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IX.

Am nächsten Morgen ganz in der Frühe kam der Arzt. Es war der Kreisphysikus aus Grimmen, der die Leidende allwöchentlich besuchte und als Freund des alten Rendanten die beiden Schwestern seit ihrer Kindheit kannte.

Ein kleiner, fetter, fröhlicher Herr, behaftet mit einem unförmlichen Bauch, einem verwitterten roten Weintrinkergesicht und mit einer burschikosen Neigung zu allen hübschen Mädchen und Frauen, trotzdem er in seiner eigenen Familie deren bereits eine stattliche Anzahl besaß.

Schon bei seinem Eintritt begrüßte der kleine Dr. Rumpf die Anwesenden mit einem lauten: »Morgen, Kindtings; na, wie geht's?« stiefelte mitten in das große Zimmer hinein und blieb dort ein wenig verwundert stehen.

In dem Bett lag die Kranke so unbeweglich und weiß, als wenn sie bereits verschieden wäre. Und der Mann, sowie das junge Mädchen am Kopf- und Fußende schienen gleichfalls schon viele Stunden an dem Lager zu wachen.

Das stimmte den Arzt doch bedenklich.

Als aber Else langsam und begrüßend die abgezehrte Hand gegen ihn ausstreckte, ermannte sich Dr. Rumpf, schritt schnell an das Bett und küßte seiner Patientin zuvörderst zärtlich die Hand.

Sein stachliger, weißer Knebelbart kratzte dabei die Ärmste, daß sie das Gesicht vor Schmerz verzog.

»Schlimmer, mein Kindting?« fragte er teilnehmend, ohne sich um die andern zu kümmern, »schlimmer?« Damit entblößte er ungeniert die Brust der Kranken, horchte aufmerksam herum und schüttelte endlich den Kopf.

Wenn der Physikus so sehr zärtlich wurde, so galt es immer für ein schlechtes Zeichen.

»Herr Doktor,« hauchte die Liegende kaum hörbar, »steht es sehr trostlos mit mir? – Sagen Sie es – sagen Sie es, bitte,« wiederholte sie dringend, »ich bin ja auf alles gefaßt.«

»So? gefaßt? ja, ja, mein Liebchen,« murmelte der Doktor achtlos und bewegte im Selbstgespräch die Lippen. »Raus,« schloß er plötzlich sein Nachdenken und machte den beiden anderen eine energische Bewegung mit dem Kopf, daß sie sich entfernen sollten.

Wilms und Hedwig begaben sich in das niedrige frostige Wohnzimmer mit den grünen Ripsmöbeln.

Matt und in sich versunken lehnte das Mädchen hier auf dem Sofa, über das noch immer der graue Leinwandbezug gezogen war, während Wilms schweigend durch das einzige Fenster auf den Hühnerhof hinausblickte.

Seit dem gestrigen Abend hatten die beiden noch kein Wort miteinander gewechselt.

Ein seltsames Schweigen herrschte wieder zwischen ihnen.

Eine lange, bange Viertelstunde verstrich.

Dann trat der Physikus endlich breitbeinig herein und schloß die Tür hinter sich zu.

»Nun, Herr Doktor?« fragte Wilms dumpf, der sich im selben Augenblick zurückgewendet hatte. Aus den grob gemeißelten Zügen des Mannes sprach arbeitende, zurückgedämmte Angst, die ihm die Augen stier aus den Höhlen heraustrieb und sich auch Hedwig mitteilte. Aber sonderbar! Als sie ihren Blick flüchtig über den zitternden Riesen fortgleiten ließ, da drang zugleich ein spöttisches Mitleid gegen diesen besorgten Gatten in ihr Denken.

Mitten in ihrer Spannung lächelte sie spöttisch.

»Können Sie mir denn nicht ein bißchen Trost schenken?« stammelte der Pächter von neuem. »Ich kann's ja gar nicht mehr mit ansehen.«

»Trost? – hm ja.« – Der Physikus ließ seinen dicken Leib schwerfällig in einen Polsterstuhl fallen und streichelte Hedwig, die sich erhoben hatte, freundlich die Hand.

»Na, Kindchen, immer hübsch artig hier draußen?«

»Ich will Ihnen was sagen, lieber Wilms,« fuhr er dann ganz ernsthaft fort, »das Unterleibsleiden Ihrer Frau hat sich verschlimmert.«

»Großer Gott – das – das hätt' ich nicht erwartet.«

Der Pächter murmelte es in stumpfer Verzweiflung und lehnte sich, nach Atem ringend, an die Wand. Und nach einer Weile brachte er hervor: »Das ertragen wir nicht, sie nicht, und ich nicht.«

»Armer Kerl,« murmelte der Physikus und schüttelte bedenklich den Kopf, »leider werden sich jetzt noch Krampfanfälle einstellen – ich hab' mir's längst gedacht, längst. Und dann – –«

»Und dann?« unterbrach ihn Hedwig heftig und scharf und trat aufgerichtet vor den Arzt hin. »Nun muß doch etwas Energisches geschehen, lieber Herr Doktor. Man kann es doch nicht einfach so fortgehen lassen. Wollen Sie es nicht mit einer Operation versuchen?«

In ihrer Heftigkeit stampfte sie leicht mit dem Fuß und preßte die Hände gegeneinander.

»Eine Operation?« knurrte der Physikus in sich hinein. Er schüttelte den Kopf, erhob sich ächzend und begann eine Wanderung durch die Stube. So oft er dabei an dem Landmann vorüberkam, drehte er ein bißchen an dessen Rockknöpfen; streifte er dagegen an Hedwig, so nickte er ihr in seinem Selbstgespräch gedankenlos zu.

Endlich blieb er stehen und, indem er sich befriedigt den weißen Stoppelbart rieb, als wenn dieser hauptsächlich an der Entwickelung vorzüglicher Gedanken beteiligt wäre, gab er laut und bestimmt sein Urteil ab: »Nein, keine Operation; aber sie muß in ein Solbad – ja, ja – ganz recht – und zwar sofort, denn es ist die allerhöchste Zeit.«

»In ein Bad?« wiederholte Wilms verwirrt, während er sich langsam über die Stirn strich.

Und ihm fiel wieder die unselige Schuld ein, die uneingelöste, und wie ihm beinahe alles fehlte, um nur die Haushaltung zu bestreiten. Die Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, nur mit schwerer Zunge konnte er einwerfen: »Aber – aber die Mittel dazu werden wohl sehr große sein?«

»Ja, billig ist's nicht,« meinte Dr. Rumpf und sah den Pächter teilnehmend an: »Also morgen schreibe ich Ihnen, wohin Ihre Frau zu gehen hat.«

Damit verabschiedete er sich, ergriff seinen Stock, schüttelte Wilms die Hand und wollte eben dem Mädchen väterlich galant die Fingerspitzen küssen, als er ordentlich erschreckt von ihr zurückfuhr und mit lautem Ruf aus seiner Brusttasche einen mehrfach versiegelten Brief hervorbrachte. »Das hätte ich beinahe vergessen,« strafte er sich selbst, »Kindchen, hier – dein Vater hat es mir mitgegeben. – Es ist Geld drinnen, und er sagte mir, daß du es bereits erwartest. Ei, das wäre ja eine schöne Geschichte geworden. Was? Na, adieu, Kindting.« Damit schritt Dr. Rumpf breitbeinig und ehrwürdig zur Türe hinaus und fuhr geradeswegs zur Försterin, deren zarte Haut noch am Abend allerlei Kratzabzeichen aufwies, die des Physici Stoppelbart und seine Heilmethode jedesmal hinterließen. – – –

In der ungemütlichen »guten Stube« des Pachthauses blieben die zwei Menschen allein.

Beide sahen sich an, der Landmann scheu und mit Herzklopfen, das Mädchen fest und beinahe auffordernd, als erwarte sie, der Schwager möchte sie nun fragen, warum sie sich das Geld habe nachsenden lassen.

Bezeichnend drückte sie den Brief gegen ihre Brust und ließ ihre braunen Augen ermunternd an den seinen hängen, jedoch Wilms schwieg und biß die Lippen fest zusammen.

Eine Demütigung sollte nun folgen – »nur kein Geld von ihr – nur das nicht«, fuhr es ihm durch den Sinn, und er raffte sich auf und wollte hinausgehen.

Da tönte aus dem Krankenzimmer eine schwache, röchelnde Stimme dazwischen.

»Wilms – Hedwig – kommt zu mir.«

Beide erschraken.

Es klang so fern, so geisterhaft.

Nun mußte es geschehen.

Ehe es sich Wilms versah, stand Hedwig dicht vor dem Landmann, und bewußt und als gäbe es keinen Widerspruch, drückte sie ihm mit einem festen Blick den Brief in die Hand.

Er schob ihn zurück, als ob das Papier zwischen seinen Fingern beißendes Feuer würde, aber heftig, zornig stieß das Mädchen das Dargebotene noch einmal von sich.

»Kommt doch zu mir,« klagte es abermals von drinnen, »weshalb bleibt ihr so lange?«

»Hedwig – was soll ich damit?« stammelte Wilms, auf den Brief weisend.

»Schnell! – Es sind 5000 Mark – ein Drittel meines Erbteils – Wilms, damit mußt du dir helfen und dann Elses Reise bezahlen, hörst du?«

»Ich kann nicht – ich darf ja nicht, Hedwig.«

»Warum nicht?«

»Weil – weil – –« er fand keine Antwort und hielt nur, wie von Ekel erfaßt, das Geld weit von sich.

»Willst du gerade mir nicht verpflichtet sein?«

»Ja,« stöhnte er.

»Und aus welchem Grunde?«

»Weil – –«

Dem Bauern flimmerte es vor den Augen, die Kehle war ihm wie zugeschnürt. O, er fühlte deutlich, daß er das Geld nicht nehmen dürfe, weil dieses Mädchen, das so blühend, so kräftig vor ihm stand, weil dieses schöne fremde Weib sich in sein Denken geschoben hatte, sündhaft und abscheuerregend und dennoch etwas Unerkanntes in ihm erweckend, das sich qualvoll und erfrischend zugleich in ihm emporhob.

»Und wenn ich dich so recht darum bitte?« drängte Hedwig einfach und legte ihm vertrauensvoll die Hand auf die Schulter.

Beide blickten sich eine Sekunde lang an.

Da war es wieder. Da brach es wieder aus ihm hervor. Wilms zitterte am ganzen Körper, tausend widersprechende Stimmen schrien in ihm durcheinander.

»Schlag sie nieder,« reizten die einen.

»Hast du nicht lange genug ein Weib entbehrt?« flüsterten die andern, »umarm' sie, küss' sie.«

»Großer Gott, was machst du aus mir, Hedwig?« stieß er tonlos hervor. »Ich darf ja nicht!«

»Und Elsen willst du nicht helfen?« bat sie von neuem. Noch niemals hatte sie so sanft zu ihm gesprochen.

Aus dem Krankenzimmer drang ein matter, ersterbender Laut.

Da preßte Wilms plötzlich mit seiner brutalen Riesenkraft ihre beiden Hände in die seinen, die noch den Brief umschlossen, und näherte sein Haupt dem ihren, als ob er dem Mädchen etwas zuraunen wollte. Aber kein Wort ging über seine Lippen, er sah sie nur an, und erst nach geraumer Zeit drang es stückweise hervor: »Ich nehm' es ja – wenn du es willst – denn du bist gut – ja du bist gut.«

Es war wie ein geheimes Einverständnis über beide gekommen. Und jetzt lächelte sie ihn auch frisch und freimütig an, als sie ihn bat, nach seiner Wirtschaft zu sehen, denn sie selbst würde Else alles, was über die bevorstehende Reise beschlossen sei, schonend und ruhig mitteilen.

Er nickte und wandte sich langsam ab. Aber noch an der Tür streckte er ihr in überwallendem Gefühl zum zweitenmal die Hand entgegen.

Hedwig stand noch immer und lächelte.

»Geh nur.«

»Ja, ja,« murmelte Wilms wie im Traum, und mit einem langen Blick: »Du bist gut.«


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