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Ein Jahr war dahingeflossen, seitdem Matthias beim Aussteigen in Tweetenhorn den Hausknecht von der ›Post‹ kennen gelernt hatte. Fine war noch immer nicht Frau Zahnarzt Beowulf. Um ihre Mundwinkel grub der lange Brautstand schon die grämlichen Falten ein.

»Warum heiraten sie eigentlich nicht?« fragte Matthias seinen Freund Schenk. »Für Fräulein Clasen ist das doch …«

»Na, die soll doch froh sein!« lautete die Antwort.

Davon wurde Matthias um nichts klüger. Aber was ging es ihn schließlich an, wann das Paar Hochzeit machte? Er hatte auf sein Drängen all sein Geld vom schönen Beo zurückbekommen, ließ sich auf keine neue Anleihe mehr ein, und so kam er auch mit Finens Bräutigam so aus, wie es ihm am besten paßte.

Viel zu schaffen hatte Beowulf, und wer wollte sagen, ob nicht seine Tätigkeit der Stadt wahrhaftig noch einmal zu ungeahntem Aufschwung verhalf? Die Quelle in seinem Garten hatte er einfassen lassen. Ein Bau wurde darüber aufgestellt und etliches Gebüsch um das Ganze gepflanzt. Nun nannte der schöne Beo diese Anlage seinen Kurpark. In einer Ecke des Gartens erhob sich ein einstöckiges Haus. Das sollte der Spielsaal werden. Denn ohne Roulette kein Weltbad. – »Brülljant,« sagte der schöne Beo, wenn er sein Werk betrachtete. Er füllte sein Quellwasser in Flaschen von absonderlicher Form und klebte ein grellbuntes Papier darauf. Tweetenhorner Josefinenbrunnen stand auf dem Papier zu lesen. Denn so benannte er, seiner Braut zu Ehren, das neue Heilwasser, und er ließ eine Anzeige drucken, worin er männiglich kund tat, daß dieser Brunnen gegen Gicht, Rheuma, schlechte Nieren, kranke Leber, mattes Herz und schweren Kopf, schlimme Augen, verdorbenen Magen und rauhe Haut ein Wundermittel sei! Er sandte die Flaschen auch nach auswärts. Die Apotheker und Chemiker, die das Wasser prüften, meinten freilich, so viel nützliche Stoffe liefere die Flüssigkeit, die sie aus ihren Hauspumpen holten, zur Not auch, aber es gab doch sieche Leute genug, die ihre Hoffnung auf diesen, noch nicht von ihnen erprobten Trank setzten, und da hin und wieder einem Kranken, der das Wasser genoß, besser ward, so erhielt der Tweetenhorner Josefinenbrunnen wohl einen Ruf. Ja, es kamen Patienten nach der kleinen Stadt, die der erhöhten Wirkung halber den Quell an Ort und Stelle schlürfen wollten. Die beiden Tweetenhorner Ärzte lächelten, aber sie schwiegen still. Sie mußten ja dankbar sein, daß sich hier überhaupt einmal ein Stück leidender Menschheit sehen ließ, die zuletzt, das wußten sie bestimmt, doch ihre Zuflucht zu ihnen nahm.

Der schöne Beo aber, wenn er, um Beziehungen anzuknüpfen, nach Lübeck oder Hamburg reiste, – und er reiste ziemlich viel, – schrieb sich in die Gasthofbücher als Badedirektor ein. Es sah mit seinen Plänen alles gut aus. Auch der Tweetenhorner Magistrat stellte ihm nichts in den Weg, denn die Stadtoberhäupter wollten nicht schuld daran sein, daß der Bürgerschaft ein Erwerb, wie die Fremden ihn mit sich brachten, entzogen würde. Nur der Spielsaal kam nicht zu seinem Zweck, obschon sich der schöne Beo mit Gesuchen an Polizei und Regierung, um die Erlaubnis zum Bankhalten zu erreichen, alle Mühe gab, und obschon er auch auf seinen Fahrten in verschwiegenen kleinen Kreisen eifrig daran war, alle Arten von Spielen kennen zu lernen, damit er nachher in Tweetenhorn jeglichen Ansprüchen seiner Gäste gerecht werden könnte. Dieses Studium, dem sich der Zahnarzt, natürlich nur aus Aufopferung für Tweetenhorns zukünftige Größe, immer häufiger hingab, trug ihm ja bisweilen klingenden Lohn ein. Meistens aber kam er dabei ein bißchen mit Kassa zu kurz, und diesen Mangel suchte er dann in Tweetenhorn selbst wieder auszugleichen. Sich noch Geld zu leihen, das ging da nicht recht mehr an. Er war die Reihe der Gutwilligen rund, und seine Ehrenwörter standen nicht hoch genug mehr im Kurse. Also sann er sich was andres aus. Das öffentliche Spielen in den glänzend beleuchteten Räumen seines Gartensalons wollten ihm die Behörden, töricht und philisterhaft wie sie waren, nicht gestatten. Nun, so war sein genügsames Gemüt damit zufrieden, wenn er heimlich die Karten mischen konnte. Er überredete den jungen Schenk, dessen Phantasie nach allen möglichen Erregungen lechzte, und es fanden sich noch ein paar leichtsinnige junge Leute, – mit denen kam Beowulf nachts in Schenks Atelier zusammen, und zu Füßen des zweibeinigen Tonklumpens, der Venus hieß, wurde nun das Silber hin und her geschoben. Gegen Morgen kletterten die Spieler, über Gartenzäune und Mauern, ein jeder in seine Behausung zurück.

Wenn man so viel um die Ohren hat, nichtwahr? Da kann man schwer ans Heiraten denken. Fine mußte noch warten, ehe sie Frau Beowulf wurde.

»Die soll froh sein!« sagte Arthur Schenk.

Matthias erfuhr natürlich von diesem nächtlichen Treiben nichts. Beo und Schenk waren sich einig, daß er dafür nicht reif sei. Und da hatten sie ganz recht. Mehr denn je zuvor wäre Matthias vor allem Häßlichen zurückgeschreckt, denn in ihm keimte jetzt etwas, was nur mit guten, lieben und reinen Gedanken gepflegt und begossen werden durfte.

Der Buchbinder hatte sich im vorigen Jahre noch wenig unter den Damen umgeschaut, die zum Harmonieball kamen. In diesem Winter wurde das anders. Matthias fühlte sich in Tweetenhorn daheim. Seine kleinen Gesangserfolge hoben ihn, sein Geschäft ging tüchtig, und er trug sich mit allerhand Plänen, um Jahr für Jahr in dieser Stadt, die mit ihren zweitausend Einwohnern wohl einen fleißigen Mann in seinem Fach ernährte, Fortschritte zu machen. Schon hatte er sich bei Schenk ein Schild malen lassen: Buch- und Musikalienhandlung; jetzt dachte er daran, dem alten Buchdrucker Fiencke, der sich zur Ruhe setzen wollte, seine Lettern und Maschinen und damit auch den Wagrischen Boten abzukaufen. Er würde, so vertraute er, sich schon in das Druckergeschäft einarbeiten, wie er sich ja auch allmählich immer mehr Kenntnis vom Buchhandel erwarb. Vielleicht gab er schließlich das Clasensche Haus ganz auf und zog mit Sack und Pack zu Fiencke am Grünen Wege? Was lag daran? Auf diese Art wurde er die Ungemütlichkeit und Wehleiderei los, die ihn hier so oft verstimmten. Was sein Nachfolger dann mit den Clasens anfing, – ob er sie wohnen ließ, oder ob sie sich anderswo einmieten mußten: was ging ihn das an? –

Nun wäre das alles recht gut gewesen, den Wagrischen Boten kaufen und damit Verleger und Redakteur werden, – aber das Blatt hatte täglich seine zwei Seiten Anzeigen und wenigstens sechshundert Abonnenten in der Stadt und auf dem Lande, es nährte also vortrefflich seinen Mann, und Fiencke verlangte deshalb auch einen hübschen Schilling dafür. Mutter hätte wohl nochmals etwas für Matthias getan. Es stand ihr da eine Hypothek auf einem Kappelner Hause, – gewiß, Matthias brauchte sie nur zu bitten, dann kündigte sie die Summe und gab ihm, was er nötig hatte. Aber er scheute vor dieser Bitte zurück. Er kannte Schwester Clara. Die würde wieder, trotz klarster Rechnung, Grund zu einer Klage finden, daß da etwas zu ihrem Nachteil vorgenommen werden sollte, und Mutter das Leben sauer machen. Das wollte Matthias nicht. Mutter schrieb so wie so in der letzten Zeit, sie halte sich nur schwach auf den Beinen. Mancherlei Beschwerden traten bei ihr auf, für ihr Alter noch viel zu früh. Nein, er mochte seiner Mutter nicht mit Geldgeschichten kommen, und fremde Leute anzugehen, sich vor ihnen zu bücken, sie womöglich in den Gang des Geschäftes hineinschauen zu lassen, – das paßte ihm nicht. Aus eigener Kraft vorwärts schreiten, das war das Gesunde und Einträgliche. Aber wenn nun diese eigene Kraft einmal nicht langte? Und da kam in Matthias Tedebus sein Ehrgeiz und Tatendrang mit dem Empfinden seiner Jugend zusammen: errang er sich eine Frau, eine, die ein bißchen was mit in die Ehe brachte und ihm die Kraft stärkte, so hatte er, was er ersehnte. Er konnte seinen Arbeitskreis vergrößern, und für sein Herz gewann er überdies dabei, was seiner Jugend jetzt, gerade weil auch eine gewisse Lust am behaglicheren Leben in ihm erwachte, oft bis zur Schmerzlichkeit mangelte.

Eine Frau mit einem nicht gar zu unansehnlichen Vermögen. Das war die Lösung, damit er aus dem Clasenschen Zwange befreit und mit der erste Geschäftsmann in Tweetenhorn wurde. So sah er sich die Mädchen an. Es waren ihrer wohl fünfzehn oder gar zwanzig, hübsche, frohe Dinger, um die es sich gelohnt hätte zu werben, aber Matthias ging nicht allein nach den niedlichen Gesichtern und nach der Gewißheit: die hat was einzubrocken, … es lebte in seiner Brust, obschon sein Vater nur ein kleiner Stadtkassenbeamter gewesen war, von der Mutter, einer Lehrerstochter, her der Trieb nach etwas Feinem, nach etwas, was mehr gelernt hatte als er selber. Und da genügte ihm von den zwar herzensguten, aber auch recht harmlosen und, wie er sie nannte, unbedarften kleinen Tweetenhornerinnen so recht keine, … außer einer, und bei der erhob er, das mußte er sich ja sagen, die Augen eigentlich allzu hoch. Indessen mochte ihn sein Verstand warnen: solche Müllerstocher hat ganz andere Freier als einen armen Buchbinder, – sein Herz bestand nun einmal und immer fester darauf: Lilly Diercks, das wäre so die Richtige für ihn gewesen. Und obschon Matthias in vielen anderen Dingen über seine Jahre hinaus verständig war, so war es doch nicht zu verwundern, daß seine fünfundzwanzig Jahre mehr auf sein Herz als auf seinen Kopf hörten. Sein Stolz stand überdies dem Herzen bei. War er nicht ein fertiger, geachteter Mann? Es brauchte sich keine zu schämen, an seiner Seite zu gehen.

Es schien auch in der Tat so, als ob sich Lilly Diercks dessen nicht schämen würde. Viele Tänze gönnte sie ihm auf dem Stiftungsfeste der Harmonie, und als sie vom Walzen müde wurde und nach Hause begehrte, da lief Matthias Tedebus allen andern, die sich darum bemühten, den Rang in Lillys Gunst ab: er durfte sie geleiten, denn ihr Vater ging von solchen Festen nie vor sieben oder acht Uhr morgens heim. Und sonst war niemand, der sie behütete.

Matthias führte die zierliche Lilly sorglich durch die dunkeln Straßen. Hinter ihnen her schollen die Klänge der Ballmusik. Er ermahnte das junge Mädchen, sie solle wegen der Kälte dieser Nacht das Tuch vor den Mund halten. Aber sie sah ihn schelmisch an: »Den Mund halten? Nein, Herr Tedebus. Unsere alte Katharine sagt immer, das könne ich nicht mal im Schlaf.«

Sie plauderte in einem fort. Es klang Matthias wie liebliches Lerchengezwitscher in den Ohren.

»Haben Sie gesehen,« – sie kicherte vor Übermut und schloß sich eng an ihren Begleiter an, – »wie meine Freundinnen … pah – Freundinnen, nichtwahr? Das ist auch bloß so ein Wort! – wie die die Köpfe zusammen steckten, als wir auch zuletzt noch miteinander tanzten? Das macht mir aber gerade Spaß. Sollen die nur klatschen!«

Matthias wurde besorgt. Er war doch nicht zu kühn gewesen? Hatte doch Fräulein Diercks nicht etwa in der Leute Mund gebracht?

»Ja, ich hätte vielleicht lieber mit …«

»Ach nein!« Sie schmollte. »Gerade nicht. Oder haben Sie mich etwa nicht gern engagiert?«

»Aber!« Er preßte ihren Arm an seine Seite. »Mit wem sollte ich wohl lieber …?« Er war so erregt, daß ihm die Worte stockten. Die Kleine wurde ihm wieder gut.

»Sie sind anders als alle die andern, Herr Tedebus, und das hab' ich an Ihnen so gern. Sie haben mir noch keine einzige Schmeichelei gesagt.«

»Schmeichelei? Mir käme das vor, als ob ich Sie beleidigte. Was ich denke, wenn ich Sie sehe, oder wenn ich Sie auch nicht sehe, das läßt sich mit Schmeicheleien nicht ausdrücken.«

»Womit denn?«

»Eigentlich überhaupt nicht.«

»Da höre ich es denn wohl nie? Und ich wüßte doch für mein Leben gern: was denken Sie von mir?«

Matthias sah zu Boden, er lächelte bescheiden. »Ihnen kann ich das nicht gut verraten … noch wenigstens nicht. Aber ich habe es schon an jemand geschrieben.«

»An wen?« fragte die Kleine erschrocken.

»An meine Mutter,« antwortete Matthias leise.

»So.« – –

Dem Mädchen ward beklommen. Sie ließ ihren Arm lose in seinem Ellenbogen hangen. Matthias nickte. Stumm schritten sie durch die Allee vor der Stadt. Lilly suchte nach etwas anderem.

»Und unser Theater? Spielen Sie mit?« Sie wurde gleich wieder lebhaft. »O, ich spiele liebend gern Theater. In Lübeck, das Jahr, daß ich bei meiner Tante war, da haben wir ein großes Festspiel gehabt. Da war ich ein Genius. Lätitia.«

»Das glaub' ich,« erwiderte Matthias, »das konnten Sie. Sie sind ja auch so die Freude selbst.«

»Wie schade!« rief sie. »Nun haben Sie mir doch eine Schmeichelei gesagt.«

»War keine, Fräulein Diercks. War nur etwas von dem, was ich meiner Mutter geschrieben habe.«

»Und was hat Ihre Mutter darauf …? Nein, nein, lassen Sie nur!«

Lilly wurde bange zu Mut. Hier, tief in der Nacht, unter den geheimnisvoll unheimlich rauschenden Bäumen derlei Zwiesprache, das mochte gefährlich sein. So lenkte sie die Rede wieder auf das Theater. Ob er also mitspielte? Ja. Und welche Rolle dann? Den Jungen? Und sie die Junge?

»O, so sind wir Mann und Frau!« meinte sie abermals erschrocken und mußte doch über ihren eigenen Schrecken lachen.

Matthias machte eine entschuldigende Bewegung: »Ich habe mir die Rolle nicht selbst ausgesucht. Ihr Vetter Schenk hat sie mir gegeben. Aber wenn es Ihnen nicht recht ist …«

»Ach, es ist ja nur Theater!«

Matthias bekräftigte das mit vielem, sogar feierlichem Ernst: »Ja, Fräulein Diercks, natürlich nur Theater.«

Jetzt bogen sie in den sandigen Hohlweg ein, der zum Mühlengewese hinauf führte. Die Flügel der Mühle hoben sich als mächtige Arme vom Himmel ab. Lichtschein fiel aus einem Fenster des Hauses.

»Unsere Katharine wartet auf mich,« sagte Lilly.

Der Hund schlug an, aber es war in seinem Bellen kein feindseliger Ton. Er wollte die junge Herrin begrüßen. Die alte Katharine kam mit der Windlaterne heraus.

»Vielen Dank, daß Sie mich begleitet haben, Herr Tedebus. Und gute Nacht.«

Damit schlüpfte das Mädchen zum Tor hinein.

»Gute Nacht, Fräulein Diercks.« –

Ja, gute Nacht! Matthias blieb vor dem Hause stehen. Jetzt verschwand das Licht unten im Flur. Jetzt wurde die Stube dort oben hell. Matthias trat hinter einen Busch und wandte den Blick vom Hause weg. Er durfte nicht einmal den Schimmer des Lichtes sehen, bei dem sich Lilly Diercks zur Ruhe legte. Aber diese Stelle verlassen, – das vermochte er doch noch nicht, trotz aller Ehrfurcht. Diese kurze Strecke von der Harmonie bis zur Mühle, das war ein Wanderweg gewesen, auf dem er viel erlebt hatte. Da hatte er die kühnsten Worte seines Daseins gesprochen: hatte einem Mädchen gestanden, daß er an seine Mutter über sie geschrieben habe. Wann schreibt man an ein so hohes und liebes Wesen wie die Mutter über ein Mädchen? Doch auch nur, wenn einem solch ein Mädchen hoch und lieb ist. Er hatte zu Lilly gesagt, daß er es nicht verraten könne, was er von ihr denke. Ja, damit war ja schon alles und jedes verraten, und sie war ihm ob dieser Offenbarung seines Empfindens nicht böse geworden. Lätitia! – Seine Ehrfurcht hinderte ihn nicht mehr. Er zwang seine Augen zu dem Lichte hin, das aus Lillys Stube fiel. Da war ein Schatten an dem Vorhang. Es sah aus, als ob das Mädchen ihr Armband abstreife. Matthias meinte zu hören, wie der goldene Reif beim Niederlegen auf den Tisch leise erklirrte.

Was würde jetzt für eine köstliche Zeit kommen! Für das Theaterspiel gab es Proben. Die dauerten lange, denn Arthur Schenk, der das Ganze leitete, nahm es mit den Stellungen und Bewegungen genau. Mochten sie nur dauern. Matthias hatte jedesmal endlose Zeit, bis in diese späte Stunde hinein. Er würde dann Lilly immer geleiten, den Wunderwanderweg von der Harmonie bis zur Mühle. Und sie würden nebeneinandergehen wie in dem Theaterstück … wie Mann und …

Da erlosch das Licht dort oben. Die Dunkelheit kam so plötzlich, daß Matthias aufschrak. Ihm schien, es war auf einmal kalt und windig geworden.

Er schritt durch den Hohlweg zurück. Eigentümlich, wie schwer man in dem tiefen Sande vorwärts kam. Das hatte er vorhin nicht gemerkt.

*

Am nächsten Morgen kam Lilly in den Buchbinderladen geflogen. Und sie zwitscherte: »Ich bin so schrecklich müde! Einschlafen, wenn ich getanzt habe? Daran ist nicht zu denken. Die Musik spielt in meinen Ohren immer weiter, und das ganze Bett hüpft mit mir. Ich möchte Seidenpapier haben … rotes … ganz rotes! Ich brauch' es eigentlich gar nicht, aber ich habe nun einmal Lust dazu. Knallrotes Seidenpapier, ja?«

Sie stemmte ihre kleine Faust auf den Ladentisch, und als Matthias ihr das Papier vorlegte, griff sie in den zarten Bogen hinein, daß er kraus wurde.

»Ach,« sagte Matthias bedauernd und suchte das Papier wieder zu glätten.

»Lassen Sie nur,« meinte Lilly, und dabei flimmerten ihre Augen, »zum Zerknittern will ich es am Ende bloß haben!«

Sie nahm von dem roten Papier, so viel Matthias besaß, als sie aber ihre Börse zog, da bat der Buchbinder: »Darf ich Ihnen die Kleinigkeit nicht so überlassen? Geld nehme ich nicht gern von Ihnen, Fräulein Diercks.«

»Schenken?« Die Kleine senkte die Stirn. »Aber … dann kann ich es ja nicht zusammen …« Ihre Finger zuckten über das Papier hin.

»Ist das denn auch nötig?« fragte Matthias freundlich und fast väterlich, »muß man denn so etwas Hübsches zerstören? Kann man sich nicht an der schönen Farbe erfreuen, wenn man es auch sonst vielleicht gar nicht gebraucht?«

»Ja, das wohl,« entgegnete Lilly zögernd »aber offen gestanden: gerade auf das Zerknittern hab' ich mich am meisten gefreut.«

»Nun,« Matthias reichte ihr das Papier, das er noch in einen blanken Bogen eingehüllt hatte, »dann machen Sie damit, was Sie wollen.«

Lilly schüttelte den Kopf: »Wissen Sie, Herr Tedebus, so lieb das alles von Ihnen ist, – das Hauptvergnügen haben Sie mir doch verdorben.«

Ihre braunen Augen schauten betrübt drein, aber nur für ein paar Sekunden, dann blitzte sie ihn wieder lustig an und streckte ihm die Hand hin: »Hat keine Not! Ist auch besser so. Danke!«

Schon war sie an der Tür, die zu öffnen Matthias eilig um den Ladentisch herum kam, da machte sie noch einmal Halt.

»Schreiben Sie bald wieder an Ihre Mutter, Herr Tedebus?«

»Heute noch!«

»Geht das wohl an, daß Sie sie von mir grüßen?«

»Oh, eine größere Freude …!«

»Bitte! Tun Sie's!«

Das lichte Geschöpf schwebte von dannen. Und zur selben Stunde noch setzte sich Matthias hin und nahm die Feder:

… und nun habe ich Dir noch einen Gruß zu bringen, liebe Mutter. Von Fräulein Lilly Diercks. Entschuldige nur, die Feder glitschte mir eben ein bißchen aus. – Liebe Mutter, ich habe Fräulein Diercks gestern Abend nach Hause begleiten dürfen. Wir haben gar nicht viel zusammen gesprochen, aber mir scheint es so, als wären dies die ersten Worte, die ich überhaupt in Tweetenhorn gehört und selber gesagt habe. Heute Morgen war Fräulein Diercks bei mir im Laden, und mir ist zu Sinne, als war das überhaupt die erste Kundschaft, als ginge mein Geschäft nun erst los. Mir ist das alles so neu. Meine Seele ist viel weiter geöffnet als früher. Weiter und voller, ja. Deshalb wird Dir, liebe Mutter, auch nicht das Geringste geraubt. Im Gegenteil, ich habe Dich nie so lieb gehabt wie jetzt. Überhaupt: wenn ich an Fräulein Diercks denke, so verdoppeln sich alle meine guten Gedanken, und wo ich Schlechtes in mir spüre, da wird das dann ganz unwesentlich … Bei mir ist es rasch gekommen, und obschon ich mit einer gewissen Benommenheit herumgehe und nicht recht weiß, was ich tue und schreibe, so ist mir das Eine klar: Fräulein Diercks ist das einzige Mädchen, das ich neben Dich stellen möchte, meine liebe Mutter. Von ihr selber, ob ich hoffen darf, – das ahne ich noch gar nicht. Ihren Vater kenne ich bloß vom Ansehen sozusagen, und eine Mutter, der ich mich so nach und nach anvertrauen könnte, hat sie ja leider nicht mehr. Auf viele Hindernisse bin ich gefaßt, Mutter. Aber wenn Du mir Deinen Segen gibst, und wenn das junge Mädchen so gut gegen mich bleibt, wie sie es in den letzten Tagen gewesen ist, dann werde ich wohl bald ein ganz glücklicher Mann. Also bitte, vergiß es nicht: Fräulein Diercks läßt Dich grüßen. – – –

Die Zeit, von der Matthias geträumt hatte, brach herein. Sie spielten ihre Komödie in der Harmonie. Matthias, mit vielem Ernste und doch drollig genug, den jungen Rechtsanwalt Werner und Lilly Diercks, voller Anmut und Selbstverständlichkeit, soweit das in der Harmonie anging, Euphrosyne, seine junge Frau.

Arthur Schenk nahm es mit dem Einstudieren des Stückes sehr wichtig. Die einzelnen Auftritte mußten immer und immer wiederholt werden, und dann verstand es sich schließlich von selbst, denn es war gewöhnlich spät am Abend, daß nach den Proben Rechtsanwalt Werner seine junge Frau Euphrosyne heim geleitete.

Auf der Bühne nannten sie einander du, zankten sich, waren eifersüchtig auf einander, sanken sich zuletzt versöhnt in die Arme und sollten sich sogar küssen, was sie allerdings zu Arthur Schenks Verachtung nicht wagten und nur dadurch andeuteten, daß sie eben und eben Wange an Wange legten.

»Ihr habt keine Künstlerseelen,« seufzte der Regisseur.

Ein kleines bißchen von dem Spiel übertrug sich auch auf das Leben. Es wurde vertraulich zwischen ihnen, und zugleich waren sie wie ausgetauscht. Das sonst so lustige Mädchen ging jetzt oft schweigend neben dem Buchbinder her, während Matthias sich vor Lebhaftigkeit manchmal kaum zu lassen wußte.

»Recht viel von Ihrer Mutter möchte ich hören,« bat Lilly.

Und nun schwärmte Matthias von der Frau, die ihm die Jugend bis zum heutigen Tage behütet und warm gemacht hatte.

»So gut ist keine!« Dann dachte er aber plötzlich an seine Begleiterin. »Das heißt …«

»Ja, sagen Sie es nur,« meinte Lilly, »keine zweite. Aber so werden Sie auch keine andere wirklich lieb haben können!«

»Doch! Doch!« versicherte Matthias eifrig. »Eine Frau ist etwas so ganz anderes als eine Mutter. Und ich weiß, es gibt noch eine andere …«

Aber Lilly wollte davon nichts hören: »Vor Ihrer Mutter muß jedes junge Mädchen Angst haben. Keine kann Ihnen die ersetzen. Immer wird Ihnen etwas fehlen!«

»Aber wozu denn ersetzen? Ich habe meine Mutter ja.«

»Aber was wird Ihnen dann eine Frau sein? Sie haben keine nötig.«

»Die finden beide in meinem Herzen Platz, haben beide was Besonderes darin zu tun und vertragen sich gut, glauben Sie es mir.«

»Wenn ich heirate, – ich würde eifersüchtig auf solche Mutter werden, – es kommt mir nicht so vor, als ob ich mich mit ihr vertragen könnte. Ich möchte gern allein im Herzen …«

So war Matthiassens Liebe zu seiner Mutter der Liebe zu Lilly Diercks nicht förderlich. Als er das einsah, sprach er weniger und auch weniger begeistert von der Mutter, ohne freilich je auch nur eine Spur von Verrat an ihr zu begehen. Da ward das Vögelchen an seiner Seite zahmer und immer zutraulicher, und am Abend nach der Aufführung war Lilly den ganzen Heimweg über von einer seltsamen, anschmiegenden Weichheit.

»Nun sehen wir uns nicht mehr,« flüsterte sie, »und es war doch so herrlich, die Proben und nachher.«

»Ich kann hier hinauskommen.«

»Nein … lieber nicht. Da wird so schon genug geredet. Wir dürfen uns nicht treffen.«

»Wenn ich nun aber mit Ihrem Vater …«

Lilly zitterte: »Bitte, bitte nicht!«

»Ich meine es doch so ehrlich wie nur möglich! Was kann Ihr Vater gegen mich haben?«

»Ich weiß nicht, wie mein Vater darüber denken wird.«

»Das muß ich als Mann erfahren!«

Aber Lilly flehte ihn an, er solle ihr Zeit lassen. Sie wollte erst selbst einmal sachte vorfühlen.

»Dann schreibe ich Ihnen.«

»Aber bald, nicht wahr?« drängte Matthias. »Ich würde am liebsten gleich morgen vor ihren Vater hintreten!«

»Das gäbe bloß einen schrecklichen Lärm, und dann wäre alles aus. Unsere Katharine hat mich schon gewarnt. Nein, die nächsten Wochen sehen wir uns gar nicht, hören Sie? Um meinetwillen.«

»Ja, um Ihretwillen, alles, Fräulein Diercks!«

Nun kam also das letzte Mal, daß sie den Hohlweg mitsammen hinan stiegen. Da konnte Matthias nicht anders, – er hemmte den Schritt:

»Nur eins, Fräulein Lilly. Das muß ich von Ihnen wissen, dann hab' ich die größte Geduld von der Welt: wünschen Sie es so recht von Herzen, daß Sie mir bald schreiben können, ich soll zu Ihrem Vater gehen?«

Das Mädchen sah ihn voll an: »Ja.«

Da holten, von Jugend und Natur getrieben, Matthias und Lilly im dunkeln Hohlwege dort vor der Mühle das nach, was Rechtsanwalt Werner und seine junge Frau Euphrosyne hinter dem Rampenlichte der Bühne unkünstlerischerweise versäumt hatten: sie fanden einander Mund an Mund.

*

Auf diese Viertelstunde, die den beiden Menschenkindern mit Seligkeit angefüllt war, folgten für Matthias viele Tage des Harrens, der Unruhe, des Zweifels, … ja, Augenblicke des Verzweifelns. Lilly schrieb nicht, weder, daß er hinkommen, noch auch, daß er fern bleiben solle. Er sah das Mädchen nicht, denn er mied die Allee, die zur Mühle führte, er hielt sich sogar ängstlich daheim, denn er fürchtete, Lilly zu begegnen, – und mit solchem Zusammentreffen bereitete er ihr am Ende Ungelegenheiten.

Aber diese Schmerzen waren noch nicht das Schlimmste, was er jetzt durchmachte. Das Schlimmste war es, daß die Leute sich mit ihm und Lilly beschäftigten. Das bekam er zu wissen, so einsam er blieb. Das Gerede spülte seine Wellen bis in den Buchbinderladen. Die Kundschaft spielte darauf an: »Na, Herr Tedebus? Nun können Sie sich denn ja wohl bald selbst Verlobungskarten drucken!«

Matthias mochte abwehren, es half ihm nichts.

»Ja,« hieß es, »so eine gute Partie, die gibt es nur einmal hier in Tweetenhorn. Das haben Sie klug angefangen. Die Kappelner! Ja, die sind von der See, – die verstehen sich auf den Fischfang.«

Und dann kam bei den Clasens der Schrecken auf: wenn Tedebus heiratete, mußten sie hinaus. Da galt es hervorzusuchen, was über Lilly Diercks irgend einmal gesprochen worden war. Vielleicht wenn der Buchbinder das erfuhr, dämpfte das seine Liebe. Leise fingen sie damit an, aber mit jedem Male wurden sie lauter.

»Ja, Fräulein Diercks, –« warf Frau Clasen wie ganz von ungefähr bei Tische hin, »die war ja neulich auch im Laden. Niedliche kleine Person, nicht?«

»Findest du das eigentlich?« meinte Fine achselzuckend.

»Ach doch, Fine! Aber natürlich, so diese Niedlichen … da hängt dann leicht was andres bei.«

»Wieso?« fragte Matthias.

»Ich sage nicht gern Schlechtes weiter, das wissen Sie, Herr Tedebus,« wich die Witwe scheinbar aus.

»Na? Und denn?« Matthias ließ nicht los. Das hatte ja Frau Clasen auch nur gewünscht. So führte sie ihn, der zu führen meinte, genau dahin, wo sie ihn haben wollte.

»Ich habe es auch bloß gehört.«

»Nein,« fiel Fine ein, die einen ungewöhnlich harten Zug um das Kinn hatte, »nein: es ist bestimmt so.«

»Denkst du, Kind? Dann kann man es ja wohl, auch in Gottes Namen weiter erzählen, … wenn es wahr ist.«

Matthias wurde aufgeregt: »Von Fräulein Diercks?«

Die Witwe seufzte, als falle ihr das Wort schwer. Dann hub sie jedoch, als handle es sich um gar nichts Besonderes, zu sprechen an: »Sie ist schon mit einem Leutnant verlobt gewesen. Damals in Lübeck.«

Matthias fuhr zurück: »Ach, und das ist dann …?«

»Ja, der hat sie nicht heiraten sollen, sonst hätte er abgehen müssen, weil ihr Vater bloß Müller ist.«

»Nun,« verschärfte Fine das Gerücht, »viele meinen, es ist auch allen beiden nicht ernst gewesen mit der Verlobung.«

Matthias zog finster die Stirn zusammen: »Wie kann man über ein junges Mädchen so etwas verbreiten! Und noch dazu über Fräulein Diercks! Ich kenne sie ja doch selber.«

»Ja, das glaub' ich, Herr Tedebus, daß Sie sie kennen. Das hört man allenthalben,« sagte die Witwe. Fine lächelte dazu.

Matthias trumpfte auf: »Ich kenne sie besser, und ich versichere Ihnen: Unglück kann sie gehabt haben, aber nicht ernst gewesen mit der Verlobung, – das sind Lügen!«

Er stand auf. Frau Clasen indessen blieb ruhig sitzen: »Besser kennen? Ach, Herr Tedebus, die jungen Mädchen von heutzutage, noch dazu, wenn sie lange in einer großen Stadt gewesen sind, – die kennt keiner richtig. Das glauben Sie mir, – ich bin eine alte Frau.«

»Lügen!« wiederholte Matthias und verließ die Stube schroff.

Auf dem Flur wäre er am liebsten noch einmal umgekehrt, um Lilly Diercks viel tatkräftiger zu verteidigen. Aber wozu? Laß sie schwatzen. Er wußte ja auch, weshalb die Frauen da drinnen, die ihren Mitmenschen sonst wenig Übles nachsagten, nun plötzlich so böse Reden führten. Jammervoll! Für den eigenen kleinen Vorteil, bloß um hier wohnen bleiben zu können, ein liebes junges Geschöpf zu verleumden!

Das trennte ihn von Clasens für immer! Die sollten sich wundern. Jetzt brauchte er keine Rücksicht mehr auf sie zu nehmen, einerlei ob hier eine junge Frau ins Haus zog oder nicht! –

Aber die innerliche Qual war es ja für Matthias Tedebus bei alledem, daß ihm seine Liebe nicht mehr allein gehörte … daß jeder, der Lust hatte, mit Fingern, selbst wenn sie schmutzig waren, darin herumwühlen konnte!

Es reute ihn, daß er Lilly offen gehuldigt und sie so oft begleitet hatte. Aber hätte er das nicht getan, dann wäre er ja eben nicht bis zu ihrer Liebe durchgedrungen!

Es mußte alles sein, wie es gekommen war. Nur in einem schalt er sich töricht, daß er nämlich zuerst wahrhaftig hatte wähnen können, sein Huldigen und sein Heimbegleiten werde den Augen der Welt versteckt bleiben.

Es war also nicht mehr sein eigen, was er im Herzen trug. Damit mußte er sich abfinden. Nun, dann konnte er sich ja am Ende bei einem Menschen, der in derlei Dingen gewiß Bescheid wußte und doch wohl auch sein Freund war, einmal Rats darüber holen, wie er sich zum Müller stellen und was er überhaupt tun sollte, um an sein Ziel zu gelangen. Lilly selbst war sicher zu zaghaft. Es war seine Pflicht, ihr zu helfen, geschah es auch gegen ihren Willen. Und selbst, wenn er es nicht erreichte, daß der Müller ihm seine Tochter gab: lieber das große Unglück als die ewige Unbestimmtheit! Also dachte er an Arthur Schenk. Ganz traute er ja dessen Freundschaft nicht, aber er hatte nun doch einmal nachgegeben, – in einer, wie er sich selber gestand, ein wenig schwachen Stunde, – als der heimliche Bildhauer auch ihm die Duzbrüderschaft antrug. In irgend einer Weise verband das ja zwei Menschen. Und außerdem: Arthur Schenk war des Müllers Neffe. Keiner konnte besser als er beurteilen, wie es in der Mühle stand und was ein Freier um Lilly da etwa zu hoffen hätte.

Arthur Schenk machte es Matthias leicht, von der Sache, die ihn bewegte, zu reden. Schenk selbst begann: »Großartig habt ihr neulich gespielt! Richtig, als wenn zwischen euch …«

Matthias errötete: »Nein, … so …«

»Na? Übrigens, das will ich dir sagen: meine Cousine Lilly, – wenn ich heiraten wollte, – das wäre diejenige! Aber für uns Künstler ist das Heiraten nichts, – für dich – andere Sache. Du hast einen guten Geschmack, mein Junge. So was an Figur, und die Füßchen …!« Er schnalzte mit der Zunge.

Matthias wurde immer verlegener: »Du mußt nicht denken, daß ich danach –«

»Nein, bloß nicht!« lachte Arthur Schenk.

»Nein, Schenk. Wenn ich es dir denn eingestehen soll: das ist bei mir viel, viel innerlicher!«

»Sagen sie alle.«

»Aber mir ist es weiß Gott was Heiliges!«

Bei dieser tiefernsten Art des Buchbinders wurde Schenk mit seinen spöttisch-spielerischen Reden nichts. Das wußte der Malerssohn. Darum setzte er jetzt eine würdevollere Miene auf: »Nun ja, ich leugne nicht: es gibt ja so etwas Innerliches. Wir Künstler fühlen das am meisten.« – Dann fragte er mit einem schlauen Blick auf Tedebussens Gesicht: »Und Lilly?«

»Ich glaube, sie …«

»Also dann seid ihr euch ja einig!«

»Wir vielleicht, aber ihr Vater, – da sind wir beide so unsicher und ich am allermeisten, und das ist lauter Pein, und deshalb möchte ich gerade gerne, – wenn es dir nicht furchtbar unangenehm wäre …«

Arthur Schenk merkte genau, wo Matthias hinaus wollte. Etwas Hämisches zuckte über seine Züge. Er war sehr jovial willfährig auf einmal:

»Weißt du, ich will mal bei meinem Müller-Ohm auf den Busch klopfen. Soll ich? So ganz diplomatisch.«

»Ja, würdest du das tun? O, das wäre aber ein Freundschaftsdienst!« rief Matthias gerührt und begeistert.

Der brave Arthur antwortete in der biedersten Weise: »Den leiste ich dir gern. Wenn man selbst kein Glück hat, – ich meine, nicht dieses eigentliche, häusliche Glück, das uns Künstlern verschlossen ist und wonach wir uns doch immer sehnen, denn wir sind schließlich auch Menschen, nicht wahr? – was gibt es dann Besseres für unsereins, als andern Leuten und besonders unsern paar Freunden zum Glück zu verhelfen?«

Matthias, in der sich immer vermehrenden Rührung seines Herzens, glaubte den Worten des Bildhauers ganz und gar: »Du bist doch ein guter Mensch, Arthur. Mich drückt das: laß es mich dir offen sagen, – ich habe dich, glaub' ich, manchmal verkannt.«

Arthur Schenk hatte etwas Schmerzliches und zugleich Entsagendes in seinem Antlitz. Er strich sich das Haar über das Ohr zurück: »Verkannt? Ja, mein Junge, das passiert keinem öfters als mir. Aber ich trag' es.«

»Guter Mensch,« wiederholte Matthias, »wie dankbar ich dir bin.«

»Verlaß du dich bloß auf mich.« –

Das tat der Buchbinder von ganzem, ehrlichem Herzen, Arthur Schenk aber ging hin und spann ein vergiftetes Gewebe um den Vertrauensseligen.

Er saß mit dem schönen Beo und seinem Müller-Ohm in der ›Post‹.

»Feines Geschäft da drüben!« Damit wies er über den Markt nach Richard Clasens Witwe Nachfolger hin.

Der Müller drehte kaum den Kopf. Solche kleinen Läden und vor allem, wenn solcher Papierkram darin verkauft wurde, hatte er gar nicht auf der Rechnung.

»Geschickter junger Mensch, der Tedebus,« meinte Schenk weiter.

Der schöne Beo wurde hellhörig. Ihm ahnte aus Schenks gleichmütigem Tone: da sollte was Verderbliches angezettelt werden. Er schwieg noch, um nicht zu stören.

»So? Na, denn man to,« war des Müllers Antwort.

»Dieser Tedebus, weißt du, Onkel, – der versteht es! Ist auch überall Hahn im Korbe, – die Damen in der Harmonie, ich sage dir, der braucht bloß die Hand auszustrecken, dann hat er seinen Verlobungsring dran. Bei meiner verehrten Cousine Lilly hat er auch einen riesigen Stein im Brett. Da kommt man als Cousin gar nicht dagegen an. Ich wollte mir neulich Abend mal erlauben, die feierliche Polonaise mit ihr zu tanzen, aber das war nicht, – immer nur Herr Tedebus!«

Den Müller langweilte die Geschichte.

»Kröger!« rief er, »bring mal de Korten her!«

Die kamen. Müller Diercks fing an, zu mischen und auszuteilen. Schenk ließ aber noch nicht nach. Bevor das Kartenspiel begann, mußte er den entscheidenden Schlag führen. Nachher war Diercks so in die Trümpfe versenkt, daß er für nichts andres mehr Sinn hatte.

»Da kannst du einen Schwiegersohn haben, Onkel, ehe du dich umsiehst.«

Der Müller ließ die Karten sinken: »Swiegersöhn?«

»Jawohl. Herrn Buchbindermeister Matthias Tedebus, Markt fünf.«

Der Müller prustete vor Lachen heraus: »Büst 'n dwatschen Kirl, weetst dat?«

»Nee, nee, geehrter Herr, – die Sache ist sehr ernsthaft,« kam nun der schöne Beo seinem Spießgesellen zu Hülfe, »Herr Tedebus und Fräulein Diercks, die sollen schon sehr stark miteinander liiert sein, sagt man in der ganzen Stadt.«

Der Müller schaute von Schenk zu Beo und von Beo zu Schenk:

»Min Dochter? Mit so 'n … so 'n …«

»Kleisterfritzen!« ergänzte der schöne Beo dienstfertig.

»Kleister –,« der Müller prustete abermals aus, daß die Wände erschüttert wurden, »un so wat will bi mi …?«

»Jawohl,« nickte Beowulf, »so was möchte bei Ihnen den einträglichen Posten eines Schwiegersohns bekleiden. Ehrenwort!«

»De Kirl is nich bi Trost!«

»Aber wenn Lilly ihn durchaus will?«

»Will? Wer will? Bün ick de Vadder, oder bün ick dat nich?«

»Zuverlässig, lieber Onkel. Aber so ein Mädchenherz geht manchmal seine eigenen Wege, und was würdest du wohl sagen, wenn tatsächlich Richard Clasens Witwe Nachfolger eines Tages bei dir anklopft und dich mit allem Mannesstolze ganz ergebenst um die Hand meiner schönen Cousine bittet?«

»Seggen? Ock noch wat dorto seggen? Gornix wür' ick dorto seggen! Ick sett den Kirl eenfach vör de Dör!«

»Brülljant!«

»Nun ja, lieber Onkel, hab' ich mir gleich gedacht. Die reichen Müller waren immer hartherzig gegen die Liebe.«

»Liebe?« Der Müller machte das Zeichen des Geldzählens, »hier, das is die wahre Liebe, mein Junge. Un nu lat den dummen Snack! Wi wüllt an de Arbeit! Hier! Piek is Trumpf! Ick heff se all. Tööf, ji beidn Swefelstickens schüllt afmeiert ward 'n, dat jug de Näs blött. Aß … Zehn … immer bismieten! Veertig gemolden! Her mit de Groschens!«

Von der Schwiegersohngeschichte war nicht mehr die Rede. Arthur Schenk aber legte das vergiftete Netz dem Buchbinder um die Schulter.

»Ja, ich habe meinem Müller-Ohm was angedeutet.«

»Und was meinte er?« fragte Matthias mit aller Spannung.

Schenk zuckte die Achseln: »Ich horchte ihn beiher aus, was er wohl dazu sagen würde, wenn du zu ihm kämst und um Lillys Hand anhieltest.«

»Nun?«

»Gar nichts würde er dazu sagen, – das war ungefähr seine Antwort.«

»Wie soll ich das auslegen?«

»Ist nicht leicht. Onkel drückt sich meist ein bißchen unklar aus. Hat immer Mehlstaub auf seiner Rede, daß man nichts genau erkennen kann. Aber das Beste ist doch, scheint mir wenigstens, du gehst selbst mal hinaus und stellst ihm alles vor. Wenn ich es ganz bestimmt prüfe: ohne Wohlwollen für dich ist er am Ende nicht.«

»Morgenden Tages bin ich bei ihm, verlaß dich drauf. So, wie es jetzt ist, kann ich es nicht mehr aushalten.«

»Ist recht, mein Junge. Um drei nachmittags, wenn er geschlafen hat, ist er immer am ehesten zu sprechen.«

»Und vielen Dank, daß du ihn doch etwas vorbereitet hast.«

»O bitte, dafür nicht. Wie gesagt, eine Verantwortung kann ich in keiner Beziehung übernehmen. Ich erzähle dir nur gewissermaßen meinen Eindruck. Also gib mir keine Schuld, wenn du da noch auf Bedenken stößt.«

»Wie käme ich dazu? Ich glaube, daß du es gut mit mir meinst. Mehr kannst du ja nicht für mich tun.« – – –

Am nächsten Nachmittage, es war grau nebeliges Februarwetter, lauerten Schenk und Beowulf drüben in der ›Post‹. Richtig, um halb drei trat Matthias aus seinem Hause. Er hatte seinen besten Hut auf und ging sorgsam, um mit den blanken Stiefeln nicht in die Nässe zu geraten.

Die beiden Genossen kniffen sich gegenseitig vor Vergnügen in die Beine!

Noch hatten sie keine Stunde lang darüber ihre Mutmaßungen austauschen können, was Müller Diercks wohl mit diesem Freier anfangen würde und was der Buchbinder wohl für ein mächtig langes Gesicht zog, wenn er da abblitzte, daß es nur so krachte, ja, – da erschien Matthias auch schon wieder auf dem Marktplatze.

Er schonte seine Stiefel nicht mehr, und der neue Hut war zerdrückt. Sein Rock saß um ihn, als wäre er ihm plötzlich zu weit geworden. Der Mann wankte über das Pflaster wie ein Betrunkener, schleppte sich mühselig bis an sein Haus und sank da trotz der Kälte erst auf die Bank, trostlos vor sich hinstierend.

Der Anblick war so traurig, daß sogar dem schönen Beo sein Lieblingswort in der Kehle stecken blieb, und Schenk fühlte eine Ahnung von Gewissensbissen, weil er mit seinem verstümmelten und heimtückisch ins Umgekehrte gedrehten Berichte den, der ihm so dankbar war, in dies Elend hineingelockt hatte.

Die beiden sahen lieber nicht mehr nach dem Buchbinder hin, sie machten nur schwache Versuche, die Schuld von sich auf Matthias selber abzuwälzen: »Er hat's ja nicht anders wollen. Hätte sich selbst sagen müssen, daß einer wie Müller Diercks sich keinen solchen kleinen Mann als Schwiegersohn gefallen läßt. Die Lehre tut ihm ganz gut. Hochmütig ist er immer gewesen, so lange er hier in Tweetenhorn seinen Kleister kocht. Soll er ein andermal vernünftiger sein.« –

Matthias, den der Frost doch endlich durchdrang, stand langsam auf und trat in seine Stube. Da legte er den Hut und die übrige Sonntagskleidung, immer ganz langsam und bedächtig, ab und tat sein Arbeitsgewand an. Aber als er dann den Mantel nahm und ihn in den Schrank hängen wollte, da sah er auf dem Rücken einen weißen Fleck, und es trat ihm das Schreckliche, das er erlebt hatte, wieder grell vor die Augen: wie ihn der Müller auf der Diele, – denn ins Zimmer ließ er ihn gar nicht erst, – nach seinem bescheiden anfragenden Worte vor die Brust stieß, daß er an die gekalkte Wand taumelte. Ehe er sich aufraffte, war Müller Diercks schon wieder verschwunden …

Noch bezwang sich Matthias, nahm mit äußerster Ruhe eine Bürste und säuberte das Kleidungsstück. Aber mit den letzten Kalkspuren war doch die Schmach nicht ausgelöscht. Seine Brust hob sich krampfhaft, es schien, als sollten ihm die Tränen hervorstürzen. Aber sein Auge wurde nicht naß.

Er stellte sich in seine Werkstatt und arbeitete, wie wenn er ein seelenloses Ding war, zu dieser oder jener Geschicklichkeit geschaffen.

Erst in der Nacht kam die Erlösung …

Lilly wußte wohl, daß Matthias bei ihrem Vater gewesen war. Daß er abgewiesen worden sei, – sie konnte sich's zwar denken, aber welch einen schlechten Empfang er in Wirklichkeit gefunden hatte, das war ihr nicht bekannt. Die alte Katharine konnte ihr nichts verraten: »Ich bin da ja nicht dabei gewesen, mein Herzenskind, und mir sagt dein Vater ja auch nichts. Aber, aber!«

Beide waren viel zu zaghaft, als daß sie den Müller auch nur um das Geringste befragt hätten. So brachte Lilly ihre Tage in Beben und Bangen hin. Müller Diercks aber, den sich der Unglücksbuchbinder auf Schenks falschen Rat zum Schwiegervater hatte küren wollen, prahlte in der ›Post‹ und lachte über das ganze Gesicht: »Junge! Junge! Beewerten den Kirl de Büren, as ick em bi'n Kanthaken nöhm un an de Wand setten däd, dat dat klack säd!«

Dann schrieb er nach Lübeck, und als er vier Tage darauf die Entgegnung bekam, ging er mit dem Briefe zu seiner Tochter, die blaß aussah und mit aller Gewalt häkelte, damit sie nur nicht aufzusehen brauchte.

»Na, mein' Tochter,« sagte der Müller gemütlich, sogar zärtlich, »wie geht es dir?«

Lilly beugte sich noch dichter auf ihre Handarbeit. Der Müller fuhr fort:

»Ich hab' eine schöne Einladung für dich. Von Tante Miede. Sie meint, ob du nicht mal wieder auf ein halbes Jahr nach Lübeck kommen willst. Mein' ich auch, mein' Tochter. Hier riecht es 'n büschen doll nach Kleister, nicht wahr? Das ist nicht gut für deine Gesundheit. Freust dich wohl, was? Kannst gerne noch länger als ein halb Jahr dableiben. Ordentlich an die frische Seeluft, mein' Tochter. Fang' dir Krabben, dann vergehn die Grabben. Na, adjüs. Ich muß nun über Land. Und wenn ich heute Abend wiederkomme, denn freu' ich mich schon, daß da ein Telegramm von dir aus Lübeck liegt: Glücklich angekommen, alles wohl. – Verstehst mich ja, mein' Tochter, nicht?«

Er ging und klinkte die Tür mit harter Faust hinter sich zu.

Lilly warf die Häkelarbeit und das Garnknäuel weit von sich. Der Faden zerriß. Sie nahm das Deckchen, woran sie wirkte, und schluchzte hinein, daß alles an ihr flog.

*

Und wiederum war das, was Matthias innerlich mit sich abzumachen hatte, lange nicht so schlimm wie die Teilnahme, die ihm – so dünkte es ihn wenigstens, – ganz Tweetenhorn aufdrängte. Freundliche und höhnische Anteilnahme. Die Clasenschen Frauen freilich waren nur mitleidig, und darin heuchelten sie nicht. Jetzt, wo für sie selber die Gefahr vorüber war, wo sie ihr eigenes kleines Ich wieder in Sicherheit hinter den Lindenbäumen wußten, dauerte es sie aufrichtig, daß so ein netter junger Mann wie Tedebus eine unglückliche Liebe haben mußte. Sie mäßigten sogar ihre schlechte Meinung über Lilly. – »Das mit dem Leutnant … ach! die Menschen sagen ja so viel!« – So ganz und gar hatten sie ja nie daran geglaubt.

Hier war in der Tat Ehrlichkeit, mochte sie auch aus noch so krasser Eigenliebe fließen. Matthias aber blieb verschlossen davor. Er wollte nicht von Frau Clasen und Fine mit diesem trauernden Ausdruck angesehen werden. Er traute ihnen nicht recht mehr über den Weg. So schätzte er die Frauen, wenn auch nicht zu niedrig, doch in einer Weise unrichtig ein, und den Menschen, dem er die Schmach im Müllerhause zu verdanken hatte, durchschaute er ebensowenig, sondern hielt ihn doch noch für seinen Freund. Arthur Schenk tat ganz zerknirscht.

»Daß ich es auch noch sein muß, der dich da sozusagen hinausgeschickt hat,« klagte er.

»Du wußtest nicht, daß dein Onkel so gegen mich gesinnt war.«

Schenk fuhr in seiner schlauen Selbstbezichtigung fort: »Ja, wenn ich es mir recht überlege, – ich hätte ihn doch am Ende aus seinen Worten verstehen sollen. Aber manchmal macht er seinen derben Spaß und tut sogar brummig und meint es dabei seelengut. Ich kann mich gar nicht beruhigen.«

»Laß nur,« tröstete Matthias ihn. »Du hast für mich getan, was du konntest. Ich bleibe dir dankbar.«

Schenk war zufrieden. Der Kleisterfritze hatte nichts gemerkt. Der hatte einen Gehirnkasten von Pappe. Mit dem konnte man sich bald mal wieder einen fidelen Streich erlauben. –

Matthias brachte es lange Wochen nicht über das Herz, seiner Mutter von dem Ausgange dieser seiner ersten Liebe zu schreiben. Sie fragte ihn auch erst nicht, dann aber konnte sie es doch nicht lassen.

Fräulein Diercks – so hieß es in einem ihrer Briefe, – hat mir ja gar keinen Gruß wieder geschickt. Wie kommt das, mein Junge? –

Das kommt, liebe Mutter, – lautete die Antwort, – weil Fräulein Diercks in Lübeck ist. Da soll sie andere Gedanken kriegen. –

Und Matthias berichtete, wie es ihm ergangen war. Nur, daß der Müller ihn gegen die Wand gestoßen hatte, – sein Stolz konnte sich nicht überwinden, die Schande dem Papier anzuvertrauen. Er erzählte:

Der Vater wies mich kurz ab, und damit ist für mich alles dahin, denn gegen den Willen des Vaters wird Lilly, wie ich sie kenne, nie etwas tun, und ich selbst würde auch nie etwa heimlich mit dem Mädchen Briefe wechseln. Vater und Mutter ehren, nicht wahr? Vor diesem Gebot muß ich meine Liebe verstummen lassen. Mitgenommen hat es mich, liebe Mutter. Erst dachte ich, Tweetenhorn sei mir nun verleidet. – Ich wollte verkaufen und mich anderswo ansiedeln. Aber ich bin, denke ich, besserer Meinung geworden. So sehr ich auch nachgrübele, irgend ein Unrecht habe ich nicht begangen, und wenn sich bei dieser Sache jemand über etwas schämen muß, glaube mir, Mutter, ich bin es nicht. Warum also soll ich von der Stelle weichen? Das sähe ja aus wie feige Flucht. Ich blicke den Leuten offen in das Gesicht. Wer Schadenfreude hegen will, soll es meinethalben tun. Ich gehe meine Bahn hier weiter, denn so wahr und wahrhaftig ich Fräulein Diercks innig lieb gehabt habe und noch habe, – das käme mir allzu weich und eines Mannes unwürdig vor, wenn ich über solcher Liebe zusammenbräche. Darüber wegkommen, liebe Mutter, sollst sehen: es geht. –

Es ging. Als der Mai kam, als der Goldregen seine schweren Blütentrauben neben den süßduftenden lila Dolden des Syringenbaumes herabhangen ließ, da bekam Matthias wieder helle Augen, und sein tapferes Herz schlug ungeschwächt.

Er und der Müller gingen aneinander vorbei, ohne sich zu kennen. Einmal tat der Müller, – überkam ihn vielleicht ein schwaches Bewußtsein, daß er dem Buchbinder eine Art Erklärung oder doch ein gutes Wort schuldig wäre? – auf der Straße ein paar Schritte zu Matthias hin. Der aber wich, ohne seine Absicht allzu auffällig werden zu lassen, in aller Ruhe zur Seite aus.

»Denn nich, Schapskopp!« murmelte der Müller.

So hatte es zwischen ihnen sein Bewenden beim einander Übersehen.

In dem festen Glauben, daß Gott alles zu seinem Wohle lenke und ihm auch den Schmerz um Lilly Diercks zu einem guten Zwecke, den seine Menschenaugen nur noch nicht sehen konnten, auferlegt habe, fand Matthias Tedebus das Gleichgewicht seiner Seele wieder.

Aber gerade, als er sich beinahe bis zu seinem alten Lebensmute hindurch gerungen hatte, da kam eine neue Prüfung, ein Unglück, das seinem Herzen die Heimat auf Erden raubte.

Er erhielt ein Telegramm: ›Mutter plötzlich schwer krank. Komme sofort. Clara.‹

Telegramme, die so lauteten, das verhehlte sich Matthias nicht, waren oft nur milde, schonende Vorbereitungen auf die allertraurigste Nachricht, – gleichsam ein frommer, erlaubter Betrug. Er wußte von seiner Mutter selbst, daß bei ihr die Gefahr eines Schlaganfalles bestand. Gefaßt sein mußte er auf alles. Vielleicht war seine Mutter schon nicht mehr am Leben. Aber dann auch wieder: wie er Clara kannte, so verstand sie sich nicht viel auf Milde und Schonsamkeit. Sie hätte ihm doch vielleicht gleich die volle Wahrheit gemeldet. Also lebte seine Mutter wohl noch, war wirklich nur schwer krank, wollte ihn sehen, und gewiß! nun kam er und pflegte sie mit aller Kraft seiner Sohnesliebe gesund.

Wie es indessen auch stehen mochte, die Hauptsache war, daß er rasch nach Kappeln reiste, und in dieser Stunde, als er hastig sein Bündel schnürte, versank ganz von selbst der Groll, den er gegen Frau Clasen gefaßt hatte, denn ohne Weiteres bot sie sich an, nun den ganzen Tag für ihn im Laden zu sein, damit er das Geschäft nicht zu schließen brauchte.

»Und Fine hilft auch aus, – verlassen Sie sich nur auf uns.«

Das war nun was wert, treue Menschen im Hause zu haben, die im Notfalle für einen eintraten! An das Vorgefallene zu denken, wäre kleinlich gewesen und hätte ihm ja auch gar nichts genützt. So nahm er Frau Clasens Anerbieten dankbar an.

Er fuhr mit der Eisenbahn nach Kiel und von da mit dem Dampfschiffe nach seiner Vaterstadt.

Spät abends kam er an und eilte, von Hoffnungen und Zweifeln durchzittert, vom Bollwerk aufwärts dem Markte zu. Die dunkeln Gassen waren merkwürdig still, sein Schritt hallte laut an den Mauern entlang. Er hörte, wie sein Herz klopfte.

Als er aber dann vor das Haus seiner Mutter kam, sah er alle Fenster weit geöffnet, und viel Licht drang heraus.

Da wußte er ja denn, daß seine liebe Mutter dort oben lag und tot war.

Er ging noch nicht ins Haus. Er kauerte sich erst auf der Vortreppe nieder, umklammerte den granitenen Geländerpfosten und preßte die Stirn gegen die Eisenstange.

Seine Mutter tot.

O, wie fror es ihn in der leeren, dunkeln Welt. –

Und als er dann später am Sarge seiner Mutter gekniet, als ihr friedlich lächelndes Antlitz ihn gelehrt hatte, was es heißt: verklärt werden, – als er die ganze bittere Schmerzlichkeit des Abschieds für immer durchgekostet und mit dem letzten Blick auf den versinkenden Sarg gelobt hatte, stets ein reiner und guter, seiner Mutter würdiger Mensch zu bleiben, – da erlebte er, was diesem Tode, aus dem er trotz allen Wehs noch eine Läuterung sog, jegliche Weihe und Hoheit nahm: seine Schwester Clara, von ihrem Bräutigam noch aufgestachelt, raffte vom mütterlichen Erbe an sich, was ihr nur erreichbar war. Matthias gab lieber nach, als daß er in den gewöhnlichen Geschwisterstreit mit ihr verfallen wäre. Bei diesem oder jenem Stücke hatte er jedoch den Wunsch, es als Andenken an seine Mutter zu besitzen. Sobald er aber sein Auge auf etwas richtete, wurde gerade dieser Gegenstand für Clara begehrenswert.

»Das hat Mutter mir schon lange versprochen!« war dann immer ihre Redensart.

»Also gut! Wenn Mutter es dir versprochen hat … behalt' es.«

Immer geringer wurde auf die Art Matthiassens Hälfte. Zuletzt widerte ihn die Habgier seiner Schwester so an, daß er zu ihr sagte:

»Gib mir Mutters Tisch mit dem Tintenfaß und der Feder, und dann noch ihren Stuhl und das Bild von ihr und die Bibel, – auf das übrige verzichte ich.«

Claras Augen funkelten; sie bezwang ihre Freude mühsam: »Ja, wenn du es mir selber alles schenkst –«

»Gewiß, Clara, ich schenke es dir selber alles.«

»Sonst … ich will wahrhaftig nichts, als redlich teilen.«

»Ja, ja. Nimm nur. Was soll ich schließlich mit so viel?«

»Nichtwahr? Du brauchst es ja nicht. Aber ich, wo wir nun bald heiraten.«

»Ganz recht. Und das mit dem Geld, das überlassen wir alles dem Advokaten. So gibt es ganz sicher keinen Irrtum, und wir kommen nicht in Uneinigkeit.«

»O, wir uns uneinig? Was würde Mutter davon wohl denken!«

»Das mein' ich auch. Leb' wohl, Clara. Alles Gute.«

Er machte einen Umweg über den Kirchhof und nahm eine Hand voll Sand vom Grabe seiner Mutter. Mit diesem Häuflein heiliger Erde fuhr er dann wieder über die See.

Er stand hinten auf dem Schiffe. Die Stadt verschwand vor seinen Blicken. Ja, verschwinden. Laß sie. Er hatte da ja auch jetzt nichts mehr zu suchen. Und nach der Melodie: ›Es ist bestimmt in Gottes Rat‹, – die ihm durch den Sinn zog, kamen ihm, im Takte, wie sich die Schraube des Dampfers durch das Wasser wrickte, die Verse:

Jetzt muß mein Herz auf Wandern gehn,
Sich nach 'ner andern Stätt' umsehn,
Zu bleiben, ja, zu bleiben …

* * *


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