George Eliot
Adam Bede - Erster Band
George Eliot

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölfter Abschnitt.

Im Wäldchen.

An demselben Donnerstag Morgen befand sich Arthur Donnithorne in seinem Ankleidezimmer, sah seine hübsche Figur in den altmodischen Spiegeln sich vervielfältigen und ging mit sich selbst zu Rate; als ihm endlich der Diener die schwarzseidene Armbinde über die Schulter legte, war er zu einem bestimmten Entschluß gekommen.

»Ich will nach Eagledale und angeln, – auf acht Tage,« sagte er laut; »Ihr sollt mich begleiten, Pym, und ich will gleich heute früh abreisen; um halb zwölf muß alles fertig sein.«

Das leise Pfeifen, welches ihm bei diesem Entschluß behilflich gewesen, erhob sich jetzt zu lautem Singen, und als er durch den Korridor eilte, hallten die Wände wieder von seiner Lieblingsmelodie aus der Bettleroper: »Wenn den Menschen im Herzen die Sorge bedrückt.« Gewiß keine Heldenarie, aber doch kam sich Arthur sehr heldenmütig vor, als er dies Lied singend nach dem Stalle ging, um wegen der Pferde das nötige zu befehlen. Es war ihm Bedürfnis, mit sich selbst zufrieden zu sein, und diese Zufriedenheit war keineswegs umsonst zu haben; er mußte sie sich sauer abverdienen. Noch hatte er sie nie eingebüßt, und er setzte großes Vertrauen in seine eigenen Tugenden. Konnte doch kein junger Mann seine Fehler offener eingestehen; war doch Offenherzigkeit einer seiner Hauptvorzüge, und wie kann sich eines Menschen Offenherzigkeit wohl in ihrem vollen Glanze zeigen, wenn er nicht ein paar Schwächen hat, über die er reden kann? Aber er hatte das angenehme Vertrauen, seine Fehler seien alle von edler Art – Fehler von heißem Blut, von hitziger Gemütsart, von einer Löwennatur, nichts schleichendes, listiges, kriechendes. Daß Arthur Donnithorne etwas gemeines, feiges oder grausames thue, war ganz unmöglich. »Nein, ich bin wohl ein Teufelskerl und bringe mich oft genug in die Patsche, aber ich sorge doch immer dafür, daß die Verantwortlichkeit auf meine eigenen Schultern fällt.« Unglücklicherweise ist aber in dem, was man eine Patsche nennt, keine innere poetische Gerechtigkeit, und solch 'ne Patsche ist oft so hartnäckig, ihre schlimmsten Folgen nicht auf den Hauptübelthäter fallen zu lassen, mag er es auch noch so laut gewünscht haben. Wenn also Arthur jemals einen andern statt sich selbst in Verlegenheit gebracht hatte, so war es lediglich die Schuld dieser mangelhaften Einrichtung der Verhältnisse. Er war so durch und durch gutherzig, und auf den Bildern, die er sich von der Zukunft entwarf, wenn er erst das Gut übernommen hätte, war die ganze Welt glücklich: wohlhabende, zufriedene Pächter, die ihren Gutsherrn anbeteten – der Gutsherr selbst das Muster eines englischen Gentleman – das Haus in bester Ordnung, alles elegant und im feinsten Geschmack – lustige Gesellschaften – die schönsten Pferde in der ganzen Grafschaft – eine offene Börse für alle öffentlichen Zwecke – kurz, alles möglichst anders als unter dem jetzigen Gutsherrn. Und eine seiner ersten guten Handlungen in dieser Zukunft sollte sein, Irwines Einkommen für die Vikarei Hayslope zu erhöhen, damit er für Mutter und Schwestern Pferde und Wagen halten könnte. Seine herzliche Zuneigung für den Rektor stammte aus den frühesten Kinderjahren; es war eine halb kindliche, halb brüderliche Neigung, brüderlich genug, um ihm Irwines Gesellschaft angenehmer zu machen als jede andere, und kindlich genug, daß er vor Irwines Tadel einen tüchtigen Respekt hatte.

Gewiß, dieser Arthur Donnithorne war ein »guter Kerl«; das sagten auch alle seine Universitätsfreunde: er konnte niemanden in Not sehen; er wäre sogar in seiner schlimmsten Laune unglücklich gewesen, wenn seinen alten Großvater ein Leid betroffen hätte, und selbst seiner Tante Lydia kam die Weichherzigkeit zu gute, mit der er ihr ganzes Geschlecht behandelte. Ob er Selbstbeherrschung genug haben würde, um immer so gutmütig und wohlthätig zu bleiben, wie seine gute Natur ihn trieb, das war eine Frage, die noch niemand gegen ihn entschieden hatte; er war ja erst einundzwanzig Jahre alt, und wer wird es wohl mit der Prüfung des Charakters so genau nehmen bei einem hübschen prächtigen jungen Menschen, der mal reich genug wird, um viele kleine Sünden gut zu machen, der z. B., wenn er unglücklicherweise beim raschen Fahren einem das Bein bricht, ihm ein hübsches Jahrgeld aussetzen kann, oder wenn er vielleicht mal eine Frau ruiniert, sie hinlänglich entschädigt durch kostbare Geschenke, die er mit eigner Hand einpackt und adressiert. Es wäre ja lächerlich, in solchen Fällen so genau zu untersuchen als handle es sich um Erkundigungen wegen eines Geheimsekretärs. Bei einem jungen Mann von Familie und Vermögen nimmt man allgemeine anständige Prädikate, und die Damen erkennen dann sogleich mit dem feinen Blick, der das auszeichnende Merkmal ihres Geschlechts ist, der junge Mann sei »sehr nett.« Die Wahrscheinlichkeit ist auch, daß er, ohne großes Ärgernis zu geben, durch's Leben geht, – ein seetüchtiges Fahrzeug, auf welches jede Gesellschaft eine Versicherung nimmt. Schiffe sind freilich Zufällen unterworfen, die bisweilen einen kleinen Fehler im Bau, welcher bei ruhiger See nie entdeckt wäre, zu schrecklicher Kunde bringen, und mancher »gute Kerl« ist schon durch eine unglückliche Verwicklung der Verhältnisse in gleicher Weise bloßgestellt worden.

Aber zu trüben Besorgnissen wegen Arthur Donnithornes ist kein rechter Grund; heute zeigt er ja, daß er fähig ist, einen klugen, gewissenhaften Entschluß zu fassen. Eins ist gewiß; die Natur hat dafür gesorgt, daß er nicht weit in die Irre gehen kann, ohne seine Ruhe und Selbstzufriedenheit zu verlieren; er wird nie über das Grenzland, so zu sagen, der Sünde hinauskommen und selbst da noch steten Angriffen von jenseits der Grenze ausgesetzt sein. Er wird nie ein Höfling des Lasters werden und dessen Ordensband im Knopfloch tragen.

Es war ungefähr zehn Uhr, die Sonne glänzte am Himmel und alles sah hübscher aus nach dem Regen des gestrigen Tages. Es ist angenehm, an einem solchen Morgen über den wohlgepflegten Kiesweg nach dem Stalle zu gehen und an einen Ausflug zu denken. Aber der Geruch von dem Stalle, der im gewöhnlichen Lauf der Dinge beruhigend auf einen Mann wirken müßte, regte in Arthur immer etwas Ärger auf. Es ging in dem Stalle durchaus nicht nach seinem Willen; in der ganzen Einrichtung herrschte der schmutzigste Geiz. Sein Großvater behielt hartnäckig einen alten Tölpel als ersten Stallknecht, den keine Gewalt der Erde von seiner altfränkischen Art abbrachte, und der noch dazu das Recht hatte, einige rohe Bauernbursche als Stalljungen anzunehmen. Das mußte natürlich den jungen Herrn ärgern; Unannehmlichkeiten im Hause – die mochten hingehen, aber sich im Pferdestalle ärgern zu müssen, das konnte Fleisch und Blut nicht vertragen, das war empörend.

Der alte Johann mit seinem hölzernen tiefrunzeligen Gesicht war das erste, was Arthur auf dem Hofe sah, und dieser Anblick verdarb ihm die ganze Freude über das Gebell der beiden Schweißhunde, die dort Wache hielten. Mit dem alten Dummkopf konnte er nie recht ruhig reden.

»Um halb zwölf Uhr muß Gretchen gesattelt an der Thür sein und ebenso Rattler für meinen Bedienten – hört Ihr, Johann?«

»Ja wohl, Herr Kaptän, ganz wie Sie befehlen,« sagte der alte Johann sehr langsam und folgte dem jungen Herrn in den Stall. In Johanns Augen war ein junger Herr der natürliche Feind eines alten Dieners und paßten junge Leute überhaupt nicht recht dazu, die Welt zu regieren.

Arthur trat in den Stall, um sein Lieblingspferd freundlich auf den Rücken zu klopfen, und sah sich sonst so wenig wie möglich um, damit er sich nicht schon vor dem Frühstück ärgere. Das hübsche Tier stand in einem der inneren Ställe und wandte seinen zarten Kopf dem eintretenden Herrn zu. Ein kleiner Wachtelhund, sein unzertrennlicher Freund im Stalle, hatte sich auf seinem Rücken behaglich zusammengekauert.

»Nun, mein hübsches Gretchen!« sagte Arthur und streichelte ihr den Hals, »wir werden diesen Morgen einen prächtigen Galopp machen.«

»Ja, Ihre Ehren werden entschuldigen, das geht doch nicht gut an.«

»Nicht gut angehen? Warum nicht?«

»Nu, Gretchen ist ein bißchen lahm.«

»Lahm, hol's der Henker! Wie geht das zu?«

»Nu, der Junge kam ihr mit den Kutschpferden zu nahe, und eins schlug aus, und da hat sie sich im Vorderbein etwas beschädigt.«

Was nun folgte, enthält sich der gewissenhafte Geschichtschreiber genau zu berichten. Es mag genügen, daß etwas stark geflucht wurde, daß der alte Johann dem jungen Herrn bei der Untersuchung des Beines so ruhig zusah, als wär' er ein künstlich geschnitzter Spazierstock aus Apfelholz, und daß Arthur bald wieder durch das Gärtchen am Hause zurückschritt, ohne wie vorher zu singen.

Er war in einer Hoffnung getäuscht und sehr verdrießlich. Außer Gretchen und Rattler waren keine andern Pferde für ihn und seinen Diener im Stalle. Es war sehr ärgerlich. Und grade, als er vorhatte, auf ein oder zwei Wochen zu verschwinden! Es war förmlich strafbar von der Vorsehung, die Verhältnisse sich so machen zu lassen. Eingeschlossen zu sein auf dem Gute mit einem noch nicht ganz geheilten Armbruch, während alle Regimentskameraden sich in Windsor amüsierten, – allein zu sein mit dem Großvater, der für ihn ungefähr so viel Gefühl übrig hatte wie für seine Hypotheken! Und sich auf Schritt und Tritt über die Einrichtungen des Hauses und des Gutes ärgern zu müssen! In einer solchen Lage gerät der Mensch notwendig in eine böse Laune und schafft sich den Ärger durch irgend eine Tollheit vom Halse. »Kamerad Salkeld tränke hier jeden Tag seine ganze Flasche Portwein,« brummte Arthur in sich hinein, »aber dazu bin ich doch nicht ausgepicht genug. Nun, da ich nicht nach Eagledale kann, so will ich mit Rattler nach Norburne galoppieren und bei Gawaine frühstücken.«

Dieser bestimmte Entschluß hatte seinen Hintergedanken. Wenn er bei Gawaine frühstückte und nachher noch ein bißchen die Zeit verschwatzte, dann kam er erst gegen fünf nach dem Gute zurück, und dann – war Hetty schon ganz ruhig bei der Haushälterin im Zimmer, und nachher, wenn sie wieder nach Hause ging, hielt er sein Mittagsschläfchen nach Tisch und blieb ihr so den ganzen Tag aus den Augen. Zwar sei ja eigentlich gar nichts dabei, meinte er, daß er gegen das kleine Ding freundlich wäre, und Hetty eine halbe Stunde anzusehen sei mehr wert, als mit einem halben Dutzend Ballschönheiten zu tanzen; indes, vielleicht sei es doch besser, wenn er sich gar nicht mehr um sie bekümmere; sie könnte sich was in den Kopf setzen, wie Irwine angedeutet hatte, obschon Arthur seinerseits die Mädchen durchaus nicht für so einfältig hielt, sie vielmehr im allgemeinen doppelt so kalt und berechnend gefunden hatte, als er selbst war. Und an wirklich schlimme Folgen war ja für Hetty gar nicht zu denken; da war Arthur sich doch selbst sicher genug, und diese seine eigene Sicherheit nahm er mit vollkommenem Vertrauen an.

So sah ihn denn die Mittagssonne nach Norburne galoppieren, und zum guten Glück lag ihm noch eine große Weide auf dem Wege, wo er sein Pferd einige tüchtige Sprünge machen lassen konnte. Ein paar Hecken und Gräben zu »nehmen« – da geht nichts drüber, um einen bösen Geist auszutreiben, und es ist wirklich zu verwundern, daß die Centauren, die doch in dieser Beziehung so viel voraus hatten, einen so schlechten Ruf in der Geschichte zurückgelassen haben.

Nach diesen Bemerkungen wird der Leser vielleicht überrascht sein zu hören, daß obgleich Gawaine zu Haus war, die große Hofuhr kaum drei geschlagen hatte, als Arthur schon wieder auf den Hof ritt, von dem keuchenden Pferde abstieg und hastig einige Bissen zum zweiten Frühstück nahm. Aber es hat auch wohl seit jenem Tage noch Leute gegeben, sollte ich denken, die eine weite Strecke geritten sind, um einem Rendezvous aus dem Wege zu gehen, und dann ebenso eilig zurückgaloppiert sind, um es nicht zu verpassen. Es ist ein beliebtes Manöver unsrer Leidenschaften, scheinbar den Rückzug anzutreten und dann scharf kehrt zu machen, wenn wir eben glauben, der Tag sei unser.

»Der Kaptän hat einen wahren Teufelsritt gethan,« sagte der Kutscher, der vor dem Stalle seine Pfeife rauchte, als Johann den Rattler am Zügel hereinführte.

»Und ich wollte, er hätte den Teufel zum Stallknecht,« fluchte Johann.

»I ja, da hätt' er einen viel liebenswürdigern Stallknecht als jetzt,« antwortete der Kutscher, und sein eigener Witz gefiel ihm so gut, daß er noch lange nachher seine Pfeife aus dem Munde behielt und still vergnügt grinste und lachte.

Als Arthur wieder in sein Ankleidezimmer trat, ging ihm der Kampf, den er dort einige Stunden vorher in seinem Innern durchgemacht hatte, unwillkürlich wieder durch den Kopf; aber jetzt war es ihm unmöglich, bei dieser Erinnerung zu verweilen, unmöglich, die Empfindungen und Gedanken sich wieder zurückzurufen, welche damals für ihn entscheidend gewesen waren. Das Verlangen, Hetty zu sehen, war wie ein schlecht gestauter Strom auf ihn zurückgestürzt; er war selbst erstaunt, mit welcher Gewalt diese »harmlose Spielerei« ihn zu packen schien; ja und zitterte er nicht förmlich, als er sich das Haar bürstete? Pah, das kam von dem halsbrechenden Galoppieren! Oder vielleicht auch daher, daß er eine unbedeutende Sache so ernst genommen, daß er darüber nachgedacht hatte, als hätte sie irgend was zu bedeuten. Er wollte sich amüsieren, wollte Hetty heute sehen und sich dann die ganze Geschichte aus dem Kopfe schlagen. Eigentlich hatte Irwine die ganze Schuld. »Wenn Irwine gar nichts gesagt hätte, ich hätte sicher nicht halb so viel an Hetty gedacht als an Gretchens lahmes Bein.« Indes es war so recht ein Tag, um in der Einsiedelei zu faulenzen; er wollte hingehen und vor Tisch seinen Roman zu Ende lesen. Die Einsiedelei lag im Tannenwäldchen, und Hetty mußte da vorbei, wenn sie vom Pachthof kam. Nichts war also einfacher und natürlicher: das Zusammentreffen mit Hetty war bei seinem Spaziergange bloßer Zufall und nicht Zweck.

Arthurs Schatten glitt unter den stämmigen Eichen des Parkes etwas schneller dahin, als man von dem Schatten eines ermüdeten Menschen an einem warmen Nachmittage hätte erwarten sollen, und es war kaum vier Uhr, als er schon vor der hohen, schmalen Pforte am Eingange des reizenden, dicht verwachsenen Waldgeheges stand, welches das Gut von einer Seite begrenzte und das Tannenwäldchen hieß, nicht weil so viele Tannen drein gestanden hätten, sondern weil es so wenige waren. Es war ein Gehölz von Buchen und Linden, hier und da eine helle Birke mit silbernem Stamm dazwischen – so recht ein Wäldchen, wie es die Nymphen lieben: man sieht ihre weißen, sonnenbeschienenen Glieder durch die Büsche leuchten oder hinter dem moosigen Stamm einer hohen Linde hervorlauschen; man hört ihr sanftes, helles Lachen, – aber wenn wir gar zu neugierig und frech hinblicken, dann verschwinden sie hinter den Silberbirken und machen uns glauben, die Stimmen, die wir gehört, seien von dem murmelnden Bach gekommen, oder sie verwandeln sich wohl gar in ein braunes Eichhörnchen, welches munter davonhüpft und uns oben aus dem Baum spöttisch anblickt. Es war nicht ein Hain mit scharfkantigem Rasen und wohlgehegten Kieswegen zum Spazierengehen, sondern ein Gehölz mit schmalen, hohlen Fußwegen, die mit spärlichen Fleckchen zarten Mooses eingefaßt sind und beinahe aussehen, als hätten die Bäume und das Gebüsch sie selbst gemacht, seien etwa ehrfurchtsvoll ausgewichen, um die schlanke Königin der weißfüßigen Nymphen durchzulassen.

Auf dem breitesten dieser Fußwege ging Arthur Donnithorne, unter einem hohen Laubengang von Linden und Buchen. Es war ein stiller Nachmittag; das goldne Licht weilte lässig oben in den Zweigen und blickte nur hier und da auf die rötliche Erde des Fußweges und die Einfassung von zart gesprenkeltem Moose herab; es war ein Nachmittag, an welchem das Schicksal sein kaltes, furchtbares Antlitz hinter einem Schleier von Strahlendunst verbirgt, uns mit warmem, weichem Fittig umfängt und mit duftigem Veilchenhauch vergiftet. Arthur schlenderte sorglos dahin; er trug ein Buch unter dem Arm, sah aber nicht auf den Boden, wie einer beim Nachdenken wohl thut; unwillkürlich hefteten sich seine Augen auf die Biegung des Weges weit vor ihm, wo eine kleine Gestalt gewiß bald hervorkommen mußte. Ah, da kommt sie: zuerst ist's nur ein heller, farbiger Fleck, als wenn ein tropischer Vogel zwischen den Zweigen durchhuschte; dann eine trippelnde Gestalt mit einem runden Hute und einem kleinen Korbe im Arm; und endlich ein tief errötendes, beinah furchtsames, aber lieblich lächelndes Mädchen, das mit einem scheuen, aber vergnügten Blick ihren Knix macht, als Arthur zu ihr tritt. Hätte Arthur Zeit gehabt, überhaupt etwas zu denken, so hätte er es gewiß seltsam gefunden, daß auch er sich verlegen fühlte, auch er, wie er wohl merkte, errötete – kurz, daß er so thöricht aussah und sich selbst so thöricht vorkam, als sei er überrascht worden, während er doch die Zusammenkunft gerade so erwartet hatte. Die armen Dinger! Wie schade, daß sie nicht mehr in den goldenen Tagen der Kindheit waren; dann hätten sie sich mit schüchterner Neigung angesehen, hätten sich geküßt wie Schmetterlinge und wären davon gehüpft, um zusammen zu spielen; dann wäre Arthur nach Haus gegangen in sein Bettchen mit den seidenen Vorhängen und Hetty auf ihr Kissen mit dem groben Leinen, und beide hätten geschlafen ohne zu träumen und morgen hätten sie kaum an das Gestern wieder gedacht.

Arthur kehrte um und ging neben Hetty her, ohne ein Wort zu sagen. Zum erstenmal waren sie allein. Wie überwältigend diese erste Vertraulichkeit war! Die ersten paar Minuten wagte er förmlich nicht, das kleine Milchmädchen anzusehen, und Hetty! – ihre Füße schwebten wie auf Wolken, und milde Lüfte trugen sie vorwärts; sie hatte ihre Rosabänder vergessen; sie hatte so wenig ein Gefühl von ihren Gliedern, als wäre ihre junge Seele in eine Wasserlilie eingezogen, die auf flüssigem Grunde ruht und von den Strahlen der Sommersonne erwärmt wird. Es klingt vielleicht wie ein Widerspruch, aber Arthur erhielt durch seine Schüchternheit eine gewisse Sorglosigkeit und Ruhe; sein geistiger Zustand war ganz anders, als er bei einer solchen Zusammenkunft mit Hetty erwartet hatte, und so sehr ihn unbestimmte Ahnungen erfüllten, so hatte er doch in diesen Augenblicken des Stillschweigens Raum für den Gedanken, wie ganz überflüssig seine Bedenken von heute früh gewesen seien.

»Sie thun recht, diesen Weg nach dem Schlosse zu nehmen,« sagte er endlich und blickte auf Hetty nieder; »er ist sehr viel hübscher und auch kürzer als die Fahrwege.«

»Ja wohl, Herr,« antwortete Hetty mit bebender, fast flüsternder Stimme. Sie wußte nicht im mindesten, wie man mit einem solchen Herrn sprechen müsse, und aus bloßer Eitelkeit wurde sie noch verlegener beim Sprechen.

»Besuchen Sie Frau Pomfret jede Woche?«

»Ja, jeden Donnerstag, Herr, ausgenommen, wenn sie mit Fräulein Donnithorne ausgehen muß.«

»Und sie unterrichtet Sie, nicht wahr?«

»Ja, Herr; ich lerne bei ihr Spitzen ausbessern und strickstopfen; es sieht gerade so aus, wie der Strumpf selbst, man sieht gar nicht, daß es gestopft ist; und zuschneiden lehrt sie mich auch.«

»Wie, wollen Sie denn Kammerfrau werden?«

»O ja, das würde ich sehr gern.« Hetty sprach schon etwas lauter, aber immer noch mit zitternder Stimme; sie dachte, der junge Herr müsse sie gerade so dumm finden, wie sie den jungen Pachter Lucas.

»Und Frau Pomfret erwartet Sie immer um diese Zeit?«

»Ja, sie erwartet mich um vier Uhr. Heut' hab' ich mich etwas verspätet, weil meine Tante mich nicht so früh entbehren konnte; aber die gewöhnliche Stunde ist vier Uhr; wir haben dann Zeit, bis Fräulein Donnithorne klingelt.«

»O, dann darf ich Sie jetzt nicht aufhalten; ich zeigte Ihnen sonst gern die Einsiedelei. Haben Sie die schon gesehen?«

»Nein, Herr, noch nicht.«

»Dieser Weg hier führt dahin. Aber jetzt dürfen wir nicht hingehen. Ich zeige sie Ihnen ein andermal, wenn Sie Vergnügen daran finden.«

»Ja wohl, Herr, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

»Kommen Sie diesen Weg immer des Abends zurück, oder sind Sie bange und ist er Ihnen zu einsam?«

»O nein, Herr, es ist dann noch nicht spät; ich gehe immer um acht Uhr wieder fort, und jetzt ist es des Abends so hell. Tante würde böse, wenn ich nicht vor neun Uhr wieder zu Hause wäre.«

»Gärtner Craig kommt wohl und begleitet Sie, ja?«

Eine tiefe Röte verbreitete sich über Hettys Gesicht und Nacken. »Nein, ganz gewiß nicht; er hat es noch nie gethan; ich würd' ihm das nicht erlauben; ich mag ihn gar nicht leiden,« sagte sie hastig und die Thränen waren ihr vor Ärger so rasch gekommen, daß noch während sie sprach, die hellen Tropfen ihr die heiße Wange hinunterliefen. Dann fühlte sie sich tödlich beschämt über ihr Weinen, und einen langen Augenblick war all ihr Glück dahin. Aber im nächsten Augenblick fühlte sie sich von einem Arme umfaßt und eine sanfte Stimme sagte:

»Nun, Hetty, warum weinen Sie denn? Ich wollte Sie ja nicht kränken. Nicht für die ganze Welt möcht' ich das, Sie kleine Knospe. Nur still, weinen müssen Sie nicht; sehen Sie mich an, sonst muß ich glauben, Sie wollen mir nicht vergeben.«

Arthur hatte seine Hand auf den zarten Arm gelegt, der ihm am nächsten lag und beugte sich mit schmeichelnd flehendem Blick zu Hetty nieder. Hetty schlug ihre langen, feuchten Wimpern auf und sah ihm in die Augen, die so süß und schüchtern und flehend auf sie gerichtet waren. Welch' eine Ewigkeit waren die drei Augenblicke, als ihre Augen sich trafen und seine Arme sie berührten! Die Liebe ist ein so einfältig Ding, wenn wir erst einundzwanzig Jahre alt sind und ein liebliches Mädchen von siebzehn Jahren unter unserm Blicke zittert, als wäre sie eine Knospe, die zum erstenmal ihr Herz mit staunendem Entzücken dem Morgen erschließt. Solche junge frische Seelen fließen so leicht in einander wie zwei Bäche, die nichts wollen als sich vereinigen und mit stets verschwimmendem Gekräusel dahinrieselnd unter dem dichtesten Laube sich verstecken. Als Arthur der kleinen Hetty in die dunkeln, bittenden Augen sah, da war es ihm einerlei, was für ein Englisch sie sprach, und wären selbst Reifröcke und Puder Mode gewesen, er hätte damals gewiß nicht bemerkt, daß Hetty diese Feinheiten entbehrte.

Aber plötzlich fuhren sie mit klopfenden Herzen von einander: laut raschelnd war etwas zur Erde gefallen, es war Hettys Körbchen; all ihr kleines Nähzeug war auf dem Wege verstreut. Es nahm viel Zeit weg, alles wieder zusammenzusuchen, und nicht ein Wort wurde dabei gesprochen, und als Arthur ihr das Körbchen wieder auf den Arm hing, merkte das arme Kind an ihm einen sonderbaren Wechsel in Blick und Haltung. Er drückte ihr nur eben die Hand und sagte mit einem Blick und Tone, daß es sie beinahe kalt überlief:

»Ich habe Sie aufgehalten und darf Sie jetzt nicht länger stören. Man erwartet Sie im Schloß. Guten Tag.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich ab und eilte den Weg nach der Einsiedelei zurück. Hetty ging ihres Weges weiter wie in einem Traume, der mit einem Rausch von Entzücken angefangen zu haben schien und nun in Widerwärtigkeit und Trauer überging. Ob er ihr wohl wieder entgegenkäme, wenn sie nach Haus ginge? Und warum hatte er beinahe so gesprochen, als wäre er ihr böse? Und warum war er so plötzlich weggestürzt? Sie weinte und wußte kaum warum.

Auch Arthur fühlte sich seinerseits recht unbehaglich, sah aber seine Empfindungen im Lichte eines klareren Bewußtseins. Er stürzte nach der Einsiedelei, die mitten im Gehölze stand, schloß die Thür mit heftigem Griffe auf, warf sie hinter sich zu, schleuderte seinen Roman in die hinterste Ecke und ging, die rechte Hand in der Tasche, einigemale in dem kleinen Zimmer auf und ab und setzte sich dann steif und unbequem auf das Sofa, wie man wohl zu thun pflegt, wenn man sich seinen Gefühlen überlassen will.

Er war verliebt in Hetty – das war ganz klar. Er war bereit, alles andere zum – dahin zu schicken, wo der Pfeffer wächst, um sich ganz dem köstlichen Gefühle hinzugeben, das er eben entdeckt hatte. Es half nichts mehr, sich gegen die Thatsache zu verschließen, daß sie sich zu lieb bekommen würden, wenn er sich noch länger um sie bekümmere – und was würde die Folge sein? Er selbst ginge in einigen Wochen fort und das liebe kleine Ding wäre unglücklich. Er durfte sie nicht wieder allein sehen, er mußte sie vermeiden. Was für 'ne Narrheit, nicht bei Gawaine zu bleiben!

Arthur stand auf und öffnete das Fenster, um die weiche Nachmittagsluft hereinzulassen und den gesunden Duft der Tannen, welche die Einsiedelei ringsum einfaßten. Die weiche Luft half ihm nicht bei seinen Entschlüssen, als er sich hinauslehnte und durch das Laub in die Ferne blickte. Aber sein Entschluß stand ihm ganz fest; er brauchte nicht länger zu überlegen. Er hatte mit sich ausgemacht, Hetty nicht wieder zu sehen, und so konnte er sich jetzt dem Gedanken hingeben, wie außerordentlich angenehm es wäre, wenn die Verhältnisse anders lägen, – wie hübsch es gewesen wäre, sie diesen Abend auf dem Rückweg wieder zu treffen und sie in den Arm zu schließen und ihr in das süße Gesicht zu sehen. Ob das liebe kleine Ding auch wohl an ihn dächte? Zwanzig gegen eins, gewiß. Wie schön ihre Augen waren mit den Thränen in den Wimpern! Ach, einmal möchte er seine Seele sättigen und sie einen ganzen Tag ansehen, und er müsse sie auch wiedersehen! – natürlich müsse er sie wiedersehen, schon um ihr jeden falschen Eindruck zu benehmen über die Art, wie er sich eben gegen sie benommen. Er wollte ganz ruhig und freundlich mit ihr sein, – er mußte sie nur sprechen, ehe sie nach Hause ginge, damit sie sich nichts in den Kopf setze. Ja, ja, alles in allem genommen war das doch gewiß das beste.

Es hatte lange gedauert, länger als eine Stunde, ehe Arthur mit seiner Überlegung so weit gekommen war, und nun, da er einmal so weit gekommen, ließ es ihn nicht länger in der Einsiedelei. Die Zeit, bis er Hetty wiedersähe, konnte er nicht still sitzen. Auch war es schon spät genug, er mußte sich noch zu Tische ankleiden, und um sechs Uhr wurde bei seinem Großvater gegessen.


 << zurück weiter >>