George Eliot
Adam Bede - Erster Band
George Eliot

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Achtzehnter Abschnitt

Ein Sonntag

»Hetty, Hetty, weißt du nicht, daß die Kirche um zwei Uhr anfängt und daß es schon halb zwei vorbei ist? Du solltest doch bedenken, daß der arme alte Matthis Bede begraben wird und wie er in der dunklen Nacht ertrunken ist – es läuft einem dabei ordentlich kalt über den Rücken, aber da machst du so lange und putzest dich auf, als ging's zur Hochzeit statt zum Begräbnis.«

»Ja, Tante,« sagte Hetty, »ich kann auch nicht so rasch fertig werden wie die andern; ich muß immer erst Totty anziehen, und sie will nie still halten.«

Hetty kam die Treppe herunter, wo Frau Poyser in ihrem einfachen Hut und Umschlagtuch schon wartete. Sah je ein Mädchen aus wie lauter Rosen, so that's Hetty in ihrem Sonntagshut und Kleide: ihr Hut hatte blaßroten Besatz und ihr Kleid war von weißem Grund mit blaßroten Pünktchen. Außer ihrem dunklen Haar und Augen und ihren kleinen Schnallenschuhen war alles an ihr weiß und blaßrot. Frau Poyser mußte sich über sich selbst ärgern, sie konnte sich kaum enthalten zu lächeln, wie jeder andere Sterbliche bei dem Anblick des hübschen, kleinen Dinges gelächelt haben würde. Indes sagte sie kein Wort, wandte sich um und trat zu der Gruppe vor der Hausthür; Hetty folgte; ihr kleines Herz zitterte bei dem Gedanken an jemanden, den sie in der Kirche zu sehen hoffte, vor freudiger Aufregung so sehr, daß sie kaum die Erde fühlte, die sie betrat.

Und nun setzte sich der kleine Zug in Bewegung. Martin Poyser trug seinen Sonntags-Tuchrock und -Hosen und eine rot und grüne Weste; an seinem grünen Uhrband hing ein großes Petschaft aus Karneol wie ein Senkblei von dem Vorgebirge herunter, wo seine Uhrtasche saß; ein gelbseidnes Taschentuch trug er um den Hals, und vortreffliche graue gerippte Strümpfe, eigenhändig von seiner Frau gestrickt, umschlossen seine Beine vom Knie abwärts. Poyser brauchte sich seines Beines nicht zu schämen und hatte überhaupt den Verdacht, der zunehmende Mißbrauch mit den hohen Stiefeln und ähnlichen Moden, welche das Unterbein verhüllten, rühre von einer bedauerlichen Entartung der menschlichen Wade her. Noch weniger brauchte er sich seines runden, vergnügten Gesichtes zu schämen; es war die Gutmütigkeit selbst, als er sagte: »Komm, Hetty! kommt, ihr kleines Volk!« Dann gab er seiner Frau den Arm und schritt voran in den Hof.

Das kleine Volk waren Martinchen und Thoms, Jungen von neun und sieben Jahren, in kleinen Parchentjacken und Kniehosen, gegen welche ihre hochroten Backen und grauen Augen gut abstachen, – wahre Ebenbilder ihres Vaters, so weit ein sehr kleiner Elefant einem sehr großen gleichen kann. Hetty ging zwischen ihnen und zuletzt kam die geduldige Molly, welche die Aufgabe hatte, Totty über den Hof und alle feuchten Stellen des Weges zu tragen; Totty hatte sich nämlich von ihrem drohenden Fieber rasch erholt und darauf bestanden, heute zur Kirche zu gehen, vor allem aber ihr rot und schwarzes Halsband über den Kragen zu tragen. Und feuchte Stellen, über die sie diesen Nachmittag getragen werden mußte, gab es genug, da am Morgen noch schwere Regenschauer gewesen waren: jetzt freilich hatten sich die Wolken verzogen und lagen in silberweißen Massen getürmt am Horizont.

Daß es Sonntag sei, bewies ein einziger Blick auf den Viehhof. Die Hähne und Hühner schienen es zu wissen und machten nur ein dumpfes, unterdrücktes Geräusch, sogar der Bullenbeißer sah weniger wild aus, als wolle er sich an einem kleineren Biß genügen lassen. Das Sonnenlicht schien alles zur Ruhe und nicht zur Arbeit einzuladen; es schlief selbst auf dem moosbewachsenen Kuhstall, auf dem Häuflein weißer Enten, die ihre Schnäbel unter die Flügel geduckt zusammenhockten, auf der alten schwarzen Sau, die sich träge auf das Stroh gestreckt hatte, während das größte von ihren Ferkeln auf den fetten Rippen der Alten eine vorzügliche Springmatratze fand, und auf den Schäfer Alick der in seinem neuen Kittel, halb sitzend halb stehend, auf der Treppe des Kornspeichers ein unbequemes Schläfchen hielt. Alick war der Ansicht, wer auf das Wetter und die Mutterschafe zu achten habe, dürfe sich der Kirche und dergleichen Luxus nicht so oft hingeben. »In die Kirche?! Nein, ich hab' was andres zu bedenken,« antwortete er oft in einem so bittern Tone, daß alles Fragen ein Ende hatte. Gewiß wollte er nichts schlimmes damit sagen, auch war er nicht sehr von Zweifeln geplagt oder gar ein Grübler und Leugner, und unter keiner Bedingung hätte er es sich nehmen lassen, Weihnachten, Ostern und Pfingsten zur Kirche zu gehen; aber im allgemeinen hielt er dafür, Gottesdienst und religiöse Gebräuche seien wie andere unproduktive Geschäfte für die Leute, welche nichts zu thun hätten.

»Da steht Vater am Hofthor,« sagte Pachter Poyser; »er wird uns wohl das Feld entlang nachsehen wollen. Wunderbar, was er noch für Augen hat, und ist doch über fünfundsiebzig.«

»O, mir scheint oft, es ist mit den alten Leuten wie mit den kleinen Kindern,« erwiderte Frau Poyser; »sie freuen sich am Sehen; was sie sehen, darauf kommt's nicht an. Es ist wohl Gottes Wille, sie so einzuschläfern, ehe sie zur ewigen Ruhe gehen.«

Der alte Martin öffnete das Thor, sobald er die Familie herankommen sah, und hielt es weit offen, indem er sich auf seinen Stock lehnte. Wenn das Abendmahl ausgeteilt wurde, ging er stets zur Kirche, aber sonst nicht sehr regelmäßig; an nassen Sonntagen oder wenn er einen kleinen Anfall von Rheumatismus hatte, pflegte er die drei ersten Kapitel der Genesis zu lesen.

»Sie werden mit Matthis Bede seinem Begräbnis fertig sein, ehe ihr auf den Kirchhof kommt,« sagte er, als sein Sohn herankam. »Es wäre besser gewesen, sie hätten ihn heute vormittag während des Regens begraben; jetzt fällt kein Tropfen, und der Mond, siehst du, liegt da wie ein Kahn. Das ist ein bestimmtes Anzeichen fürs Wetter. Es giebt zwar manche falsche Zeichen, aber dies ist verläßlich.«

»Ja, ja,« erwiderte der Sohn, »ich hoffe, das Wetter hält sich jetzt.«

»Nun, paßt auf, was der Herr Pastor sagt, Jungens, paßt ja auf,« sagte der Großpapa zu den beiden Schwarzaugen in Kniehosen, denen man es halb und halb ansah, daß sie ein paar Murmeln in der Tasche hatten, mit denen sie während der Predigt ganz im stillen ein bißchen spielen wollten.

»Adieu, Großpapa,« sagte Totty, »ich gehe auch nach der Kirche. Ich habe mein Halsband um. Gieb mir ein bißchen Pfeffermünz.«

Großpapa schüttelte sich vor Lachen über das kluge kleine Ding, nahm seinen Stock in die linke Hand, mit der er das Thor offen hielt, und steckte langsam seine Finger in die rechte Westentasche, auf welche Totty in vertrauensvollster Erwartung ihre Augen gerichtet hielt.

Und als sie alle vorbei waren, lehnte sich der alte Mann wieder gegen das Thor, sah ihnen nach den Feldweg entlang, bis sie hinter einer Biegung in der Hecke verschwanden. Denn damals hemmten die Hecken selbst auf den best bewirtschafteten Bauerhöfen die Aussicht, und grade an dem Nachmittag schüttelten die wilden Rosen ihre roten Kränze, stand der Nachtschatten in aller Glorie von Gelb und Purpur, wuchs das blasse Geisblatt hoch über die Stechpalmbüsche hinaus, und hier und da warf eine Esche oder Sycamore ihren Schatten über den Weg.

Noch an andern Gitterthoren trafen die Kirchgänger auf Bekannte, die ihnen aus dem Wege gehen mußten: am Gitter auf der Wiese standen die Milchkühe eine hinter der andern und begriffen äußerst schwer, daß ihre großen Leiber im Wege sein könnten; am nächsten Gitter hielt die Stute ihren Kopf über die Umzäunung und neben ihr stand das leberfarbige Fohlen, den Kopf nach der Weiche seiner Mutter gerichtet, offenbar noch sehr geniert in seiner sperrbeinigen Existenz. Der Weg führte ganz über Poysers eigenes Feld, bis sie an die große Straße nach dem Dorfe hin kamen, und wie sie so entlang gingen, hatte er ein scharfes Auge auf alles, auf den Viehstand und die Saaten, während seine Frau mit ihren fortlaufenden Bemerkungen über alles und jedes bei der Hand war. Eine Bäurin, die eine Milchkammer führt, sorgt für einen guten Teil der Einnahme und darf daher wohl ihre Meinung über den Viehstand und was dazu gehört, haben, und diese Übung schärft dann ihren Verstand so, daß sie ihrem Manne auch in den meisten andern Dingen Rat zu geben sich befähigt fühlt.

»Da ist das Kurzhorn,« die Sally,« sagte sie, als sie auf die Wiese kamen und ihr das stille Tier in die Augen fiel, welches dalag und wiederkäute und sie träge und schläfrig ansah; »ich mag die Kuh gar nicht mehr sehen, und ich sage heute was ich vor drei Wochen gesagt habe, je eher wir sie los werden, desto besser; die kleine gelbe Kuh da giebt nicht halb so viel Milch, aber noch mal so viel Butter.«

»I, du bist ja ganz anders als sonst die Weiber,« erwiderte ihr Mann; »die haben die Kurzhörner gern, die so viel Milch geben. Nachbar Steffen seine Frau will gar keine andern haben.«

»Nachbar Steffen seine Frau! das will wohl was bedeuten! die ist ja so dämlich und hat ein Gehirn nicht größer als ein Sperling; die könnte wohl einen Durchschlag mit großen Löchern nehmen, um ihr Schweineschmalz durchzusieben, und würde sich noch wundern, daß die dicken Fettklumpen auch mit durchgehen. Von der mag ich nichts mehr hören und nehme gewiß nie wieder 'nen Dienstboten aus ihrem Hause – so 'ne Wirtschaft ist das da; wenn man zu ihr kommt, weiß man nie, ob's Montag oder Freitag ist, die Wäsche schleppt sich die ganze Woche hin; und ihr Käse – vergang'nes Jahr ging er auf wie ein Laib Brot auf einer zinnernen Schüssel. Und dann redet sie noch, das Wetter wäre schuld! Grade als wenn einer sich auf den Kopf stellte und sagte, seine Stiefel wären schuld.«

»Nun, Steffen will die Sally gern kaufen; wir können sie also los werden, wenn du willst,« antwortete ihr Mann, der im stillen ganz stolz war, daß seine Frau so vorzüglich rechnen könne, und auf den letzten Markttagen schon einige Male mit ihrem Urteil in Sachen der Kurzhörner geprahlt hatte.

»Ja, ja, wer eine Gans zur Frau hat, der mag die Kurzhörner kaufen; wenn man mal mit dem Kopf im Sumpf steckt, dann können die Beine auch hinterdrein. Aha, das sind mir auch Beine!« fuhr Frau Poyser fort, als Totty auf dem nun ganz trockenen, breiten Wege vor Mutter und Vater hertrippelte. »Das laß ich mir noch gefallen! Und einen hübschen langen Fuß hat sie, die wird mal ganz wie ihr Vater.«

»Ja, in zehn Jahren wird sie wohl so sein wie Hetty; nur hat sie die Augen von dir. In meiner Familie haben wir keine blauen Augen; meine Mutter hatte Augen so schwarz wie Schlehen, gerade wie Hetty.«

»Na, das wird dem Kinde nicht schaden, wenn sie nicht in allen Stücken ist wie Hetty; und wenn sie auch nicht gar zu hübsch wird, mir soll's recht sein. Aber das muß ich doch noch sagen, es giebt Leute mit hellem Haar und blauen Augen, die eben so hübsch sind wie die mit schwarzen. Hätte Dina ein bißchen Farbe im Gesicht und trüge nicht diese Quäkermütze auf dem Kopf, vor der die Krähen bange werden, so fände sie jeder so hübsch wie Hetty.«

»Nein, nein,« sagte der Mann beinahe verächtlich, »darauf verstehst du dich nicht: die Männer würden nicht so hinter Dina her sein wie hinter Hetty.«

»Was frag' ich danach, hinter wem die Männer herlaufen? Wie sie sich meistens aufs Wählen verstehen, das sieht man ja an den Schlumpen von Weibsleuten, die grade sind wie Florband, – gar nichts mehr nutz, wenn die Farbe erst davon ist.«

»Nun, nun, du mußt doch sagen, daß ich mich aufs Wählen verstanden habe,« erwiderte Poyser, der kleine eheliche Zwistigkeiten gewöhnlich mit einem Kompliment dieser Art beilegte, »und vor zehn Jahren warst du noch mal so fix und munter als Dina.«

»Ich sage auch nicht, eine müsse häßlich sein, um 'ne gute Hausfrau zu werden. Da ist Steffen seine Frau, die ist so häßlich, daß sie die Milch sauer macht und das Käselab sparen kann, aber sonst wird sie wohl nie etwas sparen. Und Dina, das arme Kind, die wird ihr Lebtag nicht fix und munter, so lange sie mittags von Gerstenbrot und Wasser lebt, um für andere was übrig zu haben, die in Not sind. Sie hat mich bisweilen geärgert, daß mir die Geduld ausging, und ich habe ihr auch gesagt, sie handle ganz gegen die Schrift, denn da heißt es: »liebe deinen Nächsten wie dich selbst,« aber, sagte ich, »wenn du deinen Nächsten nicht mehr liebtest als dich selbst, dann würdest du wenig genug für ihn thun. Du würdest dir einreden, er könne ganz gut bestehen mit halbleerem Magen.« Wo sie wohl heute sein mag an diesem schönen Sonntage?! Gewiß sitzt sie wieder bei der kranken Frau, zu der ihr Herz sie so plötzlich hintrieb.«

»Es ist doch schade, daß sie sich so was in den Kopf setzt; den ganzen Sommer hätte sie bei uns bleiben können und noch mal so viel essen als sie bedurfte, und es wäre doch drüber gewesen. Man merkte sie gar nicht im Hause; sie saß so still bei ihrem Nähen wie ein Vogel auf dem Nest, und war doch so ungemein flink, wenn sie was holen mußte. Wenn Hetty sich verheiratet, dann nimmst du gewiß Dina gern für immer ins Haus.«

»Daran ist kein Gedanke,« sagte Frau Poyser; »wir könnten eben so gut eine Schwalbe hereinwinken, wenn sie vorbeifliegt, als Dina bitten, behaglich bei uns zu leben wie andere Leute. Wenn ihr einer den Sinn ändern könnte, dann hätt' ich's gethan; eine ganze Stunde lang hab' ich ihr zugeredet und ausgescholten hab' ich sie auch; sie ist ja meiner leiblichen Schwester Kind, und es schickt sich wohl, daß ich für sie thue, was ich kann. Aber du meine Zeit, sobald sie uns Adieu gesagt hatte und auf den Karren gestiegen war und mit ihrem blassen Gesichte auf mich zurückblickte, grade als wäre ihre Tante Judith wieder vom Himmel heruntergekommen, da fing ich an, mich zu ängstigen über meine harten Ausputzer; denn bisweilen kommt's einem vor, als wüßte sie besser, was recht ist, als andere Leute. Aber daß das von der Methodisterei herkommt, das laß ich mir nicht einreden, – so wenig wie ein weißes Kalb weiß ist, weil es mit einem schwarzen aus einem Eimer säuft.«

»Nein,« erwiderte der Mann, und seine Stimme kam einem Brummen so nahe, wie seine Gutmütigkeit es nur zuließ; »ich halte auch nicht viel von den Methodisten. Es sind immer nur Handwerker, die Methodisten werden; von einem Bauern hört man nicht, der die Grillen in den Kopf kriegte. Bisweilen geht auch wohl ein Arbeitsmann, der nicht gar zu geschickt ist bei der Arbeit, zu ihnen, wie der Seth Bede. Aber Adam, siehst du, der einen so guten Kopf hat wie nur einer in der ganzen Gegend, der ist verständiger; der gehört zu unserer Kirche, sonst würd' ich ihm auch bei seiner Freierei um Hetty keinen Vorschub leisten.«

»Aber um des Himmels willen!« rief Frau Poyser, die während der Worte ihres Mannes sich umgesehen hatte, »sieh nur mal wo die Molly mit den Jungens ist; das ganze Feld sind sie hinter uns. Wie konntest du das nur erlauben, Hetty? Aber man könnte eben so gut ein Bild nehmen und auf die Kinder achten lassen wie dich. Lauf zurück und sag' ihnen, sie sollen gleich kommen.«

Poyser und seine Frau waren grade am Ende der zweiten Feldflur; sie setzten Totty auf einen der großen Steine des nächsten Steges und warteten auf die Nachzügler, während Totty über die ungezogenen Jungen schalt und sich selbst wohlgefällig ein artiges Kind nannte.

Die Sache war die: der Sonntagsspaziergang durch die Felder war für Martinchen und Thoms außerordentlich reich an Aufregung; sie sahen in den Hecken unaufhörlich die interessantesten Dinge vor sich gehen und konnten sich so wenig enthalten, alle Augenblicke stehen zu bleiben und sich umzugucken, als wenn sie ein paar kleine Hunde gewesen wären. Martinchen sah ganz bestimmt eine Goldammer in den Zweigen der großen Esche, und während er sich nach ihr umsah, entging ihm der Anblick eines weißgefleckten Wiesels, das grade über den Weg gelaufen war und nun von dem kleinen Thoms sehr lebendig beschrieben wurde; dann kam wieder ein kleiner Buchfink, eben erst flügge geworden, der am Boden hinflatterte und den es sehr möglich schien zu fangen, bis er sich leider unter einem Brombeerstrauch verkroch. Hetty schenkte natürlich all diesen Dingen keine Beachtung und die Knaben wandten sich deshalb an Molly, die sofort ein großes Interesse entwickelte, mit offenem Munde hinguckte, wohin sie sollte, und jedesmal Herrjeh rief, wenn sie sich wundern mußte.

Als Hetty zurückkam und ihnen zurief, die Mutter wäre sehr böse, eilte Molly bestürzt vorwärts, aber Martinchen lief ihr voran und schrie schon von weitem: »Mutter! wir haben der gesprenkelten Truthenne ihr Nest gefunden;« sein Instinkt sagte ihm, daß wer gute Nachricht bringt, nie im Unrechte ist.

»Ah,« sagte Frau Poyser und vergaß über der angenehmen Überraschung alle Regeln der Erziehung, »du bist ein braver Junge; wo denn?«

»Ganz tief unter der Hecke in einem ganz tiefen Loch; ich sah es zuerst, als ich hinter dem Buchfinken her war, da saß die Henne auf dem Nest.«

»Du hast sie doch nicht gestört, will ich hoffen; sonst geht sie davon.«

»Nein, ich ging ganz leise, leise weg und flüsterte es Molly zu; nicht wahr, Molly?«

»Nun, das ist alles recht gut,« sagte Frau Poyser, »aber jetzt kommt und geht vor Vater und Mutter vorauf und nehmt eure kleine Schwester bei der Hand. Wir müssen uns dazu halten. Artige Kinder sehen Sonntags nicht nach den Vögeln.«

»Aber Mutter!« erwiderte Martinchen, »du sagtest doch, du wollt'st einen halben Kronthaler geben, wer das Putennest fände. Du giebst mir doch nun das Geld in meine Sparbüchse?«

»Das wird sich finden, mein Junge; jetzt geh hübsch vorauf und sei artig.«

Vater und Mutter wechselten einen bezeichnenden Blick und amüsierten sich, daß ihr Ältester so gut aufpaßte; aber dem kleinen Thoms trat eine Wolke auf sein rundes Gesicht.

»Mutter,« sagte er fast weinerlich, »Martinchen hat schon so viel Geld in seiner Büchse, viel mehr als ich.«

Auch Totty äußerte ihren Wunsch nach dem halben Kronthaler. Da fuhr Frau Poyser dazwischen: »Stille, stille! Sind mir je so unartige Kinder vorgekommen? Kein einziger bekommt seine Sparbüchse je wieder zu sehen, wenn ihr jetzt nicht schnell macht und zur Kirche geht.«

Diese furchtbare Drohung hatte den gewünschten Erfolg, und durch die beiden letzten Felder trabten die drei Paar kleinen Beinchen ohne besondere Unterbrechung weiter, trotzdem sie eine kleine Pfütze voll von Kaulquappen passieren mußten, in welche die Jungens sehr neugierig hineinsahen.

Das nasse Heu, das morgen wieder ausgebreitet und gewendet werden mußte, war kein sehr erfreulicher Anblick für Poyser, der während der Heu- und Kornernte oft innere Kämpfe über die Zweckmäßigkeit eines Ruhetages hatte; aber keine Versuchung hätte ihn vermocht, an einem Sonntage, und wenn's noch so früh wäre, auf dem Felde arbeiten zu lassen; waren doch dem Nachbar Michel ein paar Ochsen vor Hitze gestürzt, als er am Charfreitag pflügte! Das war ein Beweis, daß Arbeiten am Sonn- oder Festtage Sünde sei, und mit keiner Sünde, darüber war er mit sich einig, wollte Martin Poyser etwas zu thun haben; denn so erworbenes Gut würde nie gedeihen.

»Es juckt einem beinahe in den Fingern, so gern möchte man bei dem schönen Sonnenschein am Heuen sein,« bemerkte er, als sie durch die große Wiese kamen. »Aber es ist ja dumme Narrerei, wenn man gegen sein eigenes Gewissen was sparen oder verdienen will. Da war der Hans Wakefield, den sie immer Musjö Wakefield nannten, der arbeitete Sonntag wie Wochentag und kümmerte sich nicht um Recht oder Unrecht, als gäb's weder Gott noch Teufel. Und was ist nun aus ihm geworden? Letzten Markttag sah ich ihn, wie er mit einem Korb Apfelsinen herumging und die verkaufte.«

»Ja, da hast du recht,« sagte Frau Poyser mit Nachdruck; »wenn einer das Glück mit Sünde fangen will, da macht er einen schlechten Fang. Das Geld, was man damit verdient, könnte einem ja Löcher in die Tasche brennen. Lieber wollt' ich unsern Kindern keinen Groschen hinterlassen, als was mit Recht und Ehren verdient ist. Und was das Wetter angeht, das macht der da oben, und wir müssen uns drein schicken: es ist lange nicht so 'ne Plage als die Dienstmädchen.«

Trotz der Unterbrechung und der dadurch entstandenen Versäumnis während des Spazierganges war es doch – dank der ausgezeichneten Gewohnheit vorzugehen, welche Frau Poysers Uhr hatte – erst ein Viertel vor zwei, als sie im Dorfe ankamen; freilich waren fast alle, die überhaupt zur Kirche wollten, schon auf dem Kirchhof versammelt. Und nicht bloß um Matthis Bedes Begräbnis zu sehen, waren die Leute so lange vor Anfang des Gottesdienstes erschienen; so war's immer ihre Gewohnheit. Die Frauen gingen gewöhnlich alle auf einmal in die Kirche, und die Bäuerinnen plauderten dann halblaut, über die hohen Kirchenstühle weg, von ihren Krankheiten und wie schlecht dem Doktor seine Medizin helfe und wie die und die Hausmittel viel besser seien – und von den Dienstboten und ihren steigenden Ansprüchen auf hohen Lohn, während ihre Dienste von Jahr zu Jahr weniger taugten und es jetzt kaum noch ein Mädchen gäbe, das man nur einen Augenblick aus den Augen lassen könne, – und wie schlecht der Krämer in Treddleston jetzt die Butter bezahle, und wie man wohl Grund habe, an seiner Zahlungsfähigkeit zu zweifeln, obgleich seine Frau eine ganz verständige Frau sei, und sie werde natürlich von jedermann bedauert, sie stamme ja auch von guten Leuten. Unterdeß blieben die Männer draußen stehen, und außer den Sängern, die noch eine kleine Probe hatten, ging fast keiner in die Kirche, ehe nicht der Pastor am Chorpulte stand. Sie sahen gar keinen Grund, weshalb sie so früh hineingehen sollten; was konnten sie vor Anfang des Gottesdienstes in der Kirche beginnen? Und daß irgend eine Macht in der ganzen weiten Welt es ihnen übel nehmen könne, wenn sie draußen blieben und ein bißchen von der Wirtschaft plauderten, das kam ihnen nicht in den Sinn.

Der Hufschmied sieht heut ganz wie ein neuer Bekannter aus; er hat sein reines Sonntagsgesicht, worüber seine kleine Enkelin immer ins Weinen kommt, da sie ihn dann für einen Fremden hält. Aber ein erfahrenes Auge würde in ihm doch sofort den Hufschmied des Dorfes herausgefunden haben; mit solcher demütigen Ehrerbietung nahm der starke, sonst so kecke Mann seinen Hut vor den Pächtern ab; er pflegte wohl zu sagen, ein Handwerker müsse freundlich sein, selbst gegen den – gegen einen gewissen jemand, der für so schwarz gilt, wie der Schmied selbst an Wochentagen war, und was er mit dieser Regel sagen wollte, war viel besser als die Worte klangen, nämlich, alle Leute, die Pferde beschlagen lassen können, müsse man mit Achtung behandeln. Der Schmied und die roheren Handwerksleute hielten sich von dem Grabe unter dem Weißdorn fern, wo das Begräbnis vor sich ging; aber der rote Hans und verschiedene Feldarbeiter hatten sich rings herum gestellt und nahmen, die Hüte in der Hand, an dem traurigen Vorgang mit der Mutter und den Söhnen teil. Andere hielten sich in einer mittleren Stellung, sahen bisweilen auf die Leidtragenden am Grabe und horchten bisweilen auf die Unterhaltung der Pächter, die in einem Haufen nahe an der Kirchthür standen und zu denen jetzt auch Martin Poyser trat, während seine Familie in die Kirche voranging. Am äußern Rande dieses Haufens stand Meister Casson, der Wirt, in höchst auffallender Haltung – den Zeigefinger der rechten Hand zwischen den Knöpfen seiner Weste durchgesteckt, die linke in der Hosentasche und den Kopf sehr auf eine Seite geneigt; kurz, er glich so ziemlich einem Schauspieler, der nur eine Rolle von wenigen Worten hat, aber doch überzeugt ist, daß die Zuschauer seine Befähigung für die Hauptrolle erkennen. Einen seltsamen Gegensatz zu ihm machte der alte Jonathan Burge, der die Hände auf den Rücken hielt und sich, krampfhaft hustend, vornüber beugte, innerlich voll tiefer Verachtung gegen alles Wissen, das sich nicht zu Geld machen ließe. Die Unterhaltung wurde heute in einem etwas gedämpfteren Tone geführt als gewöhnlich und dann und wann von der Stimme des Pastors übertönt, der grade das Schlußgebet der Begräbnisfeier sprach. Sie hatten alle ein Wort des Mitleids für den armen Matthis gehabt, aber jetzt waren sie bei einem Gegenstande, der sie persönlich näher anging; sie beklagten sich über Satchell, den Verwalter des Gutsherrn, der bei jedermann unbeliebt war. In diesem Gegenstande der Unterhaltung lag ein weiterer Grund, nicht laut zu sein, da Satchell selbst jeden Augenblick dazu kommen konnte. Nicht lange, und sie wurden plötzlich ganz still; der Pastor hatte aufgehört zu sprechen, und die kleine Gruppe um den Weißdorn zerstreute sich nach der Kirche hin.

Alle traten beiseit und nahmen die Hüte ab, als Pastor Irwine vorbeiging. Dann kamen Adam und Seth, ihre Mutter zwischen sich; denn Josua Rann war sowohl erster Totengräber als Küster und konnte daher dem Pastor noch nicht in die Sakristei folgen. Aber ehe die drei leidtragenden Verwandten an die Kirchthür kamen, trat eine kleine Zögerung ein: Lisbeth hatte sich umgedreht und wieder das Grab angesehen. Ach, jetzt war nichts da als der Weißdorn! Doch weinte sie heute weniger, als sie je seit ihres Mannes Tode gethan; in all' ihren Schmerz mischte sich ein ungewöhnliches Bewußtsein ihrer eigenen Wichtigkeit; sie hatte ja ein »Begräbnis,« und der Pastor hatte für ihren Mann eine besondere Rede gehalten, und nun sollte auch noch, wie sie wußte, das Totenlied für ihn in der Kirche gesungen werden. Sie empfand diese Aufregung im Gegensatz zu ihrem Schmerz noch stärker, als sie mit ihren Söhnen in die Kirchthür trat und merkte, wie Nachbarn und Bekannte mit freundlicher Teilnahme ihr zunickten.

Die Mutter und Söhne gingen in die Kirche, die Bauern folgten allmählich; sie sahen die Kutsche des Gutsherrn langsam den Hügel heraufkommen und wußten also, sie brauchten sich noch nicht zu beeilen. Aber nun erklang die Musik der Kircheninstrumente; das Abendlied, womit der Gottesdienst immer begann, wurde angestimmt, und jeder mußte seinen Platz einnehmen.

Das Innere der Kirche in Hayslope hatte nichts bemerkenswertes, außer etwa die altersgrauen eichenen Kirchenstühle – große viereckige Kirchenstühle, die auf beiden Seiten des schmalen Schiffes sich hinzogen. Von neumodischen Emporkirchen war sie nicht verunstaltet. Der Sängerchor hatte zwei kleine Stühle mitten in der Reihe rechts für sich, so daß Josua Rann von seinem Platze als Hauptbassist bequem an sein Lesepult treten konnte, wenn das Singen vorbei war. Die Kanzel und das Betpult, so altersgrau wie die Kirchenstühle, waren neben dem Bogen, der nach dem Chor führte, und auf dem Chor selbst hatte die Gutsherrschaft für sich und ihre Dienstleute ihre grauen viereckigen Stühle. Aber ich kann versichern, diese grauen Stühle mit den gelblich-braunen Wänden gaben dem dürftigen Innern der Kirche einen sehr angenehmen Ton und paßten vortrefflich zu den roten Gesichtern und blanken Westen der Bauern. Gegen das Chor zu kam noch ein starker hochroter Schein, denn die Kanzel und der Stuhl des Gutsherrn hatten schöne rote Tuchkissen, und endlich schloß der Blick mit einer hochroten Altardecke, die mit ihren goldenen Strahlen von Fräulein Lydia eigenhändig gestickt war.

Aber selbst ohne die rote Altardecke muß es ein freundlicher und angenehmer Anblick gewesen sein, wenn Pastor Irwine am Betpult stand und liebevoll die einfache Versammlung überblickte – die harten, alten Männer, die an Knien und Schultern wohl gebeugt, aber zur ländlichen Arbeit noch kräftig genug waren, – die großen stattlichen Gestalten und derb geschnittenen, gebräunten Gesichter der Steinmetzen und Zimmerleute, – das halbe Dutzend wohlhabender Pächter und ihre Familien mit den Gesichtern rot und rund wie Äpfel, – die reinlichen alten Frauen der Feldarbeiter mit dem schmalen, vorstehenden Rande der schneeweißen Haube unter den schwarzen Hüten und mit den welken, vom Ellbogen an nackten Armen, die sie träge über der Brust kreuzten. Denn von diesen alten Leuten hatte niemand Gesangbuch oder Bibel. Wozu auch? sie konnten alle nicht lesen: aber sie wußten manche guten Sprüche auswendig, und ihre welken Lippen bewegten sich bisweilen schweigend, indem sie dem Gottesdienste zwar ohne sehr klares Verständnis, aber mit dem einfachen Glauben folgten, er vermöge Böses abzuwehren und Segen zu bringen. Und jetzt konnte man alle Gesichter sehen; die ganze Versammlung stand auf, die kleinen Kinder auf den Sitzen guckten über den Rand der Kirchenstühle hervor; denn das Abendlied des guten alten Bischof Ken ertönte zu einer der munteren Psalmenmelodien, die mit der letzten Generation von Küstern und Pastoren ausgestorben sind. Gleich der Pansflöte sterben Melodien aus mit den Menschen, die sie lieben und auf sie hören. Adam war heute nicht auf seinem gewöhnlichen Platze unter den Sängern; er saß bei seiner Mutter und Seth und bemerkte mit Überraschung, daß auch Barthel Massey fehle – sehr zur Freude von Meister Josua Rann, der seinen Paß mit ganz ungewöhnlichem Behagen sang und in die Blicke, die er über die Brille weg auf den abtrünnigen Will Maskery schleuderte, noch mehr Strenge legte als sonst.

Der Leser denke sich also Pastor Irwine, wie er in seinem weiten weißen Chorhemd, das ihm so gut stand, das gepuderte Haar zurückgeschlagen, das frische Braun der Gesundheit im Gesicht, Nase und Oberlippe fein geschnitten, diese Versammlung überblickte; Güte und Tugend lag auf dem freundlichen und doch scharfen Gesichte, wie auf allen Menschengesichtern, aus denen eine edle Seele strahlt. Und über das alles strömte die köstliche Junisonne herein durch die alten Fenster mit ihren paar gelb, rot und blau gemalten Scheiben und malte auf der gegenüberliegenden Wand hübsche Farbenflecke.

Als der Pastor heute um sich blickte, verweilten seine Augen wohl etwas länger als gewöhnlich auf dem Stuhl der Familie Poyser, und noch ein zweites Paar dunkler Augen konnte es nicht lassen, dahin zu blicken und auf der jugendlichen rot und weißen Gestalt zu ruhen. Aber Hetty kümmerte sich in dem Augenblick um keine Blicke; sie war ganz versunken in den Gedanken, Arthur würde gleich in die Kirche kommen, denn die Kutsche mußte nun schon an der Kirchthür sein. Seit sie am Donnerstag abend im Wäldchen von ihm geschieden, hatte sie ihn nicht wieder gesehen, – o wie lang war ihr die Zeit geworden! Es hatte sich nichts verändert seit jenem Abend: die Wunder, die sie da erlebt, hatten noch gar keine Wirkung geäußert; sie schienen ihr schon wie ein Traum. Endlich hörte sie die Kirchthür gehen; ihr Herz schlug so, daß sie nicht aufzusehen wagte. Sie merkte, ihre Tante mache einen Knix; sie that desgleichen. Das mußte der alte Herr Donnithorne sein; er ging immer voran, der runzlige, kleine, alte Herr, der mit seinen kurzsichtigen Augen die grüßende Versammlung anblinzelte; dann, wußte sie, kam Fräulein Lydia, und obgleich sie sonst so gern ihren modischen kleinen Hut mit dem Kranze von kleinen Rosen darum ansah, heute hatte sie keinen Sinn dafür. Aber nun hörte das Grüßen auf – er war also nicht mitgekommen; sie wußte mit Gewißheit, jetzt komme an ihrem Stuhle nur noch der schwarze Hut der Haushälterin vorbei und der schöne Strohhut der Kammerjungfer, den Fräulein Lydia sonst getragen hatte, und endlich die gepuderten Köpfe des Kellermeisters und der Bedienten. Nein, er war nicht mit da; doch wollte sie nachsehen, sie konnte sich ja irren, sie hatte ja gar nicht aufgeblickt. Sie schlug die Augen auf und blickte schüchtern nach dem Kirchenstuhl auf dem Chor hinüber – da war niemand als der alte Herr, der sich mit dem weißen Taschentuch die Brille abwischte, und Fräulein Lydia, die ihr großes Gebetbuch mit dem goldenen Rande aufschlug. Die bittere Enttäuschung war zu viel für die kleine Hetty; sie fühlte, wie sie blaß wurde, wie ihre Lippen zitterten; sie war nahe dran zu weinen. Aber das durfte sie nicht! Alle Leute hätten sofort den Grund gewußt, hätten gemerkt, daß sie nur weine, weil Arthur nicht da sei. Und Gärtner Craig, mit der wundervollen ausländischen Blume im Knopfloch, starrte sie an, das fühlte sie deutlich. Es dauerte schrecklich lange bis der Pastor die allgemeine Beichte las; da konnte sie endlich niederknien. Nun drängten sich ihr zwei große Thränen gewaltsam aus den Augen, aber niemand sah es außer der gutmütigen Molly, denn Onkel und Tante knieten vor ihr und drehten ihr den Rücken zu. Um in der Kirche zu weinen, konnte sich Molly keinen andern Grund denken, als daß man ohnmächtig würde, wovon sie mal hatte reden hören; rasch holte sie daher aus ihrer Tasche ein seltsames, plattes, blaues Riechfläschchen, zog mit vieler Mühe den Stöpsel heraus und hielt den engen Hals der kleinen Hetty unter die Nase. »Es riecht nicht,« flüsterte sie dabei; sie glaubte, das sei ein großer Vorzug von altem Riechsalz gegen frisches, daß es einem gut thue, ohne in die Nase zu beißen. Hetty schob das Fläschchen trotzig zurück, aber dieser kleine Ausbruch von Ärger hatte eine Wirkung, welche das Salz selbst nicht gehabt hätte: sie entschloß sich, die Thränen abzuwischen und mit aller Kraft zu versuchen, keine mehr zu weinen. Bei aller kleinlichen Eitelkeit hatte sie eine gewisse Geistesstärke; sie hätte lieber alles ertragen, als ausgelacht oder anders als mit Bewunderung angesehen zu werden; sie hätte sich eher die Nägel in das zarte Fleisch gedrückt, als den Leuten ein Geheimnis zu verraten, das sie vor ihnen verbergen wollte.

Wie wogten ihre Gedanken und Gefühle geschäftig auf und nieder, während Pastor Irwine die feierliche Absolution vor ihren tauben Ohren sprach und während der Sätze der Bitte, die dann folgten! Der Enttäuschung folgte der Ärger auf dem Fuß, und bald siegte er über die Vermutungen, mit denen ihr kleiner Scharfsinn das Ausbleiben Arthurs zu erklären versuchte, immer unter der Voraussetzung, daß er wirklich habe kommen wollen, sie wirklich wiedersehen wolle. Und als sie mechanisch sich von ihren Knien erhob, weil alle übrigen sich auch erhoben, da war schon die Farbe auf ihre Wangen zurückgekehrt, und sie glänzten selbst mehr als vorher, denn nun dachte sie sich kleine vorwurfsvolle Reden aus und sagte sich, sie hasse Arthur, daß er ihr solchen Schmerz bereite, und sie würde ihn selbst auch gern leiden sehen. Aber während dieser selbstsüchtige Aufruhr in ihrer Seele stattfand, hielt sie die Augen stets auf das Gebetbuch gerichtet und die Augenlider mit dem dunkeln Besatz sahen so lieblich aus wie je. Adam Bede fand das, als er beim Aufstehen einen Augenblick nach ihr hinüberblickte.

Aber diese Gedanken an Hetty machten Adam nicht taub für den Gottesdienst; sie verschmolzen vielmehr mit all den andern tiefen Empfindungen, die heute nachmittag in der Kirche auf ihn eindrangen. Der Gottesdienst paßte so recht zu seiner aus Trauer, Sehnsucht und Ergebung gemischten Stimmung; ängstliche Rufe um Hilfe, Ausbrüche von gläubigem Dank und Lob wechselten in der Liturgie und den allbekannten kurzen Gebeten, und das schien ihm ein Ausdruck seines Innern, wie keine andere Form religiöser Verehrung es hätte sein können, – grade wie den ersten Christen, die von Jugend auf ihren Gottesdienst in Katakomben verrichteten, Fackelglanz und Dunkelheit heiliger geschienen haben müssen als das heidnische Tageslicht auf Markt und Straßen. Das Geheimnis unserer Empfindungen liegt niemals in dem bloßen Gegenstande, sondern in den feinen Beziehungen desselben zu unserer Vergangenheit; kein Wunder also, wenn das Geheimnis dem unbeteiligten Beobachter entgeht, der eben so gut seine Brille aufsetzen könnte, um Gerüche zu erkennen.

Aber einen Grund gab es, weshalb selbst auf einen zufälligen Besucher der Gottesdienst in der Kirche in Hayslope mehr Eindruck gemacht hätte, als in den meisten Dörfern des Königreichs, und von diesem Grunde hat der Leser gewiß nicht die leiseste Ahnung: es war nämlich der Vortrag unseres Freundes Josua Rann. Woher der gute Schuhmacher seine Art vorzulesen hatte, war selbst seinen vertrautesten Bekannten ein Geheimnis. Am Ende, glaube ich, hatte er sie wohl zumeist von der Natur, die ihm etwas von ihrer Musik in seine ehrliche, etwas eitle Seele geflößt hatte, wie sie das ja auch in andere kleinliche Seelen vor ihm gethan hat. Zum wenigsten hatte sie ihm eine schöne Baßstimme und ein gutes musikalisches Gehör gegeben, aber ob diese allein zu dem vollen Klange, womit er in der Liturgie die Antworten sprach, hingereicht hätten, ist mir doch zweifelhaft. Die Art, wie er aus einem vollen, tiefen Forte in eine melancholische Cadenz überging und endlich das letzte Wort sanft verhallen ließ, gleich den Schwingungen eines schönen Violoncells, läßt sich in ihrer kräftigen und doch ruhigen Melancholie nur mit dem Rauschen und Fallen des Herbstwindes in den Zweigen der Bäume vergleichen. Es mag seltsam scheinen, über den Vortrag eines Dorfküsters so zu sprechen, eines Menschen mit einer verrosteten Brille, struppigem Haar, dickem Hinterkopf und einem spitzgebauten Schädel. Aber das ist einmal die Weise der Natur: einen vornehmen Herrn mit prächtigem Gesicht und poetischem Anfluge läßt sie ohne jede Melodie singen und giebt ihm nicht die leiseste Ahnung von Musik, und wieder bei einem Burschen mit niedriger Stirn, der in der Kneipe eine Räubergeschichte vorträgt, sorgt sie dafür, daß er so richtig singt wie ein Vogel.

Josua selbst war weniger stolz auf sein Lesen als auf sein Singen, und mit erhöhtem Selbstgefühl trat er immer von dem Lesepulte wieder unter die Sänger. Zumal heute bei einer so besondern Gelegenheit: ein alter Mann, den das ganze Dorf kannte, war eines traurigen Todes gestorben – nicht in seinem Bett, was für die Bauern immer am schmerzlichsten ist – und nun sollte der Totengesang zum Gedächtnis an sein plötzliches Ende gesungen werden. Zudem war auch Barthel Massey nicht in der Kirche, und Josuas Wichtigkeit für den Chorgesang strahlte im hellsten Glanz. Eine feierliche Melodie in Moll wurde gesungen. In den alten Psalmenmelodien ist mancher schmerzliche Klagelaut, und die Worte:

»Du kehrst uns weg wie Wassersflut;
Wir schwinden wie ein Traum«

schienen auf den Tod des armen Matthis wie gemacht. Die Mutter und die Söhne hörten jeder mit besonderen Empfindungen zu. Lisbeth hatte die unbestimmte Vorstellung, der Psalm thue ihrem Manne gut; er gehörte zu dem anständigen Begräbnis, welches ihm zu versagen sie für ein größeres Unrecht gehalten hätte, als ihm bei Lebzeiten viele böse Tage gemacht zu haben. Je mehr über ihren Mann gesagt wurde, je mehr für ihn geschah, in desto größerer Sicherheit mußte er sein. Seth, der überhaupt leicht gerührt wurde, vergoß Thränen und rief sich, wie er seit seines Vaters Tode stets gethan, alles ins Gedächtnis zurück, was er über die Möglichkeit gehört hatte, daß ein einziger bewußter Augenblick vor dem Ende ein Augenblick der Vergebung und Versöhnung sein könne. Hieß es nicht in demselben Psalm, den sie grade sangen, Gottes Wege seien nicht an Zeit gebunden? – Adam hatte sonst immer in jeden Psalm einstimmen können. Er hatte viel Trübsal und Verdruß in seinen jungen Jahren gehabt; aber heute hemmte ihm zum erstenmale der Schmerz die Stimme, und zwar, seltsam genug, der Schmerz darüber, daß das, was ihm bisher den meisten Verdruß und die meiste Trübsal bereitet hatte, nun für immer dahin sei. Er hatte seinem Vater vor dem letzten Scheiden nicht die Hand drücken können und sagen: »Vater, Ihr wißt, zwischen uns ist alles in Ordnung; ich habe nie vergessen, was ich Euch von meiner Kindheit her zu danken habe, und Ihr vergebt mir, wenn ich bisweilen zu hitzig und heftig gewesen bin.« Adam dachte heute nur wenig an die Opfer an Arbeit und Geld, die er für seinen Vater gebracht hatte; seine Gedanken kamen immer wieder darauf zurück, was wohl der alte Mann in den Augenblicken der Demütigung empfunden haben müsse, wo er vor den Vorwürfen seines Sohnes den Kopf sinken ließ. Wenn einer unsre Entrüstung mit schweigender Ergebung trägt, so fühlen wir nachher leicht Zweifel, ob wir wohl großmütig, ja auch nur gerecht gewesen sind; und wie viel mehr ist das der Fall, wenn der Gegenstand unsres Ärgers hinübergegangen ist zu ewigem Schweigen und wir sein Gesicht zum letztenmale in der Sanftheit des Todes gesehen haben.

»Ach, ich bin stets zu hart gewesen!« sagte Adam zu sich selbst. »Es ist ein schlimmer Fehler, daß ich immer so heftig werde und die Geduld verliere, wenn jemand Unrecht thut, und daß sich mein Herz verschließt und nicht vergeben kann. Ich erkenne deutlich genug, in meiner Seele ist mehr Stolz als Liebe; ich konnte eher tausend Hammerschläge für den Vater thun, als mir ein freundliches Wort für ihn abgewinnen. Und in den Hammerschlägen war auch noch Stolz und böser Wille genug; der Teufel muß ja immer bei unsern Pflichten so gut wie in unsern Sünden seine Hand haben. Vielleicht ist gar das beste, was ich je in meinem Leben gethan habe, nicht mehr gewesen, als daß ich that, was mir am leichtesten wurde. Arbeiten wurde mir ja immer leichter als still sitzen; das schwerste Stück Arbeit wäre für mich, meine eigene Laune und meinen Willen zu überwinden und gegen meinen Stolz gradean zu gehen. Wenn ich heute abend Vater zu Haus fände, würde ich wohl anders gegen ihn sein, wie mich bedünken will, aber wissen kann man's doch nicht; für uns ist so leicht nichts eine Lehre als was zu spät kommt. Möchten wir doch lernen, daß das Leben ein Exempel ist, das wir nicht noch einmal überrechnen können; wirklich wieder gut machen kann man in dieser Welt so wenig, wie man eine falsche Subtraktion besser machen kann durch eine richtige Addition.«

Das war seit seines Vaters Tode immerfort der Grundton in Adams Gedanken gewesen, und die feierliche Klage des Totenpsalms brachte diese Gedanken mit stärkerem Gewicht zurück. Auch die Predigt, welche der Pastor beim Begräbnis gehalten, hatte das gethan; kurz und einfach hatte sie die Worte behandelt: »mitten im Leben sind wir im Tode,« und hatte ausgeführt, wie der gegenwärtige Augenblick das einzige ist, was wir unser eigen nennen und zu Werken der Liebe, der Rechtschaffenheit und der zärtlichen Fürsorge zu benutzen vermögen. Lauter sehr alte Wahrheiten, aber wenn wir jemandem, der einen Teil unsres Lebens ausgemacht hat, in das tote Antlitz blicken, dann ergreift uns was die älteste Wahrheit schien, mit der Gewalt der Neuheit. Um die Wirkung eines neuen und außerordentlich lebhaften Lichtes zu erkennen, läßt man es ja am besten auf ganz bekannte Gegenstände fallen; an der früheren Trübheit oder Unklarheit messen wir dann seine Stärke.

Dann kam der Schlußsegen; die ewig erhabenen Worte: »Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft« schienen mit dem ruhigen Schein der Nachmittagssonne sich zu vereinigen, welcher auf die gesenkten Häupter der Versammlung fiel, und endlich erhoben sich alle still, die Mütter banden den kleinen Mädchen, die während der Predigt geschlafen hatten, die Hüte fest, die Väter nahmen die Gebetbücher zusammen, und alles strömte durch die alte, gewölbte Kirchthür auf den grünen Kirchhof, und das nachbarliche Geplauder begann wieder und die schlichten Höflichkeiten und Einladungen zum Thee; denn am Sonntage hatte jeder gern seinen Gast; es war ja der Tag, wo jeder in den besten Kleidern und in der besten Laune sein mußte.

Poyser und seine Frau blieben einen Augenblick an der Kirchthür stehen; sie warteten auf Adam und mochten nicht fortgehen, ohne der Mutter und ihren Söhnen ein freundliches Wort gesagt zu haben.

»Nun, Frau Bede,« sagte Frau Poyser, indem sie zusammen weitergingen, »Ihr müßt den Kopf oben halten; Mann und Frau müssen schon zufrieden sein, wenn sie lang' genug zusammen leben, um ihre Kinder aufzuziehen und sich in grauen Haaren zu sehen.«

»Ja, ja!« sagte der Mann, »dann haben sie auf keinen Fall lange auf einander zu warten. Und Ihr habt zwei der tüchtigsten Söhne in der ganzen Grafschaft; und das ist freilich kein Wunder, denn ich erinnere mich noch recht gut, der arme Matthis war mal ein so hübscher breitschultriger Bursch, wie man's nur verlangen kann, und Ihr selbst, Frau Bede, – nun, Ihr habt noch einen so graden Rücken, wie nicht viele junge Frauen jetzt.«

»Ach!« erwiderte Lisbeth, »was hilft es, daß die Schüssel noch hält, wenn sie erst entzwei gebrochen ist! Je eher man mich unter den Weißdorn legt, desto besser. Ich bin jetzt für keinen mehr was nütze.«

Adam achtete niemals auf die kleinen, ungerechten Klagen seiner Mutter, aber Seth sagte: »Nein, Mutter, so mußt du nicht sprechen; deine Söhne bekommen keine andere Mutter wieder.«

»Da habt Ihr recht, mein Junge, da habt Ihr recht,« bemerkte Martin Poyser, »und es ist Unrecht von uns, Frau Bede, wenn wir dem Schmerze Gewalt über uns geben; das ist grade, als wenn die Kinder weinen, wenn ihnen Vater und Mutter was wegnimmt. Der über uns weiß alles besser als wir.«

»Ja wohl,« sagte Frau Poyser, »und es kommt nichts dabei 'raus, wenn man die Toten über die Lebenden setzt. Einmal müssen wir doch alle sterben, meine ich, und besser wäre es, die Leute machten sich vorher viel aus uns, statt erst anzufangen, wenn wir hinüber sind. Es nutzt doch nichts, die Saat vom vorigen Jahre zu begießen.«

Poyser fühlte, daß die Worte seiner Frau wie gewöhnlich eher verletzend als besänftigend waren und daß es daher besser sei, von etwas anderem zu sprechen. »Ihr werdet doch nun hoffentlich wieder zu uns kommen und uns besuchen, Adam,« sagte er. »Es ist schon eine ganze Weile, daß ich kein ordentliches Gespräch mit Euch geführt habe, und meine Frau möchte gern, daß Ihr Euch mal ihr bestes Spinnrad ansähet; es ist entzweigegangen, und gewiß giebt's viel daran zu thun; es wird wohl was dran gedrechselt werden müssen, glaube ich. Ihr kommt also, sobald Ihr könnt, nicht wahr?«

Poyser blieb stehen und sah sich, während er sprach, nach Hetty um; die Kinder waren schon vorangelaufen. Hetty war nicht allein und hatte noch mehr Rot und Weiß an sich als vorher; denn in der Hand hielt sie die wunderschöne rot und weiße ausländische Blume mit einem langen, langen Namen, einem schottischen Namen, wie sie vermutete, da ja der Gärtner Craig selbst ein Schottländer war. Adam benutzte die Gelegenheit, um sich auch umzusehen, und gewiß wird niemand von ihm verlangen, daß er sich hätte ärgern sollen, als er bei der Unterhaltung des Gärtners an Hetty einen etwas unzufriedenen, schmollenden Ausdruck bemerkte. Im Herzen jedoch freute sie sich, ihn bei sich zu haben; von ihm konnte sie vielleicht erfahren, warum Arthur nicht zur Kirche gekommen sei. Nicht etwa, als hätte sie daran gedacht, ihn zu fragen, sondern sie hoffte, er würde ihr von selbst sagen, was er wisse; denn Gärtner Craig als ein höherstehender Mann teilte andern Leuten gern mit, was er wußte.

Der Gärtner bemerkte niemals, daß seine Unterhaltung und seine Aufmerksamkeiten eine kalte Aufnahme fanden; seine Neigung war eben nicht sehr leidenschaftlich, und seit nicht weniger als zehn Jahren beschäftigte er sich damit, die Vorteile des ehelichen und des Junggesellenstandes gegen einander abzuwägen. Zwar ist es richtig, daß er ab und zu, wenn er durch ein Glas Grog extra ein wenig aufgeregt war, von Hetty gesagt hatte, das Mädchen sei nicht ganz übel und »es sei noch nicht das schlimmste, was einem Menschen passieren könne,« aber beim Trinken gebrauchen die Männer leicht starke Ausdrücke.

Martin Poyser hielt viel auf den Gärtner, weil er sein Geschäft verstände und vom Erdboden und der Düngung große Einsicht hätte; aber bei Frau Poyser war er nichts weniger als beliebt; sie hatte mehr als einmal im Vertrauen zu ihrem Manne gesagt: »du hast ja den Craig mächtig gern, aber mir für meine Person kommt er grade vor wie ein Hahn, der glaubt die Sonne sei aufgegangen um ihn krähen zu hören.« Übrigens war Craig ein recht guter Gärtner und hatte wohl Grund, eine hohe Meinung von sich selbst zu haben. Daneben hatte er auch hohe Schultern und hohe Backenknochen, und hielt seinen Kopf etwas vornüber, wenn er, die Hände in den Hosentaschen, einherging. Den Vorzug, schottisch zu sein, hatte übrigens nur seine Abstammung und nicht seine Erziehung; denn abgesehen davon, daß er etwas stärker schnarrte, unterschied sich seine Aussprache wenig von der seiner jetzigen Umgebung. Aber in England ist ein Gärtner immer aus Schottland, wie ein französischer Lehrer immer aus Paris ist.

»Nun, Herr Poyser,« sagte er, ehe der gute, langsame Pachter Zeit fand zu sprechen, »ich glaube nicht, daß Sie morgen Ihr Heu hereinbringen; das Wetterglas steht auf veränderlich, und Sie können sich auf mein Wort verlassen daß noch mehr Regen vom Himmel kommt, ehe wir vierundzwanzig Stunden weiter sind. Sie sehen doch die dunkelblaue Wolke da hinten am Orizont – Sie wissen, was das heißt Orizont, nämlich, wo Erde und Himmel sich zu treffen scheinen.«

»Ja, ja, die Wolke seh' ich wohl,« erwiderte Poyser, »Orizont oder nicht, das ist einerlei; sie steht grade über Nachbar Michael seinem Brachfeld und einem schlechten Brachfeld noch dazu.«

»Nun, merken Sie wohl, was ich sage; die Wolke wird sich bald über den ganzen Himmel hinziehen, beinahe so rasch wie Sie Ihr Segeltuch über einen Heuschober spannen. Es ist etwas großes, wenn man die Wolken ordentlich studiert hat. Wahrhaftig, mir können die Wetterkalender nichts lehren, aber ich könnte ihnen hübsch was zeigen, wenn sie sich nur an mich wenden wollten. Und wie geht es Ihnen denn, Frau Poyser? Sie denken gewiß schon dran, die Johannisbeeren abnehmen zu lassen. Sie thun viel besser nicht zu warten, bis sie überreif sind, bei dem Wetter noch dazu, wie wir's zu erwarten haben. Und Ihr, Frau Bede, wie befindet Ihr Euch?« fuhr der Gärtner ohne inne zu halten fort und winkte dabei Adam und Seth zu. »Hoffentlich kamen Euch der Spinat und die Stachelbeeren recht, die ich Euch neulich schickte. Wenn Ihr mal Gemüse haben wollt, um Euch etwas zu erquicken, dann wißt Ihr ja, an wen Ihr Euch wenden könnt. Ich gebe nichts weg, was andern gehört, das weiß jeder; wenn ich die Herrschaft versorgt habe, dann geht das übrige auf meine eigene Rechnung, und dazu könnte der alte Herr nicht jeden gebrauchen. Ich sage Ihnen, ich muß schon gut rechnen, wenn ich das Geld wieder heraushaben will, was ich dem Herrn bezahle. Die Kalendermacher könnten sich freuen, wenn sie so weit sehen könnten, wie ich jedes Jahr sehen muß, das Gott werden läßt.«

»Die sehen aber doch ziemlich weit,« erwiderte Martin Poyser, indem er den Kopf etwas zur Seite wandte und fast ehrerbietig leise sprach. »Ist das Bild nicht eingetroffen von dem Hahn mit den großen Sporen, dem ein Anker den Kopf einschlägt und mit all dem Feuern und den Schiffen dahinter? Und das Bild war doch vor Weihnachten gemacht, und heute ist's so wahr geworden wie die Bibel: der Hahn, das ist Frankreich, und der Anker, das ist Nelson,Geht auf die Schlacht von Abukir (1798), wo Nelson die französische Flotte vernichtete. und das haben die Kalenderleute auch gleich dabei gesagt.«

»Pah, pah!« entgegnete der Gärtner. »Darum braucht einer noch nicht weit zu sehen, um zu wissen, daß die Engländer die Franzosen schlagen werden. Ich weiß es von guter Hand: wenn ein Franzose fünf Fuß hoch ist, dann ist er bei ihnen ein großer Kerl, und sie leben fast nur von Suppen. Ich kannte einen Mann, dem sein Vater kannte die Franzosen ganz genau. Was diese Grashüpfer gegen so hübsche Leute wie unsern jungen Kaptän Arthur ausrichten wollen, das möcht' ich wohl wissen. So'n Franzose würde sich rein verwundern, wenn er ihn bloß ansähe; sein Arm ist dicker als ein Franzose im Leibe, dafür steh' ich, denn sie schnüren sich und kneifen sich zusammen, und leicht genug wird ihnen das, denn sie haben nichts im Leibe.«

»Wo ist der Kaptän? Er war ja heute nicht in der Kirche?« fragte Adam. »Ich sah ihn am Freitag und da sagte er nichts von Verreisen.«

»O, er ist bloß nach Eagledale hinüber, um zu fischen, kommt aber gewiß bald wieder; er muß ja bei all den Vorbereitungen sein für den dreißigsten Juli, wo er großjährig wird. Aber ab und zu geht er gern ein bißchen weg. Er und der alte Herr vertragen sich wie Nachtfrost und Blumen.«

Der Gärtner lächelte bei dieser letzten Bemerkung und blinzelte langsam mit den Augen, aber man ging nicht weiter auf die Sache ein, da man schon an die Wendung des Weges gekommen war, wo Adam und die Seinigen abgingen. Auch der Gärtner würde mit ihnen denselben Weg gegangen sein, wenn er nicht Poysers Einladung zum Thee angenommen hätte. Frau Poyser unterstützte die Einladung in bester Form; sie hätte es für eine große Schande gehalten, nicht gastfrei gegen ihre Nachbarn zu sein; persönliche Neigungen und Abneigungen hatten mit dieser ehrwürdigen Gewohnheit nichts zu thun. Zudem war der Gärtner immer sehr aufmerksam gegen die Familie auf dem Pachthof gewesen, und Frau Poyser war gewissenhaft genug, zu erklären, sie habe eigentlich nichts gegen ihn, nur sei es schade, daß er nicht noch mal aus dem Ei kriechen könne, und zwar etwas anders.

So gingen denn Adam und Seth, die Mutter zwischen sich, ihren Weg das Thal hinab und an der andern Seite des Baches wieder hinauf nach dem alten Häuschen, wo hinfort eine traurige Erinnerung an die Stelle trat von jahrelangem Verdruß, wo Adam nie wieder zu fragen hatte, wenn er nach Haus kam »wo ist Vater?«

Und die andere Gesellschaft mit Gärtner Craig ging wieder nach dem hübschen, hellen Hausflur auf dem Pachthof, alle ruhig und zufrieden, nur Hetty nicht, die jetzt freilich wußte, wo Arthur sei, aber um nur so verwirrter und unruhiger war. Denn seine Abwesenheit war ja offenbar ganz freiwillig; er brauchte gar nicht fortzugehen, und – er würde gar nicht fortgegangen sein, wenn er sie hätte sehen wollen. Das traurige Gefühl überkam sie, daß sie nie wieder mit ihrem Schicksal zufrieden sein könne, wenn nicht ihr Traum vom Donnerstag Abend in Erfüllung ginge, und in diesem Augenblick der Enttäuschung und erkältenden Zweifels sah sie der Aussicht, wieder bei Arthur zu sein, seinem liebenden Blicke zu begegnen und seine sanften Worte zu hören, mit der sehnsüchtigen Begierde entgegen, welche man den wachsenden Schmerz der Leidenschaft nennen könnte.


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