Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Und die Erkenntnis, daß sie langsam unterlag, rührte ihr ganzes Wesen auf.

Kaum waren sie in dem Pachthause angelangt, so setzte sich Hedwig völlig erschöpft in eine Sofaecke und begann plötzlich heftig zu schluchzen. Wilms sah bestürzt, daß all ihre Glieder bebten und zitterten wie Grashalme, über die der Sturm rauscht.

»Heting – liebes Heting,« murmelte er und fuhr ihr unbeholfen über das Haar. – »Bist du krank? – Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?«

Immer heftiger flossen ihre Tränen. Wie ein plötzlicher Regenhusch, der das Gewitter anzeigt.

»Heting, das kann ich nicht mit ansehen. Bist noch böse auf mich von vorhin?«

Er meinte, weil er sie so roh aus dem Schlitten gestürzt.

»O nein.«

Sie schüttelte den Kopf und drückte krampfhaft seine Hand.

»Wilms – ich bitte dich, Schwager,« flüsterte sie dringend. »Geh' jetzt hinaus und laß mich allein – ganz allein – nicht wahr, du tust mir den Gefallen?«

»Natürlich, Heting, ich tu' ja alles, was du willst,« erwiderte der Landmann. »Bloß sag' mir noch, bist du vielleicht ungehalten, weil ich heute ohne dich in die Kirche ging? Sieh, wenn du es nicht für recht hältst, dann will ich ja überhaupt nicht mehr hingehen.«

Sie machte nur eine stumme Bewegung der Verneinung, und der Pächter schritt schwer und erschüttert hinaus. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, so erhob sich Hedwig und warf sich vollkommen durchrüttelt und kraftlos vor Elses Bett in die Knie, wo sie ihren Kopf in die Kissen grub.

»Schwester – Schwester,« murmelte sie halb betäubt vor Seelenangst.

Unterdessen schritt Wilms in dumpfer Verzweiflung auf dem Hof hin und her. Und immer wieder richteten sich seine überbuschten Augen auf das Fenster, hinter dem früher seine kranke Frau gelegen hatte und ihm Qual bereitete. Jetzt spähte er nach der gesunden Schwester.

Er griff nach seiner Stirn und wunderte sich.

Unter ihm lag noch immer die Erde fest und bebte nicht, über ihm schwamm der Schneehimmel und spie keine Feuerballen aus, um ihn herum ragten Haus und Scheunen festgefügt wie sonst, und doch brütete der Mann, der nicht mehr in die Kirche gehen wollte, über eine der Todsünden nach.

»Gedankensünden,« hatte der Pastor einmal gesagt, »Gedankensünden.«

Es sollte noch schlimmer kommen.

Der kleine Hofjunge trat auf ihn zu und händigte ihm einen Brief aus. Er enthielt eine Einladung für den heutigen Abend zur Försterfamilie. Die Försterin hatte ihn selbst mit zierlicher Handschrift geschrieben.

Als Wilms zur Mittagszeit in das Wohnzimmer trat, fand er seine junge Schwägerin am Nähtisch emsig mit einem Brief beschäftigt.

»An wen schreibst du, Heting?« fragte er zaghaft.

Sie blickte mit trübem Lächeln zu ihm auf. »An Else,« antwortete sie stockend.

Der Pächter stutzte. »An meine Frau?« wiederholte er düster und blickte zu Boden.

»Ja, ich frage sie an, wann sie wiederkommt.« Sie senkte dabei das Haupt, schrieb noch ein paar Zeilen und übergab Wilms dann den geschlossenen Brief zur Besorgung.

Eine drückende Stille trat ein, wie sie jetzt immer entstand, wenn der Entfernten zwischen beiden Erwähnung geschah.

»Wann sie wiederkommt,« dachte der Landmann mutlos. Er reckte sich. »Ist dir bange nach ihr, Heting?«

Es sollte gleichgültig klingen, aber seine tiefe Stimme bebte leicht.

Zitternd wandte sich das Mädchen ab und antwortete nicht.

»Nur von etwas anderem sprechen,« dachte Wilms, »von etwas anderem.« Da erwähnte er die Einladung, die er eben erhalten. Natürlich würde Hedwig ablehnen, glaubte er; auffallend war ja ihre Blässe, und sie hatte noch eben über ihr Befinden geklagt. Aber zu seinem Erstaunen rief sie erregt: »Ja, wir wollen hin. Warte, ich kleide mich gleich um.«

Kopfschüttelnd blieb er zurück.

Schon nach dem Kaffee fuhren sie vom Hof herunter in demselben Schlitten, den Hedwig heute vormittag benutzt hatte.

In dem gemütlichen Försterhäuschen mitten im Walde ging es hoch her. Vielstimmiger Gesang, Geigen- und Trompetenklang empfingen sie schon bei ihrer Ankunft. Der Förster hatte von der benachbarten Akademie mehrere Forsteleven, selbst einen Assessor eingeladen. Der hatte seine Geige mitgebracht zur Verschönerung des Festes. Auch des Pastors Töchterlein war da.

In einer der braungetäfelten Stuben mit den vielen Hirschgeweihen brannte noch der Tannenbaum. Darunter saß das blonde Töchterchen der Forstleute in seinem Wägelchen und streckte die Arme nach den Lichtern aus.

Hedwig nahm das Kind in die Höhe und küßte es. Als sie sich umwandte, stand Wilms hinter ihr, dessen Augen mit besonderem Ausdruck auf ihr ruhten.

Er hatte sich in tiefster Seele gedacht: »Warum gehört mir dieses schöne Weib nicht und dieses Kind?« Langsam fuhr er sich über die Stirn und ging zu den Männern.

Es wurde spät.

Der Abend verfloß in lauter Fröhlichkeit.

Hedwig wurde von den jungen Leuten der Hof gemacht, Paula Schirmer schmiegte sich an sie, sie mußte singen. Zum Schluß spielte der Forstassessor zum Tanz auf. Da war es selbstverständlich, daß das Mädchen von einem Arm in den andern flog. Nur Wilms stand ernsthaft beiseite, er hielt es für unpassend zu tanzen, solange sein Weib fern in der Klinik weilte.

Stirnrunzelnd überkam es ihn, als ob seine Jugend in Trauer verfließe. Und wie anmutig Hedwig tanzte, sie lenkte aller Augen auf sich, nur zu wild erschienen ihm manchmal ihre Bewegungen, es lag dann etwas Rasendes darin.

Er schüttelte den Kopf.

»Hören Sie auf, Fräulein Hedwig,« mahnte auch die Försterin, »sonst wird es zuviel.«

Sie zog das Mädchen mit sich fort und stäubte ihr in ihrem Schlafzimmer etwas Kölnisches Wasser ins erhitzte Gesicht.

»Wie geht es Ihrer Schwester?« fragte sie dabei.

»Das weiß ich nicht,« versetzte Hedwig geistesabwesend.

Die Försterin starrte sie an. Sie merkte, daß die Erregung ihres jungen Besuches unnatürlich sei. Jedoch sie glaubte die rechte Spur gefunden zu haben.

»Wissen Sie schon, daß sich der junge Graf Brachwitz verlobt hat?« forschte sie gespannt.

»Ja, ich hörte schon davon,« nickte Hedwig gleichgültig und wollte wieder zu den andern.

Die Försterin verstand nicht, was sie aus ihr machen sollte. Sie hielt das Mädchen am Arm fest und klopfte ihr fast mütterlich die Wangen. Eine Regung des Mitleids überkam sie für dies schöne, fiebernde Geschöpf. Wenigstens einen guten Rat wollte sie ihr erteilen, geschöpft aus den Erfahrungen einer reifen Frau. Und ganz ehrlich und aufrichtig kam es heraus: »Fräulein Hedwig, ich wollte schon immer einmal mit Ihnen darüber sprechen. Bleiben Sie nicht mehr lange allein mit Ihrem Schwager in Wilmshus. – Hören Sie?«

»Warum?« wandte sich Hedwig ruckartig um.

Sie war leichenblaß geworden, nur die braunen Augen glänzten und funkelten wie feurige Kohlen.

»Weil,« fuhr die Frau eindringlich fort, »die Lästerzungen in der Umgegend sich schon darüber aufhalten. Ich rate Ihnen gut, wenn auch nichts daran ist, gehen Sie dem Gerede lieber doch aus dem Wege.«

Da raffte sich Hedwig auf, alles Blut schoß ihr zum Herzen, es war ihr so weh, daß sie laut hätte schreien mögen, denn sie fühlte, daß sie jetzt den Scheideweg erreicht habe.

»Liebe Frau Annchen,« sprach sie dennoch straff aufgerichtet, obwohl die vollen Lippen in dem bleichen Gesicht bebten, so daß ihr Gegenüber nur mit Mühe ihre Worte verstand. »Solch müßiges Geschwätz ist mir gleichgültig. Ich tue das, was ich für recht halte, und scheue niemand.«

Damit riß sie sich heftig los und ging in der großen Stube mitten durch die Fröhlichen hindurch, gerade auf Wilms zu, um ihn zum Tanz aufzufordern.

Die Försterin wurde rot vor Unwillen, als sie es sah, und flüsterte aufgeregt mit ihrem Manne.

»Heting,« sprach Wilms betreten, »ich möchte nicht gern. Solange Else fort ist – –«

Sie achtete nicht darauf. »Komm, Schwager, – wenn ich dich bitte?«

Dabei sah sie ihn an mit ihren fieberigen Augen so heiß, so flehend, als ob er ihr damit das Leben retten könnte, als ob ihr ganzes Dasein an diesem einen Tanze hing.

Da schlug es auch über ihm zusammen. Weib – Ruf – die Furcht vor dem Gerede, alles ging unter in dem einen Wunsche, dieses lebenstrotzende Wesen einmal umschlingen und forttragen zu dürfen.

Er packte sie, gewaltsam, verzweiflungsvoll, als wollte er sie an seiner Brust zerpressen.

»Bravo,« riefen der Forstassessor wie die Eleven und ließen ihre Instrumente noch lauter jubeln. Und unter Geigenspiel und Trompetenklang schwenkte er sie herum, schwer, wuchtig, als ob es sich um Leben und Tod handele.

Er sah auf sie herab.

Ihr Gesicht war schmerzverzogen, ihr Atem ging stöhnend, wie wenn sie mit jedem Schritt über spitze Messer dahinglitte, und doch lag sie eng und voll in seinen Armen, daß er gänzlich die Besinnung verlor.

»Süßes, liebes, Heting,« flüsterte er.

Sie zuckte zusammen und schloß die Augen.

Da war auch der Tanz zu Ende, sie trennten sich hastig und kamen erst wieder zusammen, als man aufbrach.

»Adschö auch.«

»Auf Wiedersehen.«

Die Förstersleute versprachen bald auf Wilmshus vorzusprechen. »Wenn Ihre Frau erst zurück ist, Wilms,« meinte der Förster, »das ist doch jetzt bald.«

»Ja, das ist bald,« bestätigte Wilms überstürzt, »das ist bald.«

Wieder saßen sie im Schlitten, der Landmann hatte ein Tuch um das Mädchen geschlagen, daß man fast nichts von ihr sah. Dann ging es durch den nächtigen Wald, in dem die Schlittenglocken seltsam wiedertönten.

»Kling-ling – Kling-ling.«

Hedwigs Haupt neigte sich leicht gegen seine Schulter. Ihr war so bleischwer in allen Gliedern, der Schlaf schien sie erdrücken zu wollen. Wie im Traum zog es ihr durch den Sinn, daß sie mit diesem Mann nicht länger allein in einem Hause bleiben solle. Aber die silbernen Schellen verscheuchten den Spuk gleich wieder:

»Kling-ling – Kling-ling.«

In dem dunklen Gehöft zu Wilmshus war keine Menschenseele zu erspähen. Schwärzer als anderswo lag die Nacht auf diesem Ort. Fürsorglich hob der Landmann seine Schwägerin aus dem Gefährt und sie duldete es, obwohl sie fühlte, wie seine Arme zitterten. Da erleuchtete sich die Nacht. Aus dem Hause schlürfte etwas heran, der alte Krischan schlich heraus, seinen Herrn zu empfangen, eine Stallaterne warf einen breiten Schein über den Hof. Da machte sich Hedwig ungestüm frei.

Erst auf dem dunklen Flur vor der Tür des Wohnzimmers, wo sie in Elses Bett schlief, erreichte der Pächter seine Begleiterin noch einmal.

Rabenschwärze herrschte hier.

Zaghaft ergriff er ihre Hand und drängte sich scheu an sie.

»Heting,« flüsterte er leise und berührte furchtsam ihre Schulter.

»Wilms, versprich mir was.«

»Alles, Heting, was du willst.«

»Dann soll Christian aus dem Hause und ins Altenheim.«

»Ja, dann soll er fort,« wiederholte Wilms ohne Überlegung. Halb betäubt beugte er sich zu ihr hinab.

Und derselbe schlürfende Greis, den sie eben verleugnet hatten, bewahrte die beiden, die nicht mehr gerettet sein wollten, zum letzten Male.

An der Schwelle klapperten seine hölzernen Pantoffeln, in den Flur ergoß sich matter Lichtschimmer, eben als Hedwig, die gegen die Tür lehnte, fühlte, daß der Boden unter ihr zittere und schwanke und daß sie in jene Arme stürzen würde, die nach ihr tasteten.

»Gute Nacht, Wilms,« stotterte sie auffahrend.

»Ach, gute Nacht, Heting,« klagte der Pächter und starrte sinnlos auf die Tür, die sich rasch hinter ihr schloß.

Der Alte war unterdes vorüber geschlichen und hatte seine Schlafstelle aufgesucht. Stille, webende, undurchdringliche Nacht umgab den Einsamen wieder.

Er horchte und lauschte.

Kein Laut regte sich mehr, alles schlief, nur er stand noch wie ein Dieb und wollte stehlen.

Dort drinnen also, dort drinnen.

Er wußte, es war unverschlossen.

Die grobe, arbeitsgewohnte Hand reckte sich aus nach der Klinke, aber über dem Messing, in der Luft blieb sie, wie auf einer unsichtbaren Mauer, liegen.

Das vermochte er nicht. Das wagte er nicht. Der Frost schüttelte ihn, daß ihm die Zähne klapperten. Er schlug die Hände vors Gesicht und stieg wie vernichtet und zerbrochen in seine Kammer hinauf.

Er hatte einen schlimmen Traum.

Da sah er sein Weib auf der Totenbahre liegen, gelb und wächsern. Sie war endlich gestorben. Fröhlich tönten Geigen und Trompeten dazu, und er selbst hatte Hedwig im Arm und tanzte jauchzend mit ihr um den Sarg herum und küßte sie auf den Mund. Die Leiche aber lag im Brautkleid und öffnete die Augen und Pastor Schirmer predigte über ihr: »Wirf die Last von dir. Sei mutig.«

Er wälzte sich im Schweiß und schrie so laut auf, daß er erwachte.


 << zurück weiter >>