Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es wird eine Zeit kommen, in der man
keinen anderen Gedanken denkt als den der
Erziehung.
Nietzsche.
Unsere moderne Pädagogik beruht auf philosophisch-wissenschaftlicher Grundlage, das heißt, die eigentlichen Ziele und der Geist der Erziehung werden der Erkenntnislehre entnommen. Das Leben oder die Lebenserfahrung lenkt unsere pädagogischen Grundsätze. Welche Art von Erziehung die junge Frau für ihr Kind wählt, wird also davon abhängen, was für ein Mensch sie ist, unter was für Daseinsbedingungen sie existiert, was für eine Weltauffassung ihr eignet. Wie jeder Mensch eine andere Weltanschauung hat, so werden auch die Ziele der Erziehung bei den einzelnen weit auseinandergehen.
Daß bei der Umwälzung unserer Lebensverhältnisse die ganze Erziehungsfrage wieder auf eine völlig neue Basis gestellt werden muß, daß z. B. zur Einfachheit, zur Sparsamkeit, zur Arbeit angehalten wird, ist einleuchtend. Gerade jetzt ist eine zweckdienliche Erziehung die beste Mitgift, die man seinem Kinde geben kann.
Eine Erziehung soll zugleich universell und individuell sein, das heißt, der einzelne soll der Gemeinschaft angegliedert werden, ohne seine Persönlichkeit zu verlieren. Das ist die Lehre Schleiermachers, in dessen Katechismus für Frauen folgendes Gebot steht: »Ehre die Eigentümlichkeit und die Willkür deiner Kinder, auf daß es ihnen wohlgehe und sie kräftig leben auf Erden!« Das ist kein Gebot bequemer Nachgiebigkeit – es ist ein Verlangen nach Ergründung des kindlichen Wesens, eine Sehnsucht nach Erkenntnis. Kenne ich mein Kind, so werde ich auch wissen, was ihm frommt.
Eine ganze vergangene Epoche befolgte die erzieherischen und religiösen Grundsätze, die Rousseau in seinem lehrhaften Roman oder romanhaften Lehrbuch »Emile« aufstellte (theoretisch aufstellte, denn man weiß, daß Rousseau seine eigenen Kinder gleich nach ihrer Geburt zu fremden Leuten gab, also keinen persönlichen Einfluß auf ihre Erziehung ausübte). Sein großes Verdienst war, das Gewissen der Mütter aufgeweckt, den Weg der Rückkehr zur Natur gewiesen zu haben. Wie der Engländer Locke, von der Voraussetzung ausgehend, der Mensch sei von Natur gut und tugendhaft, schildert Rousseau einen Knaben, der, unter günstigen Lebensbedingungen aufgewachsen, sich zu einem wohlgeratenen Menschen entwickelt. Nach seinem Axiom: »Alles ist gut, wie es aus des Schöpfers Hand hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen«, verlangt er für das Kind die Erziehung in der Natur und durch die Natur, nicht eine Erziehung zur Kultur, die es verdirbt. Im Gegensatz zu Helvetius, der meint: »der Mensch ist nichts ohne das Werk des Menschen.« Hier liegt der Irrtum der Rousseauschen Theorie, denn der Mensch soll durch die Macht der Erziehung über seine individuelle Natur emporgehoben werden.
Ellen Key knüpft in ihrem »Jahrhundert des Kindes« an Rousseaus Ideen an; sie behandelt das gleiche Thema des guten Kindes, das in glücklicher Umgebung gedeiht; auch sie vertritt den Grundsatz: »Das Kind ist gut, es fehlt ihm die Anlage zum Bösen.« So denken die Dichter. Grillparzers Libussa spricht am Ende ihres Lebens das gewichtige Wort: »Der Mensch ist gut.« Ellen Key will nicht, daß das Kind körperlich gezüchtigt werde, sie straft es an der Ehre; sie weckt und befestigt sein kleines Ehrgefühl. Sie verlangt Strafen, die den Vergehen entsprechen, z. B. strenge Isolierung, wenn das Kind unverträglich ist. Viele Mütter haben den Versuch gemacht, ihr Kind nach diesen Rezepten aufzuziehen. Einigen gelang es, den meisten nicht. Ellen Keys prachtvolles und leidenschaftliches Buch ist letzten Endes doch wie Rousseaus Emile mehr Theorie, mehr »Traumbuch«. Für unser Gefühl ist auch in beiden Werken der soziale Einschlag allzu schwach.
Stärker findet er sich später bei Pestalozzi. Auch er, der überragende Volkspädagoge, wurzelt mit seinen erzieherischen Grundgedanken fest im Boden der Natur. Er sagt: »Die Erziehung ist nur die Kunst des Gärtners, unter dessen Sorge tausend Bäume blühen und wachsen. Er tut nichts zum Wesen ihres Wachstums; das Wesen ihres Wachstums und Blühens liegt in ihnen selber.« Aber Pestalozzis Liebe zum Kinde war nicht wie bei Rousseau nur theoretisch, sie war praktisch tief und zu Opfern bereit. Er gründete eine Armenschule und ein Institut für Knaben und Mädchen. Er will die Erziehung des Kindes in die Familie, in die Hand der Mutter gelegt wissen. In seiner »Gertrud« schuf er das Muster einer wahren, zu solcher Aufgabe befähigten Mutter.
Was Ellen Key praktisch nur sehr bedingt löste, das ist das schwierige Problem der wirkungsvollen Strafe. Früher bevorzugte man harte exemplarische Züchtigungen, die oft in gar keinem Verhältnis standen zu dem Vergehen, das sie hervorgerufen hatte. Die moderne Mutter weiß, daß sie durch Strafe den Anlaß zur Strafe nicht beseitigt; wie man durch Aspirin wohl das momentane Fieber, nicht aber die Krankheit aus der Welt schafft. Außerdem verlangen andere Zeiten andere Strafen. Welche Mutter entzieht ihrem Kinde heute noch ein Gericht, eine Speise! Die harte Strafe wird für ein gutes Kind darin bestehen, daß die Mutter über seine Unarten sehr traurig ist. Ein ausgezeichnetes Muster, wie eine Frau ihren Sohn züchtigt, der sich des mütterlichen Staatskleides bemächtigt und als Mädchen verkleidet hat, liefert eine berühmte Novelle Gottfried Kellers. Frau Regula Amrain ist ihrem jüngsten in die windige Gesellschaft nachgeschlichen. Der Sohn will die Mutter nach Hause begleiten; sie aber flüstert ihm in strengem Tone zu: »Wenn ich von einem Weibe will begleitet sein, so konnte ich die Grete hier behalten, die mir hergeleuchtet hat! Du wirst so gut sein und erst heimlaufen, um dir Kleider anzuziehen, die dir besser stehen als diese hier.« Fritz aber schämte sich vor seiner Mutter und war gerettet. Jedenfalls soll man so selten wie möglich strafen, und straft man, so soll man merken lassen, daß es nur ungern geschieht. Oft wirkt auch ein Blick, eine flüchtige Andeutung.
Ein gut veranlagtes Kind wird durch das Vertrauen, das man ihm schenkt, am leichtesten zu leiten sein. Setzt man voraus, daß es artig, daß es fleißig ist, daß es nie die Unwahrheit sagt, usw., so wird es sich alle Mühe geben, das Vertrauen zu rechtfertigen; es wird so sein wollen, wie wir es sehen, es wird uns nicht enttäuschen wollen. Um den Beweis zu erbringen, wie erzieherisch Vertrauen wirken kann, erzählt F. W. Förster folgende Anekdote: In England gab es einmal eine durch und durch verlogene Schule. Da kam ein neuer Direktor und der glaubte jedem aufs Wort. Da hieß es bald »dem darf man nichts aufbinden«. Und er rettete die ganze Schule. Auch Förster ist gegen Tadeln und Schelten. Die Hauptaufgabe des Erziehers sei: dem Kinde den Weg zum Guten zu erleichtern. Man soll im anderen den Wunsch erregen, das Rechte zu tun. Ausrichten muß man ihn, nicht niederschlagen. Dies deckt sich ungefähr mit Gabriele Reuters Ausspruch: »Erziehung sollte heißen: das Werden eines Menschen belauschen und ihm dann helfen, auf daß er selbst sein Eigenstes zu reicher und fruchtbarer Reife fördere.«
Beobachtet die Mutter, daß ihr Kind Neigung zu bösen Dingen, zum Lügen, zum Ungehorsam, zur Faulheit hat, so soll sie nicht Moral predigen (»Moralen machen immer den Starrkopf nur noch schlimmer«), sondern sie soll nachspüren, ob z. B. ihres Kindes Hang zur Lüge oder zur Uebertreibung etwa auf das Konto einer reichen Phantasie zu setzen sei, so daß das Kind sich dessen gar nicht bewußt ist, was es tut, oder ob es vielleicht von seiner Umgebung irgendwelche Unarten übernommen hat, die ihm nur locker anhaften und ihm leicht abzunehmen sind, wie man die Raupe abnimmt vom Blatt. Auf jeden Fall muß man Geduld haben, muß man versuchen, dem Kind die Häßlichkeit seiner Handlungsweise klar zu machen, ihm die schlimmen Folgen usw. vorstellen. Auch das eigensinnige Kind, das auf den ersten Anschein keine Vernunft annimmt, wird allmählich die Dinge verstehen, die man ihm klarmacht; vielleicht nicht sofort, aber doch später wird die Mutter zu ihrer Genugtuung erfahren, daß ihr Wort schließlich nicht auf steinigen Boden gefallen ist. Vor allem aber muß die junge Mutter sich hüten, Unentschlossenheit oder ein Schwanken der Meinung zu zeigen; die Hand, die das Kind leitet, muß fest und stark sein. »Hast du verboten, so bleibt es dabei; hast du versprochen, so wird es erfüllt.«
Nun gibt es zwei pädagogische Grundströmungen. Die eine vertritt die Ansicht, daß sich durch Erziehung auf den Charakter des Kindes einwirken läßt, die andere, daß alle Erziehung vergeblich sei, daß der Charakter des Menschen im Kinde beschlossen ruhe und es unnötige Mühe sei, daran herumzumodeln. »Die Kindheit zeigt den Mann, wie der Morgen den Tag zeigt«, schrieb Milton. Auch hier wird die Wahrheit in der Mitte liegen. Es gibt Beispiele, die bezeugen, daß beide Parteien recht haben. An eingeborenen Fehlern, an festgewurzelten Neigungen wird man wohl etwas mildern können, ganz unterdrücken kann man sie kaum. Montaigne, der, wie sein Nachfahr Rousseau, die Natur als die große Lehrmeisterin der Menschheit anerkannt und sich gleichfalls viel mit Erziehungsfragen beschäftigt hat, spricht so: »Angeborene Neigungen fördern sich gegenseitig und wachsen oft durch die Erziehung, nur selten wandelt und überwindet man sie. Bei tausend Naturen habe ich erlebt, daß sie tugend- oder lasterhaft geworden sind. Solche anhaftenden Leidenschaften rottet man schwer aus; man verdeckt und verbirgt sie meistens nur.«
Anderseits läßt sich natürlich fast auf jeden Menschen z. B. durch vorbildliches Betragen ein veredelnder Einfluß gewinnen. Ein vornehmer Mensch kann eine Atmosphäre um sich schaffen, in die sich nichts Unedles hineinwagt. Es gibt Naturen, die zu Führern der Jugend wie berufen erscheinen, allein durch die Art, wie sie durchs Leben gehen, wie sie sich in jede Lage, auch in die schwierigste, würdig zu schicken wissen und eine unerschütterliche Ruhe bewahren, wenn alles um sie herum wankt. Als Stempel für die Besserungsmöglichkeiten, die eine aufmerksame Erziehung fördern kann, möchte ich anführen, was der große Delacroix von sich erzählt: »Ich erinnere mich sehr wohl: als Kind war ich ein Scheusal. Die Kenntnis der Pflicht erwirbt man nur sehr langsam; bloß durch den Schmerz, durch Strafe und die fortschreitende Uebung der Vernunft vermindert der Mensch nach und nach seine natürliche Schlechtigkeit.«
So viele jungen Paare, die jetzt heiraten, sind anscheinend selber noch recht erziehungsbedürftig. Nicht was die äußeren Manieren betrifft, die sind gewöhnlich ausgezeichnet – bestand doch ihre wesentliche Erziehung in der Eintrichterung guter Lebensart –, nein, geistig sind sie unreif. Nach einiger Zeit hört man, daß sie ein Kind bekommen haben, und nun überlegt man, wie werden sie wohl das Kind erziehen, unvorbereitet wie sie sind. Unfähig sich in die Seele ihrer Mitmenschen hineinzufühlen, empfangen sie auf einmal dieses kleine große Wunder, das man Kind heißt. Für sein leibliches Wohlbefinden, für seine Nahrung sorgen geschulte Pflegerinnen. Aber die Zeit vergeht schnell. Werden jetzt die Eltern menschlich so weit gediehen sein, daß sie ihrem Kinde ein Vorbild sein können, dem es nachzustreben vermag? Die beste Erziehung bleibt immer das gute Beispiel. Um seinen Kindern ein Führer zu werden, dazu gehört eine moralische Reife, ein Grad der Kultur, die erworben sein wollen. Das Kind muß zu den Eltern emporsehen können. »Wie wir sind, sind unsere Kinder«, sagt Herder. Daß die Bildung des Menschen von den Müttern abhängt, darin sind alle Pädagogen einig. Dessen sollten sich alle Mütter bewußt bleiben und damit zugleich der großen Verantwortung, die auf ihnen ruht.
Ein kleines Beispiel sinnloser Kinderbehandlung erlebte ich vor einigen Jahren in »Drei Aehren« über Kolmar, einer Sommerfrische, die damals zwar deutsch, doch schon halb französisch war. Neben mir wohnte ein junges Pariser Ehepaar, das einen zweijährigen Jungen, Peterchen, hatte, mit dem es ununterbrochen beschäftigt war, das heißt, man quälte den kleinen Bengel. Ließ Peterchen sich nicht die Nase putzen, so belehrte ihn sein Vater: »Il faut être coquet, Pierrot, pour plaire aux filles.« Den ganzen Tag fragte man ihn: »Tu as du chagrin, Pierrot?« Weshalb sollte Pierrot wohl »chagrin« haben? Eines Tages, da sein Vater ihn furchtbar prügelte und dabei schrie: »Voilà, ça t'apprendra à salir ta culotte!«, und Pierrot entsetzlich brüllte, nun, da er wirklich Kummer hatte, fragte ihn niemand: »Tu as du chagrin, Pierrot?«
In London und Paris ist es beinah Sitte, daß Mütter ihre Kinder fortgeben, aufs Land, häufig allerdings, weil ihr Beruf sie hindert, sich gewissenhaft um ihre Kinder zu kümmern, oder weil die schwache Konstitution der Kleinen die Stadtluft nicht verträgt, sehr oft aber auch deshalb, weil diese Mütter, die keine sind, in ihrer Lebensführung unbehindert sein, von allen »Erziehungsfesseln« frei sein wollen. Die Mutterschaft sei der Patriotismus der Frauen, sagt Dumas in seiner »Francillon« und wußte wohl warum. Diese Art unpatriotischer Mütter trifft man bei uns selten; immerhin legen die meisten Mütter, aus ähnlichen Gründen, die Sorge um ihr Kind in die Hände von Dienstboten, die sie kaum oder nur wenig kennen. Um die schlechte Mutter zu charakterisieren, schrieb Jean Paul bitter: »Verächtlich ist eine Frau, die Langeweile haben kann, wenn sie Kinder hat.« Ellen Key griff das Wort auf und meinte nicht weniger bitter: Jean Paul würde heut einen Typus von Müttern sehen, die sich nur langweilen, wenn sie ihre Kinder um sich haben …
Ich würde das Ueberantworten der Kinder an solche Dienstboten berechtigt finden, bei denen das Kind besser als bei der Mutter aufgehoben sein könnte, was allerdings für die Mutter um so beschämender wäre. Solche Personen sind so selten wie der Paradiesvogel. Wenn Lichtenbergs Bemerkung richtig ist, daß man zu Kindern immer Leute halten müsse, die nur um ein weniges weiser sind als sie selbst, so könnte man meinen, die Gattung Kinderfräulein, die uns zur Verfügung steht, sei ihrer Aufgabe durchaus gewachsen. Aber selbst das sogenannte gebildete Kinderfräulein weiß selten die Fragen eines aufgeweckten Kindes richtig zu beantworten, versteht kaum, es sinnreich zu beschäftigen. Das Kind langweilt sich und aus Langeweile entsteht Ungezogenheit. Sympathisch sind mir eigentlich nur die im Fröbelhaus ausgebildeten Erzieherinnen; sie haben wenigstens gelernt, daß das Spiel den Kindern eine Betätigung ist. Fröbel, Pestalozzis genialer Schüler und Vollender, begründete unsere Kindergärten, die sich inzwischen die Welt erobert haben. Er will das freie selbsttätige Schaffen durch das Spiel zur Grundlage der Erziehung machen; er dachte vielleicht an die Idee Montaignes: »Die Spiele der Kinder sind kein Spiel; bei ihnen muß man das Spiel so beurteilen, als handele es sich um ihr ernstestes Tun und Wirken.« Vielleicht auch an Jean Pauls Ausspruch: »Spiele, d. h. Tätigkeiten, nicht Genüsse erhalten Kinder heiter.«
Fröbels Erfüllerin war wiederum die italienische Doktorin Maria Montessori. In ihrem berühmten Buche »Die Selbsterziehung in den Elementarschulen« baut sie Fröbels Grundgedanken zu einem wissenschaftlichen, weit über die Kindergärten hinausreichenden System aus, einem System, das den Vorzug praktischer Verwendbarkeit hat. Diese gedanken- und empfindungsreiche Frau, deren Werk jede deutsche Mutter lesen sollte, haßt alle pädagogische Spekulation und kennt nur das Leben. Ihre Lehre und Lehrmittel sind von sehr vielen ernsthaften Kindererziehungsanstalten schon mit großem Erfolge angenommen worden, u.a. auch von unserem Pestalozzi-Fröbel-Haus. Maria Montessori drängt die Erzieherin in ein ganz neues Verhältnis zum Kinde, indem sie vor allen Dingen Freiheit für das Kind fordert. Die Freiheit die sie meint, perhorresziert den Tadel, die Drohung, die Strafe, lehnt alles ab, was ernst und traurig macht. Doch ebenso wie sie die Strafe ablehnt, lehnt sie Lohn und Auszeichnung ab. Strafe und Lohn sind nur Reizmittel zu erzwungener Leistung; bei ihrer Anwendung kann nicht mehr von einer natürlichen Entwicklung des Kindes die Rede sein. Die Lehrerin soll Helferin, Leiterin sein, nichts weiter; vom Kinde selbst soll sie die erzieherische Vervollkommnung lernen. Alle Pädagogik litt am Geiste der Unterwürfigkeit; das Kind soll sich gleichsam unter eigener Verantwortung erziehen, durch Mittel, die ihm an die Hand gegeben werden. Durch praktische Spiele lernt es sich selbst ankleiden, auskleiden, bedienen usw.; es soll mit Freude entdecken, was es alles vermag. Der Erwachsene, der schnell und ohne Anstrengung die kindlichen Handlungen erledigen könnte, soll nicht zum Kinde sagen, es sei zu langsam, und dann die Sache selbst machen; wir sollen geduldig dem Kinde seine Zeit lassen. So lernt das Kind sich bewegen und etwas Nützliches tun, lernt Selbständigkeit. Wie Ellen Key, will Maria Montessori nicht, daß man ein Kind hart anpacke. In ihrem Kinderheim sondert sie die Kinder, die der Zucht widerstreben, von den anderen ab; sie stellt ein Tischchen in die Ecke des Zimmers und setzt das Kind davor in ein Stühlchen, so daß es seine arbeitenden Kameraden sehen kann. Diese Absonderung beruhigt das Kind; die intensive Art, wie seine Kameraden sich ihrer Beschäftigung hingeben, wird ihm zu einer gegenständlichen Lektion, die weit wirksamer ist als alle strafenden Worte des Lehrers. Allmählich kommt das Kind zur Einsicht, wie gut es sei, mit zu der Gemeinschaft zu gehören, die vor seinen Augen sich so emsig regt, und bald wünscht es aufrichtig, sich dahin zurück zu begeben und mit den anderen arbeiten zu dürfen.
Das abgesonderte Kind wird von Maria Montessori immer mit ausgesuchter Sorgfalt behandelt, als ob es krank sei. »Wenn ich selbst das Schulzimmer betrat, ging ich gleich auf ein solches Kind zu und war zärtlich zu ihm, als ob es ein ganz kleines Baby wäre. Dann wandte ich mich an die anderen, interessierte mich für ihre Beschäftigung und richtete Fragen an sie, als ob sie kleine Erwachsene wären. Ich weiß nicht, was in der Seele eines Kindes vor sich ging, das wir besonderer Zucht unterwerfen mußten; jedenfalls war die Besserung immer vollständig und anhaltend.«
Unter Erziehung also im Sinne Maria Montessoris ist die aktive Hilfe zu verstehen, mit der man die normale Entwicklung des Kinderlebens fördert. –
Die Seelen der Kinder sind so zarte Gespinste, und die Psyche der Kinderfräulein ist oft sehr plump. Ich ging einmal mit einem Kinde und seiner Bonne spazieren. Plötzlich fing das Kind mit seinem feinen Stimmchen ganz reizend zu singen an. Statt still zu lauschen, kreischt die Bonne: »Ach, kann das Kind aber schön singen!« Worauf das Kind sofort verstummte. Auch die Kinderfräulein verstehen schwerlich ihr Handwerk, die dem Kind ewig Vorwürfe machen, wenn es sich beim Spielen das Kleid beschmutzt, statt ihm einen Spielkittel anzuziehen oder es so zu beschäftigen, daß es sich nicht beschmutzen kann. Gewöhnlich hocken die lieben Kinderfräulein im Freien beieinander und schwatzen und klatschen und kümmern sich herzlich wenig darum, was die Kleinen treiben. Die Mütter aber geben sich selten die Mühe einer Kontrolle. Immerhin, – ist die Mutter schon aus zwingenden Gründen genötigt, die physische Behütung ihres Kindes fremden Leuten anzuvertrauen, so soll sie doch das eigentlich erzieherische Regiment, d. h. die intellektuelle und moralische Ausbildung des Kindes, die harmonische Lebensgestaltung, niemals aus der Hand lassen.
Die Grundlage aller Erziehungsarbeit ist die Pflege der Gesundheit. Körper und Geist sollen sich gleichmäßig ausbilden und entwickeln. Das Altertum kannte nur diese Art von Kindererziehung; die Jugend wurde hygienisch abgehärtet und robust gemacht. Sie wurde an Körperübungen in freier Luft gewöhnt, damit die physische Spannkraft auf den Geist zurückwirke. Sokrates ermahnt seine Schüler, die täglichen Leibesübungen nicht zu vernachlässigen; mit erfrischtem Körper, erfrischten Sinnen sollen sie zu ihm kommen, um der Menschheit tiefe Fragen zu erörtern. Er selbst tanzte täglich eine Stunde, weil durch diese Körperbewegung sein Geist frei und leicht wurde.
Horaz sagt in seinen Oden, wo er vom Knaben spricht: »Er soll sein Leben unter freiem Himmel und in Gefahren zubringen.« Montaigne, der das Kind gegen jede Verzärtelung und Verweichlichung in Speise, Trank, Kleidung und Schlafen gefeit haben wollte, fand, daß es nicht genüge, »die Seele des Knaben fest zu machen – man muß den Zögling auch an eine mühevolle und harte Gymnastik gewöhnen, um ihn gegen allerlei Schmerzen unempfindlich zu machen.«
Glücklicherweise wird in unserer Zeit auf gymnastische Dinge dasselbe Gewicht gelegt wie auf alle anderen Unterrichtsfächer. Turnen und Bewegungsspiele, möglichst im Freien, erlösen den jungen Menschen von der Stubenhockerei. Das Erbübel des Städters, die Blutarmut, wird dadurch wesentlich eingeschränkt. Hier haben wir uns die sportliche Erziehungsmethode der Engländer, das große Stählungsmittel für Muskeln und Nerven, glücklich zum Muster genommen. Fast mehr noch als den Engländern, die für unser Gefühl zu sehr reine Sportsmenschen sind, verdanken wir den schwedischen Turnprinzipien: Frau Dr. Mensendieks System zeichnet sich durch besondere Gediegenheit aus und hat einen entsprechenden Erfolg gehabt; der Stil Dalcroze, der die Musik in die Gymnastik einführte und aus dem Körper die rhythmischen Regungen herausarbeitet, ist wegen seiner hohen ästhetischen Reize überall durchgedrungen. Eine besondere Nuance aber bietet die Verbindung der Körperpflege mit landschaftlicher Arbeit; sie ist sehr alt.
Goethe vertritt diese Praxis mit der Wärme der Ueberzeugung in der berühmten pädagogischen Provinz der Wanderjahre: dort wird Wilhelm Meisters Sohn erzogen, als Mitglied einer großen Gemeinschaft. Aus der Arbeit mit und an der Natur erwächst die Ehrfurcht vor dem Erschaffenen und vor dem Geistigen, vor dem Menschlichen und vor dem Göttlichen.
»Wenn ich einen Garten habe, brauche ich kein Fräulein für meine Kinder!« sagte mir einst eine Freundin. Sie war mit Recht von dem erzieherischen Einfluß der grünen Wiese durchdrungen. Was wir für unsere Kinder wie das liebe Brot brauchen, das ist der freie, nicht umfriedete Rasen, wie er in Frankreich und in England der Jugend als ausgiebiger Tummelplatz eingeräumt ist. Dort gehört der Rasen den Kindern; die Hüterinnen haben sich ihre Stühle mitgebracht und nehmen auf der grünen Fläche ihre Beobachtungsposten ein. Bei uns aber ist das Kind für den Rasen da und nicht der Rasen für das Kind. Der verlangende Blick wird durch den Zaun oder das eiserne Staket gebannt, und es kann seine ersten Buchstabierübungen an dem berüchtigten Plakate machen: »Das Betreten des Rasens ist bei Strafe verboten.« Kullert einmal sein Ball oder sein Reifen auf die grüne Flache, und springt das Kind nach, so steht auch prompt der Schutzmann da und schreibt auf. Ich weiß nicht, ob wir genug Turn- und Spielplätze für unsere Jugend haben, aber das weiß ich bestimmt: das Betreten des Rasens ist verboten, weil es bei uns noch immer etwas gibt, was höher steht als die Gesundheit und Wohlfahrt der Menschen.