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Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes
aufnehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.
Goethe.
Im allgemeinen klingt es wenig verlockend, weiß man von einer Frau nichts anderes zu sagen als: »Sie ist sehr gebildet.« Besser hört sich schon an, wenn gesagt wird: »Sie ist sehr gebildet, aber man merkt es nicht.« Oder: »Man muß sie schon sehr genau kennen, um es zu merken.« Das heißt dann: sie betrachtet Bildung als etwas Natürliches, Anerzogenes, Selbstverständliches und nicht als eine Sache, die man erst zeigen oder vor den Menschen beweisen muß. Sie trägt ihre Bildung nicht zur Schau, wie sie ein Schmuckstück trägt, damit jeder es bemerke … Schlimm ist dagegen, wenn von einer Frau behauptet wird, sie sei sehr ungebildet. Für dieses Manko gibt es bei den vielen Hilfsquellen der Belehrung, die allen Menschen heute zur Verfügung stehen, keine Entschuldigung. Und doch begegnet man häufig weiblichen Wesen, die aller Bildung gegenüber höchst indolent sind. Nicht, daß sie einfach erklärten, sie hielten nichts davon, – nein, ihr bißchen Schulbildung genügt ihnen – sie lassen tausend Gelegenheiten innerer Bereicherung unausgenutzt; sie gleichen ganz kleinen Kindern, deren Augen nicht sehen, deren Ohren nicht hören. Sie tun nichts als leben und merken nicht, daß sie ihr Leben auf diese Art verpassen. Zuweilen versucht später der Gatte, ihnen geistig ein Wegebahner und Führer zu sein, und was einst verfehlt wurde, wird in der Ehe nachgeholt. Oft erfährt die junge Frau, überrascht und freudig, an sich die Wahrheit des Goethewortes: »Ueberall lernt man nur von dem, den man liebt.«
Andere wieder nehmen unaufhörlich auf, hören Vorträge, lesen ununterbrochen, lernen auswendig, rennen in Museen und Kunstausstellungen, besuchen Theater und Konzerte, so leidenschaftlich, daß man meinen könnte, sie laufen von Bildung über – aber nichts faßt Wurzel, alles gleitet wieder an ihnen herunter; es zeigt sich, daß sie die schönen Dinge nur errafft, nicht erlebt haben. Auch sie sind zu bedauern. Sie säen wohl, doch sie ernten nicht.
Dann gibt es junge Damen, für die fast nur der Sport existiert. Der Sport ist etwas Gutes, wenn man den gesunden Körper erstrebt, damit er geistig etwas leisten kann. Aber nur Sportlady, nach englischem und amerikanischem Muster, das liegt nicht auf der Linie der moralischen Anforderungen, die an unsere Generation gestellt werden, und auch Schnitzler meinte etwas anderes, als er bei der Jugend »weniger Geist und mehr Haltung« konstatierte.
Was bedeutet nun eigentlich Bildung? So viele Menschen man fragt, so viele Antworten hört man. Es ist begreiflich, daß jeder sich für gebildet, also das, was er weiß, für zureichend hält. Mit der Bildung geht es oft wie mit der Klugheit: jeder glaubt genug davon zu haben. Nun handelt es sich aber im Grunde nicht bloß um Wissen; ohne die Wissenschaften im geringsten zu unterschätzen, darf man feststellen, daß sie nur einen Teil unserer Bildung ausmachen, nicht die Bildung selbst. Bildung ist natürlich Wissen, aber Wissen ist noch lange nicht Bildung. Der Begriff muß umfassender, eindringlicher genommen werden. Nicht als etwas fertiges, das man mit sich herumträgt, nichts Geschaffenes, Ruhiges, Passives ist Bildung. Bildung ist Bewegung und Leidenschaft, ist eine Art organischer Prozeß, ist etwas höchst Aktives, eine geistige Tätigkeit, die mit der Entwicklung des Menschen geht und zugleich seine Entwicklung bestimmt; daher das Wort »Bildung«. Sich bilden ist ein lebendig fortwirkendes Schaffen an sich selbst.
Nun muß man doch wohl zwischen männlicher und weiblicher Bildung unterscheiden. Der Bildungsgang der Frau ist gewöhnlich anders als der des Mannes. Die Befreiung der Frau verschaffte ihr zwar die Fachbildung des Mannes, erhöhte ihre produktive Stellung im öffentlichen Leben, erzieht sie zu der Tüchtigkeit, die sie für einen speziellen Beruf braucht, und gibt ihr Rückhalt und moralische Sicherheit. Sie ändert aber im allgemeinen nichts am Wesen, an der geistigen und seelischen Struktur der Frau. Wie die Bildung des Mannes sich wissenschaftlich-systematisch aufbaut, so wird die Bildung der Frau mehr gefühlsmäßig-künstlerisch sein. Aus diesem Grunde haben Zeitströmungen, die mehr auf das sittliche Gefühl als auf den Verstand wirken wollen, sich mit Vorliebe an die Frauen gewandt: ich denke hier z. B. an den Appell des Pazifismus. Der kämpferische Roman »Die Waffen nieder!« wurde von einer Frau geschrieben.
Von jeher hat es Frauen gegeben, die ohne Akademie und Fachbildung geistig auf höchster Stufe standen. An die Frauen der klassischen Zeit und der Romantik zu erinnern, wäre überflüssig. Ihre Bildung war nicht auf wissenschaftlicher Grundlage erworben; war mehr eine künstlerische Zusammenfassung zufällig geschöpften Wissens. War geistige Grazie. Hatte Persönlichkeit und Stil. Gab sich naiv und leicht. Gewann im Verkehr mit großen Männern und war weniger selbstschöpferisch als anfeuernd und schwingengebend: les grandes inspiratrices, nennt ein Franzose solche Frauen. Vertragen diese Eigenschaften – Anmut des Gefühls und des Geistes – die Belastungsprobe der Gelehrsamkeit, um so besser.
Ich sagte vorhin, es sei schlimm, wenn von einer Frau behauptet wird, sie sei ungebildet. Sehr oft versteht man darunter Unbildung des Herzens, Mangel an Takt. Diese Unfähigkeit, den Empfindungen anderer Menschen sympathisch zu begegnen, sie mit Verständnis und Schonung zu behandeln, wird einer Frau schwerer verziehen als Unbildung des Geistes. Vornehme Frauennaturen üben Herzenstakt instinktmäßig; ihr Gefühl leitet sie sicherer als ihre Vernunft. Herzenstakt kann aber auch bis zu einem gewissen Grade anerzogen werden. Was wir unter guten Manieren verstehen (soweit sie nicht rein äußerlich begriffen sind), ist seiner Wirkung nach Herzenstakt. Goethe sagt: »Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte. Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte.« Und Chesterfield: »An edlen Sitten erkennt man einen distinguierten Menschen. Leute von niedriger Erziehung nehmen gute Sitte niemals in dem Maße an, daß nicht irgendwie das ursprünglich Pöbelhafte ihres Wesens hindurchschimmere.«
Gerade in unseren Tagen macht sich der Unterschied zwischen einem wirklich vornehmen Menschen und einem Menschen, der, dank seinem Reichtum, von dem Ehrgeiz geplagt ist, vornehm zu sein, besonders bemerkbar. Vornehmheit ist gelassene Auffassung des Lebens. So wohltuend Heiterkeit und fröhliche Jugend berühren können, so wenig sind unsere Nerven jetzt erzwungener Ausgelassenheit und lärmendem Uebermut gewachsen. In Bulwers Pelham fand ich diese Aufzeichnung: »Der unterscheidende Zug von Menschen, die an gute Gesellschaft gewohnt sind, ist kalte unerschütterliche Ruhe, die allen ihren Handlungen und Zuständen, den wichtigsten, wie den geringsten, sich mitteilt; sie essen mit Ruhe, machen sich Bewegung in Ruhe, wirken in Ruhe und verlieren die Ihrigen, ja selbst ihr Geld mit Ruhe, während gemeine Leute keinen Löffel Suppe essen und keine Beleidigung hinnehmen, ohne fürchterlichen Lärm zu schlagen.«
Ich muß an einen schönen Sommerabend denken, den wir mit Gustav von Geijerstam im Grunewald bei unserem alten Freunde S. Fischer verbracht hatten. Auf dem Heimwege bestiegen wir die Straßenbahn, die ziemlich leer war. Erst in Halensee stürmten Mädels und junge Männer herein, die vom Tanzvergnügen kamen und sich sehr laut und lästig betrugen. Plötzlich tritt der Schaffner mit strenger Miene an ein Dämchen heran und sagt in energischem Preußenton: »Mein Fräulein, wahren sie den äußeren Anstand!« Wir belustigten uns sehr, namentlich Geijerstam, dem fortan jenes: »Mein Fräulein, wahren sie den äußeren Anstand!« zum Zitat wurde.
Wie sehr geräuschvolles Auftreten stört, zumal wenn es sich mit lautem Aburteilen paart, kann man in Kunstausstellungen, besonders auf der Bilderschau der radikalen Verbände beobachten. Wollen die Leute leise in sich hineinlachen, so ist das ihre Privatangelegenheit, doch aus der Ausstellung ein cabinet de rire zu machen, schiefe Meinungen zu produzieren, die keinen Menschen was angehen, und dadurch andersdenkende Besucher zu brüskieren, das ist allerdings kaum eine Erfindung von heute, tritt aber heut in besonders scharfen Formen auf. Es sollte sich doch eigentlich von selbst verstehen, daß man die anderen, die fortgeschritteneren Leute, nicht in ihren Empfindungen verletzt, und doch habe ich noch in jeder Sezessionsausstellung schaudernd erlebt, daß die Leute ihre eigene Dummheit ungeniert und auffällig demonstrierten; überhaupt ist der so beliebte »gute Ton« in unserer politisch bewegten Zeit und durch sie auffällig in Vergessenheit geraten. Der Verkehr auf der Straßenbahn, der Untergrundbahn, der Eisenbahn – scheint Unhöflichkeit und Grobheit zu fördern. Bis jetzt sieht es nicht so aus, als brächte der Friede uns die schöne Ritterlichkeit zurück. Es wäre die Mission der Frauen, darüber zu wachen, daß die guten Sitten nicht ganz aus der Welt verschwinden; die Frauen sollen sie fordern, damit sie da sind, damit Höflichkeit nicht zur Schwäche und Brutalität nicht zur Stärke werde. – Ein Bildungsrequisit, das sich die Frau leicht verschafft, ist die Kenntnis fremder Sprachen; in jungen Jahren ist diese Aneignungsfähigkeit besonders stark. Doch ein wesentlicher Punkt ist, daß diese Sprachen nicht nur erlernt, sondern auch geübt werden. Die theoretische Verarbeitung fremdländischer Literatur tut es nicht; die Praxis des Sprechens ist das Wichtigere. Nichts vergißt man so leicht wie eine fremde Sprache, die man nicht spricht. Also Polyglottie ist nützlich. Immerhin es genügt nicht, den Stuhl in zehn Sprachen übersetzen zu können, man muß auch verstehen, mit Anstand darauf zu sitzen.
Das bedeutsamste Bildungselement aber ist und bleibt die Lektüre. Ein prometheischer Ausspruch Voltaires, der sich auf die Bücher verstand: »Es ist mit den Büchern wie mit dem Feuer auf unserem Herde; wir holen dieses Feuer von unserem Nachbar, wir erhalten es zu Hause brennend, wir teilen es anderen mit und es gehört allen.« Weil sie nur im »Jungen Goethe« standen (zweite Ausgabe von Max Morris), sind Goethes Briefe an seine Schwester Cornelia nicht so bekannt, wie sie verdienen. Goethe preist hier die Vorteile einer guten, systematischen Belesenheit, die er für das Fundament aller menschlichen Bildung hält. Er leitet die Schwester an, wie sie zu lesen habe. Er ist für das Aufnotieren, für das Lesen mit der Feder.
Als Kindern wurde uns nur erlaubt, am Abend zu lesen: am Tage, hieß es, könne man »was Besseres« tun. Man kann, im Gegenteil, nicht zeitig genug mit dem Lesen beginnen, d. h. mit dem Studium guter Bücher (denn von der sogenannten Unterhaltungslektüre, dem Durchschmökern leichter, seichter Literaturware kann nicht die Rede sein). Wobei es natürlich auch auf das Wie ankommt. Es hat keinen Sinn, wie unsere Väter sagten, »mit den Fingern« zu lesen, das heißt, wie im Fluge Blatt auf Blatt umzuschlagen; es hat nur Zweck, langsam zu lesen, das Gelesene in sich nachwirken zu lassen und so oft wiederzulesen, bis man es ganz durchdrungen und es sich gleichsam einverleibt hat. Nur, was man wirklich verstanden hat, behält man; alles andere ist Zeitvergeudung. »Was nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, verdient gar nicht gelesen zu werden« bleibt immer ein wahres Axiom. Wer hätte nicht schon die Erfahrung gemacht, daß man bedeutende Werke, die man wiederholt liest, in jedem Lebensabschnitt, in jeder Lebenslage anders auffaßt. Nur durch alle Daseinssituationen hindurch wird man großen Literaturwerken allmählich gewachsen. Und oft wird etwas, das uns plötzlich bei der Lektüre besonders anspricht, sehr bezeichnend für die Umstände, in denen man selber lebt. Bis man eines Tages, wie von einer Bergeshöhe, das Ganze überschaut und klar vor sich liegen sieht. So ist es mir mit den Wahlverwandtschaften, mit Wilhelm Meister gegangen, so mit Shakespeare, der Bibel und mit Dante. Goethe aber ist ein Bildungserdteil für sich.
Meine Großmutter erzählte mir manchmal, sie habe erst mit achtzehn Jahren den Faust gelesen. Sie heiratete mit siebenzehn und vor der Ehe wurde es ihr nicht erlaubt. Als sie einem Freunde sagte, daß sie jetzt zum ersten Male den Faust lesen wolle, meinte der Freund: »Wie ich Sie beneide!«
Ich möchte den Ausspruch: »Sehen ist ein Vergnügen, Wiedersehen ist ein Glück« auf die Lektüre anwenden: Lesen ist ein Vergnügen, Wiederlesen ist ein Glück. Ich denke hier an die jüngeren Russen, an Tolstoi und Dostojewski, an die Franzosen, an die Goncourts, Flaubert, Maupassant, Anatole France: Autoren, die man bei der ersten Bekanntschaft vielleicht nur als geistreiche, klare, unterhaltende Köpfe genießt, während man bei der Wiederholung sie als große Dichter empfinden lernt, ihren Stil durchlebt, in ihre Werkstatt blickt, intimer Zuschauer ihrer Arbeitsweise wird. Methodisches Wiederlesen ist eigentlich eine Beschäftigung für die höheren Jahre: eine jener Freuden, die sich die junge Frau für die Zeit, da die Lebensfreuden seltener werden, aufsparen kann, wo Wiederlesen zum Wiedererleben wird. Ihr muß genügen, zu lesen und mit Aufmerksamkeit und Vorsicht zu lesen.
Aus dieser Welt, die uns nicht mehr gefällt, in eine schönere zu streben, gibt es kein besseres Vehikel als ein gutes Buch.
»Das Studium der Bücher«, schrieb Montesquieu »war mir das vorzüglichste Remedium gegen Lebensüberdruß; nie hatte ich einen Kummer, den eine Stunde, mit Büchern zugebracht, nicht verscheucht hätte.« Und Friedrich Ludwig Jahn hat uns Deutschen ein wirkliches Trostwort hinterlassen: »Ein Volk, das ein wahres volkstümliches Bücherwesen besitzt, ist Herr von einem unermeßlichen Schatz. Es kann aus der Asche des Vaterlandes wieder aufleben, wenn seine heiligen Bücher gerettet sind …«
Das Theater. Es lockt zu etwas längerem Verweilen.
Gehen die Menschen heute ins Theater, um sich zu bilden? Die Majorität sicher nicht. Sie will unterhalten sein, die Zeit totschlagen. Die Theater, die nur einem bildungsuchenden und bildungsbedürftigen Publikum dienen, würden schwerlich bestehen können. »Klassisch ist, wenn die Kasse leer ist« pflegte die alte Schramm zu sagen. Der Ansturm auf die Premieren beweist am ehesten, daß es sich in den Theaterdingen bei den meisten um Sensationsgier handelt.
Das Land, aus dem das Wort stammt, verbindet mit Premiere einen anderen Sinn als wir. Dort ist die Generalprobe die richtige Premiere; auf der Generalprobe wird der Erfolg gemacht; nach den Eindrücken der Generalprobe empfängt die Kritik Haltung und Form. Die Premiere und Seconde finden zu sehr erhöhten Preisen statt und dienen wesentlich einem gesellschaftlichen Interesse. So erzählt Alexandre Dumas einmal aus solch einer ersten öffentlichen Aufführung, daß eine Prinzessin plötzlich ausrief: »Fräulein N. ist ja nicht da! Ist sie etwa krank!« Das sollte durchaus kein besonderes Zeichen von Sympathie sein, denn Fräulein N. war der Prinzessin furchtbar gleichgültig; die Prinzessin war gewohnt, Fräulein N. bei solchen Anlässen im Theater zu sehen, und diesmal fehlte Fräulein N. zur Vervollständigung des theatralischen Eindrucks. Mit dem teuren Billett kauft man eigentlich die Katze im Sack; kein Mensch dieser Kreise weiß im voraus, ob er auf seine Kosten kommt, aber es macht sich sehr gut, zu den Leuten zu gehören, die nicht wissen und auch nicht zu wissen brauchen, ob sie für ihr Geld etwas haben, die sozusagen für den eigenen Glanz und Schimmer den Eintritts- oder Händlerpreis zahlen.
Diese Seite der Sache trifft auch für Deutschland zu, wo im übrigen der Premierenbegriff umfassender ist. Bei uns ist die Generalprobe eine technische Angelegenheit der Bühne; die Premiere entscheidet das Schicksal des Stückes. Dies erhöht die Wichtigkeit des Abends auch beim Publikum. Das Publikum erscheint nicht nur, um der Geburt eines neuen Erfolges oder der Tragik einer Niederlage beizuwohnen, sondern auch um Zuschauer auf einer Art Kampfplatz zu sein, wie die Besucher der römischen Arenen oder der spanischen Stiergefechte. Die Gesellschaft will sich nicht nur sich selber zeigen und prunken, sie sucht auch einen Nervenreiz – eine Nuance, die den künstlerischen Genuß und das Urteil stark beeinträchtigt. Und man kann wirklich nicht behaupten, daß diese Nuance schön sei.
Es ist eine ganze Wissenschaft, wie und wo man für den großen Abend sein Billett erringt. Der richtige Premierenbesucher hat immer sein Billett; für ihn gibt es keine verschlossenen Türen. Er hat seinen Platz so sicher, wie die Souffleuse ihn in ihrem Kasten hat. Der Premierenbesucher ist souverän; seine eigene Laune ist das einzige Gesetz, das er kennt; das Eintrittsgeld, das er gezahlt hat, verbürgt ihm das Recht auf den Applaus wie auf das Zischen, und von diesem Recht macht er willkürlich Gebrauch. Die Frage, ob man im Theater durch Zischen eine Konfliktsstimmung fördern dürfe, ist oft erörtert worden. In den meisten Fällen ist sicherlich das gewaltsame Zischen nur ein frivoles Spiel; daß das Publikum durch den Grundgedanken des Stückes politisch oder sozial zur Opposition gereizt wird, kommt seltener vor. Die beste Ablehnung wäre immer ein eisiges Schweigen. Schweigen verurteilt. Oft ist man erstaunt und fragt sich: wozu der Lärm? Es liegt zu heftiger Parteinahme nicht der geringste Grund vor. Indessen, die Gemüter sind erhitzt, die Atmosphäre ist geladen und ein Fünkchen genügt, die Explosion herbeizuführen. Dieses Fünkchen wird manchmal durch einen Beifall geliefert, der der Majorität des Hauses unberechtigt oder übertrieben erscheint. Eine Frau von Takt wird sich im Theater jeder eigentlichen Demonstration enthalten, sie wird nicht klatschen, daß ihr die Handschuhe platzen, noch viel weniger wird sie zischen.
Eine merkwürdige Erscheinung ist, daß unser Publikum oft gerade seinen literarischen Lieblingen mit wenig Nachsicht begegnet, wenn mal eine Jahresfrucht nicht ganz seinen Erwartungen entspricht. Das französische Theaterpublikum (man mag sonst von ihm denken, wie man will) zeigt jedenfalls seinen Dichtern gegenüber einen gewissen nationalen Stolz und ist stets geneigt, ihnen Schwächen und Schönheitsfehler zu vergeben. Unser Publikum dagegen vergißt sehr leicht früheres Verdienst, schreit heute »Kreuziget«, wo es gestern »Hosiannah« gerufen hat. Der Hausschlüssel sitzt den Leuten verflucht locker in der Tasche, wenn der Dichter einmal eine andere Tonart anschlägt, als seine übliche Marke erwarten ließ. Wird ein Lustspieldichter ernst, so ist die Opposition beinah schon gegeben. Nicht jeder denkt wie Paul Lindaus Köchin, die sagte: »Lachen kann ick die janze Woche – wenn ick Sonntags ins Theater jehe, will ick weinen!«
Reine Konversationsstücke haben einen besonders schweren Stand, denn unserem Publikum fehlt eigentlich die Begabung, ruhig ausgesponnenen, feinen Dialogen mit Geduld zuzuhören. Gut zuhören können, ist überhaupt ein Zeichen von Bildung, ist eine nicht zu unterschätzende Charaktereigenschaft. Ich weiß nicht mehr, wer es war, der auf die Frage, warum er gerade diese Frau, die weder hübsch noch gescheit war, gewählt habe, erwidert hat: »Sie kann so gut zuhören.«
Ein wenig hängt dies Nichtzuhörenkönnen mit unseren Essenszeiten zusammen. Die meisten Menschen stürzen ins Theater, unmittelbar von der Arbeit, müde und hungrig. Starke Anreizungen von der Bühne dort oben machen vieles vergessen; doch man ist nicht gekommen, wie in anderen Weltstädten, um nach dem Diner sich ein paar Stunden zu vertreiben und eine geistreiche Konversation zu genießen.
Höchst stimmungraubend aber ist die neue Mode, seine Butterbrote ins Theater mitzubringen, sie gar während des Spiels aus dem knisternden Papier zu wickeln und sie geräuschvoll zu verzehren. Den leiblichen Hunger sollte man zumindest erst dann stillen, wenn der geistige einigermaßen befriedigt ist, d. h. in den Zwischenakten. Sorgt der Mann auch für das tägliche Brot – die belegten Butterbrote sind Frauenangelegenheit.
Eine Quelle besonderer Faszination ist die Kleiderfrage; sie gibt den großen Premieren eine anlockende Prägung. Moderne Stücke, die moderne Toiletten verlangen und auch exemplarisch zeigen, genießen eine eigene Art Kredit bei den Frauen. Die Modeschau ist freiwillig auf der Bühne und unfreiwillig im Auditorium. Im Saale sieht man die neuesten Abendkleider, in den Logen bestaunt man die letzten Hutmodelle, das heißt, man bestaunt sie in den Logen und weniger im Parkett, wo sie einst dem Auge fürchterliche Barrikaden schufen. Als es in Pariser Theatern noch Sitte oder Unsitte war, auf den Fauteuils des Parketts den Hut aufzubehalten, wußte Tristan Bernard die folgende belustigende Geschichte zu erzählen: »Es war im Théâtre Antoine bei der ersten Aufführung von »Anna Karenina«. Als ich nach der Pause mich wieder auf meinen Platz begeben wollte, fand ich ihn von einer Dame besetzt, die einen ziemlich umfangreichen Hut aufhatte. Ich gab ihr zu verstehen, daß sie sich geirrt habe, ihr Sitz sei nebenan. ›Jawohl,‹ sagte laut eine andere Dame, die in der Reihe hinter uns saß, ›die Dame sitzt nicht auf ihrem richtigen Platz. Ein wahres Glück für meine kleine Tochter, die hinter diesem Riesenhut nichts sehen würde … Ich begreife überhaupt nicht, wie man mit solchen Hüten ins Theater gehen kann.‹ Die Dame mit dem großen Hut sieht sich um, schaut einen Augenblick das kleine Mädchen an und findet die wundervolle Rechtfertigung: ›Anna Karenina ist kein Stück für Kinder.‹«
Ein Rest unbewußter Romantik, der sich über die ernstesten Lebenserfahrungen hinweg manchmal in der Frau erhält, ist die Koketterie mit dem Theaterspiel. Kann sie diesem Zug des Herzens nicht frönen, so sucht sie einen Ersatz: sie wird Diseuse. Das Rezitieren ist während der letzten Jahre in unserer Gesellschaft geradezu ein Sport geworden, und zwar ein höchst lästiger Sport. Es gibt Schauspielschulleiter oder gefällige Regisseure, die zahlungsfähigen jungen Menschen Deklamationsunterricht erteilen, und zwar in der expressionistischen Manier. Früher nannte man so etwas einfach Pathos oder Weimarer Schule. Die Begabung ist Nebensache. Das Programm wird zumeist der allerletzten Lyrik entnommen. Das Kostüm wird ästhetisch abgestimmt. Von drei jungen Damen hörte ich letzten Winter dieselben Gedichte in derselben konventionellen Manier vorgetragen; es war kein ungetrübtes Vergnügen. Wenn schon schauspielerischer Dilettantismus sein soll, dann lieber das alte ehrliche Liebhabertheater.
Ein ander, ein schöner Ding ist es mit der Musik. Trost in der Musik zu suchen ist eine deutsche Sache. In unseren trüben Tagen sagt und gibt uns eine Oper, die wir kennen, ein Konzert, dessen Programm aus uns vertrauten Meisterwerken zusammengesetzt ist, mehr als irgendein neues Theaterstück von ungewissem Wert. Nur die Musik kann uns in jenen wohltuenden Traumzustand, in jene Glücksempfindung hinüberrücken, worin wir uns und unser gegenwärtiges Leben ganz vergessen. Mit der Musik ist es wie mit der Liebe: sie schafft uns ein erhöhtes Lebensgefühl, einen alles bezwingenden Rausch.
Schreitet man jetzt an Sommerabenden durch deutsche Kleinstädte, so tönt uns fast aus jedem Hause Musik entgegen, ein Klavier, ein simpler Gesang – Musik, die allerdings meist mit mehr Begeisterung als mit Kunst ausgeübt wird. Aber das schadet nichts. Hier zeigt der Dilettantismus seine rührende Seite, seine Kraft der Gemütsbildung.
Auch wenn sie technisch Mängel und Unvollkommenheiten aufweist, erzeugt häusliche Musik in vielleicht noch höherem Grade Stimmung als der große Konzertsaal mit seinen öffentlichen Produktionen, weil die Persönlichkeit des Ausübenden uns näher rückt und intensiver auf uns wirken kann, weil die Intimität des Raumes uns unmittelbarer zur Sammlung zwingt. So berichtet ein moderner Wiener Dichter einmal von einem Schubertkonzert, das bei einer Alt-Wiener Familie im traditionellen Biedermeierraum stattfand, mit erhöhterem Enthusiasmus, als er je für Oper und Konzerte übrig hatte. Diese häusliche Kammermusik ist eine Art Kernstück im Bildungsleben der Familie. Sie entwickelt naiv das musikalische Gefühl und Interesse des einzelnen, und Stimmen der Höhe und der Tiefe wecken den Menschen auf, daß er sich als Mensch empfinde. Die Kammermusik ist die Poesie des Hauses.
»Ein Mensch, der keinerlei Kunst gelernt hat, noch versteht, ist trocken wie eine Gegend ohne Wasser; es fehlt das bewegt Belebende«, sprach Berthold Auerbach oder ließ es seinen Kollaborator sagen. Damals, in nichtsozialisierten Zeiten, war Kunst noch das Privilegium einer Oberschicht; Heut ist Kunst, wie sie begriffen wird, wie jedes andere Kulturelement, dem Popularisierungstrieb unterworfen. Sie wird jedem zugänglich gemacht, und fast jeder betreibt eine Kunst auf seine Weise. Die Talentfrage läßt man nicht allzuschwer ins Gewicht fallen. Sprach man am Stammtisch von den Talenten der Gegenwart, so pflegte Fritz von Uhde mit seinem sächsischen Tonfall zu sagen: »Talent, Talent, Talent! Heutzutage hat jeder Talent!« Läßt man den Streit um ein Wort beiseite, so kann man sagen, daß Talent wirklich etwas sei, das erworben werden kann. Wenigstens hat die französische Kunstterminologie diese Auffassung. Man hört oft, wie der Sachverständige über einen Künstler, dessen Werk durchaus noch nicht allen Anforderungen genügt, die Prognose stellt: » Il (oder elle) aura du talent«, dieser Mann oder diese Frau wird eines Tages Talent haben. Womit gesagt sein soll: durch Erlernung eines guten Handwerks, durch leidenschaftliche Arbeit kann der Mensch, der sich zur Kunst bestimmt, nützliches Glied einer künstlerischen Gemeinschaft werden. Als Goethe sich einmal bei seiner Mutter über einen Menschen beklagte, der dichtete, obgleich er talentlos sei, schrieb ihm Mutter Asa lustig: »Es krabbeln so viele auf'm Parnaß rum, laß ihn mitkrabbeln!«
Die Sache hat aber auch eine Kehrseite: jeder glaubt in künstlerischen Dingen ein Urteil zu haben. Ohne Ahnung von der Genesis der Dinge, ohne die Schwere einer künstlerischen Geburt ermessen zu können, ohne Demut vor der Kunst fallen die Menschen mit ihren harten Entscheidungen über die Modernität her, d. h. über die Befähigung des Talentes zum Neuen. Sie wissen nichts von jener Ueberzeugung Goethes: »Die Kunst läßt sich ohne Enthusiasmus weder fassen noch begreifen. Aber nicht mit Erstaunen und Bewunderung anfangen will, der findet nicht den Zugang in das innere Heiligtum.« Der Spott der Menschen über Dinge, die sie nicht verstehen, ist gewiß das Härteste und Schlimmste. »Unsere wahre Bildung zeigt sich darin, daß wir nie am unrechten Orte lachen«, schrieb indigniert Friedrich Wilhelm Förster. Ich sprach oben von dem cabinet de rire, in das törichte Leute oft unsere Kunstausstellungen verwandeln. Was soll man von der künstlerischen Erziehung einer Mutter denken, die mir kürzlich ganz unbefangen erzählte: »Ich war mit meiner Tochter in der neuen Ausstellung des Sturm. Wir wußten nicht, was wir vor Lachen tun sollten. Ich durfte meine Tochter nicht ansehen und sie mich nicht, – sonst wären wir losgeplatzt.« Obwohl ich bei der Dame zu Gaste war, konnte ich nicht umhin, ihr einige Winke für Bildungsmethoden zu geben und sie aufzuklären, daß in der Seele des Künstlers, den sie einfach auslache und den auszulachen, sie ihr Kind einlade, ja doch etwas vorgehen müsse, daß der Leiter der Ausstellung wohl auch wisse, was er täte, daß man eher an sich selber als am Künstler zu zweifeln habe. Ich fragte sie, ob sie denn nicht befürchte, einmal etwas wirklich Großes und Bedeutendes zu verhöhnen. Ich gab ihr eine kleine Umschreibung des Sprichwortes: »Der Spott ist der Geist der Leute, die keinen haben.« Und dabei hatte ich mein leises Bedauern – denn jene Dame ist in allen andern Dingen durchaus »Dame«, ist ein gescheiter Mensch und versagt nur in künstlerischen Fragen. Aber vielleicht beginnt eines Tages ihr Verständnis, und dann wird ihr Spott aufhören. Leider ist sie durchaus kein vereinzelter Typ. In einem Drama läßt Ernst Rosmer (Elsa Bernstein) einen Künstler in ihrem herzhaft deutlichen Deutsch sagen: »Man verlangt ja kein Verständnis von den Leuten, aber's Maul sollen sie halten.« Und was setzte Henrik Ibsen über Lob und Zustimmung: – das Verständnis.
Eine andere Gattung Menschen, meist Frauen, begnügen sich, entweder das Urteil anderer, das sie irgendwo gelesen oder mit den Ohren aufgeschnappt haben, einfach nachzuplappern, sinnlos, oder sie versinken in blinde, wahllose Bewunderung. Dabei hat jede ihren Lieblingsausdruck in Bereitschaft. Der einen kommt alles »wahnsinnig« vor, der andern alles »entzückend«, »berauschend«, »blendend«. Keine findet ein charakteristisches Wort oder bemüht sich auch nur, es zu suchen. Und wie dankbar wäre man für ein besonderes Wort, ein Wort, das die Sache trifft! Unbeschränkte Bewunderung ist Unwissen oder tiefstes Wissen. So beglückend Bewunderung für einen Künstler sein kann, wenn sie Kenntnis bedeutet, so lähmend muß sie wirken, wenn sie Unkenntnis verrät. Ein Satz aus den »Wahlverwandtschaften« beschließe zusammenfassend diese Erwägungen. »Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.«
Dieses Kapitel von den menschlichen Veredelungsversuchen soll mit dem Reisen schließen. »Reisen bild't«, pflegt der Berliner zu sagen, und soweit es sich um Bildungsreisen im engeren Sinne handelt, mag er recht haben. Früher wurden die Söhne der Mächtigen und Besitzenden auf die große Tour geschickt, worunter man die Hauptstädte der europäischen Kulturländer und die Kaiser- und Königshofe verstand. Später kam noch die »überseeische« Ausbildung hinzu, die meist geschäftlichen Interessen diente. Vielleicht profitierte man zur Zeit der Postkutschen mehr für seine menschliche Entwickelung als jetzt in den Tagen der Eilzüge, der Autos, des Luftverkehrs, da solch eine Reise sich sozusagen am Schnürchen abrollt und jeder Genuß von der Rapidität vorgeschrieben wird. (Allerdings klagte man schon zur Zeit der Postkutsche, daß die Muße des Aufnehmens fehle. Lenaus Postillon fühlt sich durch die fatale Schnelligkeit seines Fahrplanes geniert: »Kaum gegrüßt – gemieden.«) Aber wer den ehrlichen Willen hat, kann sich auch heute noch auf Reisen durch den schönen Zufall treiben lassen, kann auch seiner Freude am Entdecken genügen, kann jene Poesie des Reisens finden, die in der innerlichen Befestigung seltener Eindrücke besteht. Kann sich vorbereiten auf die Reise, von der er so viel erhofft, kann einleitende Studien machen und so mit ästhetischer Bewußtheit fremde Landschaftsnatur, fremden Kunstreichtum, fremdes Menschenwesen genießen. Man hat wenig gesehen, wenn man mit einem gewissen Parvenüstolz nur aufzählt, wieviel man gesehen habe. Für die reinen Bildungsfahrten bleibt, besonders den Frauen der großen Städte, nicht viel Zeit übrig. Ist der Reisetermin da, so sind gewöhnlich die Nerven stark herunter, und die Frage der Erholung schiebt sich in den Vordergrund, der Erholung, die geistige Efforts ausschließt und nur gelinde Zerstreuungen begehrt.
Sind solche Fahrten auch weniger bildend, so kann eine Frau doch zeigen, ob sie eine »gebildete Frau« ist oder nicht. Gerade die Frauen haben sehr oft die ewige Unrast des Städters auf Reisen an sich, des Städters, der auf dem Lande Ruhe sucht und doch die Unruhe mit sich bringt, der da meint, sich in der Sommerfrische ungenierter und rücksichtsloser betragen zu können, als es ihm in der Stadt erlaubt ist, wo er, um seiner Umgebung willen, Haltung zu bewahren hat. Das Auftreten auf dem Lande verpflichtet nicht weniger zur Bescheidenheit. In der Kleidung neigen viele Frauen zur Exzentrizität: Sommer wie Winter sah man in den bayerischen Bergländern Damen der Großstadt in Hosen herumspazieren, um ihren Hals aber hatten sie dicke Perlenketten geschlungen. Nun kann der bayerische Bauer alles ertragen, nur keine Frau in Hosen. Aus folgendem Grunde. Der Bauer sagt sich: In der Stadt tragen die Weibsleut' keine Hosen und würden sich auch nicht getrauen, Hosen zu tragen; aber uns hier auf dem Lande glauben sie alles bieten zu können. Die Landleute sehen in dieser Tracht der Stadtfrauen eine gewisse Nichtachtung und werden in ihrer Auffassung durch die Geistlichkeit unterstützt, die die Sache außerdem noch mit der Sittlichkeitsfrage kompliziert. Wer will dem Bauer unrecht geben?
Das Nichtstun mancher Städter auf dem Lande ist oft mit viel Geräusch verbunden, während doch jeder auf Reisen Stille sucht und Stille zu finden hofft. Ich weiß nicht, ob es andern auch so ergeht, – aber mir scheint, daß nur wenige im Hotel die Türen richtig schließen; fast jeder wirft sie zu. Alle guten Vorschriften und Plakate sind einfach nicht vorhanden, besonders für die Frühaufsteher. Diese Frühaufsteher vergessen, daß es viele Menschen gibt, deren Erholung schon beim Ausschlafen beginnt, eine Tätigkeit, zu der sie daheim keine Zeit haben. Ich finde, diese braven Leute könnte man ruhig schlafen lassen, da sie doch inzwischen nichts Böses tun. Sie sind mir weit sympathischer als jene Herrschaften, die ihre Frauen schon beim Morgengrauen mit großem Geschrei aus dem Bett reißen, um mit ihnen auf irgendeinen überflüssigen Berg zu kraxeln. So habe ich jüngst einen Münchener Maler erlebt, der die Dame seines Herzens jeden Morgen Punkt sechs Uhr aus dem Schlaf trommelte mit den Worten: »Schöne Frau! Stehen Sie auf! Es ist Zeit! Darf ich den Kaffee bestellen?« Warum die schöne Frau jeden Morgen schon um sechs Uhr Kaffee trinken mußte, blieb sämtlichen ein ungelöstes Rätsel.
Ich habe einst in Trouville und Dieppe den jungen Frauen niemals übelgenommen, daß sie erst kurz vor dem Lunch ins Leben hinunterstiegen. Sie boten dann, ausgeruht und reizend angezogen, einen so unmutigen Anblick, daß man ihnen noch weit mehr als nur das Ausschlafen verziehen hätte.