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Gewitterluft

Es war drückend schwül, schwere graue Wolken stiegen im Norden am Himmel empor, während er nach Westen noch unbedeckt war. Von Zeit zu Zeit wanderte eine schwarze Wolke über die Berge mit einer Regenfahne hinter sich. Nach einer kurzen Weile wurde es fast dunkel, ein schwerer, dichter Regen stürzte herab und die Jungen kamen bald gelaufen, jeder von einer Seite der Insel, um Schutz in der Hütte zu suchen. Noch ehe sie unter Dach waren, schien die Sonne wieder über dem Lagerplatz, während es über dem Wasser noch regnete und schwarz und unheimlich aussah. Ab und zu hörte man einen fernen, schwach rollenden Donner, Blitze sah man nicht, aber das ferne Grollen drüben über dem Land dauerte an, und sooft sie es hörten, sahen die Jungen auf und spähten hinüber, dorthin, wo sich das Unwetter zusammenzog.

Nach jedem Windstoß, der über das Wasser fegte, lag es wieder still und bleigrau da. Als Horst nach einem Bad aus dem Wasser kam, schüttelte er bedenklich den Kopf, so seltsam war das Schwimmen heute gewesen, so merkwürdig schwer und förmlich lähmend war das Wasser. Und während sie nun vor der Hütte standen, fragten sie einander, wo alle Tiere geblieben seien. Sie sahen keinen Vogel mehr, sie hörten kein Pfeifen oder Piepsen. Eine Bachstelze war das einzige, was zu sehen war, unruhig flog sie in kurzem Bogen über das Wasser und wieder zum Ufer zurück.

Klaus saß schweißbedeckt und ermattet am Räucherofen und beschäftigte sich mit der interessanten Frage: platzte eine Mücke wirklich, wenn man sie ruhig sitzen und Blut saugen ließ? Bisher hatte er diese eigentümliche Meinung nicht bestätigt gefunden – alle die Mücken, mit denen er's versucht hatte, waren gewaltig angeschwollen und gesättigt von seiner Hand in irgend einen Winkel getaumelt, um wieder nüchtern zu werden, aber geplatzt war keine. Jetzt saß er in tiefen Gedanken und starrte auf ein Riesenexemplar, dessen Hinterleib auf seinem Arm dunkelrot anschwoll. Um ihn herum war alles totenstill, kein Lufthauch rührte sich, und es roch nach Rauch. Die schwere Luft macht ihn schläfrig und übermäßig satt fühlte er sich auch nicht. Er war gerade im Begriff, einzuschlummern, und meinte schon im Traum die Mücke gewaltig anschwellen zu sehen, sie wurde zu einem Ungeheuer mit bösen grünen Augen und einem Saugrohr als Rüssel – er wollte um Hilfe rufen, um sie zu verjagen. Sein Kopf sank auf die Brust, die Augen schlossen sich. Da vernahm er in der schwülen Stille eine ganz leise Unruhe, nur wie ein Rieseln im Sande, ein Huschen über Steine von etwas ungeheuer Leichtem, das sprang und ihn den Kopf wenden ließ, um in die Hütte hineinzusehen.

Die Türe stand offen, auf dem Ofen stand der Topf mit seinem letzten Meisterwerk der Kochkunst – der Sülze von Fisch und Sauerampfer – appetitlich sah es nicht aus. Da vernahm er wieder denselben fast unmerklichen Laut, und diesmal sah er, ohne sich anzustrengen, was es war. Sein Todfeind, das Wiesel, saß auf der Türschwelle, auf den Hinterbeinen, den Kopf hochgereckt, gespannt bald nach ihm, bald gierig in die Hütte hineinstarrend, zum Platzen neugierig, was es war, das da so gut roch. Seine kleine Nase schnupperte aufgeregt, seine Ohren bewegten sich zitternd, der ganze kleine schmale Körper bebte vor Gier. Es gab etwas zu fressen da drinnen, das so gut roch, daß es ihm das feuchte Naschen kitzelte – was mochte das sein –, das mußte es unbedingt erfahren. Und auf der andern Seite, dies unbekannte Wesen da draußen, das sich schon früher als gefährlich und feindlich erwiesen hatte! Und plötzlich fauchte es Klaus böse an und hob den Schwanz. Angst hatte es nicht, es spannte jeden Muskel, neugierig und gefräßig bis zum Tode, ja, wirklich bis zum Tode.

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Klaus hatte im Sitzen die Linke gegen den Boden gestemmt, jetzt hielt er einen faustgroßen Stein in der Rechten. Sein Blick ließ, wie gebannt von jenen schwarzen, rötlich funkelnden Augen, den Feind keinen Augenblick unbewacht. Und mit aller Kraft, die er, fast ohne seine Stellung zu verändern, in den Wurf legen konnte, schleuderte er den Stein.

In neunundneunzig von hundert Fällen ist ein Wiesel durch einen Steinwurf nicht zu treffen – es ist verschwunden, ehe es der Stein erreicht. Und Klaus konnte nicht daran denken, zu zielen oder seinen Wurf genau zu berechnen. Aber das Wiesel sprang in einem unseligen Anfall von Schreck und Wut in demselben Augenblick von der Schwelle, da es die Gefahr erkannte, genau dem anfliegenden Stein in den Weg. Es wollte unter die Türschwelle schlüpfen, es war mehr eine Wendung als ein Sprung. Dieses Zehntel einer Sekunde genügte aber, man konnte nicht einmal so rasch sehen, wie es geschah – kurz und gut, es sprang genau an die Stelle, wohin der Stein traf. Sein Kopf schlug auf die Schwelle.

Ein Wiesel kann zählebig sein, es hat neun Leben, wie eine Katze, aber dieses wurde von dem Stein am Kopf getroffen, dicht hinter dem Ohr, und war fast auf der Stelle tot. Es zappelte noch ein bißchen mit den kurzen Beinchen, krümmte den schlanken Leib, schlug zornig mit dem Schwanz und lag dann ganz still.

Klaus starrte es gespannt an, als erwarte er, daß es sofort aufspringen und verschwinden werde. Hätte es sich aufgerichtet und gesagt: Entschuldigen Sie, es war nur ein Spaß, leben sie wohl und ich danke schönstens – er wäre nicht verblüffter gewesen als jetzt, da es ganz still liegenblieb. Plötzlich fiel ihm die Mücke ein – die war natürlich fort, und die Frage, ob sie platzen würde oder nicht, blieb ungelöst. Und dann mit einem Male löste sich die Spannung, er machte einen Luftsprung und schüttelte die Verwunderung von sich ab – er hatte sich an seinem Todfeind gerächt.

Vorsichtig näherte er sich ihm, als sei er noch nicht ganz sicher, ob dem Tiere nicht doch noch ein neuer Einfall kommen könnte. Er nahm es am Schwänze und hob es empor. Es rann ein bißchen Blut aus Nase und Maul – das war alles. Es war so lang und dünn, als er es hochhielt, ganz warm war es noch und so niedlich dabei – Klaus wurde es ganz seltsam zumute –, es war doch etwas recht Sonderbares: er hatte dieses Tier getötet.

Da trat Gerd ein. Er hatte fast nichts an, troff aber dennoch von Schweiß und war noch magerer als die beiden anderen – jede Rippe war zu sehen – er aß nicht mehr von den Fischen, als er gerade notgedrungen mußte, um seinen Hunger zu stillen.

»Was für ein Wetter heute! Man kann kaum atmen, so schwül ist es! Was hast du da?«

Klaus zeigte ihm das erlegte Wiesel.

»Ein Wiesel – Donnerwetter! Da hast du einen guten Wurf getan, ein rechtes Jagdglück gehabt!« Gerd war voll Bewunderung. »Freilich, zu essen ist es nicht«, setzte er seufzend hinzu, »aber du kannst es ausstopfen. Soll ich es ausbalgen?«

Klaus war entzückt über den Vorschlag, und Gerd machte sich gleich ans Werk. Klaus stand dabei und sah zu und wußte plötzlich nicht, was mit ihm los war, es war ihm so eigen im Magen und so feucht im Mund, und er hatte einen süßlichen Geruch in der Nase.

»Kann ich dir irgend etwas helfen?« fragte er und sah rasch fort, »sonst gehe ich ein bißchen umher.«

Gerd hatte oft zugesehen, wenn Tiere ausgebalgt wurden, und er wußte genau, wie es zu machen war, ihm machte es daher nichts aus. Und trotz alledem – es war wohl die Hitze, diese unbegreifliche Hitze, und dann, daß Klaus dabeistand und so merkwürdig aussah, – plötzlich packte er das Wiesel beim Schwanz und warf es hinauf auf das Hüttendach. »Das Ausbalgen kann auch später geschehen«, sagte er und schüttelte sich.

Die ganze Zeit aber rollte der Donner weit drüben über das Land wie ein dumpfes Murren, und jetzt sahen sie auch Blitze leuchten, einen nach dem anderen, schwach und flackernd, als öffne sich der blaue Raum da und dort mit mattem Bellen. Aber das Unwetter rückte immer näher – dicke, wollige Wolken, plötzliche Regenschauer, kalte Windstöße kamen von Westen herüber, und nach jedem Ansturm wurde es wieder drückend still und heiß. Die Gegend war wie in zwei Welten geteilt, wie mit einem Messer zerschnitten. Der eine Teil, nach dem Land zu mit dem Wasser, lag finster, blauschwarz da; der andere Teil mit der Insel und den Ufern war in blendende Sonne gebadet, mit wunderlichen violetten Schatten. Und jetzt war es für eine kurze Weile, als hielte das Unwetter inne und schöpfe Atem, ehe es näher kam.

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Sie schreckten auf, als plötzlich in nächster Nähe Horsts Triumphruf ertönte – und da kam er auch schon am Ufer dahergetanzt, bloß in Hosen, und in der Hand schwenkte er einen erbärmlich kleinen Vogel. Der große Jäger hatte einmal etwas getroffen, – er brachte den Hungrigen Vogelwild heim.

Wäre er mit einer Ente gekommen oder mit einer Anzahl Rebhühner, ja, mit einem Reh, er hätte nicht stolzer sein und nicht großartiger tun können. Er hielt das armselige braungefleckte Vögelein an einem Flügel empor, damit es sich entfalten konnte und größer aussah.

»Hast du das Junge aus dem Nest genommen?« fragte Gerd.

Horst wurde rot, er hatte eine ganz andere Begeisterung erwartet. Nein, er hatte den Vogel, der am Ufer saß, geschossen, mit Bogen und Pfeil erlegt, und er war völlig ausgewachsen, soviel man beurteilen konnte.

»Das Ding kannst du allein essen«, sagte Gerd und wandte sich ab.

Horst wurde noch röter. Es flammte auf den dunklen Wangen. War das eine Art einen großen Jäger zu empfangen, wenn er Beute brachte? »Nimm es und rupfe und brate es, Klaus!« sagte er befehlend.

»Ja«, erwiderte Klaus langgezogen und begann an den Federn zu rupfen, »aber ausnehmen mußt du es selbst.«

»Ausnehmen?«

»Na ja, die Eingeweide herausnehmen und so – weißt du.«

»Ach so«, sagte Horst und sah ganz verzagt drein. »Wie macht man das eigentlich?«

»Ich kann es zwar«, erwiderte Klaus, »aber es ist das Widerlichste, was es gibt.«

»Du mußt es aber doch tun, bitte«, sagte Horst, »denn ich weiß nicht recht, wie man es macht.«

So weidete denn Klaus das Vögelchen aus. Dabei wurde es ihm so übel, daß er hinter die Hütte gehen mußte und nach einer Weile ganz bleich wieder zum Vorschein kam.

Der finstere Schatten über der Gegend war inzwischen näher gerückt.

»Das wird fein: Geflügel essen«, bemerkte Horst, der mit den Füßen im Wasser planschte.

»Worin soll ich denn eigentlich deinen Vogel braten?« fragte Klaus plötzlich.

»In seinem eigenen Fett«, erwiderte Horst schlagfertig.

Klaus lachte auf. »Den Piepmatz da! Da wäre es gleich besser, ihn in deinem Fett zu braten. Nein, wir wollen ihn kochen und Geflügel mit Geflügelsuppe essen.«

»Ich will, daß er gebraten wird«, sagte Horst mit drohender Stimme.

»Dann brat du ihn selbst!« Klaus warf ihm verärgert den gerupften Vogel zu, der so groß wie eine Kinderhand war.

Horst erhob sich verächtlich. »Gib mir die Pfanne!« sagte er.

»Da ist der Rest des gekochten Fisches vom Mittag drin!« warf Gerd trocken ein. »Du mußt dir etwas anderes suchen, wenn du braten willst.«

»Ich will die Pfanne haben!«

Klaus griff ein: »Die Pfanne gehört mir – ich habe sie mitgenommen. Da hast du die Pfanne, Horst. Den Fischrest habe ich in die Konservenbüchse getan. Aber mit dem Vogel mußt du selbst fertig werden, ich rühre ihn nicht an.«

Da stand nun der Führer mit der Pfanne in der einen und dem Vogel in der anderen Hand. Er war mit großem Stolz mit dem Vogel heimgekommen – in Erwartung eines stürmischen Freudengeheuls seiner Kameraden und einer prachtvollen Mahlzeit. Er war mit Kälte und Verachtung empfangen worden, und der Vogel war nicht einmal so groß wie eine Kartoffel. Und noch so warm. Und so eklig und klebrig! Und so voll kleiner Fliegen!

Ein Windstoß pfiff schneidend über das Wasser, es war, als wallte und brodelte es hintennach. Ein mächtiger Blitz zuckte auf – eine Weile danach rollte der Donner – aber noch immer in weiter Entfernung. Dann schien die Sonne wieder weißglühend, aber der dunkle Schatten über dem Wasser näherte sich langsam.

Schön – er würde schon mit dem Vogel fertig werden. Er machte Feuer im Räucherofen an und setzte die Pfanne darauf. Als es gut brannte, legte er den Vogel auf die Pfanne. Ein scheußlich brenzlicher Geruch von verbrannten Federn stieg ihm sofort in die Nase. Aber Horst zuckte mit keiner Wimper. Klaus kreiste um den Ofen, sein Ehrgefühl erlaubte ihm nicht, einzuschreiten, aber es tat ihm bitter leid, zusehen zu müssen, wie Horst den Vogel verbrennen ließ. Die fettlose Pfanne hatte von der Hitze blaue Flecken bekommen. Horst beugte sich darüber und stocherte mit einem Holzstab in dem kleinen Braten herum, der unten schon angebrannt war. Das lief wohl nicht gut ab – sicherlich müssen Vögel in irgend etwas gebraten werden, und dann gehört doch auch Soße dazu.

Da hörte er eine klägliche Stimme: »Du verdirbst ja die Pfanne und verbrennst den Vogel dazu, Horst.« Es war Klaus, der nicht mehr an sich halten konnte.

Horst sprang auf. »Na, so koch ihn also«! Und da die Ehre ja gerettet werden mußte, brüllte Klaus: »Ich hab ja gleich gesagt, er muß gekocht werden!«

In diesem Augenblick merkten sie, wie finster und kühl es um sie geworden war. Eine Bachstelze flog blitzschnell über sie hinweg und in ein Gebüsch hinein. Ein Wirbelwind setzte ein, der alles, was nicht schwer war, vor der Hütte herumtanzen ließ. Dann starrten sie einander in die Gesichter, die blau beleuchtet waren. Ein Blitzstrahl fuhr im Zickzack über die Insel, und in demselben Augenblick zerriß ein tosender, dröhnender, brüllender Krach und Knall die Luft. Ein gewaltiges Brausen ging über das Wasser, das augenblicklich aufschäumte und hohe Wellen über das Ufer jagte. Dann prasselte ein Hagelwetter nieder, zuerst senkrecht, dann schräg, gefolgt von Regen und neuen Blitzen. Es war, als schleudere der Himmel Feuer auf die Insel. Ein abermaliges Krachen – Klaus hatte die Pfanne mit dem Vogel gepackt und stürzte in die Hütte, die anderen ihm nach, in den Armen alles an Kleidern, Angel- und Kochgeräten tragend, was sie schnell erraffen konnten. In der Türe aber blieben sie stehen und starrten zurück. Ein neuer Blitz zuckte schräg über die Insel, es war ihnen, als sprühe der Flaggenhügel Funken, und von dem Strande her leuchtete es gelb; aber ehe der nachfolgende Donner aufgehört hatte, fuhr wieder ein Blitz herab, diesmal aber unten im Osten über dem Wasser, und Donner, Regen, neuer Blitz, neuer Donner, neuer Regen entfernten sich langsam. Und während sie noch dem Unwetter nachsahen, spürten sie unversehens ein wunderbar duftendes, frisches, mildes Lüftchen, eine milde Wärme über der Insel, und sie atmeten auf. Durch einen feinen Sprühregen schien die Sonne von einem klaren Himmel mit leichten, hellen Wolken, die dahinschwebten und sich auflösten, während sich das Unwetter in der Ferne verlor.

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Klaus kochte nun den Vogel. Er reichte nicht weit, schmeckte ein bißchen herb und eigentlich nach gar nichts. Aber sie aßen alle von ihm und priesen ihn jetzt in hohen Tönen. Es herrschte wieder eine reine Luft, blieb klar und frisch und sonnig den ganzen Nachmittag, und die Insel war bedeckt von blinkenden, glitzernden Tropfen, die blitzten und verdampften, und es war wieder schön, hier zu leben.

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