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XI.

Der letzte Morgen für die Kranke brach an.

Pastor Schirmer, der gutmütige, greise Geistliche, hatte seinem Pfarrkind versprochen, bei ihm auszuhalten, und so fand das einströmende Tageslicht die blonde Frau in einem tiefen Schlaf, aus dem sie erquickt erwachte. Zu seinem Erstaunen erfuhr der Pastor, daß die Leidende sich wohler fühle. Nur das, was sie sprach, erschien ihm gereizt, wirr, unzusammenhängend, auch funkelten die Augen unruhig über alle Gegenstände im Zimmer umher. Ihre mageren Finger befanden sich in beständiger Bewegung und kratzten auf der Bettdecke auf und ab.

»Hedwig – soll kommen – und mich kämmen – und waschen,« verlangte die Kranke dann, »und soll – einen Spiegel mitbringen.«

Der Geistliche schüttelte besorgt das Haupt, aber er schickte doch nach dem Mädchen hinauf, um sich dann selbst mit herzlichen Worten zu verabschieden.

Wilms trat leise in das Wohnzimmer, jedoch sein Weib beachtete ihn gar nicht und erst, als er ihr scheu »Guten Morgen, Elsing« bot, lächelte sie sanft und sah vor sich nieder. Sie schien sich mit ihren Gedanken kurz nach ihrer Hochzeit zu befinden, denn sie flüsterte verschämt:

»Wenn ich – ein Kind bekomm', – und es – wird ein Mädchen, dann – soll Hedwig – Pate stehen. – – Ist Hedwig noch nicht da?«

Und immer in tiefen Gedanken löste sie ihr Haar, nahm es nach vorn und wickelte eine Strähne um ihren Finger. Als Hedwig endlich erschien, blickten sich die beiden Schwestern einen Moment lang seltsam an. Else sanft und glückselig lächelnd, die Jüngere hingegen erschrak und konnte sich das Bild nicht erklären.

»Komm', Heting,« flüsterte die Kranke, die von allen Schmerzen befreit schien, »waschen und – kämmen – das viele Haar drückt mich auf den Kopf – hast du auch so weiches Haar? – Sieh mal, ich kann mich ganz drin einwickeln – Wilms freute sich immer damit – – – Heting« – hier herzte sie die jüngere Schwester zärtlich und streichelte ihr die Wange, »wenn du seine Frau bist, mußt du es auch immer aufmachen. – Dann küßt er es. –« – Und während sie mit ihrem fahlen Gesicht in den Spiegel sah, summte sie:

»Ihr Schlafenden im Friedensreich
Gönnt allzugleich
Auch mir ein Räumlein neben euch.«

Aber es war eine Tanzmelodie, wonach sie sang, und sie machte ihrem Spiegelbild ein neckisches Gesicht, als ob sie sich sehr schön fände.

Kalt durchschauert blickten die beiden anderen auf sie hin. Dies war das Furchtbarste, was sie mit der Leidenden bis jetzt durchgemacht hatten.

Hedwig erfüllte mit leichter Hand alle Wünsche der Kranken, bis die Schwester plötzlich zusammenfuhr, um das Mädchen starr anzublicken.

Sie hatte etwas entdeckt.

Dann schaute sie wieder auf Hedwigs Finger hinunter, um endlich von neuem ihre funkelnden Augen über ihre Pflegerin gleiten zu lassen.

Einen Moment sann sie nach.

»Heting,« begann sie mit singender Stimme, »was trägst du da für einen Ring? – sieh mal, von Silber – den wollte mein Mann mir ja immer schenken, und nun hat er ihn dir gegeben – – sieh mal – bist du nun seine Braut?«

»Else – laß meinen Finger – es tut mir weh.«

»Bist du seine Braut? – Komm', Heting, ich will dir was sagen,« sie beugte sich herab und kreischte plötzlich mit schneidender Stimme: »Ehebrecherin!« – Ehe der entsetzte Mann das Mädchen noch von den umklammernden Griffen befreien konnte, führte die Rasende die Hand Hedwigs zum Munde und biß, wie laut die Vergewaltigte auch schrie, in den Ringfinger hinein und kratzte sie und zerrte sie an den Haaren.

»Hilfe – Hilfe,« rief Wilms. Mit einem Sprung war er am Bett, hob das Mädchen hoch in die Höhe und schleppte die Halbbetäubte ins Nebenzimmer hinein. Sie zitterte am ganzen Leibe und schlang schluchzend und Hilfe flehend die Arme um seinen Hals.

Da vergaß sich Wilms.

Er raffte das Mädchen, das er noch immer trug, an sich und voll wehen Mitleids preßte er ihr wütende Küsse auf Mund, Stirn und Hände, als müsse er alles gut machen, was eben an der Mißhandelten verschuldet war.

»Heting, mein liebes Heting – großer Gott – wenn's nur schon vorüber wär'.«

Und seinem Wunsch sollte Erfüllung werden. Ein seltsam verröchelnder Laut tönte hinter ihnen auf, Else war, als man ihr die Jüngere geraubt hatte, ihrem kranken, delirierenden Gehirn nachgebend, aus dem Bett gesprungen, hatte mit nackten Füßen die anstoßende Tür erreicht und geöffnet.

Da sah sie das Bild und hörte die Küsse.

Langsam legte sie ihren Arm an das kalte Holz, machte mit der andern Hand eine matte Bewegung in die Luft hinein, und neigte darauf ihr Haupt wie müde, gegen den erhobenen Arm zurück.

Und sie hatte auch genug geschaut.

Ein Röcheln, ein schwerer, dumpfer Fall, die Augen schlossen sich, und im weißen Hemde lag eine Leiche auf dem Estrich.

»Elsing – sie stirbt.«

Keine Antwort.

Da schleuderte der Landmann das Mädchen von sich und stierte wie geistesabwesend auf die starre Hülle seines Weibes herab.

In der Kastenuhr schlug es die zehnte Morgenstunde, ein Pferd wieherte gerade im Stall.

Der schwarze Reiter hatte die feine Frau im weißen Hemde geholt und jagte donnernd mit ihr über die Brücke, die in die Ewigkeit hinüberführt.

§§§

Es war nach dem Begräbnis.

Die Leidtragenden hatten sich entfernt, und nun wollte sich auch der Rendant Schröder, der Vater der beiden Schwestern, verabschieden. Er sah der Verstorbenen sehr ähnlich, der alte Herr, trotz seines würdigen, schwarzen Gehrocks, des militärisch gescheitelten schneeweißen Haars, und der winzigen Ordensrosette im Knopfloch. Traurig ging er auf Wilms zu, der teilnahmslos in der Sofaecke saß, und drückte ihm schwermütig die Hand: »Gott hat Schweres über uns verhängt,« sagte er unsicher, »wir müssen uns aber in seinen Willen fügen, mein Sohn – ich hätt' auch nicht geglaubt, daß ich das noch erleben würde.«

Damit zog er ein weißes Taschentuch und weinte bitterlich hinein. Allmählich ermannte er sich und wandte sich an Hedwig, die schwarzgekleidet am Fenster saß und träumerisch über den Hof fort auf die sonnige Landstraße hinausblickte.

»Komm, Heting, mein Wagen hält schon draußen, deine Sachen können dir nachgeschickt werden. Ich will jetzt wenigstens meine Einzige um mich haben.«

Sie sollte fort?

Eine lähmende Verwunderung erfüllte das Mädchen; an diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht. – Und doch, es war ja so natürlich, sie konnte doch vor den Augen der Welt nicht allein mit dem Mann im öden Pachthof bleiben.

Sie erhob sich. Unterstützung heischend, sah sie zu Wilms herüber.

Aber der rührte sich nicht. Er empfand nicht, wie schön sie war, immer mit demselben unbeweglichen Gesicht saß er geduckt in seiner Ecke und sah schweigend und gleichgültig vor sich hin. Mit der gleichen Miene hatte er in den letzten Tagen alles an sich vorüberziehen lassen. Den Sarg, die Leiche, die brennenden Lichter, die singenden Dorfkinder, den alten würdigen gebeugten Vater, die in die Gruft polternden Erdschollen, nichts hatte dieses stumpfe, gelassene Schweigen zu brechen vermocht.

Aber jetzt – jetzt, wo man ihm die Geliebte entreißen wollte – da erwartete Hedwig, und ihre Augen begannen immer sehnsuchtsvoller zu leuchten – jetzt mußte er doch alle Erinnerungen von sich werfen, um sich das Weib seiner Wahl nicht nehmen zu lassen.

O, sie war ja überzeugt, nun würde er aufflammen, nun – – sie horchte und wartete, allein immer dasselbe Schweigen.

Sie scharrte ungeduldig mit dem Fuß.

»Wilms,« sagte sie leise.

Jedoch der Mann in der Ecke bewegte sich gar nicht, düstere Bilder mußten vor seiner Seele stehen, denn er wandte den Kopf und starrte auf die Stelle, wo Else im weißen Hemde gelegen hatte. Dann schauerte er zusammen.

»Komm, Heting,« drängte der Vater. »Es wird nun Zeit, wenn wir noch vor Abend zurück sein wollen.«

Der alte Herr griff nach seinem Hut und sah sich noch einmal still und betrübt in dem weiten Zimmer um, wo seine Tochter gestorben war.

Da tat das Mädchen einen tiefen Atemzug, ihre ganze Gestalt reckte sich: »Vater,« entgegnete sie rasch und bestimmt, »ich kann dich jetzt nicht begleiten, ich muß noch etwa eine Woche hier bleiben, weil ich Wilms versprochen habe, ihm alles in der Wirtschaft zu zählen und instand zu setzen, was durch Elses Krankheit in Unordnung geraten ist. Aber dann« – und wieder atmete sie seltsam schwer – »dann komm' ich dir nach.«

Der Rendant stutzte. »Eine Woche noch?« wiederholte er verlegen und putzte an seinem Zylinder. »So? – Mein Sohn,« kehrte er sich fragend zu dem Landmann, »wäre es dir lieber, wenn Hedwig noch – noch hier bliebe? Ja?« Er wartete noch eine Weile, und da Wilms ihn augenscheinlich gar nicht gehört hatte, mußte er dieses Schweigen wohl für Zustimmung halten, denn er fuhr langsam und bedenklich fort: »Nun, wenn du es verlangst – natürlich – du hast ja auch einen so großen Verlust erlitten, daß du dich gewiß ein bißchen nach Gesellschaft sehnst, na, dann kann ja Hedwig auch noch acht Tage hier bleiben, ich habe nichts dagegen – obwohl, hm, ja, ich wünschte nur, du würdest mit der Zeit ein wenig ruhiger – und – nun adieu, Wilms – und daß wir uns zu besserer Gelegenheit wiedersehen, mein Sohn. Immer Kopf oben – hörst du?«

Hier schwankte die Stimme des alten Beamten doch bedenklich, er kehrte sich rasch ab, und bald nachher fuhr er als der letzte Leidtragende von dannen.

Hedwig und der Pächter befanden sich wieder allein.

In den ersten Stunden konnte Hedwig ihr Herz klopfen hören, so hell und erwartungsvoll pochte es. »Was nun wohl folgen würde?« dachte sie. – Der Weg war frei, die Last abgeschüttelt, versunken, endlich gab es nichts Trennendes mehr zwischen ihnen, und mit verzehrender Gewalt verlangte es sie danach, daß der starke Mann sie nun in die Arme nehmen und sie küssen und wiegen sollte, noch zärtlicher und glühender, als vor wenig Tagen, da Else darüber gestorben war.

Aber der Tag verfloß, ohne daß der stille Mann von ihr etwas verlangte oder begehrte; schweigend nahm er die Mahlzeiten ein, stumpf und trübsinnig brach er des Abends auf, um sich in seine Kammer hinauf zu begeben.

Er hatte während der langen Zeit nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt. Wie ein Alp bedrückte es bereits ihre Brust.

Schon befand sich die große gebeugte Gestalt an der Tür, da rief ihn Hedwig atemlos an.

»Wilms.«

Er blieb stehen, hob aber nicht den Blick.

»Willst du – willst du morgen nicht auf deine Felder gehen?«

Der Landmann nickte gleichgültig und legte die Hand auf die Türklinke.

Jetzt würde er verschwinden.

Es war die höchste Zeit.

»Wilms – willst du nicht noch hier bleiben?«

Ein scheuer Blick streifte das schöne Geschöpf, dann irrte er an ihr vorüber und fiel auf das große zugedeckte Bett, das einst die Heimstätte der Kranken gebildet.

Eine mächtige Bewegung lief durch den riesenhaften, ungelenken Körper, man sah ihm an, daß er sich beherrschen und bezwingen wollte, dann aber schlug Wilms beide Hände vors Gesicht, und ein halblautes, ersticktes Stöhnen drang zu der Erschreckten hinüber.

Es war das wilde Schluchzen eines verzweifelten Menschen, eine erschütternde, trostlose Selbstanklage.

Im nächsten Moment war der Pächter hinter der Tür verschwunden, und die Zurückbleibende vernahm nur noch, wie seine Tritte auf der knarrenden Treppe verhallten.

Da stand sie und starrte mit bangem Entsetzen auf die leere Pforte.

War es wirklich Wahrheit? – Sie befand sich jetzt allein? Der Mann, den sie erheben, befreien, glücklich machen wollte, dem sie mit weichen Händen unter Küssen die Schmerzenslast von den wunden Schultern zu nehmen gedachte, der flüchtete vor ihr? Der würdigte sie keines Wortes?

Sie sah sich im weiten, hellerleuchteten Zimmer um.

Nein, nein, an Schatten, an wiederkehrende Geister, die die Stätten der Sünde umschweben, glaubte sie ja nicht. Wilms war nur überreizt, unter ihrer Pflege würde ihm die Gesundheit schon wiederkehren, und die Lust am Leben, und die Lust an ihr.

Trotzig zog sie das Goldherz aus ihrem Kleide, das sie der Toten mit fester Hand abgenommen, und las mit ihren roten zitternden Lippen den Namen »Wilms«.

Dann entkleidete sie sich, und ohne Furcht, mit einem seltsamen, fast übermütigen Lächeln, suchte sie ihr Lager auf und beschloß, von Wilms zu träumen.

Nein, nein, der Schatten war beschworen, Gespenster kehren nicht wieder, die Toten stören die Lebenden nicht, getrost bettete sie ihr Haupt auf den weißen Arm, und im Traum, der sie zu dem geliebten Manne führte, lächelte sie wieder ihr stolzes, verführerisches Lächeln.


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