George Eliot
Adam Bede - Erster Band
George Eliot

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Dritter Abschnitt.

Nach der Predigt.

Etwa eine Stunde nachher ging Seth Bede an Dina's Seite den Feldweg zwischen den beiden Hecken entlang, welche die Weiden und grünen Kornfelder von dem Dorfe nach dem Pachthofe hin einfaßten. Dina hatte wieder ihren kleinen Quäkerhut abgenommen und trug ihn in der Hand, um desto freier die kühle Dämmerstunde zu genießen; Seth konnte den Ausdruck ihres Gesichtes ganz deutlich sehen, indem er neben ihr herging und schüchtern etwas überlegte, was er auf dem Herzen hatte. Es war ein Ausdruck unbewußten friedlichen Ernstes; sie war wie versunken in Gedanken, die gar nichts zu thun hatten mit dem gegenwärtigen Augenblick oder ihrer eigenen Person, und dieser Ausdruck ist für einen Liebenden der allerentmutigendste. Ihr Gang sogar, konnte man sagen, war entmutigend: er hatte die Ruhe und Sicherheit, die keiner Unterstützung bedarf. Seth fühlte das dunkel; er sagte zu sich: »sie ist zu gut und heilig für jeden, geschweige denn für mich,« und die Worte, die ihm aus dem Herzen dringen wollten, strömten zurück, ehe sie ihm auf die Lippen gekommen. Aber ein andrer Gedanke gab ihm Mut: »niemand auf der Welt könnte sie mehr lieben und ihr mehr Freiheit lassen, das Werk des Herrn zu thun.« Sie waren eine ziemliche Strecke schweigend neben einander hergegangen, seitdem sie über Schmieds Lieschen sich ausgesprochen hatten; Dina schien Seths Anwesenheit fast vergessen zu haben und beschleunigte ihren Schritt so sehr, daß die Überlegung, sie seien nur noch wenige Minuten vom Pachthofe entfernt, Seth endlich Mut gab zu sprechen.

»Ihr seid also entschlossen, Sonnabend nach Snowfield zurückzukehren, Dina?«

»Ja,« erwiderte Dina ruhig, »meine Pflicht ruft mich dahin. Als ich Sonntag Abend nachdachte, gab mir der Geist es ein, daß Schwester Allen, mit der es zu Ende geht, mich nötig hat. Ich sah sie so klar, wie wir das feine weiße Wölkchen dort sehen; sie hob ihre kranke magere Hand auf und winkte mir. Und diesen Morgen, als ich die Bibel aufschlug um Rat, da waren die ersten Worte, die mir in die Augen fielen: »Als er aber das Gesicht gesehen hatte, da trachteten wir alsobald zu reisen in Macedonien.« Wäre nicht dieser deutliche Fingerzeig vom Herrn, so ginge ich ungern, denn mein Herz ist entbrannt für meine Tante und ihre Kinder und das arme verirrte Lamm, Hetty Sorrel; es hat mich in der letzten Zeit oft gedrängt, für sie zu beten, und ich sehe das als ein Zeichen an, daß der Herr noch Gnade für sie bereit hat.«

»Das gebe Gott,« sagte Seth; »denn ich weiß, Adams Herz ist so versessen auf sie, daß es sich nie einem andern Mädchen zuwendet, und doch ginge es mir recht zu Herzen, wenn er sie heiratete; ich kann mir nicht denken, daß sie ihn glücklich macht. Es ist ein tiefes Geheimnis, wie das Herz eines Mannes zu einem Weibe vor allen andern in der Welt hinneigt, so daß er leichter sieben Jahre um sie arbeitet wie Jakob um Rahel, als eine andere umsonst zu nehmen. Ich muß oft nachdenken über die Worte: »Also diente Jakob um Rahel sieben Jahre, und däuchten ihn als wären es einzelne Tage, so lieb hatte er sie.« Gewiß würden diese Worte auch an mir in Erfüllung gehen, Dina, wenn Ihr mir die Hoffnung geben wolltet, daß ich Euch nach sieben Jahren gewinnen könnte. Ich weiß wohl, Ihr denkt, ein Mann würde Eure Gedanken zu sehr in Anspruch nehmen, weil St. Paulus sagt: »Die aber freit, die sorget, was der Welt angehört, wie sie dem Manne gefalle,« und vielleicht haltet Ihr mich für zu kühn, daß ich nach dem, was Ihr mir letzten Sonnabend gesagt, wieder davon anfange. Aber ich habe darüber nachgedacht Tag und Nacht, und habe gebetet, daß ich durch meine eigenen Wünsche nicht irre geführt werden möchte, zu meinen, was nur gut für mich ist, müsse auch gut für Euch sein. Und danach scheint mir, es giebt mehr Bibelstellen für Euer Heiraten, als dagegen. Denn St. Paulus sagt an einer andern Stelle so deutlich wie man's nur verlangen kann: »So will ich nun, daß die jungen Witwen freien, Kinder zeugen, haushalten und dem Widersacher keine Ursach geben zu schelten;« und wieder an einer andern Stelle: »zwei sind besser denn einer,« und das gilt von der Ehe so gut wie von andern Dingen. Wir würden ja ein Herz und eine Seele sein, Dina. Wir dienen beide demselben Herrn und streben nach demselben Ziele, und wenn ich Euer Mann wäre, würde ich Euch nie hinderlich sein in dem Werke, zu dem Euch Gott berufen hat. Ich würde schaffen und arbeiten im Hause und außer dem Hause, um Euch mehr Freiheit zu geben – mehr als Ihr jetzt haben könnt, wo Ihr selbst für Euren Unterhalt sorgen müßt, und ich bin stark genug, für uns beide zu arbeiten.«

Als Seth einmal angefangen hatte, seine Werbung zu betreiben, sprach er sehr eifrig und beinahe hastig, damit Dina ihm nicht mit einem entscheidenden Worte dazwischen käme, ehe er alle seine Gründe vorgebracht hätte. Seine Wangen röteten sich, während er sprach; seine sanften grauen Augen füllten sich mit Thränen, und seine Stimme bebte bei den letzten Worten. Dina blieb stehen, wandte sich zu Seth und sagte mit zärtlicher, aber ruhiger Stimme:

»Seth Bede, ich danke Euch für Eure Liebe zu mir, und wenn mir irgend ein Mann mehr sein könnte, als ein Bruder in Christo, so glaube ich, Ihr wäret es. Aber mein Herz ist nicht frei zu heiraten. Das ist gut für andere Frauen, und es ist ein großes und köstliches Ding, Ehefrau zu sein und Mutter, aber »wie Gott jedem sein Teil gegeben, wie der Herr einen jeden berufen hat, so möge er wandeln.« Mich hat Gott berufen, für andere zu sorgen, nicht Freuden oder Leiden für mich zu haben, sondern mich zu freuen mit den Fröhlichen und zu weinen mit den Weinenden. Er hat mich berufen, sein Wort zu verkünden und hat meine Arbeit gesegnet. Es müßte mir sehr klar gewiesen werden von oben, wenn ich die Brüder und Schwestern in Snowfield sollte lassen können, die nur sehr wenig haben von den Gütern dieser Welt, bei denen die Bäume so spärlich wachsen, daß ein Kind sie zählen könnte, und wo die Armen so schwer durchkommen im Winter. Der Herr hat mir gegeben, daß ich die kleine Herde da unterstützen, trösten und kräftigen und manche Verirrte heimbringen konnte, und meine Seele ist ganz voll von diesen Dingen, von des Morgens, wenn ich aufstehe, bis ich mich abends niederlege. Mein Leben ist zu kurz und das Werk Gottes zu groß für mich, als daß ich daran denken könnte, in dieser Welt mir selbst eine Stätte zu bereiten. Ich bin nicht taub gewesen bei Euren Worten, Seth; denn als ich Eure Liebe zu mir sah, da dachte ich, es könnte eine Fügung der Vorsehung sein, daß ich mein Leben ändern und wir uns gegenseitig helfen sollten, und ich legte die Sache dem Herrn vor. Aber sobald ich meinen Sinn auf die Ehe und unser Zusammenleben zu richten versuchte, kamen mir immer andere Gedanken; ich mußte denken an die Zeiten, wo ich mit den Kranken und Sterbenden betete, und an die glücklichen Stunden, die ich beim Predigen gehabt habe, wo mein Herz voll war von Liebe und das Wort mir reichlich zukam von oben. Und wenn ich die Bibel aufschlug um Rat, so traf ich immer auf ein Wort, welches mir klar meinen Weg wies. Ich glaube Euch, Seth, wenn Ihr sagt, Ihr wolltet versuchen mir zu helfen bei meinem Werk und nicht mich zu hindern; aber ich sehe, es ist nicht Gottes Wille, daß wir uns heiraten, er zieht mein Herz einen andern Weg. Ich wünsche, ohne Mann und Kinder zu leben und zu sterben. Mir scheint, es ist kein Raum in meiner Seele für eigne Bedürfnisse und Sorgen; es hat Gott gefallen, mein Herz ganz zu füllen mit den Bedürfnissen und Kümmernissen seines armen Volkes.«

Seth war unfähig zu antworten, und sie gingen schweigend weiter; endlich als sie schon beinahe an der Hofthür waren, sagte er:

»Wohl, Dina, ich muß nach Kraft suchen, um das zu ertragen. Aber ich fühle jetzt, wie schwach mein Glauben ist. Es kommt mir vor, als könnte ich mich über nichts mehr freuen, wenn Ihr fort seid. Ich glaube, wie ich für Euch fühle, das geht über die Liebe von euch Weibern hinaus; denn ich könnte zufrieden sein, ohne daß Ihr mich heiratet, wenn ich nur mit Euch gehen und in Snowfield wohnen und bei Euch sein könnte. Ich hegte das Vertrauen, die starke Liebe, die mir Gott zu Euch gegeben, sei eine Fügung für uns beide, aber nun scheint es, sie sollte nur eine Prüfung für mich sein. Vielleicht fühle ich mehr für Euch, als ich für eine Kreatur fühlen sollte, denn ich muß oft von Euch sagen, wie es im Liede heißt:

So schwarz die Nacht, – wenn sie erscheint,
Ist's Nacht mir länger nicht;
Sie ist für mich der Morgenstern,
Sie ist mir Sonnenlicht.

Das mag unrecht sein, und ich muß eines Bessern belehrt werden. Aber Ihr würdet mir doch nicht böse sein, wenn es sich so machte, daß ich von hier wegziehen und mich in Snowfield niederlassen könnte?«

»Nein, Seth, aber ich rate Euch, ruhig zu warten und nicht leichtsinnig Euren Geburtsort und Eure Verwandtschaft zu verlassen. Thut nichts ohne des Herrn klare Weisung. Es ist ein trauriges und unfruchtbares Land da drüben, nicht wie das Land Gosen hier, an das Ihr gewöhnt seid. Wir dürfen es nicht so eilig haben, unser Los uns selbst einzurichten; wir müssen warten auf des Herrn Führung.

»Aber Ihr würdet einen Brief von mir annehmen, Dina, wenn ich Euch etwas zu sagen hätte?«

»Ja gewiß; laßt mich wissen, wenn Euch Trübsal überkommt. Ich werde Euer unablässig in meinem Gebete gedenken.«

Sie waren jetzt an die Hofthür gekommen, und Seth sagte:

»Ich gehe nicht mit hinein; so lebt denn wohl, Dina.« Er hielt inne und zauderte unschlüssig, als sie ihm die Hand gegeben hatte; dann sagte er: »man kann nicht wissen, ob Ihr nicht nach einiger Zeit die Dinge anders anseht; es kann ein neuer Ruf an Euch ergehen.«

»Lassen wir das jetzt, Seth. Man thut wohl, immer nur einen Augenblick auf einmal zu leben, wie ich in einem Buche von Herrn Wesley gelesen habe. Es ist nicht Eure Sache noch meine, Pläne zu machen; wir haben nur zu gehorchen und zu vertrauen. Lebt wohl.«

Dina drückte seine Hand, indem sie ihn mit ihren liebevollen Augen wehmütig anblickte, und verschwand dann durch die Hofthür. Seth wandte sich langsam auf den Heimweg. Aber er nahm nicht den geraden Weg nach Hause, sondern ging zurück in die Felder, durch welche er und Dina eben gegangen waren, und ich glaube, sein blaues leinenes Taschentuch war längst naß von Thränen, als er sich endlich überlegte, daß es Zeit sei, graden Weges nach Hause zu gehen.

Er war erst dreiundzwanzig Jahre alt und hatte eben erst gelernt, was lieben heißt, lieben mit der Verehrung, die ein junger Mann einem Mädchen widmet, das er für größer und besser erkennt, als sich selbst. Eine solche Liebe ist kaum zu unterscheiden von religiöser Empfindung. Und welche tiefe und würdige Liebe wäre das? Sei es Liebe zu einem Weibe oder einem Kinde oder zur Kunst oder Musik? Unsre Liebkosungen, unsre Zärtlichkeiten, unser stilles Entzücken bei herbstlichen Sonnenuntergängen oder in hohen Säulenhallen, bei der ruhigen Majestät schöner Bildsäulen oder bei Beethovenschen Symphonien – sie alle geben uns das Bewußtsein, daß sie nur das Wellengekräusel sind eines unergründlichen Meeres von Liebe und Schönheit; im Augenblicke ihrer größten Stärke hört unsere Empfindung auf, sich zu äußern, und verstummt; auf ihrem Höhepunkt stürzt unsere Liebe über ihren Gegenstand hinaus und verliert sich in dem Gefühle göttlichen Geheimnisses. Und diese köstliche Gabe verehrender Liebe ist seit den Tagen der Schöpfung schon so manchem einfachen Handwerksmann zuteil geworden, als daß wir überrascht sein könnten, sie in der Seele eines methodistischen Zimmermanns vor einem halben Jahrhundert zu finden, als noch ein schwacher Nachglanz spielte von jener Zeit, wo Wesley und seine Genossen, abgemattet vom Predigen des Wortes Gottes unter den Armen, die Hagebutten und Beeren an den Hecken von Cornwall lasen und davon lebten.

Der Nachglanz ist lange verblichen, und auf dem Bilde, welches sich unsre Vorstellung wahrscheinlich vom Methodismus macht, zeigt sich nicht mehr ein Amphitheater von grünen Hügeln oder der tiefe Schatten breitblättriger Sycamoren, wo Scharen schlechtgekleideter Männer und gramgebeugter Weiber einen Glauben einsogen, der für sie die Anfänge der Bildung enthielt, ihre Gedanken mit der Vergangenheit verknüpfte, ihre Einbildung über den Schmutz ihrer eignen beschränkten Lebenskreise erhob und ihre Seelen erfüllte mit dem Gefühl einer erbarmenden, liebenden, unendlichen Gegenwart – einem Gefühle, so süß wie der Sommer dem obdachlosen Armen. Es ist nur zu möglich, daß einige von meinen Lesern bei Methodismus sich nichts anderes denken, als niedrige Giebel in schmutzigen Straßen, Schleicher von Gewürzkrämern, schmarotzende Pfaffen und heuchlerische Phrasen – denn aus diesen Elementen soll ja nach einer Analyse, die in manchen vornehmen Kreisen für erschöpfend gilt, der Methodismus bestehen.

Schlimm freilich, wenn das wahr wäre; denn ich kann nicht behaupten, daß Seth und Dina etwas anderes waren, als Methodisten, zwar nicht von der modernen Art, welche litterarische Zeitschriften liest und Kapellen mit säulengetragenen Eingangshallen hat, sondern Methodisten von einem sehr alten Schnitt. Sie glaubten an fortdauernde Wunder, an plötzliche Bekehrungen, an Offenbarungen durch Träume und Gesichte; sie suchten nach Gottes Führung, indem sie die Bibel aufs Geratewohl aufschlugen, nahmen die heiligen Schriften in einer Weise buchstäblich, die durchaus nicht von anerkannten Autoritäten gebilligt wird, und sprachen – ich kann das beim besten Willen nicht leugnen – weder richtig noch auch hatten sie eine gebildete Erziehung genossen. Indeß, wenn ich die Geschichte der Religion recht gelesen habe, so haben ja Glaube, Hoffnung und Liebe zu der Neigung für die symbolischen Bücher nicht immer im graden Verhältnis gestanden, und man kann, gottlob, sehr falsche Ansichten haben und doch sehr erhabene Empfindungen.

Unter diesen Umständen werden wir Dina und Seth kaum unter unserm Interesse halten, so sehr wir auch gewöhnt sein mögen, über die vornehmeren Leiden zu weinen von Heldinnen in seidenen Stiefelchen und Krinoline, und von Helden, die feurige Rosse reiten, während sie selbst von noch feurigeren Leidenschaften zum – geritten werden.

Der arme Seth! Er war in seinem ganzen Leben nur einmal zu Pferde gewesen, als er ein kleiner Junge war und Meister Burge ihn hinten aufnahm, wo er sich festhalten mußte, und nun jetzt – statt in wilde Verwünschungen gegen Gott und sein Schicksal auszubrechen, faßte er, wie er unter dem feierlichen Sternenhimmel nach Hause geht, den Entschluß, seine Traurigkeit zu unterdrücken, weniger auf seinen eigenen Willen zu pochen und mehr für andere zu leben – wie Dina.


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