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X.

Ein sanfter Maientag ging zur Rüste.

Am Horizont lösten sich prachtvolle Farben ab. Ein Spiel von Gelb, Tiefblau und Rot wogte durcheinander, und durch die Äste der Fliederlaube fielen die letzten rötlichen Lichter. Ein leises Lüftchen wehte durch den Garten, sonst atmete alles Beruhigung und Abendstille.

Aber zu dieser friedlichen Umgebung paßte schlecht die wilde Bewegung, die in dem Pachthause ausgebrochen war.

Scheu und lautlos wie früher schlichen Knechte und Mägde umher, die Türangeln wurden eingeölt, damit sie die Kranke nicht durch Knarren störten, alles im Hause hüllte sich wieder in Schweigen, eine dumpfe, düstere Feierlichkeit drückte abermals auf Menschen und Gehöft herab.

Am Abend war der Kreisphysikus eingetroffen und weilte jetzt allein in dem großen Wohnzimmer. Immer stiller wurde es im Haus, nur zuweilen hörte man einen schrillen Wehruf aus der Krankenstube.

In der Fliederlaube aber saßen zwei schweigsame Menschen, die fuhren zusammen, wenn solch ein klagender Laut heraustönte, und hielten den Atem an, ob er sich nicht wiederhole.

Immer heimlicher und dämmernder wurde es um sie herum, hinter Baum und Strauch quollen lichte, weiße Nebel hervor, und die beiden verängsteten Menschen konnten kaum noch ihre Züge erkennen.

»Heting, nun geh zu meiner Frau,« forderte endlich der Pächter undeutlich, indem er noch tiefer in den Schatten der Laube rückte, »und sieh dich um, warum der Doktor gar nicht zurückkommt.«

Damit sank die große Gestalt wieder in sich zusammen und brütete so verloren vor sich hin, daß der Landmann nicht bemerkte, wie Hedwig seinem Wunsch nicht Folge leistete, sondern still neben ihm sitzen blieb.

Endlich strich sie sich das Haar aus der Stirn. Das gewahrte Wilms.

»Hedwig, wolltest du nicht – –?«

»Nein, Schwager, ich gehe nicht zu deiner Frau.«

»Du – gehst nicht?«

»Nein – nicht – bitte, Wilms – laß mich nicht mehr hinein.«

»Ja – aber – Heting, warum denn?«

»Weil – weil ich mich vor ihr fürchte,« kam es bebend über ihre Lippen.

Der Pächter starrte sie an – verständnislos – und faßte sich an den Kopf.

Noch wußte der Hofpächter ja nicht, was sich heute morgen zwischen den beiden Schwestern abgespielt hatte. Schweigend hatte Hedwig alles in sich verschlossen; der zartfühlende, weichherzige Mann brauchte es ja nicht zu erfahren, daß sie entdeckt seien, daß ihre heimliche Sehnsucht, die sich noch niemals geäußert, die noch Wunsch war ohne Erfüllung, daß diese bereits belauert und verflucht sei von der Scheidenden, die sie nun bald nicht mehr stören würde.

Alles wollte sie kalt und stolz von ihm fernhalten, um selbst zu harren und zu lauern, bis die Erlösung endlich da wäre – der Anfang des Glücks.

Aber jetzt – jetzt, wenn die wilden Wehlaute herausdrangen bis in den stillen Garten, dann ertrug sie es nicht. Dann schreckte sie zusammen und zitterte. Wie Eis lag es ihr ums Herz. War sie wirklich schuld, daß ein Menschenleben dort drinnen scheiden mußte? Hatte sie wirklich eine Verzweifelte in den Tod getrieben?

Wieder schlug ein Schmerzensschrei an ihr Ohr.

Das überwältigte sie, dem war sie nicht gewachsen, alles schrie in ihr nach Trost – Ruhe – Verzeihung.

Ein Wort der Liebe entbehrte sie, ein einziges Wort von dem Manne, dem sie ihre Jugend schenken wollte, dem sie sich hingeben wollte, bedingungslos, jetzt, wo es auch immer sei, weil er sie mit seiner dumpfen Hilflosigkeit von Anfang an betört hatte.

Aber der Pächter saß verstört da und regte sich nicht.

Da ließ Hedwig mutlos die Hände in den Schoß sinken und verzweifelt murmelte sie:

»Ich wünschte, ich wäre es, die sich zur ewigen Ruhe legen könnte, und bei euch bliebe alles beim alten. – Ich stürbe so gern.«

Aber der Tod hatte noch keine Gewalt über sie, das Leben schlug vielmehr brausend über ihr zusammen.

Wilms packte krampfhaft ihre Hand: »Du – Heting?« stammelte er, »nein, nein – nur nicht du – das könnt' ich nicht ertragen – nur du nicht – wir wollen ja zusammen bleiben.« Er umklammerte sie und drückte sie an sich.

Und dann war es plötzlich da, was sich seit Monden näher und näher geschlichen hatte.

Ohne Übergang fühlte sie seine zuckenden Lippen auf den ihren, sie schlang ihre Arme um den gewaltigen Nacken des Mannes und unter schmerzhaften Küssen merkte sie, wie seine Tränen ihr Gesicht netzten. Auch sie schluchzte. Als ob sie sich trösten wollten, lagen sie einander in den Armen.

Es war kein freudiges Finden.

§§§

In dem weiten, ungemütlichen Wohnzimmer war es inzwischen stiller geworden. Der dicke Kreisphysikus hatte seine Untersuchung beendet und die Schwerleidende schonend befragt, durch was sie denn so plötzlich in Erregung versetzt worden wäre. Lange hatte das matte Weib seinem Drängen widerstanden, endlich jedoch, als der alte Herr sie gar so väterlich und gut in die Arme nahm, faßte sie sich ein Herz, und wie ein kleines Kind an den alten Freund geschmiegt, flüsterte sie ihm stockend und weinend ihre entsetzliche Entdeckung zu.

»O, Gott, das hätt' ich nicht geglaubt – aber es ist wahr, Herr Doktor, Krischan hat es selbst gesehen.«

Der alte Arzt schüttelte den Kopf und redete ihr aus voller Überzeugung solche Vermutungen aus. »Ach, Unsinn – mein Kinding – Gesindegeklätsch.«

»Wirklich?« hauchte sie schwach. Aus ihren Augen brach ein Hoffnungsstrahl.

»Selbstverständlich – da kenn' ich die beiden zu gut.«

»Ach, ja,« flüsterte die Liegende dankbar, dann hob sie den müden Blick zur Decke empor, auf welche die brennende Lampe ihren gelben Kreis warf, und drückte dem Physikus zum Schluß die Hand, »ich glaube es ja auch nicht,« sagte sie mit zuckenden Lippen, »nein, ich glaub' es nicht – glaub' es nicht.«

Wilms trat ein.

Sein Weib lächelte ihn an und bewegte die Lippen. Jedoch es war unverständlich, was sie verlangte.

Der Arzt beugte sich über sie.

»Wilms, Ihre Frau wünscht auch ihre Schwester zu sehen,« erklärte er sodann und begab sich selbst in den Garten, um das Mädchen zu holen. In der Laube traf er sie. Es herrschte schon Finsternis.

»Nach mir verlangt Else?« sprach Hedwig verwirrt, aber den langjährigen Freund durfte sie die Unruhe, die in ihr stürmte, nicht merken lassen. »Ja, wir wollen zu ihr.«

Welch ein Gang. Noch brannten die ersten Küsse auf ihrem Munde, noch wußte sie nicht, wie das alles möglich war, und was nun folgen sollte.

»Wird sie noch lange leiden?« forschte sie atemlos.

Ob der kleine Physikus den nachzitternden Wunsch aus dieser Frage herausgehört hatte? Vor dem Hausflur blieb er stehen und strich ihr gedankenvoll über die welligen Haare.

»Ja, sie kann noch sehr lange leiden,« gab er halblaut zurück, »und deshalb – Heting, ich glaube, es wäre gut, wenn du jetzt dauernd von hier fortgingst.«

»Ich?« Sie erschrak; – wußte er schon etwas?

»Der Aufenthalt hier ist dir nicht gut bekommen. Du kamst hier als eine Dame an, und – ich weiß nicht, aber du hast hier draußen etwas Hartes, Bäuerisches angenommen, und – es wäre wirklich für alle gut, verstehst du,« brach er ab, »wenn du zu deinem Vater zurückgingst.«

Keine Antwort.

Starr und groß blickte das Mädchen durch die Dunkelheit zu dem alten Freunde hinüber. Es war ihr zumute, als sollte sie ihm jetzt um den Hals stürzen, um ihm all ihre peinigenden Gedanken, die gierig um den Tod der eigenen Schwester herumflatterten, zu beichten und anzuvertrauen. Aber noch war ihre Kraft nicht erschöpft.

Sie faßte sich und gab dem Doktor ruhig zur Antwort: »Es ist vor allen Dingen meine Pflicht, hierzubleiben, solange Else mich nötig hat. – Ich danke Ihnen aber für Ihren Ratschlag,« setzte sie beklommen hinzu, während sie schon durch den Flur schritten.

»Es war gut gemeint,« sprach der kleine Physikus nachdrücklich.

Die Ansicht über die Unschuld des Mädchens stand nicht mehr so felsenfest bei ihm. Er maß seine Begleiterin mit einem mißtrauischen Blick.

Sie traten ein.

An dem Bette der Kranken saß Wilms, das Haupt mit den kurzgeschorenen blonden Haaren tief auf die Brust gesenkt. Er hob es auch nicht, als er den Schritt des Mädchens hörte. Seine große Hand ruhte in der seines Weibes.

Die Trostesworte des Arztes mußten der Hingestreckten Linderung verschafft haben, denn sie lag jetzt still und nickte Hedwig eifrig zu, näher heranzukommen.

Die Jüngere gehorchte. Dabei empfand sie, daß die Blicke der Kranken sie durchdrangen, und obwohl es ihr schien, als ob der silberne Ring, den ihr Wilms geschenkt hatte, jetzt an ihrem Finger weißglühend würde, und trotzdem sie glaubte, ihre Lippen würden nun von selbst die heimlichen Küsse bekennen, so bezwang sie sich dennoch und sah die Kranke groß und ruhig an.

Nur ihre Brust hob sich ängstlich. Die Blicke der beiden Schwestern trafen sich, und als Else in diese stillen, braunen Augen hineinsah, schien sie Beruhigung zu schöpfen. Wenigstens zog sie Hedwig bis auf den Bettrand nieder und streichelte ihr stumm die Wange. Aber im Niederbeugen streifte Hedwigs Gewand den sitzenden Wilms. Ein Schlag durchzuckte das junge, aufgeregte Weib. Wieder war ein Moment gekommen, wo sie sich beinahe über die Leidende geworfen hätte, um die Last von sich zu werfen und all ihre Schuld zu gestehen. Aber der Aufbruch des Arztes drängte sich zwischen ihre Gedanken. Nachdem der Physikus dem Pächter noch einige Verhaltungsmaßregeln erteilt hatte, verabschiedete sich der treue Hausfreund, und bald verkündete ein leises Rollen, daß er vom Hofe heruntergefahren sei.

Die drei bedrückten und beladenen Menschen blieben allein. Tiefes, anhaltendes Schweigen herrschte, nur zuweilen knirschte der Sand auf dem Fußboden, oder die Uhr in dem Kasten regte sich und schlug. Die Kranke lag und hatte die Augen geschlossen, aber unter den gesenkten Wimpern lenkte sie heimlich ihren Blick von Wilms auf Hedwig und von dem Mädchen wieder spähend auf den Mann.

Doch ihrem Argwohn wurde keine Nahrung zugeführt.

Die beiden saßen sich gegenüber, als wären sie sich völlig fremd und gleichgültig.

»Sollte der alte Knecht nur aus Haß gesprochen haben?« dachte Else erleichtert, »ach, wenn das doch wahr wäre.« Eine lange Zeit verging. Da bemerkte Else, die nach Art der Kranken nervös mit dem kleinen Goldherz auf ihrer Brust spielte, wie ihre Schwester sich hinüberbeugte, als wünsche sie mit dem gänzlich in sich versunkenen Manne zu reden.

»Nein – nein.« Das wollte die Leidende nicht. Mitten in ihrer Qual wurde sie eifersüchtig auf die junge Schönheit, die so ruhig auf dem Bettrand saß in ihrem weißen, mit Rosenknöspchen gemusterten Kleide, das leicht und knapp am Körper herunterfloß.

Wie voll sie erblüht war. – Nein, nein, sie sollte mit Wilms nicht reden. Else wollte allein sein mit ihrem Manne. Und jetzt fiel ihr auch auf, wie sonderbar Hedwig das Goldherz betrachtete. Das flößte der Kranken Furcht ein.

»Das Herz – ist – ein Andenken – von Wilms,« brachte sie mit Anstrengung hervor, indem sie das winzige Kleinod küßte, »und nun, Hedwig – geh' schlafen. – Wilms soll heut bei mir bleiben – ich – ich will allein sein mit – meinem Manne – hörst du?«

Es war so bezeichnend gesprochen und von so unverkennbarer Abneigung begleitet, daß Hedwig sich rasch erhob und ohne ein weiteres Wort aus der dumpfen Krankenstube hinauseilte. Kaum war sie draußen, so atmete sie erleichtert auf und flog in ihr Kämmerchen empor, das sie seit Elses Rückkunft wieder bewohnte.

Dort oben entzündete sie Licht, öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und sog den warmen betäubenden Nachtduft ein, der von Wiesen und Äckern herüberquoll.

»Wie lange mag sie wohl noch leben?« ging es wieder ungeduldig durch ihre Sinne. Sie harrte jetzt schon wie eine Verzweifelte. Und während sie bereits halb entkleidet auf ihrem Bette kniete, streckte sie noch einmal sehnend die Arme aus, als wollte sie jemand umfangen, unauflöslich an ihrer Brust verstricken. Glut und Begehren schwemmten alle Angst fort. Wild, ohne alle Eindämmung, lag sie im Bette und lauschte, ob nicht Wilms kommen würde, ihr das Abscheiden der Verfallenen zu melden.

Ein längstvergessener Liedvers fiel ihr ein. Den summte sie in ihrer Aufregung vor sich hin:

»Der schwarze Reiter hält vorm Haus.
Komm' feine Frau zu mir heraus,
Ein Hemd genügt – mußt eilen,
Daß ich vom ersten Morgenstrahl
Zurück bin über See und Tal;
Wir reiten viele Meilen.«

Aber der schwarze Reiter hielt noch nicht vor dem Pachthof, das Stundenglas rann noch weiter.

§§§

Es schlug eins.

Die Kranke regte sich. Mit feuchter Hand hielt sie noch immer die Rechte des Gatten umspannt. »Wilms,« flüsterte sie heiser.

Aufgescheucht fuhr der Pächter empor. In seiner Betäubung hatte er dem Schlummer nachgegeben und merkte erst jetzt, daß die erloschnen Augen seiner Frau schon lange stumpf und starr auf ihm ruhen mußten.

»Was willst du, Elsing?«

»Ich glaube – es geht bald – mit mir zu Ende,« röchelte sein Weib, und es klang, als ob ihr der Tod bereits auf der Brust säße.

»Elsing – um Gottes willen – bist du denn kränker geworden?«

»Ja, ich glaub' wohl. – Wilms – ich dank' dir auch für alle Liebe – – – nur zuletzt – aber sag' mir die Wahrheit; du hast mich nie belogen: – Wenn ich nun gestorben bin – willst – willst du dann Hedwig heiraten?«

Es war schon, wie wenn die Stimme von jenseits des Grabes dränge, der Pächter umklammerte die Lehne seines Stuhls, er konnte kein Wort hervorbringen, die Zunge klebte ihm am Gaumen, seiner selbst kaum mächtig, schüttelte er nur den Kopf, während das Bild der immer mehr sich verfärbenden Frau seine ganze Seele gefangen nahm.

Langsam hob die Scheidende den Finger und bewegte ihn, wie man einem kleinen Kinde droht. Dann winkte sie ihm, er solle sich über sie beugen, und während sie den plumpen Mann mit verendender Leidenschaft küßte, flüsterte sie ihm vernehmlich zu: »Hör' auf mich – Hedwig ist nichts für dich – ihr paßt nicht zusammen, – weil – ach, weil sie viel mehr ist als du – und erinnere dich, mein armer Mann – erinnerst du dich nicht – was ich dir – von Hedwig und dem Grafen damals erzählte –« Ein befriedigtes Lächeln spielte kaum merklich um die Lippen der Liegenden, diese letzte Rache schien ihr wohlzutun, namentlich als sie empfand, daß ihr Mann getroffen zusammenzuckte. Noch einmal öffnete sie die Augen, um dies Bild voll zu genießen, dann hauchte sie noch: »Sie ist nicht rein – nicht so, wie ich – wie ich – – wie – –«

Die Worte verklangen im Wesenlosen, eine neue Ohnmacht nahm sie hinweg, und nur auf Momente erwachte die Gequälte wieder und schrie laut auf. Kaltes Entsetzen hatte Wilms gepackt, nein, er vermochte es nicht mehr, mit der Ringenden allein zu bleiben. Er sprang zur Tür und schallend rief er durch das Haus: »Hedwig – Hedwig.«

Schlaflos lag das Mädchen noch oben in ihrer Kammer, denn sie erwartete ja etwas Ähnliches, daß Wilms ihr ein Zeichen geben würde.

Ob das schon das Ende war?

Eine nie gefühlte Lust durchdrang sie, ein schauerlich schöner Zustand, und doch klopfte ihr Herz wie eine Glocke, und die Angst übergoß sie mit schüttelndem Frost. Es war ihr, als fühlte sie Todeswehen um sich, als flöhe die Seele der Geschiedenen eben an ihr vorbei.

»Hedwig – Hedwig.«

Es klang so flehentlich. Notdürftig hüllte sie sich in Kleider und fuhr lautlos die Treppe hinab. Am untersten Absatz stand Wilms und starrte hinauf.

»Ist sie nun tot?« fragte Hedwig, sich gänzlich vergessend.

Der Landmann schüttelte den Kopf, jedoch er begriff sie wohl nicht.

»Noch nicht,« gab er tonlos zurück – »aber ich kann nicht mehr mit ihr allein bleiben, – komm' rein.« Er öffnete und ließ das Mädchen voranschreiten. Dann setzten sie sich dicht nebeneinander an das Fenster und sahen wortlos zu dem gefolterten Körper hinüber, der nicht leben und nicht sterben konnte. Dieses jammervolle Bild konnte die Jüngere nicht ertragen. Instinktiv, und nur ihrem stärksten Trieb folgend, überall einzugreifen, nahm sie das Fläschchen mit dem giftigen Beruhigungsmittel, und ließ die Tropfen in den Löffel herabträufeln. Mechanisch zählte Wilms mit. – Fünf – sechs – sieben.« Das Mädchen setzte ab und flößte der Leidenden den Trank ein, wonach sie bald einem bleiernen Schlaf anheimfiel.

Aber Wilms Gedanken flogen weiter. Wär's ein Verbrechen gewesen, wenn man der Kranken die ganze Flasche gereicht hätte? grübelte er. Dann hätte sie endlich die Erlösung gefunden, sie wäre eingeschlummert, um nicht mehr aufzuwachen, und Ruhe wäre in das Haus eingezogen und Frieden.

Ein scheuer Seitenblick streifte das Mädchen, das müde neben ihm saß, und jetzt merkte der Pächter erst, wie fest sie sich an ihn lehnte, um keinen Blick von der Ruhenden zu verwenden. Merkwürdig – Hedwigs Lippen bewegten sich leise, es war, als ob sie die Atemzüge der Schwester zähle. Und in diesen Minuten der Stille sah auch der Pächter, daß sie nur locker und leicht bekleidet war, überall schimmerte ihm ihre Schönheit entgegen. Er bedeckte die Augen mit der Hand, um es nicht zu beachten, aber er sah es doch. Die Frau, die sich dort immer tiefer in den Schlaf hineinwiegte, war im Augenblick, als ob sie schon versunken und vergessen wäre.

Leise und weich schmiegte sich Hedwig an ihn, als ob sie einschlummern wollte.

Beide Schwestern waren müde, sehr müde.

Wilms wurde immer seltsamer zumute. Da wurde leise an der Haustür geklopft.

Als der Pächter öffnete, sah er draußen in der klaren, sternenhellen Nacht Pastor Schirmer im vollen Ornat stehen, nach welchem Wilms auf der Sterbenden Wunsch geschickt hatte.

Schweigend führte er den späten Gast ins Wohnzimmer. Der Geistliche mußte irgendwo im Vorüberwandern einen Zweig blühend roten Rotdorns abgepflückt haben. Den legte er als letzte Gabe auf das weiße Linnen. Dann wurde das Kruzifix vor das Bett gerückt, die Lichter angesteckt, und das zitternde Männchen wollte der Schlummertrunkenen die Sterbesakramente spenden. Jedoch still und starr lag die Wegbereite und hörte nichts von dem, was sie sonst leidenschaftlich in sich aufgenommen hätte. Aber die Gebete, die der Geistliche statt der heiligen Handlung vor sich hinmurmelte, waren doch nicht in den Wind gesprochen. Wenn es der einen Schwester auch verloren ging, die jüngere und schönere folgte seit langer Zeit zum erstenmal einer kirchlichen Handlung mit zurückgehaltenem Atem und brennenden Augen.

Es war ihr, als wären dies die Hochzeitsweisen, die für sie und den Mann neben ihr gehalten würden – dicht neben dem Lager der Scheidenden.

»Amen, – Amen,« schloß der Priester.

»Amen,« wiederholte Hedwig fest und mutig.

Der Pastor wollte allein bei Else bleiben, und so gingen die beiden andern still hinaus. Vor der Tür verharrten sie noch einen Augenblick und lauschten zurück. Drinnen hörten sie, wie der Priester mit lauter, erregter Stimme Gebete aufsagte.

Dann trennten sie sich, ohne sich die Hand zu reichen, ja, ohne Gruß. So hoch war schon die Spannung zwischen ihnen gestiegen, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten.

Es war nur noch ein Hindrängen.

Müde und gleichgültig suchte Hedwig ihr Lager auf, und Wilms wachte in der dunklen guten Stube neben Elsens Zimmer die bange, traurige Nacht durch.

Drinnen sang das zitternde, greise Männchen immer hingebungsvoller, und was ärztliche Kunst nie vermocht hätte, das geschah hier.

Else schlug plötzlich die müden Augen auf, und ein seliges Lächeln verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht. Das Tiefste in ihrem Leben war getroffen und klang jetzt aus. Ja, sie wollte wie ein Kind Gottes, wie eine Fromme sterben. Mit unsäglicher Mühe richtete sie sich auf und klammerte sich vor Freude weinend an den Geistlichen: »Sie – sind – es, Herr Pastor?« hauchte sie, »o, wie schön – – dann ist mir wohl – o, so wohl –«

Und sie legte ihren Kopf andächtig gegen das weiße Greisenhaupt, und während sie durch das Fenster zu den hellflimmernden Sternen hinaufsah, sang sie ganz leise mit ersterbender Stimme das Auferstehungslied mit:

»O selig, der das Heil erwirbt,
Der in dem Herrn, dem Mittler stirbt!
O selig, wer, vom Laufe matt,
Die Gottesstadt,
Die droben ist, gefunden hat.

Nun, Tor des Friedens öffne dich:
Hinein! Hier schließt die Wallfahrt sich.
Ihr Schlafenden im Friedensreich,
Gönnt allzugleich
Auch mir ein Räumlein neben euch.«

Im dunklen Nebenzimmer saß ein Mann und hörte alles, was sich drinnen begab. – Wehmut, Verzweiflung, Leidenschaft stiegen in ihm auf, ein krampfhaftes Schluchzen drängte sich in seine Kehle; bebend, überwältigt faltete er die Hände und stammelte das nach, was zu ihm hereinschallte.

Er wußte nicht mehr, was er betete.


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