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Der Winter kam. Großmutter lag noch immer. Die Bretter auf dem Schuppendache waren wieder aufgenagelt worden. Matthias hielt sich selber mit Trost hin. Bis zum Frühjahr, – und eher konnte man bei der nassen und kalten Witterung doch nicht recht ans Bauen denken, – ja, bis zum Frühjahr mußte sich mit der alten Amundsen alles entschieden haben … so oder so. Dann setzte er auf jeden Fall seinen Willen durch. Frau Clasen räumte ihm oben eine Stube als Lager ein, – damit half er sich denn so lange.

Von seinen eigenen Plänen war wenig die Rede, dagegen drehte sich das Gespräch zwischen ihm und den Frauen fast täglich darum, was Frau Clasen tun sollte, um die tausend Mark von Finens ehemaligem Bräutigam zurück zu bekommen.

»Alles Mahnen hilft nichts, also müssen Sie ihn verklagen,« riet ihr Matthias.

»Mit ihm vor Gericht?« rief Fine, »o nein! Das könnte ich nicht!«

Auch die Witwe hatte eine furchtbare Angst vor allem, was Gericht hieß. Da wurden am Ende Reisen nötig, da mußte jedenfalls ein Advokat angenommen werden, und der berechnete sich das ganze Geld als Kosten, und sie selber hatten das Nachsehen. Nein, es mußte lieber alles im Guten gehen.

»Nun,« schlug Matthias, der fruchtlosen Herumklagerei müde, schließlich vor, »geschehen muß da was. Geben Sie mir Vollmacht, dann will ich ihn mal besuchen.«

Frau Clasen überströmte ihn mit Dankesworten. Sie sah Matthias schon aus dem Hause des Zahnarztes kommen, beladen mit sämtlichen Talern, die Beowulf ihr schuldete.

»So rasch geht das nicht. Machen Sie sich nicht zu viel Hoffnung,« warnte Matthias die Witwe. –

Also pochte er beim schönen Beo an. Der empfing ihn im eleganten Morgenanzug: – er trug rote Lederschuhe, eine graue Hose, eine buntseidene Weste und eine vielverschnürte Sammetjacke. Verwundert strich er sich den Bart und legte die Zigarre erwartungsvoll aus der Hand. Dann blitzte es ihm plötzlich auf: »Ach,« rief er aus, »ich kann mir denken! Bitte, nehmen Sie Platz.« Er selbst ließ sich in den Korbsessel sinken.

»Ja, Herr Beowulf,« fing Matthias an, »es handelt sich um den Vorschuß auf die Mitgift.«

Der schöne Beo schlug ein Bein über das andere: »Verehrter Herr, so viel ich weiß, habe ich den nicht von Ihnen gekriegt.«

»Aber Frau Clasen hat mich beauftragt …« Matthias holte die schriftliche Vollmacht hervor, »wenn Sie sich dies vielleicht mal ansehen wollen?«

»Bitte, bitte! Unter Kavalieren, selbstverständlich, – Ihr Wort genügt.«

Der schöne Beo winkte eifrig, Matthias sollte sein Aktenstück nur ruhig wieder in die Tasche stecken. Dann fuhr er fort: »Schließlich, mir ist es ja egal, mit wem ich die Ehre habe, mich über den Fall zu unterhalten. Auszahlen kann ich die Sache sowieso heute nicht.«

»So? Und bis wann denken Sie denn …?«

»Bester Herr Tedebus, – Menschen wie ich … von Zufällen abhängig … heute rot … morgen tot, übermorgen wieder fideler als je! Abwarten. Das ist der einzige Rat, den ich den Damen geben kann.«

»Frau Clasen wartet nun aber schon alle Zeit umsonst. Hätten Sie nur den Versuch gemacht, etwas von der Summe abzutragen.«

»Versuch? Erlauben Sie! Wer sagt Ihnen denn, daß ich das nicht schon tausendmal versucht habe? Aber versuchen Sie mal, aus einem leeren Portemonnaie hundert Taler oder so herauszuschütteln!«

Er griff unwillkürlich in die Tasche, holte seinen Geldbeutel hervor und schwang ihn auf und ab. Das klang darin nach Goldstücken. Matthias wies auf den Reichtum hin. »Da wäre am Ende ein Versuch doch nicht so ganz vergeblich.«

Der schöne Beo merkte, was er für einen Fehler begangen hatte. Er errötete. Schnell verschwand der gehäkelte Beutel wieder in seiner Tasche, und er entgegnete, für einen Augenblick verlegen: »Na ja, das ist nun so Kassa, die ich eben für ein paar Dutzend falscher Zähne eingenommen habe. Davon kann man doch nicht gleich was abgeben, wie? Mensch wie ich muß an die Zukunft denken. Sparen, Herr Tedebus. Und schließlich, das hab' ich Ihnen ja schon oft gesagt: unsereins kann doch auch nicht leben wie ein Steinklopfer, – heute Brot mit Speck, – morgen Speck mit Brot. Finden Sie nicht?«

Matthias blieb fest: »Ich finde zu allererst, daß Sie Frau Clasen nicht um ihr Eigentum bringen dürfen.«

Der schöne Beo fuhr auf: »Das ist eine Sprache! Wenn das vor Zeugen … Donnerwetter! Ich würde mir aber Revanche genommen haben!«

Matthias ließ sich nicht einschüchtern: »Wer nicht bezahlt, wenn er die Tasche voll Goldstücken hat …«

»Ja, bilden Sie sich denn ein, meine verflossene Schwiegermutter wäre die einzige, der ich was schuldig bin? Das ist ja schon mehr Größenwahn! Womit ich hier eben geklimpert habe, – ich rede vom Sparen, aber verlassen Sie sich darauf: das wird mir bald genug abgeholt. Die Musik verstummt rasch.«

»Ganz recht, Herr Beowulf, wir werden uns wenigstens bemühen, das Geld anderswo weiter klimpern zu lassen. Wir klagen.«

»Wir?«

»Ja, wir.«

Der schöne Beo machte große Augen, dann versuchte er schnell, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, um in die Überlegenheit zu gelangen.

»Ach so!« Er lehnte sich weit in den Stuhl zurück, griff wieder nach der Zigarre, zündete sie sorgsam von neuem an und blies den Rauch in dicken Wolken von sich. »Wir! Jawohl! Verstandimus!«

Matthias stutzte: »Was wollen Sie verstehen?«

»Na, Wertester, – taubstumm kann ich mich doch nicht stellen. Sie als Ritter von meiner verflossenen, – ich meine, verzeihen Sie, von Fräulein Josefine Clasen. Aha! Stimmt! Da sieht man wieder mal! Erst tun die Mädchen, als ob sie an unglücklicher Liebe zugrunde gehen wollen, und ehe man sich selbst noch die Herzenswunde vernäht hat, haben sie einen Tröster. Brülljant. Gratuliere!«

In aller Ruhe antwortete Matthias: »Das Mißverständnis ist ein bißchen sehr absichtlich, Herr Beowulf. Ich bin nichts als Frau Clasens Bevollmächtigter. Darauf bezog sich das Wir.«

»So? Na, auch gut. Was nicht ist, kann ja aber noch kommen.«

»Zu welchem Termin darf Frau Clasen das Geld erwarten? Bitte, bestimmt.«

Der schöne Beo sah ein, daß mit dem Buchbinder nicht zu spaßen war.

»Also sagen wir meinetwegen mal,« entgegnete er zögernd, »vier Monate.«

»Das ist uns zu lange.«

»Drei.«

»Nein.«

»Na, denn zwei. Das ist hier ja die reine Erpressung!«

»Wir wollen das schriftlich machen.«

»Fällt mir nicht ein. Ich weiß überhaupt noch gar nicht, ob ich das Geld zurückzahlen muß. Eigentlich war es doch geschenkt – aus Liebe.«

»Das wird sich ja vor Gericht finden. Ich gehe gleich hin.«

Matthias stand auf.

»Zum Deubel,« rief der Zahnarzt, »dann lassen Sie uns solchen Wisch aufsetzen!«

Und er schrieb und unterschrieb, was Matthias von ihm verlangte.

»Also dann auf Wiedersehen am fünfzehnten April, Herr Beowulf. Danke. Adieu.«

»Ich habe schon manchen Gerichtsvollzieher in meinem Leben gesehen, aber so was Geierhaftes ist mir noch nicht vorgekommen,« warf ihm der schöne Beo nach.

Matthias aber hatte das letzte Wort: »Das freut mich, Herr Beowulf.« –

So hatte Frau Clasens Sachwalter einen tüchtigen Erfolg davon getragen. Der schöne Beo jedoch, dem jetzt und zwar nicht allein von dem Buchbinder das Messer an die Kehle gesetzt wurde, arbeitete mit seinem ganzen, nicht unbeträchtlichen Scharfsinne daran, um sich ein für alle Male aus den Wirrnissen herauszuretten. Dabei verfolgte er eine Spur, die er schon lange aufgenommen hatte und die, wie es schien, zu einem sicheren und ihn sichernden Ziele führte.

Seine Freundschaft mit Arthur Schenk pflegte er in der letzten Zeit nur lau. Da war nichts zu holen. Statt dessen saß er jetzt fast Abend für Abend oben in der Mühle und stürzte die großen Gläser voll schweren Portweins herunter, den sich Müller Diercks als Leib- und Magengetränk erwählt hatte. So mißtrauisch und unzugänglich der Müller sich im allgemeinen verhielt, war es doch nicht unmöglich, sein Günstling zu werden. Man mußte ihm nur die Schmeicheleien faustdick aufstreichen, dann wurde er gefügig. Und der schöne Beo saß und jubilierte den dicken Müller an. Der war auf den Magistrat nicht gut zu sprechen. Er hatte mehrere Prozesse in Grenzstreitigkeiten und Bodengerechtigkeiten gegen die Stadt geführt und verloren, und außerdem war er zweimal bei der Stadtverordnetenwahl durchgefallen, – nach des Müllers Ansicht Gründe genug, um die Herren auf dem Rathaus und die gesamte Bürgerschaft mit mächtigem Groll in Acht und Bann zu tun.

»Nun ja,« erklärte der schöne Beo, »der Herr Amtsrichter wird dem Magistrat unrecht geben, wie? Daß das Land dir gehört, das war ja so klar wie Torf. Jede Nebelkrähe konnte das einsehen, bloß natürlich hohe Justitia nicht. Wie? Ist der Herr Amtsrichter ein Vetter vom Bürgermeister, oder ist er das nicht?«

»Bande!« sagte der Müller.

»Und dann in das verehrliche Kollegium der Stadtverordneten? Das bildest du dir ein? Ja, Mensch! Was soll denn da einer mit Gehirn im Leibe? Das wäre ja, als wenn der Habicht mang die Gackerhühner fällt! Nee, bloß nich. Um Tweetenhorn zu regieren, dazu muß man Stroh im Schädel haben.«

»Bande!« wiederholte der Müller. Er wurde grimmig, und sobald der Zahnarzt ihn in diese Stimmung hineingebracht hatte, fing er an, den Müller leise und von hinten herum dazu aufzuhetzen, daß er etwas tun solle, was der Stadt unbequem wäre.

»Verdienste? In Tweetenhorn?« begann er. »Wenn ich an mich denke! Ich habe der Gesellschaft die großartige Idee geschenkt, sie brauchte bloß zuzugreifen. Aber ja nicht. Immer hübsch im Düstern bleiben.«

»Wat meenst du?«

»Mit meinem Bad, – die Hölzung, – der Teich, das Sanatorium. Alles fix und fertig. Aber die werden geradezu wild, wenn einer Gedanken hat!«

Und dem bei all seiner Schlauheit dennoch unbeholfenen Müller wußte es der schöne Beo nun klar zu machen, was es für ein verdeubelter Spaß sein müsse, gegen den Willen der Stadt hier die Badeanlage zu schaffen.

»Bloß Kapitalisten!« seufzte er.

Der Müller ließ ihn lange seufzen. Der Stadt einen Tort anzutun, das wäre ja ganz schön gewesen, aber zehntausend Taler, – so viel verlangte der schöne Beo unbedingt für die ersten Bauten, – das war doch viel Geld. Hatte er aber früher die Beowulfsche Absicht rundweg abgelehnt, so erreichte der Zahnarzt es jetzt doch nach und nach, daß sich Diercks die Sache überlegte. Und sein Haß gegen die Stadt wegen der vermeintlichen Ungerechtigkeiten, die er erlitten hatte, war Beowulfs Bundesgenosse.

Der Müller hatte Wochen, wo er besonders viel trank und dann mit dem Gelde nur so um sich warf. Die benutzte Beowulf, denn er wußte, Müller Diercks besaß wahrhaftig keine feine Seele und wo er einen Kornhändler oder einen Bauern übers Ohr hauen konnte, da tat er es mit Freuden, aber es lebte in diesem Manne ein seltsamer Ehrgeiz, ein Rest von Ehrenhaftigkeit: was er einmal versprach, dessen entsann er sich, und wenn es auch im schlimmsten Rausche geschehen war. Nie kam es vor, daß er ein gegebenes Wort brach.

»Der Stadt zum Trotz, Diercks!« Das war immer Beowulfs Einflüsterung. »Zeig' ihnen, was du kannst. Was riskierst du denn? Du kaufst den Wald, wir bauen gleich, und dann machen wir einfach eine Aktiengesellschaft aus der Sache. Na? Wer kommt damit endlich einmal auf einen grünen Zweig? Herr Mühlenbesitzer Diercks, der es ja so verdammt nötig hat!«

Solch ein Scherz, – der war beinahe noch besser als pure Schmeichelei. Der kitzelte den Müller, und er schlug den schönen Beo aufs Knie, daß es krachte.

Und eines Abends … vier Portweinflaschen standen leer, und noch drei standen voll auf dem Tisch, … da war der Müller weich.

»Ja! Wat hett man vun all dat Geld? Dat liggt dor uppe Bank …«

»Natürlich! Das muß arbeiten. Müssen wir nicht arbeiten? Soll unser Geld es besser haben als wir?«

»De ärgern sick dor up't Rathuus?«

»Mensch, ich sage dir: die kriegen die Gelbsucht, so kolossal, daß sie die ersten sind, die in unser Sanatorium hineinmüssen.«

»Junge, Junge, dat wier 'n Spaß! Na, is 'n Wurt! Ick koop dat Holt. Wi fang'n de Geschicht' an.«

Noch nie hatte des schönen Beos Brülljant! so brillant geklungen, wie dieses Mal. Nun war es ihm ein Leichtes, vom Müller noch ein paar tausend Mark für seine Privatbedürfnisse herauszulocken. Der Müller hatte, nach langem Widerstande, einmal Vertrauen zu dem Zahnarzt gefaßt, und so gab er willig her, was Beowulf verlangte.

»Denn sieh mal,« meinte der, »das macht einen schlechten Eindruck, wenn ich hier mit Verbindlichkeiten herumlaufe. Spielt ja bei uns wohlhabenden Männern keine Rolle, he?« –

Alles glückte dem schönen Beo. Bald stand es im Wagrischen Boten zu lesen, Müller Diercks habe das Gehölz vor dem Neustädter Tor angekauft, noch in diesem Jahre solle dort ein großes Gebäude entstehen, – eine Badegesellschaft sei im Werden.

Und da nun erst einer, und noch dazu einer, der wohl wußte, wie man Geld erraffte, dem Zahnarzt Glauben geschenkt hatte, so kamen noch mehr, erkundigten sich, sagten Beiträge zu und baten jetzt förmlich darum, Herr Beowulf möchte ihnen doch ein paar von den Aktien zurückhalten, die bald ausgegeben werden sollten. Sie leisteten freiwillig ihre Anzahlung auf das neue Papier. Auch die Stadt konnte nicht anders. War die Gründung des Bades Tatsache geworden, so mußte sie dem Unternehmen ihre Förderung angedeihen lassen. Sie schenkte der Gesellschaft, an deren Spitze Diercks und Beowulf standen, die Wiese vor dem Gehölz und erklärte sich bereit dazu, die nötigen Promenadenanlagen selber vorzunehmen. Einige Häuser, die hindernd zwischen der Wiese und dem Beowulfschen Hause am Markte lagen, wurden aufgekauft und allsogleich abgerissen. Es war ein Betrieb, wie ihn Tweetenhorn noch nicht kennen gelernt hatte. Man sprach von nichts anderm als von dem Bade, und der schöne Beo war wieder einmal und diesmal auch bei den Männern der Held des Tages, an den sich alle Kaufleute, die gern ihre Groschen bei dem Sanatorium verdienen wollten, herandrängten. Nie hatte der schöne Beo so unbegrenzten Kredit besessen wie jetzt, und er nutzte ihn weidlich aus. Von den alten Schulden aber löste er sich mit der ganzen Vornehmheit und Großartigkeit, deren er sich seiner Meinung nach erfreuen durfte.

Würdevoll trat er lange vor dem fünfzehnten April in Matthiassens Laden ein.

»Bitte ergebenst: die Damen des Hauses vielleicht zu sprechen?«

»O ja, Herr Beowulf,« antwortete Matthias und sah sich den Zahnarzt erwartungsvoll an.

»Würden Sie vielleicht die Güte haben, mich zu melden?«

Dabei holte der schöne Beo aus einer duftenden Ledertasche eine große Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch.

Matthias, obschon er sich für solche Botendienste nun nicht gerade gern gebrauchen ließ, bezwang sich. Es war am Ende was Gutes für die Clasens. Das wollte er nicht hindern. Die Karte freilich ließ er liegen, wandte sich aber zum Gehen: »Augenblick …«

»Ach, da fällt mir ein: das ist ja gar nicht nötig, daß ich erst hinaufgehe,« rief Beowulf. »Diese Wiederbegegnung – doch etwas peinlich. Sie sind ja, wenn ich mich recht erinnere, Generalbevollmächtigter hier.«

»Wenn Sie etwas zu bestellen oder abzugeben haben, – ich besorge es schon.«

»Also, bitte sehr!« Damit holte der schöne Beo eine andere Tasche hervor, zog langsam die Glacehandschuhe aus und begann, auf die Glasscheibe des Ladentisches einen Kassenschein sorgfältig neben den andern hinzubreiten, so daß zuletzt tausend Mark und etliche Zinsen in ihrer ganzen Pracht dalagen.

»Nachzählen? Und bitte … etwas Quittung.«

»O das freut mich aber, Herr Beowulf,« sagte Matthias, »nun ist Frau Clasen ja mit einem Schlage aus aller Besorgnis heraus.«

»Bei mir sind Besorgnisse überhaupt gänzlich unmotiviert, verehrter Herr!«

Beowulf bekam seine Quittung, Matthias begleitete ihn wie seinen besten Kunden vor die Haustür und machte ihm einen Diener, den der hohe Herr kühl gnädig erwiderte.

Hinterher besah sich Matthias die Visitenkarte. Mr. Harry Beowulf, Direktor der Tweetenhorner Zahnheilklinik und Präsident des Aufsichtsrates der Ostholsteinischen Aktien-Badegesellschaft ›Sanitas‹, – stand darauf.

Junge, Junge, meinte Matthias. Aber einerlei, das Geld ist da.

Er raffte die Scheine zusammen und sprang wie ein fröhliches Kind die Treppe hinauf.

»Das Geld, Frau Clasen! Von Beowulf! Das volle Geld! Dafür soll ihm viel vergeben sein, nichtwahr?« –

Ja, sie vergaben in ihrer Freude um das wiedergewonnene Gut dem schönen Beo nicht nur viel, sondern eigentlich alles, – selbst das, was er nicht wieder ins Haus bringen konnte: die Jahre der rasch dahinschwindenden Jugend, die er Fine geraubt oder wenigstens gekostet hatte. –

Und dann tat der schöne Beo, von den Erfolgen, die ihm jetzt Schlag auf Schlag zufielen, auf das äußerste kühn gemacht, – immer, ohne seinem Freunde Schenk auch nur ein Wörtlein von dem zu verraten, was er vor hatte, – den letzten und wichtigsten Schritt, um auf den Gipfel seiner Macht zu gelangen.

Während emsige Hände das Gehölz zu einem Park umgestalteten, verreiste er, – nach Lübeck, wo Lilly Diercks noch immer in einer Verbannung lebte, die sie allerdings nicht als Unglück empfand. Ihr kleines Herz war nicht danach geschaffen, einer verlorenen Liebe lange nachzutrauern. Sie weinte sich aus, und dann fing sie auch bald wieder an zu zwitschern. Die Tante sorgte eifrig dafür, daß das Gemüt des jungen Mädchens seine Zerstreuung fand. In feine Kreise war Lilly eingeführt worden. Da durfte es niemand wissen, daß sie je für einen Buchbinder geschwärmt hatte. Es kam bei all den Vergnügungen und Festen, zu denen sie geleitet wurde, schnell so weit, daß sie an ihre Zeit mit Tedebus fast zweifelnd zurückdachte. Hatte sie, die hier von jungen Patriziern und Offizieren verehrt wurde, wirklich einmal für den kleinen Geschäftsmann am Tweetenhorner Markt etwas übrig gehabt? Ihr Herz war ehrlich und antwortete: ja, und Matthias war ein lieber Mensch. Aber gut war es doch, daß Vater da ein Ende machte. Wo säße ich jetzt? Hinter den Bäumen am Markt und müßte Schulhefte und Griffel verkaufen. Wir wären, – so seufzte das Herz und erleichterte sich damit von dem Weh, – ganz sicher doch nicht glücklich mit einander geworden. Und nun flatterte das Herzchen, um nur jeglicher Unbehaglichkeit möglichst bald ledig zu werden, einmal hierhin, einmal dorthin. Die Tante drückte ein Auge zu, wenn dieser oder jener Herr seine Fensterpromenaden machte und im Konzert, wie zufällig, neben Lilly Platz nahm. Das arme Kind! Es hatte so viel durchgemacht. Nun mußte es sich doch ein bißchen erholen.

So sprach die gefällige Tante, und es geschah unter ihrer Duldsamkeit, die nichts anderes war als ihr recht starker und gefährlicher Einfluß, daß Lilly Diercks sich wandelte oder daß wenigstens die Anlage, die immer in ihr geschlummert hatte, nun von Monat zu Monat deutlicher zum Vorschein kam. Aus der ungezwungenen Munterkeit, die Matthias bei dem jungen Mädchen so köstlich angemutet hatte, ward nach allerhand kleinen Übungen in der Liebelei und nach allerhand Geplänkel mit Männern, die es erst recht nicht ernst meinten, eine etwas gekünstelte Lebhaftigkeit. Lillys Stimme gewann einen schrillen und gemacht lustigen Klang. Die einfache Kleidung, aus der ihre Jugend bisher so reizend hervorgestrahlt hatte, genügte ihrer erwachenden Phantasie nicht mehr. Sie trug sich als große Dame. Das paßte dann aber nicht zu ihrer kleinen, zierlichen Gestalt, und weil sie das selber fühlte, so bemühte sie sich, gemessene, stolze Bewegungen anzunehmen, die die Harmonie ihres ganzen Wesens zerstörten. Der Aufschlag ihrer Augen war nicht mehr ihr schlicht natürlicher, lieber Mädchenblick, o nein, er wurde jetzt berechnet und war nach Art eines weiblichen Geschöpfes, dem viel ahnte und das immer Weiteres zu wissen begehrte, genau eingelernt, um zu winken und zu locken. Alles in ihrer Natur wurde zwiespältig. Sie schwankte in ihren Neigungen und Stimmungen unter allerlei Hauchen der Leidenschaftlichkeit.

So war die Blüte ihres Mädchentums jetzt lange nicht mehr so frisch wie zu der Zeit, da sich Matthias an ihrem Duft entzückte.

Ihre Seele, schon ganz früh des mütterlichen Schutzes beraubt und seitdem von keinem wirklich verständigen Geiste bewahrt, nahm Schaden unter all den zweifelhaften Eindrücken, die die Tante, sei es aus eigener Lust am leichtfertigen Treiben, sei es in der Tat aus einer falschen Liebe, nur zu gern an sie heranließ.

Und in das Leben dieses unbewachten Mädchens trat nun der schöne Beo mit seinem magnetischen Blick. Des Müllers hatte er sich versichert. Der konnte zu seiner Absicht gar nicht nein sagen. Dafür war er schon viel zu sehr mit dem Zahnarzt in sonstige Gemeinschaft geraten. Beowulf hatte kurz vor seiner Abreise eine entscheidende Unterredung über Lilly in der Mühle gehabt. Und Diercks hatte sich zuletzt, wenn auch immerhin zögernd, dazu verstanden, dem Drängenden die Hand zu reichen:

»Na ja, is good, – wenn se di hebb'n will …«

»Verlaß dich drauf, Schwiegervater, sie will!«

Jetzt in Lübeck – vier Wochen unablässiger, angestrengter Arbeit. Der schöne Beo war jeden Tag um Lilly herum, und sie, die keinen einzigen ehrlichen Ratgeber hatte, die sich auch, aus Angst, daß sie bei all der Spielerei schließlich noch sitzen bleiben könne, mehr und mehr danach zu sehnen begann, Frau zu werden, und in der endlich, obschon es ihr in Lübeck gut gefiel, doch ein Stück Heimweh lebte, – sie wehrte sich nicht lange gegen die tieftönige Stimme, mit der Beowulf ihr entdeckte, daß er sie geliebt habe, – o, schon lange geliebt habe – bis zum Wahnsinn. Nur seine Bescheidenheit war es bisher gewesen, die ihn zurückhielt: »Denn was konnte ich Ihnen bieten? Aber heutzutage, – wer hat bessere Aussichten als ich? Ihr Herr Vater, mein werter Freund und Gönner, – ich schwöre Ihnen, keinen Augenblick hat er gezögert, als ich die große Frage an ihn stellte. Wenn Lilly einwilligt, – selbstredend, ja. Auf Ehrenwort, das hat er gesagt. Meine Zukunft ist glänzend, aber sie besteht aus lauter Unglück, wenn Sie den Wunsch Ihres Herrn Vaters, meines lieben Duzbruders, nicht erfüllen.«

So drehte er es nach und nach dahin um: Müller Diercks begehrte, daß Lilly seinen Freund nähme. Nach diesen vier Wochen rastloser Galanterie nahm er feierlich wehmütigen Abschied: »Ich hoffe! Sonst hätte das Leben keinen Wert mehr für mich.«

Jetzt fehlte Lilly Diercks etwas, war es der magnetische Blick, war es der Orgelklang seiner Rede, – diese beiden Dinge, unter denen immer etwas in ihr erschauerte? War es eine Hast, sie könne irgend etwas versäumen? Sei dem wie ihm wolle: sie packte ihre Spitzenkleidchen ein und reiste nach Tweetenhorn. Noch ein paar Wochen gingen ins Land, da brachte der Wagrische Bote eine Anzeige, die war dreiviertel Seite groß: Meine Verlobung mit Fräulein Lilly Diercks, Tochter des Herrn Mühlenbesitzers Zacharias Diercks, beehre ich mich hierdurch ergebenst anzuzeigen. Mr. Harry Beowulf.

Und sein ganzer, langer Titel prunkte darunter.

*

Über diese Anzeige wurde in dem Buchbinderhause kein Wort gesprochen. Frau Clasen steckte das Blatt scheu weg. Es war ja ihre unwahre Art, alles Peinliche nur rasch irgendwohin beiseite zu schaffen und sich und andern auf die Weise einzubilden, daß es gar nicht vorhanden sei.

Matthias und Josefine aber merkten jedes für sich zu ihrer Betroffenheit: es gab ja eigentlich gar kein richtiges Vergessen! In beiden flackerte das Feuer, das sie eine Zeit lang liebevoll genährt hatten, noch einmal auf, aber jetzt breitete es keine wohlige Wärme über ihre Seelen aus, nein: es brannte.

Fine dachte an die zärtlichen, Herz und Sinne erregenden Worte, die Beowulf ihr ins Ohr geraunt hatte, – Matthias fühlte die zarten Arme, die sich … dort im Mühlenwege … um seinen Nacken schlangen.

Die Worte … die Arme, – jetzt vernahm und spürte sie jemand andres. Fine und Matthias griffen zu, um den Schmerz zu dämpfen, aber sie erreichten nicht viel mehr, als daß sich die Erinnerung in einen Neid verwandelte, Neid gegen die, an deren Glücklichsein sie erst glaubten. Der Glaube rührte daher, daß Matthias und Fine anfangs in die andern das hineinlegten, was sie selber einst empfunden und geträumt hatten. Doch die beiden, die, so oder so, das Gleiche erlebt hatten: im Stiche gelassen zu werden, taten sich Dann bald mit dem Stolze der Enttäuschten an. Wie hoch hatte doch sicherlich das, was sie damals fühlten, über dem gestanden, was des Müllers Tochter und den Zahnarzt zu Braut und Bräutigam machte! Zu solchem Glücke, wie sie selber, Matthias und Fine, es hätten in sich aufnehmen und von sich ausstrahlen können, drangen die andern ganz gewiß nicht durch. So suchte der Neid seinen Trost. Für Fine war er leicht gefunden. Warum hatte sich Beowulf von ihr abgewandt? Nur des Geldes wegen. Denn seine Worte, die ihr Herz und Sinne erregten, waren unmöglich erlogen gewesen. Das litten ihr Selbstbewußtsein und ihre Gewißheit, ihm wirklich begehrenswert erschienen zu sein, nimmermehr. Er hatte sie geliebt, nach seiner Natur, daran hielt sie fest, aber er war innerlich und äußerlich nicht frei genug, um vor solcher Liebe das Geld gering zu schätzen, und war deshalb dahin gegangen, wo er Geld in Mengen fand. Dafür hatte er Lilly Diercks mit in Kauf genommen. Die arme Müllerstochter! Ob sie nun gezwungen worden war, ob er sie durch sein Raunen gewonnen, ob sie ihn selber gelockt hatte, – einerlei! Ohne ihr Geld wäre er nie und nimmer zu ihr gekommen. Und was würde er, außer dem Gelde, von jenem kleinen Geschöpfe mit ihrem bißchen Koketterie haben? Lilly Diercks war im Leben keine Frau, wie Harry Beowulf sie nötig hatte. Fine kannte ihn und wußte, was eine Frau ihm sein sollte, damit er für immer an ihr hangen konnte. Ja, die arme Lilly. Wie bald wurde er ihrer überdrüssig! So hatte Fine Clasen das Mittel in der Hand, womit sie Schmerz und Neid zur Ruhe brachte: sie bemitleidete das Brautpaar. Und nicht weit davon war der Weg, den Matthias Tedebus ging, um die unbequeme Last des noch einmal aufgewachten Leides um Lilly und der Mißgunst, deren er sich sofort schämte, von sich werfen zu können. Ja, Herr Zahnarzt Beowulf war ein Mann von feinem Auftreten und führte ein großes Haus. Da kam ein schlichter Buchbinder lange nicht mit. Es war ja auch gut möglich, daß das Bad ihm gehörigen Reichtum einbrachte, es war sogar wahrscheinlich, denn der schlaue Müller hätte ohne Zweifel seine Taler nicht in die Anlage hineingesteckt, wenn sich ihm da nicht ganz sicherer Gewinn zeigte. Und so ein Mädchen wie Lilly? Nun, die ließ sich eben blenden. Bedauernswertes Kind. Aber, – und dabei schüttelte der Buchbinder mit einem schmerzlichen Erstaunen den Kopf, – mochte man ihrer Jugend, ihrer Unerfahrenheit, ihrer Freude an allerhand Tand und Glanz noch so viel nachsehen, voll verständlich war es ihm doch nicht, daß ein Wesen, dem ein Matthias Tedebus das Heiligste geweiht hatte, sich soweit herablassen konnte, um einem Harry Beowulf anzugehören. Wie verschwendete doch der ernste Mensch so leicht seine Liebe an weibliche Oberflächlichkeit!

Da hatten Fine und Matthias ihre kleine, hochmütige Selbstgerechtigkeit gefunden und fühlten sich erhoben über die, denen sie sich vor Zeiten geneigt und von denen sie das bedeutendste Schicksal des Lebens erwartet hatten.

Wenn so ein Gedankenfluß in gerader Linie von Fine und Matthias zu Beowulf und Lilly rann, so gab es doch auch Nebenströmungen, die sich zwischen Matthias und Fine selbst kreuzten. Sie beobachteten sich gegenseitig heimlich. Wie nahm der andere Teil die Verlobung auf? War sie so etwas wie ein Schlag für ihn oder, besser gesagt, auch für ihn? Dieses Auch wollten sie nun aber nach Möglichkeit verhehlen, und darum zeigten sie sich heitere Mienen, waren gesprächig, scherzten im Laden, und gerade weil sie an einem Untertone hörten, daß die Lustigkeit nicht lauteres Gold war, und gerade weil sie überdies ein jedes für den anderen so viel Freundlichkeit in sich trugen, daß ihre Schmerzen ihnen gegenseitig weh taten, so erhöhten sie noch in dem Bestreben, einander über das Unangenehme hinwegzuhelfen, ihre Lebhaftigkeit und ihren Eifer, einander Gutes zu erweisen.

Die Anzeige im Wagrischen Boten, die Lilly Diercks mit Harry Beowulf verband, knüpfte auch Matthias und Fine zusammen.

Hätte der Zahnarzt irgend eine andere gewählt, wäre Lilly vielleicht in Lübeck zur Braut geworden, – das würde keine Wichtigkeit für die beiden im Buchbinderhause gewonnen haben. Aber gerade Beowulf und Lilly, – das wurde für Matthias und Fine zum Geschick.

Erst freilich richtete der Buchbinder seine Augen doch noch immer zum Hause hinaus. Es arbeitete sich trefflich mit Finens Hülfe, sie wurde seine Freundin, sie schützte ihn vor dem Gejammer der Mutter, sie hatte sogar so viel Mut, für ihn der Großmutter zu trotzen, wenn er irgend was im Hause verändern wollte. Aber daß er Fine in anderer Art näher treten könnte, das kam Matthias kaum zu Sinne, und wenn er je daran dachte, so geschah das in aller Ruhe, in einfacher Erwägung, ohne Wunsch und Begierde, und einen Schluß hatten solche Erwägungen nicht. Er mochte in sich weder nein noch ja sagen, dazu war ihm Fine auf der einen Seite für das, wonach es ihn als Mann verlangte, zu gleichgültig und auf der andern Seite für sein alltägliches Leben und Vorwärtskommen zu viel wert. Er hing dem Gedanken nicht lange nach, und so wurde er nicht grüblerisch, aber – und auch dazu trug schließlich Lillys Verlobung ihr Teil bei, – stärker denn vordem war nun seine Sehnsucht, wieder und jetzt für das ganze Dasein liebende Arme um seinen Nacken zu fühlen. Er hatte den Ehrgeiz, jener Treulosen oder doch Allzuschwachen zu beweisen, daß der einfache Buchbinder nicht überall verschmäht wurde, daß es Mädchen gab, die das Glück, an seiner Rechten zu wandeln, wohl verstanden.

Und Matthias Tedebus bürstete den schwarzen Rock, strich sich durch das Haar, daß es keck aufrecht stand, putzte die Brille kristallklar und machte sich auf in die Tweetenhorner Häuser, Umschau zu halten, wen er freien solle. Auf das Geld wollte er nicht mehr sehen. Er brauchte es ja nicht so nötig mehr und hatte es eben an Beowulfs Beispiel verachten gelernt, wenn ein Mann um des Mammons willen an ein Mädchen herantritt. Nein, wonach er ausblickte, das war ein Gemüt voller Treue und Anhänglichkeit, – ein Herz, das stark genug schlug, um sich ihm zu geben, selbst vielleicht, wenn Vater und Mutter zuerst nicht willig waren. Etliche Gestalten tauchten vor ihm auf, um die es sich am Ende zu werben gelohnt hätte. Die meisten aber versanken wieder. Sie hatten nicht so viel Kraft, sich in Matthiassens Seele einzunisten. Zwei blieben übrig. Ja, davon dünkte ihn jede eine Weile dazu geschaffen, eine hübsche, nette und liebe Frau Tedebus zu werden. Da war Lehrer Bungerts blondhaariges Töchterlein und dann Förster Runebergs schwarzlockiges Kind. Matthias verehrte sie beide, und beide ließen ihre Augen gern zu ihm hin spielen, und es blieb in Tweetenhorn nicht unbemerkt, daß der Buchbinder sozusagen auf einer Freierdoppelspur ging und daß ihm an den Zielen dieses Doppelweges freundlich zugewinkt wurde.

Aber Matthias kam nicht zum Stück. Mia Runeberg, – wenn er sie recht ansah und ihrem Plaudern lauschte, so schien sie ihm Lilly ähnlich zu sein. War sie also nicht ebenso ein bloß niedliches und dabei flatterhaftes Geschöpf wie des Müllers Tochter? Und Lotte Bungert, – die war nun wieder ganz anders als Lilly, – bedachtsam und sinnig. Das wäre ja ein Lob gewesen, doch als er sie näher kennen lernte, erkannte er, wie ratlos sie in allen Lebensdingen war. Er wußte nicht recht: sein Geist blieb immer so hungrig, wenn er mit ihr sprach.

Matthias pendelte zwischen seinen beiden Herzenskandidatinnen hin und her, bis die Mädchen, die erst eifersüchtig auf einander waren, einsahen, daß diese Regung bei der Unentschlossenheit des Freiersmannes keinen Zweck hatte. Da taten sie sich zusammen und nahmen sich vor, dem Zustande, der ihnen nur andere Bewerber verscheuchte, einen Schluß zu machen. Eines schönen Abends in der Harmonie, als Matthias wieder seine Damen und sein eigenes Innere auf das Gewissenhafteste für den vielleicht einzugehenden Ehebund prüfen wollte, reichten sie ihm beide mit ihrer ganzem allerliebsten Mädchenschnippischkeit Körbe hin, und Matthias, sozusagen über jedem Arm einen Korb tragend, ging geruhsam heim, wunderte sich selbst, daß er im Grunde eine Erleichterung verspürte, weil er jetzt nicht mehr die Qual der Wahl durchzuleiden brauchte, und wurde mit der kleinen Wunde, die seiner Eitelkeit geritzt war, rasch fertig.

Die Mädchen da … das war für ihn, den gesetzten Mann, doch gar zu leichtes Zeug.

So dachte Matthias, da er in seinem neunundzwanzigsten Jahre stand, in diesem Alter, wo er nicht mehr so jung war, daß er bei den ganz Jungen Genüge fand, und doch noch zu jung, als daß ihm das ganz Junge schon wieder als entzückend und seelenerfrischend hätte vorschweben können.

Und als Matthias nun zwischen seinen beiden wohlverdienten Körben saß und beschloß, die Augen für eine Zeitlang nicht mehr aus dem Hause hinaus zu richten, um eine Frau, seiner würdig, zu erspähen, da wähnte das gute Buchbinderherz, es handle bei diesen Entschlüssen völlig aus eigener Kraft und nach eigenem Geschmack. Daß es eine Macht außer ihm geben könne, die ihn bei der Wahl vorher hemmte und seine Blicke jetzt zurückhielt, das wäre diesem Herzen nicht im Traume eingefallen. Und doch war diese heimliche Macht vorhanden, und zwar strahlte sie von niemand anders als von Fräulein Josefine Clasen aus. Unten im Laden bei Matthias hatte Fine etwas Sonniges. Ihre Rede floß nur so von ihren Lippen, ihre Bewegungen waren schnell und bei aller Entschiedenheit anmutig. Aber wenn sie zu ihrer Mutter hinaufkam, so umwölkte sich ihre Stirn. Unwirsch, den Kopf in die Hand gestützt, als schmerze er sie sehr, saß sie da und sprach kein Wort. Frau Clasen seufzte. Sie begriff wohl, warum ihr Kind bei dem Buchbinder so munter war. Sie begriff auch, daß sie selber für diese Munterkeit büßen müsse. Fine verbrauchte eben da unten alle ihre Kraft. Aber was nützte es ihr schließlich?«

»Ja,« sagte Frau Clasen, »jetzt ist er schon wieder hinter einer andern her.«

»Was geht uns das an?«

»Ach, Kind!«

»Laß ihn sich doch aussuchen, wen er will!«

»So denkst du in Wahrheit nicht.«

»Und wenn ich nicht so denke, – wenigstens hast du nicht nötig, mich auch noch daran zu erinnern.«

»Ich meinte bloß … die schöne Aussteuer. Ach Gott, das liegt nun so in den Schränken herum!«

»Meinetwegen! Wenn es nur erst vermodert wäre,« stieß Fine hervor.

Eingeschüchtert schwieg die Mutter. Sie wußte: der Kampf, den Fine jetzt durchrang, war ihr von früher her nicht unbekannt. Es waren diesem Mädchen in ihren jungen Tagen schon öfters Männer vor die Augen getreten, die sie gern gefesselt hätte. Bei dem einen oder dem andern schien es ihr zu glücken, aber als es dann doch immer und immer wieder mißlang, da legte sich eine Schicht Bitternis nach der andern, und jedesmal noch dazu eine stärkere, auf den Grund ihres Wesens. Endlich war dann der Zahnarzt gekommen. Sie hatte sich ihm in allen seinen Meinungen willfährig erwiesen, um ihm zu zeigen, wie gut sie für einander paßten, und durch diese Unterwerfung, erlebte sie ja den Sieg, daß er sie vor allen auserkor, den Sieg, um dann freilich von demselben Manne die ärgste Niederlage zu erdulden. Damals hatte sie zu sich gesagt: Jetzt ist es zu Ende, – ich will von keinem Manne mehr etwas wissen!

Hätte Josefine nun so gesprochen, bevor sie den schönen Beo kennen lernte und sich von ihm in jene eigentümliche Beklommenheit einhüllen ließ, die sie liebte, obschon sie davor Angst hatte, – vielleicht wäre ihr da in der Tat Ruhe zuteil geworden, aber durch den Zahnarzt war eben etwas in ihr aufgeweckt, was ihr die Sicherheit raubte, etwas, was dem einfachen Eintrocknen zur alten Jungfer heftig widerstrebte, und so war Fine gerade nach der allerschwersten Enttäuschung, gerade wo sie sich fest vorgenommen hatte, keine Wünsche nach Frauenglück mehr zu hegen, von solchen Wünschen voller als jemals, denn sie hatte ja einmal eine Ahnung davon gekostet, wie wunderduftende Blüten an diesem grünen Strauche Frauenglück wachsen. Die Beschämung, die sie erlitt, umzirkte sie eng, obschon sie den Mut faßte, frei auf die Straße zu treten. Es war da irgend ein innerliches Band, von dem sie nicht los gelassen wurde. Daß sie als Entlobte von neuem diesem oder jenem Manne mit schier unmerklichen und dem damit Gemeinten doch so deutlichen Freundlichkeiten zu verstehen gab, sie wolle ihr Schicksal noch lange nicht ins ewig Eintönige und unwandelbar Graue gedrängt sehen, – nein, das ging nicht an. Sie traute keinem von den Männern da draußen, und wenn dann überdies doch jemand anders als der mit den Freundlichkeiten Gemeinte eine Spur davon merkte, so galt sie auf einmal als das, was sie nicht sein wollte und ihrem Fühlen nach auch nicht war: als die alte Jungfer, die kein Recht mehr auf junge Triebe besaß. Dann war sie lächerlich. Den Ruf und den Fluch des Altjungfertums vermied sie nur, wenn sie sich möglichst unsichtbar hielt. Kam sie jetzt in der Leute Mund, so war sie für alle Zeit als eine gezeichnet, die um jeden Preis zum Manne strebte. Derlei menschliche Regungen verziehen die Tweetenhorner ihren alternden Mädchen nicht. So war Fine Clasen mit ihren zweiunddreißig Jahren schon nicht mehr jung genug, um sich noch in unbefangener Tapferkeit die Rechte der Jugend anzumaßen, und zugleich war sie noch viel zu jung, – oder sagen wir doch besser: auch nicht mehr jung genug, um die sehnenden Gedanken nach einem Mannesarme um ihre Schultern niederzwingen zu können.

Zwei Menschen, die in der Welt nicht recht etwas für sich finden und doch aus innerer Nötigung und innerer Unruhe weitersuchen müssen, – zwei Menschen, noch dazu in den gleichen Mauern, – was ist natürlicher, als daß sie aufeinander stoßen?

Fine ward sich dessen bald bewußt: kein Tag durfte vergehen, wo sie nicht nah und näher zu Matthias hin kam. Sie ließ die kleinen Künste spielen, die ihr unter Beos Lehre geläufig geworden waren, – Geschicklichkeiten, über die sie selber erröten konnte. Ihr Auge hatte einen besonderen, an das Fieber der Jugend gemahnenden Glanz. Ihr Gang wiegte sich. Scheinbar unwillkürlich, beim gemeinschaftlichen Arbeiten im Laden, streifte sie Matthias den Ärmel. Sie wechselte ihre Kleider, so oft es anging; eine Häkelei um ihren Hals war feiner und duftiger als die andere. Die Flechte um ihren Hinterkopf trug sie hoch gebauscht, und seitlich das Gewand hinunter reihten sich hübsche Schleifen aneinander. Der Schleier, wenn Matthias sie im Hut sah, war nur halb herabgezogen, und unter ihm erschienen ihre Lippen um so voller.

Wären nun alle diese kleinen Künste, die selbst einem so harmlosen Menschen wie Matthias Tedebus auf die Dauer nicht verborgen bleiben konnten, obschon sie immer angewandt wurden, als ob sie eigentlich verborgen bleiben sollten, – so ängstlich und gespannt ihre Wirkung dann wieder von Fine beobachtet wurde, – ja, wären alle diese kleinen Künste nur Berechnung, nur ein äußerliches Sinnen und Trachten gewesen: ein so reiner und in die Tiefe gehender Mensch wie Matthias hätte sich ganz sicherlich nicht in ihren Bann begeben.

Aber das war es gerade: das Empfinden, aus dem heraus Josefine zu ihrem Spiele gelangte, war doch echter als die Form des Spieles selbst. Matthias war jetzt der einzige, um den sie noch nicht ganz hoffnungslos ihre fraulichen Gedanken spinnen konnte, aber er war nicht nur jetzt, sondern so lange sie dachte, auch der einzige Mann, vor dem sie eine lautere Achtung hegte. Zu ihm aufsehen, das hieß in klares Licht blicken. In ihm hatte nichts Platz, was man nicht mit gutem Gewissen in der Kirche auf den Altar hätte niederlegen dürfen.

Fine war also in ihrem Innern viel ehrlicher und Matthiassens viel würdiger als in den Mitteln, die sie brauchte, um ihm ihre Gesinnung halb scheu zu zeigen, halb ängstlich zu überdecken.

Matthias aber, eben weil er in die Tiefe ging, merkte bald unter dem spielerischen Wuste, der seinem Mannesauge ja nicht ganz reizlos, seinem Herzen aber doch nicht wertvoll deuchte, die Wahrheit in Fine. Da lächelte er über die Schleifen und über die hochgebauschte Haarflechte und fing nun selber an, über Fine und sich, sich und Fine nachzudenken.

So tat Josefine Clasens heimliche Macht ihr Werk.

Während der Zeit, die jetzt kam, wurde im Hause wenig gesprochen. In allen Stuben lag eine schwüle Erwartung.

Die alte Amundsen war nun wieder so weit, daß sie sich Sonntags, von ihrer Tochter und ihrer Enkelin mehr getragen als gestützt, nach ihrer Gewohnheit zur Kirche schleppen konnte, wo sie dann freilich oft mitten in der Predigt von der Gnade und Güte des Herrn ihr »All nich wohr« vor sich hinmurmelte. Traf sie aber mit Matthias zusammen, so hielt sie, schlau wie sie bei ihrer Schwäche war, mit diesem alles Gute und Frohe verneinenden Worte zurück. Ihre blutleeren Züge versuchten sogar, den Buchbinder anzulächeln, aber es war nur ein schreckliches, verzerrtes Lächeln, das Matthias lieber nicht sah. Auch sonst war die Greisin milde gegen den Fremden, wie sie ihn noch immer nannte.

Fine flehte sie an, ihren Widerstand wegen des Schuppens aufzugeben.

»Herr Tedebus wird sonst so böse, Großmutter.«

»Bös? Nimmt he di denn nich?«

»Ach, daran denken wir doch nicht!«

»All nich wohr. Denkt hier keen Minsch an wat anneres.«

Und die Alte tat nach Kräften alles, wodurch sie den Buchbinder für immer im Haus halten und so ihrer Meinung nach das Haus ganz für sich behalten konnte.

Abgebrochen zwar durfte der Schuppen nicht werden, aber sie ließ es zu, daß er zur Gartenseite hin, die sie von ihrer Schlafkammer aus nicht sah, erweitert wurde. Fenster wurden in die Wände eingesetzt, – ein Fußboden wurde gelegt, – innen ließ sich das Holz gut mit hellen Tapeten bekleben, – ein Ofen kam hinein: so war denn wenigstens, wenn auch keine Werkstatt, doch ein Raum geschaffen, der die Leihbibliothek aufnehmen konnte.

Matthias war Fine dankbar, daß sie ihm diese Erlaubnis erwirkt hatte, denn von Erlaubnis mußte er ja wahrhaftig reden, so komisch das auf seinem eigenen Grund und Boden auch klang.

Die Alte lag oben und hatte scharfe Ohren für das, was im Hause vorging, für jedes lustige Wort aus Finens Munde, das unten vom Flur herauftönte, für jedes muntere Lied, das Matthias bei der Arbeit sang. Die Alte nickte. Eine gute Stimmung herrschte da unten. Paß auf! Es mußte glücken, woran sie unablässig dachte. So ein Denken bringt zwei zusammen, das wußte die Alte genau. Fine kam nicht aus dem Hause heraus.

Eine Treppe tiefer als die alte Amundsen saß Frau Clasen, die Hände oft im Schoße ringend und zu ihrem Gotte, den sie nur hervorholte, wenn sie vor einer Not beschützt sein oder irgend ein Geschenk haben wollte, ein Gebet nach dem andern sendend, daß ihr Kind es gut haben, daß ihr dieser brave Mann beschieden sein möge! Und mit ihrer Mutter zusammen lauschte sie auf jedes lauter gesprochene Wort, auf jeden hellen Ton aus dem Laden.

Fine aber, wenn sie unten gescherzt hatte, streifte oben ihren gehäkelten Schmuck ab, kroch in den Schaukelstuhl, der in der dunkelsten Ecke des Wohnzimmers stand, schloß die Augen ganz fest, preßte die Lippen aufeinander und verharrte regungslos. Ihre Mutter wagte dann nicht einmal, die Stricknadeln gegeneinander ticken zu lassen.

Bei diesen drei wartenden Frauen ging Matthias Tedebus in tiefes Nachsinnen versunken seiner Wege. Ihn, den reifen Mann, zog es zur reifen, ja, zur reiferen Frau, – er, der gleichwohl Unerfahrene, witterte bei Fine etwas Erfahrenes, das ihn lockte.

Und wie er das zu tun pflegte: wenn er sich eine Sache nach allen Richtungen hin durchdacht hatte und einsah, daß er das für ihn einzig Wahre gefunden habe, so zauderte er auch nicht mehr, die Sache auszuführen, sondern schritt so rasch als möglich und unbeirrbar entschlossen zur Tat. Nach diesem seinem Brauche also trat er eines Tages auf Fine zu und bat sie:

»Wenn ich Sie heute nachmittag vielleicht sprechen könnte?«

Fine wurde dunkelrot und blickte ihn fragend an. Er fuhr fort:

»Vielleicht so um fünf? Im Garten?«

Fine bejahte, indem sie stumm den Kopf neigte. Dann eilte sie von dannen und ließ sich die weiteren Stunden nicht im Laden sehen.

Sie hatte sich auf das Sofa in ihrer Kammer gelegt. Die Mutter mochte forschen: »Kopfweh? Hat dir jemand was getan? Sag' doch!« – Fine winkte ihr heftig mit der Hand: »Nichts! Nichts! Bloß allein sein!«

Da lag sie, in halber Betäubung. Ihre Phantasie wollte sich immer wieder vorstellen, was sich nun heute nachmittag im Garten ereignen könne, aber mit Gewalt unterdrückte sie die Bilder. Sie wollte nichts hoffen, nichts fürchten. So geriet sie ins Dämmerige, aber doch kam sie nicht los von einem Gefühle der Gewißheit und Erlösung. Endlich sollte es also soweit sein! Heute nachmittag um fünf im Garten. Weshalb hatte er sie sonst dahin bestellt, wenn er nicht …? Nein, nichts denken, nichts hoffen! Nur immer sich sagen: um fünf, um fünf … Und dieser Wille war so stark in ihr, daß sie zuletzt einschlummerte. Aber so lange und fest sie schlief, pünktlich um fünf Uhr wurde sie von ihrer auf diese Stunde eingestellten Seele geweckt.

Sie fuhr auf, ihr Herz klopfte stark, sie legte den Handrücken ans Gesicht, – wie heiß sie war! Hastig ordnete sie noch ihr Haar, dann mußte sie schnell hinunter, obschon das Mädchenhafte in ihr sich schämen wollte, zu einer verabredeten Zeit an einem verabredeten Orte zu erscheinen.

Leise, daß die Treppe nicht knarrte! Sie knarrte aber doch, und Frau Clasen hatte in ihrer Stube das Ohr an das Schlüsselloch gepreßt, damit ihr nichts entging. Nun war Fine hinausgeschlüpft, nun ging es durch den Hof zum Garten, jetzt hielt sie die Pfortenklinke in der Hand. Da sah sie den Buchbinder und stutzte noch, bevor sie eintrat.

Matthias schritt, die Hände auf dem Rücken, geneigten Hauptes, um das Asternbeet herum. Es mochte ihn eines der welken Blätter stören, deren schon viele zu Boden gerieselt waren. Er bückte sich und streifte das braune Ding von einer Pflanze. Dabei kam ihm am Ende der Gedanke, ob der Apfelbaum, der so früh seinen Schmuck abwarf, auch gesund getragen habe. Er beugte, indem er sich wieder erhob, die Stirn zurück und legte die Hand über die Augen gegen das Himmelslicht. Ja, da lachte ihn aus den Zweigen die prallbackige Frucht an. Vielleicht merkte er nun bei diesem Blick nach oben, daß seine Brille bestaubt sei. Er nahm sie ab, holte aus der hinteren Tasche des schwarzen Rockes, mit dem er sich feierlich bekleidet hatte, sein Tuch heraus, putzte jedes Glas bedächtig und rückte die Brillenstangen genau wieder hinter die Ohren. Dann wandte er sich, – denn es hatte ja schon fünf Uhr geschlagen, und er wurde über jede Unpünktlichkeit immer leicht unwillig, – der Gartenpforte zu.

Sieh, da stand, als traute sie sich nicht näher zu kommen, Josefine.

Ein heller Schein überflog das Antlitz des Buchbinders, er eilte um den Rasen herum, öffnete die Pforte, reichte dem Mädchen die Hand und führte sie über den Kiessteig zur Laube. Die Hinterhäuser und die hohen Planken, die den Garten zum Schaden der Blumen umgaben, wehrten jeglichem Nachbarauge den Einblick auf diesen Fleck Erde. Man konnte sich hier ganz einsam fühlen.

In der Laube, deren dunkelrotes Weinlaub durch ein paar von der jenseitigen Mauer zurückgeworfene Strahlen der Sonne zum Glühen gebracht wurden, bot Matthias seiner Dame ritterlich Platz an und setzte sich dann selber ehrbar weit von ihr entfernt auf die Bank. Und indem er sich nun etwas zu Josefine hinneigte und den einen Ellenbogen auf den Tisch stützte, während die andere Hand um die Banklehne herumgriff, schaute er das Mädchen klar und ehrlich an und begann seine Rede in einem frischen, doch bescheidenen Tone:

»Liebes Fräulein Clasen, meine Mutter hat es mich so gelehrt, und ich glaub' es auch: Gott leitet uns, wie wir gehen sollen, und wie er es mit uns fügt, so ist es das Rechte. Und wenn ich's nun betrachte, auf welche Art und Weise ich hierher nach Tweetenhorn gekommen bin, so sieht mir das immer mehr nach einem Wunder, oder ich will sagen, nach einem deutlichen Fingerzeige Gottes aus. Denn denken Sie sich, die Zeitung, worin Ihre Mutter Haus und Geschäft ausbot, die war mir ganz fremd. Wer hält wohl in Kappeln den Wagrischen Boten, nichtwahr? Und da geh' ich eines Tages über die Chaussee, und da kommt auf einmal so ein großer Windstoß, und da, von irgendwoher, fliegt mir ein zerknittertes Zeitungsblatt mitten auf die Brust. Ich greife zu und blättere es auf. Wagrischer Bote. Das schien mir ganz was Ausländisches zu sein, denn daß Wagrien in Schleswig-Holstein wäre, das hatte ich bis dahin, zu meiner Schande muß ich es gestehen, noch nicht gehört. Und neugierig las ich nun das Blatt und wunderte mich denn, als da von Oldenburg und Neustadt und Heiligenhafen Nachrichten darin standen. Also so in der Nähe! Und ich streife es recht sauber glatt, setze mich auf die Bank und studiere die Anzeigen, und da treffe ich auf das Worte: Buchbinderei. Das schoß mir mächtig in den Kopf. Ich dachte: sollst mal hinschreiben, – wenn es bloß nicht zu spät ist. Nun, es war ja nicht zu spät. Ich bekam das Haus und das Geschäft. Da wird nun mancher sagen: Zufall, das mit dem Zeitungsblatt. Aber ich, Fräulein Josefine, sage: kein Zufall. Gott hat mir das Blatt selber an die Brust gelegt. Wie denken Sie davon?«

Fine wurde verlegen. Wohl lag in ihrer Seele irgendwo ein Stück Glaube, daß Gott die Welt und was darinnen war, lenkte, aber den Glauben hatte sie jetzt nicht gleich zur Hand. Denn ebenso wie ihre Mutter war sie eigentlich gewohnt, ihn nur dann zu gebrauchen, wenn ihr oder andern etwas Schlimmes drohte oder geschah. Dann meinte sie, in Gott eine unüberwindliche Macht zu erkennen, die man fürchten mußte und vielleicht – hoffentlich! – mit Gebeten besänftigen konnte. Bei guten Begebenheiten und erst recht bei gleichgültigen gedachte sie Gottes kaum. Nun sollte sie also sprechen, wie sie jenen Zufall aufnahm, der für Tedebus aber kein Zufall, sondern eine Fügung war. Das war wohl schwer. Anderer Meinung sein als Matthias durfte sie in dieser Stunde ja nicht, selbst wenn sie es hätte mögen. Aber sie kam dann rasch zu der Überlegung: ihr eigener Glaube war ja doch ungefähr derselbe wie der des Buchbinders. Sie konnte ihm ruhig recht geben, und so antwortete sie, indem sie die Wimpern, womit sie ihre Augen fast ganz verschleiert gehalten hatte, für kurze Zeit hob: »Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als Sie es sagen.«

»Das freut mich!« rief Matthias, der sie in diesen Augenblicken bis zu ihrer Antwort scharf und mit einer ängstlichen Spannung angesehen hatte. »Dann stimmen wir ja im Größesten überein, Fräulein Josefine!«

Er richtete sich auf, gab sich einen kleinen Ruck und war nun so nahe bei dem Mädchen, daß er ihr Kleid berührte, und es war, als ob schon dies geringe Aneinandersein ein geheimnisvolles Etwas zwischen beiden hin und her fluten ließ. Matthias fing an, schneller zu atmen. Josefine drehte mit einer langsamen, aber so gezwungenen Bewegung, daß ihr der Nacken schmerzte und sie ihn ein wenig erzittern fühlte, den Kopf halb zur Seite. Das Licht, das von den welkenden Weinblättern purpurn gefärbt wurde, strahlte auf sie hin, und so erschienen ihre Wangen heiß überflammt.

Matthias hatte nun, wie er das oft tat, wenn er etwas Wichtiges, Eindringliches redete, die Hände vor der Brust gefallen: »So bin ich hierhergekommen,« fuhr er fort, »und wenn ich meinem Leben nun weiter nachgehe: der Kreis, in dem ich schreite, ist ja in der einen Art immer größer geworden. Vor fünf Jahren – das kleine Geschäft, und jetzt? Zum Oktober stellen wir zwei Gehülfen ein! Das habe ich gewonnen. Aber auf der andern Seite ist mir viel verloren gegangen und hat sich der Kreis verengert, ich weiß nicht, wie? Seit Mutters Tode bin ich allein gewesen. Die paar Hoffnungen, die ich mir gebaut hatte, – so Hoffnungen auf ein Herz, wie ich es nötig habe, die sind ins Wasser gefallen, ehe ich mich umsah. Und Ihnen ist es ja eigentlich nicht anders gegangen als mir, Fräulein Josefine. Allein, nicht wahr?«

»Ja.«

»Aber nun passen Sie mal auf, Fräulein Josefine!« Er nahm die Hände auseinander und legte seine Rechte auf ihren Unterarm. »Nun kommt das Wunderschöne. Gerade so, wie es sich mit uns gemacht hat, ist es am allerbesten gewesen, für Sie und erst recht für mich. Denn sehen Sie: ich kann mir die Sache noch so genau aus und ab überlegen, es gibt für mich in Gedanken gar keine andere Lösung als die, daß unsere beiden Lebenskreise nach und nach ganz planmäßig immer mehr übereinander geschoben worden sind, und daß man deutlich erkennt, wie die Hand, die das besorgt, nicht eher aufhören will, als bis die beiden Kreise zusammen nur noch einen einzigen Mittelpunkt haben.«

Fine löste die Starrheit ihrer Haltung. Ihr Haupt kehrte sich wieder zu Matthias hin. Der schloß mit den Worten:

»Das ist nun eine ganze Menge, was ich Ihnen da erzählt habe, Fräulein Fine. Jetzt kommt die Reihe an Sie, und das kann viel kürzer werden. Denn Sie brauchen nichts weiter zu tun, als mir auf die Frage zu antworten: sollen wir uns gegen die Hand aufsetzen, oder …« seine Stimme senkte sich und wurde immer bescheidener, – »oder haben Sie mich so lieb, daß Sie sagen können, die Hand soll freies Spiel zwischen uns haben, jetzt und unser Lebtag lang?«

Eine kurze Erschütterung ging durch Finens Körper. Dann griff sie, heftig und ungeschickt, nach Matthiassens Hand.

Der rief fröhlichen Angesichts: »Verstehen wir uns? Einig?«

Sie beugte sich leicht nach der Seite zu, wo Matthias saß:

»Ja.«

Von innerem Jubel getrieben kam er und hielt ihr, gleichfalls heftig und ungeschickt genug, die Lippen hin. Sie wollte ihm mit den ihrigen begegnen, aber plötzlich überfiel sie eine Angst, als könne er auf ihrem Munde noch eine Ahnung von den Küssen spüren, die ein anderer darauf gepreßt hatte.

So glitt sie an seinen Lippen vorbei und bot ihm die Wange. Matthias nahm ihre Angst für Mädchenscheu und war's – wenigstens für den Anfang – auch so zufrieden. – –

Die Brautzeit dauerte nicht lange. Matthias nahm eine große Bibel, band sie kostbar in Pergament und schenkte sie der Kirche mit der Bitte, es möge daraus bei seiner Trauung zum ersten Male vom Altar herab gelesen werden. Und wer nun im sauber geführten Tweetenhorner Kirchenbuche nachschlägt, der kann da unterm 13. Dezember 1878 eingeschrieben finden, daß Pastor Hollensteiner an diesem Tage, nachmittags drei Uhr, den ehrengerechten Junggesellen Matthias Friedrich Christian Tedebus, Buchbindermeister allhier, Markt 5, mit der ehrbaren Jungfrau Josefine Marie Franziska Clasen, ebendaselbst, zusammen gegeben hat, nachdem das Brautpaar am Tage vorher gemeinsam zum Tische des Herrn getreten war und das heilige Abendmahl empfangen hatte.

* * *


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