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Das Boot

Horst erwachte am anderen Morgen zuerst; es fror ihn. Die Decke war von ihm her abgeglitten; es war schaurig kalt in der Hütte. Wieviel Uhr mochte es wohl sein? Sachte, um die andern nicht zu wecken, drehte er sich um und schielte hinüber nach dem kleinen Fenster. Aber das war bloß ein grauer Fleck, ganz undurchsichtig vor Schmutz. War heute auch schlechtes Wetter? Er lauschte – er hörte keinen Regen, bloß ein leiser Wind schien um die Hütte zu wehen. Es roch nach klarer Luft –, er konnte nicht sagen, woher es kam –, es glänzte so hell durch die Ritzen in der Tür und im Dach. Vorsichtig zog er die Beine an, und mit einem Ruck war er auf den Füßen, ohne daß es die anderen merkten. Seine Decke hob er auf und legte sie noch über Klaus.

Sieh mal an – da hatte er ja gestern vergessen die Uhr aufzuziehen! Sie stand auf halb drei. Welcher Tag war es doch? Freitag – Freitag, der 9. Juli.

Oh, wie steif und lahm er noch war! Es tat weh, bloß durch die Stube zu gehen. Ein weiches Bett war die Pritsche ja nicht gewesen!

Er drückte sachte die niedere Tür auf und trat hinaus.

Großartig!

Über ihm hoher, seidenblauer Sonnenhimmel! Und was für eine Luft, so frisch und rein, und so – kalt! Und diese Sonne – er dehnte und reckte sich nach ihr empor, daß es in ihm knackte, und hoch auf den Zehen stehend, drehte er sich langsam um sich selbst mit aufwärtsgestreckten Armen. Und das Wasser – heute war es blau mit leichten Glitzerwellchen, und in allen Buchten war es still. Da drüben war das Ufer, von dem sie gekommen waren. Er erkannte den Bachauslauf wieder, wo sie in das Boot gestiegen waren. Es war allerdings ein tüchtiges Stück bis dort hinüber. Der Strand dort drüben war, so weit er sehen konnte, überall der gleich nasse Moorboden mit Schilf und Riedgras bewachsen; ein Stück weiter mündete wohl ein größerer Bach.

.

Die Gegend war ihm völlig unbekannt, – hier war er nie zuvor gewesen. Nicht weit von dem Wasser erhob sich eine niedere Kuppe mit schwarzem Gestein. Wie gut, daß sie gestern im Nebel nicht dahin geraten waren. Weit im Hintergrund blaute eine Bergspitze, der einzige Gipfel, den er von hier aus sah. Nein, da war es auf dieser Seite des Wassers viel gemütlicher. Es gab festen Boden und war trocken und heimelig! Hier waren niedere Felsen, die steil ins Wasser abfielen, und landeinwärts erhob sich ein schwach ansteigender Hügel mit dünnem, spärlichem Graswuchs und ein paar Blumen, einigen Heidekrautbüschen und Zwergbirken dazwischen. Ein traulicheres Lagerplätzchen hätten sie nicht finden können. Zu beiden Seiten der Böschung erhoben sich Anhöhen mit Heidekraut, Moosen und Flechten, zerzausten Birken und breiten, niederen Föhren, die sich landeinwärts zu einem kleinen Föhrenwäldchen vereinigten.

Horst prüfte die Gegend nach allen Seiten. Sie mußten sich auf einer Landzunge befinden, denn links und rechts von ihm war Wasser. – Hu! Es war morgenkalt! Er sah nach der Sonne – später als sechs Uhr war es gewiß nicht, nach ihrem Stande zu schließen. Der Morgennebel hatte sich noch nicht vollständig von Mooren und Buchten gehoben. Aber schönes Wetter war's, blauer Himmel und Sonne, und da hatte es sicherlich keine Schwierigkeiten, den Weg von hier aus wieder zu finden. Und wie unglaublich schön es hier war, und wie heimelig in der Hütte! Ja, es war ein Glücksort, an dem sie gelandet waren. Hätten sie in diesem Boote und bei diesem Sturm weiterrudern müssen, wer weiß, ob sie mit dem Leben davongekommen wären!

Er schlich in die Hütte zurück, holte seine Kleider heraus und legte sie über die Steine, um sie vollends zu trocknen. Dann holte er Karte und Kompaß herbei. Das wäre doch zu dumm, wenn er nicht herausfinden würde, wo sie waren.

Drei Tage waren sie nun von zu Hause fort – seit Dienstagmorgen –, sie, die drei Freunde, die seit mehreren Sommern gemeinsame Wanderungen unternahmen: Gerd, der größte und stärkste, fünfzehn Jahre; Horst, trotz seiner vierzehn doch der Führer, körperlich und geistig ebenso flink und gewandt, wie Gerd langsam war; endlich Klaus, nicht mehr als zwölf Jahre, klein, rund, aber rasch und munter wie ein Wiesel.

Horst war der Sohn eines Lehrers in einem Dorf; er hielt sich für einen erfahrenen und geübten Wanderer und meinte, die ganze Gegend genau zu kennen und sich überall und in jeder Lage zurechtzufinden. Und nun war er dennoch fehlgegangen! Klaus war aus der nächsten Stadt, er war Horsts Vetter und wohnte während der Sommerferien stets mit seiner Mutter und seiner Schwester in einem kleinen Bauernhäuschen in der Nähe des Schulhauses. Gerd war der Sohn vom Bürgermeister des Dorfes. Alle drei besuchten in der Stadt die höhere Schule.

Vor drei Tagen waren die drei Jungen von zu Hause weggegangen und am ersten Tag bis an das nahe Gebirge gelangt. Dann war es noch ein Tagesmarsch bis zu den Bergseen, die schon im Gebirge lagen. Sie waren reichlich mit Proviant versehen, denn sie gedachten einen Tag an den Bergseen zu bleiben und zu fischen. Bei schönstem Wetter und in prächtiger Stimmung hatte die Wanderung begonnen. Sobald sie aber auf die Höhe kamen, überraschte sie das Unwetter, zuerst Regen, dünner, feiner Regen, dann der Nebel, der sich immer mehr verdichtete, je weiter sie in die Berge kamen. Umkehren kam jedoch gar nicht in Frage, das sah so feig aus, und so führte sie Horst, der sich ja gut auskannte, getrost weiter. Der Weg war nicht zu verfehlen, bald würden sie am Fluß sein, und dann hieß es nur dem Wasserlauf zu folgen bis zu den Bergseen. Aber vom Fluß war dann nichts zu sehen und zu hören gewesen, und es währte nicht lange, so wußte Horst, daß er im Nebel die Richtung verloren hatte. Als es dunkel und kalt wurde, krochen sie in einen alten Schuppen, den sie am Wege sahen, und blieben dort bis zum nächsten Morgen. Da war der Nebel ein wenig zurückgewichen und sie machten sich mit frischem Mut wieder auf den Weg. Aber in ganz kurzer Zeit wurde der Nebel schon wieder so dicht, daß nichts mehr zu sehen war, auch zu dem kleinen Schuppen fanden sie nicht mehr zurück.

Horst vertiefte sich in seine Karte. Er stellte fest, wo er am ersten Wandertag rechts abgebogen war, um den Sümpfen auszuweichen. Hatte er es zu früh getan und war er zu weit nach Süden geraten? Und wo war das große Wasser, das sie nun hier umgab?

Zum Kuckuck, was für ein Gewässer war dies bloß? Die Karte wies kein größeres Gewässer auf, außer dem Sandsee, aber auch dieser war nicht so groß, und da wären sie ja andauernd südöstlich gegangen statt nordöstlich. Nein, das war ja ganz unmöglich. Aber es gab doch hier sonst keine großen Seen ...! Denn war dies hier die Südseite des Sandsees, dann war es aussichtslos, die Bergseen von hier aus erreichen zu wollen, dann hieß es die Nase heimwärts zu drehen und geradenwegs nach Westen zu gehen, bis sie wieder zu Hause waren.

Nein, er mußte doch von einem Hügel aus Umschau halten. Er war doch der erfahrene Führer, dem es oblag, die Kameraden unversehrt heimzuführen!

Rasch begann er sich anzukleiden. Hunger hatte er – und wie steif er war! Nein, diese Steifheit mußte er aus den Knochen kriegen. Es gab ein prächtiges Mittel dagegen: auf den Händen gehen.

»So, du spazierst schon auf den Händen herum?« In der Türe stand Klaus, verschlafen gegen die Sonne blinzelnd. »Und solch herrliches Wetter! Wieviel Uhr ist's denn?«

»So viel, daß du uns gleich unser Frühstück bereiten kannst«, erwiderte Horst und sprang wieder auf die Beine. »Meine Uhr steht, aber es ist etwas über sechs«. Er sah wichtigtuerisch zur Sonne auf.

»Wir wollen Gerd fragen –, ich erinnere mich, daß er gestern abend seine Uhr aufzog. Er sitzt drinnen und meint, es regne.«

Gerds Uhr zeigte auf halb sieben. »Wie ich sagte«, bemerkte Horst stolz. Nun erschien Gerd selbst in der Türe, mit struppigem Haar, die Unterlippe verdrossen herabhängend und mit Blasen auf der rechten Fußsohle. Er kratzte sich im Nacken und behauptete, es seien Flöhe in der Hütte gewesen.

»Ich gehe keinen Schritt mehr weiter«, sagte er gähnend.

»Gut«, stimmte Horst versöhnlich bei, »wir wollen den Tag dazu verwenden, uns zu orientieren.«

»Ja, das hast du allerdings sehr nötig«, meinte Gerd. »Orientiere dich nur! Weißt du überhaupt, wo wir sind?«

.

»Ich werde es schon ausfindig machen.«

Nach allgemeinem Beschluß gab es »großes Frühstück.« Sie hatten ja gestern abend so gut wie nichts gegessen. Klaus war Koch und unglaublich tüchtig. Er machte Feuer und setzte den Teekessel auf, und alles, was Kleider, Rucksack und Wolldecke hieß, wurde zum Trocknen hinausgetragen. Gerd betrachtete abwechselnd seine Blasen und das Wasser und brummte und knurrte. Allmählich wurde aber auch er etwas heiterer, die Sonne wärmte und draußen auf dem Wasser, wo die Fische hochsprangen, glitzerten helle Ringe auf. Gerd war leidenschaftlicher Angler.

Die freie Wiese vor der Hütte war der denkbar schönste Lagerplatz, trocken und warm. Hier war es jetzt sehr gemütlich, der Platz lag voll Kleider, Eßschüsseln, Stiefel, Angelruten, Kochgeschirren, Windjacken und Wolldecken. Klaus huschte umher und suchte zusammen, was zu einem »großen Frühstück« gehörte: Brot, Butter, Eier und Schinken, Hartwurst – heute sollte nicht gespart werden.

Nicht ein Wölkchen war an dem weißlich-blauen Himmel zu erblicken, an dem die Sonne schon ziemlich hoch stand. Es schien ein heißer Tag werden zu wollen. Nach dem gestrigen Regen lag der Dunst wie ein feiner Hauch über den Höhen, wie ein leichter, weicher Schleier. Wo sie saßen, war es ganz windstill, nur ein schwaches mildes Lüftchen hielt das Wasser in ständig flimmernder Unruhe. Hier war gut sein. Horst und Gerd lagen auf dem Rücken oder auf dem Bauche und brieten in der Sonne, während sie auf den Tee warteten.

Das ganze Ufer funkelte: das Gestein, das Heidekraut, das helle Grün des Grases und die dunklen Blüten des Ehrenpreis. Möven strichen schreiend über das Wasser.

Hier war es herrlich – hier wollten sie heute rasten, – da konnte Gerd seinen Fuß ausheilen, und nach den gestrigen Anstrengungen brauchten auch die anderen einen Rasttag. Gerd meinte auch, er werde bestimmt zum Mittagessen Fische besorgen können. Es wurde einstimmig angenommen: wir bleiben hier und beratschlagen den Plan für den Weitermarsch.

Klaus hatte ein wohlschmeckendes, reichliches Frühstück aufgetischt, das sie, bäuchlings auf der Wiese liegend, verzehrten, die Köpfe um die Bratpfanne mit Eiern und Schinken dicht zusammengesteckt. Sie aßen mit Ausdauer, der Gedanke an den ausgestandenen Hunger während des gestrigen Tagesmarsches machte stets von neuem Appetit. Schließlich aber konnten sie nicht mehr, und es erging der Befehl zu gemeinsamem Geschirrreinigen. Nachdem diese für richtige Wanderer so notwendige Arbeit erledigt war, ergriff sie neue Tatenlust. Klaus wollte in der Hütte aufräumen und lüften, er war ein Mensch mit Sinn für häusliches Behagen, und die Hütte war ja elend verwahrlost. Das Fenster mußte geputzt werden, Brennholzvorräte mußten unter die Bank gestapelt werden, und alte Konservenbüchsen und Flaschenscherben wurden hinausbefördert. Gerd machte sich daran, seine Angelrute zusammenzusetzen und Köder zu beschaffen. Horst aber begab sich auf die Erkundungswanderung. Er wollte wissen, wo er war.

Er schlenderte einer Lichtung zu, die sich in einem dichten, niedrigen Föhren Wäldchen hinaufzog, dessen Boden von weichen, weißgrauen Flechten bedeckt war. Als er aber ein wenig höher kam, erblickte er jenseits des Wäldchens zwischen den Stämmen hindurch einen leichten, sumpfigen Hang, und weiter drüben Wasser, wieder glitzerndes, blaues Wasser.

Es mußte eine lange, schmale Landzunge sein, auf der sie gelandet waren, da er auch hier Wasser sah. Eine Unruhe hatte ihn ergriffen, er lief die Höhe weiter hinauf, brach durch dichtes Weiden- und Birkengestrüpp, spähte nach links und rechts, sah wiederum Wasser, Wasser auf beiden Seiten, stieg weiter, kam auf nackten Fels und erreichte im Laufschritt den Gipfel des Hügels.

Wasser – Wasser überall. – Sie waren auf einer Insel!

Er überblickte von hier aus die gesamte Wasserfläche, oder wenigstens das, was er für den größten Teil davon hielt. Er sah nun – wie er schon vorher vermutet hatte –, daß sich das Wasser westlich der Landzunge weit hinaus erstreckte, während er nach Osten hin Land gegenüber sah, das dort eine schmale Bucht bildete. Dort mußte eine Bachmündung sein, denn gleich anschließend kam eine Schlucht im Felsen, und er meinte fernes Rauschen zu hören, wie von einem Wasserfall.

Nach dieser Seite war die Insel dem Land am nächsten; dahin müßten sie rudern, und das war bei stillem Wetter sicher nicht gefährlich, selbst nicht in einem so gebrechlichen Boot.

Oh, wie schön, wie herrlich war es hier oben! Es blies so frisch, und man sah von hier aus so weit, so weit. Im Norden, woher sie gekommen waren, bloß öde Weite, silbergrau, mit tiefblauen Schatten; im Süden aber begann unweit vom Ufer der Bergwald, niedriger Birkenwald, der sich am See hinzog, mit verstreuten Kiefern dazwischen. Weiterhin zeichnete sich ein schwarzer Streifen ab, hier stand dichter Föhrenwald. Die weitere Aussicht nach Süden und Osten versperrte ein felsiger Hügel.

Horst stieß im Bergabspringen einen Jodler aus – das war eine Entdeckung, mit der er jetzt zu den Kameraden kam! Man denke sich: auf einer Insel! Abenteuerlicher konnte es gar nicht sein. Von hier aus konnten sie auf Entdeckungsfahrten rudern und den Heimweg beträchtlich abkürzen. Sicher war das Wasser doch der Sandsee! Bei solch gutem Wetter konnten sie vielleicht am Ufer entlang gegen Westen rudern. Aber vorher noch ein paar Tage hierbleiben! Juchhe!

Er kam zur Hütte hinabgetanzt und hörte darin Klaus herumräumen, nur Gerd schien nicht vom Fleck gekommen zu sein, der stand wie ein Stecken am Strande, an der Stelle, wo sie gelandet waren. Er hatte die Angelrute in der Hand, stand aber nur da und starrte ins Wasser hinab, als erwarte er, daß die Fische heraufkämen und ihn begrüßten.

»Noch nichts gefangen?« fragte Horst.

Keine Antwort.

»Sind hier keine Fische?«

»Es gibt schon.«

»Warum fischst du dann nicht – du Schaf?«

Gerd wandte sich langsam um. »Siehst du denn nichts, du Döskopf?« sagte er voll Verachtung.

»Was soll ich denn sehen?«

»Na, das Boot, Mensch!«

»Das Boot?« Horst riß die Augen auf. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Das Boot war fort. Es war nichts mehr von ihm zu sehen.

»Hast du – hast du das Boot versteckt?« fragte er erschrocken.

Gerd gab nicht einmal Antwort. Er stellte sich auf einen Stein und starrte über das Wasser. »Keiner von uns hat sich gestern abend um das Boot gekümmert«, sagte er. »Da haben es wohl die Strömung und der Sturm heute nacht fortgenommen. Und nun ist's natürlich gesunken. Ich sehe, eines der Ruder hat sich dort drüben im Schilf festgehakt. Na, laß die alte Kiste ersaufen, sie war ohnehin nichts mehr wert. Aber ich hätte sie doch gut zum Fischen brauchen können.«

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Horst hatte sich auf den Boden gesetzt. »Die alte Kiste kann ruhig ersaufen, sagst du –«

Klaus kam aus der Hütte, er war über das ganze Gesicht schmutzig vom Scheuern und Putzen.

»Was ist denn mit euch los?« fragte er harmlos.

»Hast du's noch nicht gehört?« erwiderte Horst. »Das Boot ist fort.«

.

»Ja, das habe ich gehört. Gerd hat mich schon gefragt, ob ich vielleicht wisse, wo das Boot sei. Na, ich habe ihm erklärt, er könne ja mal in meinem Rucksack suchen. Darauf hat er mir einen Boxhieb versetzt. Seither spaziert er andauernd am Ufer entlang und guckt ins Wasser.«

Horst blickte von einem zum andern.

»Das Boot ist fort – und wir –«

»Na also – was ist denn mit uns?«

»Ja – wir befinden uns nämlich – auf einer Insel.«

*


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