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Menschen im Nebel

Diese Nacht schliefen sie alle drei unruhig. Erst gegen Morgen fielen Horst und Gerd in tiefen Schlaf, nur Klaus lag noch wach. Es kribbelte ihn am ganzen Körper, er drehte sich von einer Seite auf die andere, warf sich hinüber und herüber. Wenn nun die Leute von dem Holzfeuer drüben am Bach doch noch auf die Insel kämen – jetzt bei Nacht! Zuletzt konnte er es nicht mehr aushalten. Er sprang auf und kleidete sich an.

Als er hinaustrat, schrie er auf vor Erstaunen, über der ganzen Insel lag dicker, zäher Nebel. Weiter als einen Steinwurf konnte er nicht sehen. Den Flaggenhügel konnte er nur verschwommen unterscheiden, und die nächsten Bäume standen wie Schatten im Nebel. Von dem Wasser sah er bloß einen kleinen Streifen, das Ufer drüben war ganz verschwunden. Und jeder Laut, selbst seine eigenen Schritte, verhallten in dem feuchten Gewoge.

Er ging langsam den Flaggenhügel hinan. Die Flagge hing an die Stange geklebt, alles, was er berührte, war naß und kalt. Von hier aus war gar nichts zu sehen als die nächste Kuppe, und tief unter ihm, seltsam unwirklich, etwas Graues, Verschwommenes: die Föhrengipfel und Wiesen. Ein Vogel, ein großer, grauer Vogel auf weichen Schwingen – vielleicht eine Eule –, strich niedrig über ihn, warf sich zur Seite, fiel gleichsam in den Nebel; und von tief unten hörte er einen langen, jammernden Schrei, der ihn erschrecken ließ, obwohl er wußte, daß es eine Tauchente war, die da schrie. Dann wurde es unheimlich still und tot. Klaus horchte auf jedes Geräusch.

Er fror. Es nützte nichts, hierzustehen und in den Nebel zu starren. Ein Elefant hätte quer über die Insel stampfen können, er hätte ihn nicht gesehen.

Aber in dem Augenblick, als er wieder hinabgehen wollte, blieb er unsicher stehen. Er vermochte es sich nicht zu erklären, aber er konnte sich nicht entschließen, weiterzugehen. Er kroch auf den Steinhaufen hinauf und wieder herab, wollte gehen, blieb stehen. Und unaufhörlich lauschte er angestrengt. Er wußte nicht, was es war, sehen konnte er nichts – hörte er etwas oder bildete er es sich bloß ein? Er stand an dem Steinhaufen und horchte, den Körper nach vorn gebeugt, nach dem Ufer hin. Da drüben – dort am Ufer – oder draußen auf dem Wasser, dicht am Ufer – da war etwas! Es war genau wie – ja wie eigentlich? Aber es war etwas in dem Nebel.

Waren es Ruder, die knirschten? Platschte etwas im Wasser? Und jetzt – sprach da nicht jemand? Und mit einem Male hatte er selbst geschrien vor Aufregung – lang – unheimlich – sein Schrei erstickte im Nebel. Wieder lauschte er, vorgebeugt, als wollte er die Laute einfangen. Was war es, das er hörte und sich doch nicht erklären konnte? Es war unmöglich zu beschreiben, einmal hielt er es für Ruderschläge, dann wieder für Stimmen. Aber sooft er den Laut aufzufangen meinte, war er schon wieder fort. Ja, es war etwas, etwas Geheimnisvolles, wie ein Zittern im Nebel. Wieder rief er. Antwortete es? Er schrie noch einmal. Rief es? Er horchte. Ja, da war es wieder. Hatte nicht jemand geantwortet? Er konnte sich nicht irren, es war ein Boot, draußen auf dem Wasser – drüben auf der anderen Seite.

Verstört und atemlos stürzte er zur Hütte und rüttelte Horst wach. »Es ist jemand – es ist jemand – ich höre ein Boot, ich höre jemand reden – komm – komm!«

Horst und Gerd taumelten von der Pritsche herab, wußten nicht, was los war, liefen aber mit, liefen, nur mit Hose und Hemd bekleidet, hinaus in den Nebel, keuchten hinter Klaus den Flaggenhügel hinauf, Gerd wütend und scheltend, sooft er seine Zehen anstieß.

Jetzt waren sie oben. »Horcht«, sagte Klaus, »ich hörte deutlich Ruderschläge und jemand sprechen.«

Sie lauschten. »Nein«, sagte Gerd.

»Nein«, sagte Horst.

»Wir wollen rufen!«

Und sie riefen alle drei. Und lauschten wieder.

»Nein«, sagten die beiden anderen.

»Du hast geträumt«, sagte Gerd. »Was zum Kuckuck stehst du so zeitig auf!«

»Aber so hört doch!« schrie Klaus.

Sie horchten wieder. War es nicht dennoch etwas? War es nicht wirklich wie eine leise Unruhe, wie ein fast unmerklicher Laut im Nebel tief und fern?

»Nein«, sagte Gerd, es ist doch nichts. Ich werde blödsinnig, wenn ich lange hierstehe und so angestrengt horche.«

»Aber es war doch etwas!« Klaus war dem Weinen nahe. »Ich gebe meine Hand darauf, daß es etwas war. Was meinst du, Horst?«

»Ja«, meinte Horst, »ich möchte es nicht geradezu in Abrede stellen. Aber ich glaube eher, es war ein großes Tier am Ufer, vielleicht ist es ins Wasser gewatet – oder geschwommen –«

»Es waren Menschen«, behauptete Klaus trotzig, »ich habe es gefühlt, ich bin sicher, es waren Menschen in einem Boot.«

»Jetzt habe ich genug gefroren wegen dieses Blödsinns«, schloß Gerd, »ich gehe hinunter.«

Aber sie blieben wie gefesselt trotzdem noch einige Zeit stehen und vergaßen die Kälte.

Von den Bergen her kam der Morgenwind und trieb – wie einen Teppich, den man aufrollt –, eine graue Nebelbank vor sich her. Der Nebel stieg hoch, löste sich auf und wurde langsam dünner. Wie Inseln in einem Meer tauchten jetzt Berge und Kuppen hervor, es blitzte plötzlich im Wasser auf und glitzerte auf dem Moor. Jetzt tasteten die ersten Sonnenstrahlen über das Wasser, der Nebel stieg vom Ufer empor, es brauste leise in den Föhrenstämmen und im Weidengebüsch. Die Schwaden stiegen auf, schwebten wie flüchtende Geister über dem Wasser, hoben sich höher und höher und verschwanden. Die Vögel begannen zu singen, zuerst der Fink, dann die Drossel, und zuletzt der Zeisig, die Enten unten im See schnatterten laut, und jenseits des Wassers flog eine Rebhuhnkette auf, segelte in niedrigem Flug herüber und grüßte: »Gu'ntag, gun'tag, gu'ntag!« Vom Wald her rief ein Kuckuck, ein Falke zog seine Kreise, und ein Sperber flog dicht über die Insel hin.

Aber von einem Boot oder von Menschen war nichts zu hören und zu sehen. Das Wasser lag still, reglos, und ringsum war es so einsam und ruhig wie zuvor.

»Diesmal war's nichts«, sagte Horst, »diesmal hast du falsch gehört, mein guter Klaus. Geh jetzt hübsch hinunter und bereite das Frühstück – ich bestelle Rühreier mit Schinken!«

Dann gingen sie hinab zur Hütte, kleideten sich an und aßen ihr Frühstück. Ein Schluck Tee – es war der letzte. Klaus kochte Fische – sie sahen lange schweigend in den Topf, ehe sie sich entschlossen, zuzugreifen. Sie stocherten darin herum und kauten und brachten nichts hinunter. »Ihr müßt essen, Jungens«, sagte Horst streng, wir müssen durchhalten. Keinen Blödsinn machen. Wenn ihr euch nicht satt eßt, bleibt ihr nicht voll auf der Höhe.«

Sie aßen. Aber sie wurden so furchtbar rasch satt.

An diesem Tage hungerten sie, hungerten sie wirklich zum ersten Male. Sie naschten mittags nur noch vom Fisch – diesmal Rauchfisch – und tranken Wasser dazu. Später aßen sie draußen Beeren als Nachtisch. Das gab wenigstens einen anderen Geschmack in den Mund als nur Fische. Dann unternahm jeder etwas, um den Tag herumzubringen. Klaus schrieb in sein Tagebuch. Gerd dichtete die Hütte gut ab und Horst machte sich an seine Axt. Aber sie mißlang. Als er beinahe fertig mit ihr war, zersprang der Stein. Aber den ganzen Tag mußten sie an das Erlebnis der Nacht denken und ihre Unterhaltung drehte sich immer wieder darum, ob es wirklich ein Boot und Menschen gewesen waren, was Klaus gehört hatte.

.

Zweimal waren sie auf dem Flaggenhügel, schleppten Holz zusammen und zündeten große Feuer an. Die Flamme leuchtete in der klaren Luft, der Rauch stieg steil und kerzengerade empor. Aber von nirgendsher kam ein Zeichen als Antwort. Sicher, hier war niemand gewesen, der nach ihnen gesucht hatte.

*


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