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Auf Irrwegen

»Aber das ist ja gar kein Wegweiser –« Horst hatte den Stein erreicht, den er für einen Wegweiser hielt. Im Nebel hatte es genau so ausgesehen, sogar mit einem wegweisenden Arm daran. Und jetzt sah er, daß es nichts als ein ziemlich großer Stein war mit einer niedrigen Birke dahinter. – Horst schrie, zu den andern zurückgewandt:

»Nichts! – es ist nichts!«

Er war so schrecklich müde, und nun, da die anderen ihn nicht sahen, ließ er sich gehen, sank nieder in das Heidekraut und lehnte sich gegen den Stein. Er rollte sich zusammen, denn es fror ihn so bitter, daß ihm, mochte er noch so sehr dagegen ankämpfen, stoßweise Frostschauer durch den ganzen Körper liefen. Dicht und grau und feucht stand die Nebelwand ringsumher, es brannte ihn in den Augen, wenn er sich anstrengte, etwas um sich her zu unterscheiden. Wolkig und wie lebendig tastete es sich an ihn heran, ohne Stillstand: dort gewahrte er die Umrisse eines Steines, drüben schien eine niedere verkrümmte Birke gerade auf ihn loszuwandern, dann wieder schlossen sich die Schwaden vollständig um ihn, und es blieb nichts als der Stein, vor dem er saß, ein kleiner Kreis von Heidekraut, und er selbst auf dem Grund eines ungeheuren, grauen Brunnens.

Er schloß die Augen. Wie gern hätte er geschlafen! Der Rucksack drückte, die Füße brannten und die Hände waren erstarrt. Besonders die Finger an der linken Hand, die die Angelrute umklammert hielten, schmerzten. Wie lange waren sie nun schon gegangen – den ganzen Tag – Stunde um Stunde in dem hohen nassen Weidengestrüpp, ohne Weg und Steg, bei jedem Schritt stolpernd? Welche Zeit mochte es wohl sein? Er war nicht einmal imstande, auf die Uhr zu sehen. – Er hörte die anderen rufen – ein schwacher, gedämpfter Laut irgendwo drin im Nebel. Er mußte sich zusammennehmen. Er war ja der Führer und sollte den Weg kennen; er trug die Verantwortung, und er wußte, wie gefährlich es war, sich gehen zu lassen und mutlos zu werden. Konnten sie kein Obdach finden, mußten sie wenigstens – und zwar bald – eine einigermaßen geschützte Stelle ausfindig machen, wo man Feuer anzünden und etwas essen konnte.

.

Er stand auf – steif und starr – und brüllte zurück. Jetzt antwortete es aus der Nähe, im Nebel tauchten zwei graue Schatten auf, die näher kamen, und die man schließlich als zwei Jungen erkennen konnte, einen großen, mageren, und einen kleinen, dicken.

Bei dem Stein, an dem Horst stand, blieben sie stehen. Der Große, Gerd, lehnte sich wortlos an den Stein, schob den Rucksack, ohne ihn abzunehmen, darauf und stützte den Rücken dagegen. So stand er eine Weile mit geschlossenen Augen und atmete schwer. Der Kleine, Klaus, starrte Horst mit müden, flehenden Augen an.

»Weißt du überhaupt noch, wo wir sind?« fragte er mit dünner Stimme.«

Horst antwortete nicht. Er hatte wieder die Karte vorgenommen und schaute sie ziemlich ratlos an. Seit diese Nebelschwaden um sie her waren, oder vielmehr, seit er sich zum ersten Male unsicher fühlte, welchen Weg er einschlagen mußte, hatte er zwar fleißig Karte und Kompaß gebraucht; aber – woher es kam, wußte er nicht – in diesem Nebel war keines von beiden verläßlich zu verwenden, der Kompaß, der voll Wasser lief, schon gar nicht, und dann war ja überhaupt nichts zu sehen, das er als Anhaltspunkt nehmen konnte, weder ein Berg noch ein Fluß, ja nicht einmal ein Bach. Den anderen wagte er seine Hilflosigkeit schon gar nicht zu sagen. Er glaubte und hoffte ja, daß sie noch immer in nordöstlicher Richtung gingen, ohne aber im geringsten seiner Sache ganz sicher zu sein. Er konnte nicht begreifen, daß sie nicht schon unten am Fluß waren oder ihn nicht wenigstens hörten.

Sie setzten sich nun alle drei vor den Stein und starrten mutlos in die Karte. Das war immer noch besser, als in den dicken, undurchdringlichen Nebel zu sehen. Der brannte in den Augen und legte sich so eklig feucht in die Haare und auf die Kleider. Sie waren ja längst bis auf die Haut klatschnaß. Und Gerd schmerzte der linke Fuß so sehr, daß er kaum auftreten konnte.

Lange war es schon her, daß sie in diesem Nebel jede Spur von Weg verloren hatten. Von dem Schuppen aus, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatten, ging etwas wie ein kleiner, ausgetretener Steig weiter, dem sie einige Minuten folgten, dann verlor er sich im Weidendickicht. Weiden, Zwergbirken, Wacholder und Heidekraut, dies alles verdichtete sich immer mehr, das Gehen wurde zu einer kraftraubenden Anstrengung. Dann kamen weiche Moosstrecken, schwer und mühsam zu durchschreiten, schließlich gerieten sie auf Moorboden. Sie sanken bis an die Knie in Schlammlöcher, krabbelten, zu Tode erschrocken, wieder auf trockenen Boden, gingen weiter, stolperten über Steine, zerkratzten sich an Zweigen und Steinen Gesicht und Hände und stießen sich die Knie wund. Sie hatten durch kleine Flüsse waten müssen, und immer schwieriger und ungemütlicher wurde der Weg, immer nasser, finsterer und unheimlicher.

»Ich weiß nicht, wo wir gestern eigentlich fehlgingen«, sagte Horst, mit dem Finger auf die Karte zeigend, »bis nach Sandberg hatten wir den sicheren Weg, und hier ist der kleine Fluß, wo wir über die alte Brücke mußten – ihr wißt doch noch,– und gleich darauf sahen wir den Nebel sich über die Heide daherwälzen. Es war das letztemal, wo wir noch ordentlich die Berge sahen. Wir wollten uns links halten und zum Fluß hinabgehen, und das taten wir doch auch, glaube ich. Wir müßten eigentlich längst am Stubbenmoor sein, und den Schuppen, in dem wir übernachteten, finde ich überhaupt nicht auf der Karte.«

Gerd legte sich in das feuchte Heidekraut. »Wieviel Uhr ist es?«

Horst knöpfte mit steifen Fingern die Windjacke auf und zog die Uhr hervor. »Fünf Minuten über acht Uhr – es sind also zwölf Stunden her, seit wir von dem Schuppen fortgingen. Wir hätten vor einer guten Weile schon bei den Langbergwiesen sein müssen.« Er starrte verzagt auf seine Uhr.

»Was sollen wir jetzt tun?« Klaus' Stimme klang auch recht kläglich. »Ich habe keine Lust, noch viel weiter zu gehen.«

»Ich auch nicht«, stimmte Gerd zu. »Aber das hier scheint mir kein gemütliches Nachtlager zu sein.«

Horst riß sich zusammen. »Nanu, ein bißchen Marschieren haltet ihr schon noch aus. Was ist das schon Besonderes? Ihr begreift doch, hier können wir nicht liegen bleiben und frieren. Das wäre doch wahrhaftig kein Vergnügen. Nein, wir müssen weitergehen, bis wir ein Obdach für die Nacht finden. Morgen haben wir vielleicht schönstes Wetter und Sonne, und dann ist's keine Kunst, sich zurechtzufinden. Soll ich dir den Rucksack tragen, Klaus?« erbot er sich scheinbar wohlgemut, obwohl die Beine unter ihm schwankten, als er aufstand.

Aber Klaus war nicht derjenige, der so leicht klein beigab. Er erhob sich, schüttelte sich, steckte die Hände in die Taschen, machte einen Katzbuckel, um ein bißchen Wärme in den Leib zu kriegen, und dann lächelte er Horst an: »Bewahre, es geht schon noch.« Auch Gerd erhob sich mit finsterem Gesicht, schob die breiten Schultern in den Riemen des Rucksacks zurecht und setzte vorsichtig den schmerzenden Fuß nieder, um ihn zu probieren. »Teufel auch!« brummte er.

So tapsten sie wieder weiter, immer ins Ungewisse hinein, denn zu sehen war nichts, und an das Einhalten einer Richtung dachten sie gar nicht mehr. Wenn sie nur irgendwo ein bißchen Schutz finden konnten! Sie gingen mit gekrümmten Rücken und kurzen, unsicheren Schritten. Dort war es wie eine kleine Öffnung im Weidendickicht, sie sah fast aus wie ein Pfad, war es aber nicht; dennoch verfolgten sie die Spur in allen Windungen. Sie hatten den Kampf mit der großen Weite aufgegeben.

Da trat Gerd so unvorsichtig mit dem wehen Fuß auf, daß er beinahe hingefallen wäre vor Schmerzen. Er knurrte zornig. »Wir können uns auch ebensogut hier lagern«, sagte er. »Jetzt gehe ich keinen Schritt mehr weiter.« Und er wollte schon den Rucksack von sich schleudern.

Horst blickte verzweifelt um sich. Der Nebel schien etwas dünner geworden zu sein; verschwommen sahen sie graue Weiden, graue Renntierflechte, etwas Heidekraut und Zwergbirken, kleine windzerzauste Birken und eine einzelne niedrige Kiefer vor sich. Aber nicht ein einziger großer Stein war da, der Schutz gewährt hätte. Dann verdichtete sich der Nebel wieder.

»Horch!« Klaus packte Horst am Arm. – Sie lauschten.

Es war nichts zu hören als das Geriesel eines Bächleins – ein kleines Gegluckse zwischen den Weiden. »Hört doch!« sagte Horst. »Wir wollen es noch ein letztes Mal versuchen. Wir wollen dem Lauf des Baches folgen und sehen, wohin er fließt. Vielleicht finden wir doch einen günstigen Ort, wo wir Feuer anzünden können. Nimm dich noch einmal zusammen, Gerd, du bist ja sonst gerade der, der am längsten durchhält.«

»Ja, aber dies ist auch das letztemal.« Gerd schob die Riemen hinauf.

Sie folgten dem kleinen, nur fußbreiten Rinnsal. Aber es war immerhin ein Trost, das Wasser murmeln zu hören.

»Nein, nein, es nützt uns auch nichts«, pustete Gerd, dem das Gehen hier besonders schwerfiel.

»Halt!« Horst blieb jählings stehen, beide Arme emporhebend. Das schmale Gesicht lauschte gespannt in den Nebel hinein, der schlanke, zähe Körper steifte sich vor Spannung; er horchte und spähte.

Die beiden anderen sahen ihn erstaunt an.

Der Bach floß rascher bergab, bohrte sich einen Graben und verschwand.

»Seht ihr denn noch nichts? Begreift ihr denn nicht?« rief Horst eifrig.

Sie sahen gar nichts.

»Dort unten ist Wasser«, sagte Horst, in den Nebel deutend.

Wasser? Hier? Kein Mensch konnte etwas davon ahnen.

»Blödsinn!« meinte Gerd. – »Täuscht du dich nicht?« fragte Klaus. Es war nichts zu sehen.

Aber Horst gab nicht nach. »Ich weiß, es ist Wasser. Ich bin ganz sicher. Ich spüre es. Ja, ich sehe es auch. Es ist nicht bloß Nebel. – Kommt, macht rasch, wir wollen dem Bache folgen!«

Er trabte weiter, und sein Eifer steckte auch die anderen an. Wasser! Da gab es vielleicht eine Fischerhütte, einen Bootsschuppen, irgendeine Gelegenheit, wo sie unterkriechen konnten. Horst watete voran, platschte und stolperte im Bachlauf, ein neuer Bach kam dazu, der über eine Böschung herabsickerte; nun war es überall naß und schlammig, sie sanken ein, mußten von Erdhügel zu Erdhügel hoppeln. Endlich wurde es etwas trockener, aber das Weidengestrüpp stand hier noch höher und dichter. – Sie stapften aus Leibeskräften.

Plötzlich hielt Horst inne. Dieses Grau vor ihnen war nicht nur Nebel. Trübe, niedrig, lang streckte es sich, halb Nebelschwaden, halb graue Fläche – ja, jetzt sahen es alle drei – es war Wasser, eine Bucht, die sich nach innen rundete, ein großes, graues Gewässer, ganz ungeheuerlich sah es aus, ohne Ende und Grenze, wie das Meer selbst. Da, wo sie selbst noch standen, sahen sie, so weit man unterscheiden konnte, sumpfigen, nassen Strand und weit vorne Wasser, auf dem der Nebel lag.

Fröstelnd standen sie dicht beisammen und starrten hinaus. Es war, als gehe von dem Wasser beständig neuer Nebel aus, als pustete es unablässig neue Schwaden aus seiner Tiefe, eisig, naß, grau. Mit wunderlich hohlen Stößen prallte es an den Strand, kleine Wellen ganz hinein über das Moorufer schiebend, das dumpfen Widerhall gab – ganz unheimlich anzuhören. Und weiter draußen liefen hohe Wellen wie graue Geisterwesen hin und her in dem Nebel, unaufhörlich, ein trostloser Anblick. Es ist zum Heulen, dachten die drei erschöpften Jungen, wie sie so am Ufer standen.

»Das war der Mühe nicht wert, daß man sich hierherschleppte!« sagte Gerd.

»Nein, hier können wir nicht bleiben«, kam es zwischen Klausens klappernden Zähnen hervor.

Auch Horst zitterte vor Kälte, lange Schauer schüttelten seinen Körper, und während er auf die graue Wasserfläche hinausspähte, ging es ihm im Kopf herum: Was fangen wir jetzt an? War nicht er es, der die Verantwortung hatte? Hatte er nicht geprahlt, er gehe in den Bergen nie fehl und er sei diesen Weg schon gegangen? Und jetzt standen sie hier vor einem Wasser, von dem sie nichts wußten und an das sie nie hätten kommen dürfen, und er hatte keine Ahnung, welchen Weg sie jetzt längs des Ufers gehen sollten. Er tappte am Strand dahin – bloß, um nicht stehen zu bleiben. Die andern folgten ihm, keiner sprach etwas. Da brach ein Stück des Bodens unter Gerds Fuß weg, er glitt aus und blieb sitzen, beide Beine im Wasser. Er zog sie langsam heraus und rückte ein Stück hinauf. »Na, jetzt gehe ich keinen Schritt weiter«, sagte er trotzig.

Horst starrte ratlos um sich. Was war bloß zu tun? Rund um das Wasser gehen, das er nicht kannte und das möglicherweise viele Kilometer lang sein konnte, oder weiter in der Gegend nach einem Obdach suchen, vielleicht noch stundenlang? Nein, das hielten sie nicht mehr aus. Vielleicht würden sie nie wieder heimkommen, oder doch nicht alle drei – oder einer von ihnen als Krüppel. Gott, wenn Klaus etwas zustieße! Er hätte die Schuld daran! Ehe sie von daheim fortgingen, hatte die Mutter von Klaus ihn noch beiseitegenommen und gesagt: »Ich verlasse mich auf dich, Horst. Vergiß nicht, Klaus ist der Jüngste von euch!«

Und jetzt – was sollte er sagen, wenn etwas passierte? Was sollte er tun?

Er fuhr zusammen. Klaus hatte gerufen. Kein Klageruf, kein Hilfegeschrei, sondern ein dünnes, schwaches, kleines Kriegsgeheul, kläglich und krächzend. Horst machte einen langen, steifbeinigen Sprung. Klaus war an die Bachmündung gegangen, um zu trinken – da stand er nun und schwenkte die Arme.

»Ein Boot! Hier ist ein Boot! Hurra!« schrie er.

Zwischen Schilf versteckt, dort, wo der Bach Sandboden angeschwemmt hatte, lag, halb hinaufgezogen, ein kleines Boot. Klaus saß schon darin – ja, er streichelte es förmlich.

Horst watete ins Wasser und untersuchte das Boot mit prüfender Miene. Da lagen zwei alte rissige Ruder drin und eine rostige Konservenbüchse zum Wasserausschöpfen. Zuletzt blieb er nachdenklich stehen und überlegte.

»Was also sagt der große Führer?« fragte Klaus, schon wieder guter Laune, obwohl ihn fror, daß er fast nicht sprechen konnte. »Euer Führer hat schon manches aufgeklärt«, begann Horst, die Stirne runzelnd. »Ich kann euch sagen, es ist schon lange her, seit dieses Boot gebraucht wurde, sonst würde es nicht so tief im Sande liegen. Aber eigentliche Löcher kann ich nirgends entdecken. Und ich meine, wir sollten es wagen, über das Wasser hinüberzurudern. Hier ist es so naß, daß wir nicht bleiben können, aber vielleicht gibt es auf dem anderen Ufer eine geeignete trockene Stelle. Was sagt ihr dazu?«

Nicht einmal Gerd machte Einwände. Er brummte sogar etwas, was wie Zustimmung klang und begann das Boot loszumachen. Dann schoben sie es tiefer ins Wasser, stiegen ein und stießen vom Land ab. Es rauschte geheimnisvoll im Schilf, und mit einem Male kamen sie in Fahrt, trieben vor dem Winde und schaukelten auf den kurzen Wellen, bis Horst die Ruder eintauchte und das Boot vorwärtstrieb.

»Es leckt gar nicht so schlimm«, sagte Klaus, bedenklich auf den Bootsboden starrend, an dessen beiden Seiten das Wasser hereinquoll.

Horst legte sich in die Ruder. Aber der Wind nahm zu. Jetzt war es, als triebe der Nebel wie grauer Rauch über das Wasser, und das leichte Boot war dabei nur schwer zu lenken, es bewegte sich im Zickzack, wenn er zu stark mit dem rechten oder linken Ruder ausgriff. Er biß die Zähne zusammen und ruderte aus Leibeskräften. Gerd schöpfte mit der Konservenbüchse das hereindringende Wasser aus, und Klaus kauerte hinten und bemühte sich, unerschrocken dreinzusehen.

Je weiter sie aufs freie Wasser kamen, desto mehr nahm der kalte Wind zu. Und noch war nichts von dem anderen Ufer zu sehen. Wie man bloß so scheußlich frieren konnte! Klaus ging in die Hocke, um vor dem Wind geschützt zu sein. Dazu kam der eisige leichte Regen, der jetzt niederging, treibender Nebel, mit Regen gemischt. Mit zunehmendem Winde wurde es mehr Regen als Nebel, aber gleich eklig war es. Da wäre es an Land immer noch besser gewesen.

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Horst ruderte, daß ihm die Hände brannten. Trotz alledem kamen sie von der Richtung ab, die er einhalten wollte, und niemand wußte, wie breit dieser See war. Es war auch recht beängstigend, wie das Boot unaufhörlich Wasser schluckte. Gerd konnte es nicht mehr allein ausschöpfen, jetzt mußte auch Klaus mit seinem Kochgeschirr helfen, während er unsicher lächelnd zu Horst aufblickte. Es war Horsts Einfall gewesen, an das andere Ufer zu fahren –, er tat sein menschenmöglichstes –, aber wenn nun das Boot nicht aushielt – alt und verfault wie es war –

Ein Windstoß brachte es jetzt aus der Richtung und Horst bemühte sich, es wieder herumzudrehen, aber dabei holte das Boot über. Eine Woge schlug schwer herein über das Fahrzeug und die drei Jungen. Und wieder sah Klaus zu Horst auf mit diesem unsicheren Lächeln, das nicht zu ertragen war. Er ruderte, als ginge es schon ums Leben. Aber der Wind blies immer stärker, vielleicht war hier auch eine Strömung. Immer häufiger schlug eine Welle ins Boot.

Da hob Klaus sein rotes, regennasses Gesicht, und in seiner lauten, frohgemuten Art sagte er: »Land voraus –«

Es war wirklich so! Horst ruhte einen Augenblick aus. Nicht weit vor sich sahen sie einen grauen Streifen Land, niedere Hügel, die Umrisse einer Föhre.

Noch einmal legte sich Horst mit seiner ganzen Kraft in die Ruder und trieb das Boot dem Ufer näher. Sie fuhren nun unter einem schroffen Felsen am Lande entlang, und mit einem Male stieß er ein heiseres Geheul aus. Das Boot, das er auf eine kleine Bucht zulenkte, drehte sich fast um sich selbst, befand sich aber gleich darauf vor einer niedrigen Landzunge und fuhr im nächsten Augenblick auf Grund. Horst sprang heraus, daß das Wasser um ihn aufspritzte, zog das Boot an Land, überließ es den anderen, nachzukommen, und watete auf steifen, schmerzenden Beinen ans Ufer. Und schon wieder schrie er laut gellend: »Hurra! Hurra!«

Während die andern mit Rucksäcken und Angelruten an Land wateten, sahen auch sie den Grund dieser Hurrarufe: ein wenig über dem Strande, an einem Felsen, lag eine kleine Fischerhütte. Vor ihr tanzte Horst trotz seiner steifen Beine wie ein Indianer.

Die beiden anderen vermochten nicht zu tanzen, sie waren wie gelähmt, so daß ihre Knie schlotterten, aber in das Kriegsgeheul stimmten sie mit ein, Klaus mit schriller Stimme und Gerd mit rauhen, langen Tönen. Aber Klaus' Augenlider zuckten, und er fühlte, wie es ihn durchbebte: sie waren ja gerettet!

Die Hütte war bloß mit einem Holzpflock verschlossen. Horst öffnete die niedrige Türe, eine dumpfe Luft schlug ihnen entgegen von Laub und Erde, ein unbestimmbarer Geruch von etwas Bewohntem, Warmem. O wie wohl das tat! Sie waren unter Dach und rissen die nassen Windjacken herunter.

Es war eine kleine Hütte mit Pritsche, einem Ofen und einem Fenster, das so groß wie eine Hand und so schwarz war, daß man nicht hindurchsehen konnte. Im übrigen vermochten sie nichts weiter zu unterscheiden. Horst war vollständig zusammengesackt. Er lag auf der Pritsche, das Gesicht auf den Armen, während Frostschauer durch seinen Körper jagten. Gerd hatte sich auf die Pritsche gekauert, ganz dicht an die Wand, und die Augen geschlossen. Nur in Klaus war Leben gekommen – es war ja so wunderbar, sich gerettet und geborgen zu wissen. Wie ein Eichhörnchen fuhr er umher. War hier nicht eine Feuerstelle? Hatte er nicht unter der Bank trockenes Holz gesehen? Im Rucksack waren Zündhölzchen und Papier. Gleich darauf hockte er vor dem Ofen und machte Feuer, es knisterte bald lustig und rote Flammen hüpften aus der Ofentüre.

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»Fein«, lispelte er und holte den Teekessel aus dem Rucksack, lief auf schwankenden Beinen zum Wasser hinab, füllte den Kessel und setzte ihn über das Feuer. Dann holte er die nassen Wolldecken aus den Rucksäcken und hängte sie vor den Ofen. Jetzt mußte er Horst ein bißchen aufrütteln, denn er konnte den Tee nicht finden.

Horst blickte auf – ganz wirr. Er war eben im Begriff gewesen, einzuschlafen, ja, er träumte wohl schon – Klaus war in ein Sumpfloch gefallen und Gerd hatte die Angelrute nach ihm ausgeworfen. Und da stand nun Klaus vor ihm, munter wie ein Eichhörnchen, und es war warm in der Hütte und im Ofen flackerte es, und Klaus wollte wissen, wo der Tee sei. Es übermannte ihn plötzlich etwas, er mußte schlucken, irgend etwas Komisches steckte ihm im Halse, ja, da stand Klaus mit seinem lieben Gesicht. Er mußte den Kleinen anfassen. – »Ja, du bist es, Klaus«, sagte er.

Schließlich rappelten sie sich alle auf, rissen die nassen Kleider vom Leib und sogen gierig den Teeduft ein. Über dem Ofen hing eine krumme, rauchgeschwärzte Trockenstange, daran hingen sie ihre Kleider und holten aus den Rucksäcken hervor, was sie zum Wechseln mithatten. Oh, wie herrlich der Tee duftete! Aber müde waren sie, so müde, daß sie gegeneinander torkelten, wenn sie durch die Stube gingen. Essen – nein, das konnten sie jetzt nicht. Einige Keks vielleicht! Klaus holte Keks. »Eine wahre Schande für uns« brummten Horst und Gerd. Klaus war Proviantverwalter und teilte aus.

Während sie so dasaßen, halb bekleidet und halb schlafend am wärmenden Ofen, glücklich und übermüdet, horchten sie alle plötzlich wie auf ein Kommando auf. Ein gewaltiger Windstoß ließ die Hütte erbeben. Peitschender Regen schlug an die winzige Scheibe, und im Ofenrohr brummte es.

»Wenn wir jetzt auf dem Wasser wären!« sagte Klaus.

Sie rückten noch dichter um den Ofen zusammen, und Klaus legte neues Holz auf. Die Wolldecken waren inzwischen soweit trocken geworden, daß sie sich diese umhängen konnten, während sie Tee tranken. Und während der Sturm um die Hütte jagte, bald hoch oben mit langen, pfeifenden Jammertönen, bald unten in schweren Stößen gegen die Wände, wurde es drinnen ganz still. Sie schmiegten sich im Schlaf eng aneinander; man hörte ihren tiefen, gleichmäßigen Atem, bloß ab und zu gab es einem von ihnen einen Ruck, ein langer, tiefer Seufzer folgte. Noch war Feuer im Ofen, und ein mattroter Schein flackerte über die alten, geschwärzten Balken. Draußen aber sauste der Sturm über das Land und das Wasser, zerrte an den gekrümmten Birken, brauste in den niedrigen Bergkiefern, die sich unter dem Anprall wanden, und unternahm brummende, knurrende Angriffe gegen die kleine Fischerhütte, in welcher die drei Jungen ruhig schliefen, ohne etwas von dem wilden Tosen zu hören.

*


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