn wie eine Patriarchin, so wurde sie im Kreise der Ihrigen geliebt und geehrt, –«

»All nich wohr,« – vernahm Matthias aus dem Sarge heraus.

»… und wie ein guter Geist, so wachte ihre treue Sorge noch bis zum letzten Atemzuge über das Wohl derer, die sie von Jugend an beraten und zur Gottesfurcht geleitet hatte …«

Bei dieser Stelle war es nun zwar nicht die Stimme aus dem Sarge, sondern die Stimme in seinem eigenen Herzen, die Matthias, obschon er mit gefaltenen Händen dastand, raunen hörte:

»All nich wohr.«

Der Sarg wurde hinausgetragen, und als er zwischen den Linden hindurch war, sah der Buchbinder unwillkürlich zum Hause hinauf. Es schien ihm, als recke und strecke sich das alte Gemäuer wie jemand, der schrecklich lange gefesselt gelegen hat und nun endlich aufstehen und sich regen und bewegen darf.

Dann, hinter dem Sarge herschreitend, warf sich Matthias, ohne daß er eben hart von der Toten dachte, die Frage auf: Was hatte nun dieses Dasein, dessen kümmerliche Überreste er zur Gruft brachte, in den letzten zwanzig, dreißig Jahren für einen Zweck gehabt?

Aber er fühlte den Talar des Pastors seinen Rock berühren. Das war ihm eine Warnung: nicht so etwas fragen, nie am unerforschlichen Ratschluß zweifeln.

Ganz recht … Es war auch noch Ehrfurcht genug in Matthias, daß er diese Warnung nicht von sich wies.

Drei Hände voll Erde auf den Sarg … Friede mit dem Herzen der alten Frau!

Unter der Decke, die jetzt auf ihr ruhte, erstickte ihr bitteres Wort …

Es gab schon etwas Wahres auf Erden, und war es auch bloß der Tod …

*

Vierzehn Tage nach dem Begräbnisse ließ Buchbinder Tedebus die Zimmerleute kommen. Die sollten die Bäume vor dem Hause umschlagen.

Ganz Tweetenhorn jammerte: »Das Wahrzeichen von unserem Markt soll fallen?«

»Ja,« antwortete Matthias mit unerbittlicher Miene, »ich will Licht in meinen Stuben haben und freien Platz vor meinem Laden. Das ist besser und wichtiger als so ein paar alte Linden. Mag sich ein anderer welche vors Haus pflanzen, das gibt dann ein neues Wahrzeichen!«

Frau Clasen weinte, Fine schlich stumm und blaß herum. Wie sollten beider Seelen nicht an diesen Linden hangen? Matthias begriff sie wohl, aber trotzdem: »Licht muß ich haben!« Er ließ sich nicht rühren von den Tränen und Seufzern. »Vorwärts, Meister! Herunter mit dem Kram!«

Da kam sein Kind gesprungen.

Das war vorhin auf die Bank vorm Hause geklettert, – Matthias hatte es noch gesehen, – um sich einen Haufen Lindenblätter zu pflücken, war dann nach hinten auf den Hof gegangen und hatte sich aus den Blättern einen Kranz gewunden.

Den trug das Kind jetzt als prächtige Kette um Hals und Brust, war sehr stolz auf diesen Schmuck, spreizte anmutig mit den zierlichen Händen das Röckchen zu beiden Seiten ein wenig und sagte, indem es leuchtenden Auges zum Vater aufsah:

»Sieh mal! Die schönen Blätter! Damit spiel' ich so gern!«

Matthias blickte sein Kind lange an …

Dann schickte er die Zimmerleute, die schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt hatten, wieder weg und ließ den Gärtner kommen.

Der mußte die Linden stutzen, soweit sie es nur vertrugen.

Das gab ja ebenfalls Licht in den Stuben, wenn auch nicht so viel …

* * *


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