Alexander Dumas
Zwanzig Jahre nachher
Alexander Dumas

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Die Lossprechung

Man vernehme, was da geschah.

Wir haben gesehen, daß der vorgebliche Mönch ganz und gar nicht aus freiem Antriebe, sondern wider seinen Willen den Verwundeten begleitete, der ihm auf so seltsame Art empfohlen worden war. Der Scharfrichter prüfte mit jenem schnellen Blicke, der den Sterbenden eigen ist, welche keine Zeit mehr zu verlieren haben, das Gesicht desjenigen, der sein Tröster werden sollte, und mit einer Bewegung des Erstaunens sagte er: »Ihr seid noch recht jung, ehrwürdiger Vater.« »Diejenigen, welche mein Kleid tragen, haben kein Alter,« gab Francis zur Antwort. »O, redet doch sanfter mit mir,« sprach der Verwundete, »ich brauche in meinen letzten Augenblicken einen Freund.« »Ihr seid sehr leidend?« versetzte der Mönch. »Ja, doch weit mehr in der Seele als am Leibe.« »Wir werden Eure Seele erretten,« sprach der junge Mann, »doch seid Ihr wirklich der Scharfrichter von Bethune, wie diese Leute sagen?« Der Verwundete, welcher zweifelsohne fürchtete, der Name Scharfrichter möchte ihm den letzten Beistand rauben, den er in Anspruch nahm, entgegnete rasch: »Das heißt, ich bin es gewesen, doch bin ich es jetzt nicht mehr; seit fünfzehn Jahren habe ich mein Amt abgetreten. Wohl bin ich noch bei den Exekutionen anwesend, doch vollstreckte ich sie nicht mehr selbst.« »Ihr habt sonach einen Abscheu vor Eurem Stande?« Der Scharfrichter stieß einen tiefen Seufzer aus, dann sagte er: »So lang ich nur im Namen des Gesetzes und der Gerechtigkeit gerichtet habe, ließ mich mein Stand unter dem Schirme des Gesetzes und der Gerechtigkeit in Ruhe schlafen; allein seit jener entsetzlichen Nacht, wo ich mich zum Werkzeuge einer persönlichen Rache hingab, und das Richtschwert mit Haß über ein Geschöpf Gottes zückte, seit jenem Tage – –«

Der Scharfrichter hielt inne und schüttelte den Kopf mit verzweiflungsvoller Miene. »Redet,« sprach Francis, der sich an das Bett des Kranken gesetzt hatte und Teilnahme an einer Erzählung zu fassen begann, welche sich auf eine so sonderbare Weise ankündigte. »Ach,« seufzte der Sterbende mit dem ganzen Ausdrucke eines lang unterdrückten Schmerzes, der endlich ausbricht, »ach, ich habe mittlerweile diese Gewissensbisse zwanzig Jahre hindurch mit guten Werken zu besänftigen versucht; ich habe die Grausamkeit abgelegt, welche denen, die Blut vergießen, gleichsam zur Natur geworden ist, und setzte bei jeder Gelegenheit mein Leben ein, um das Leben derer zu erretten, welche in Gefahr schwebten, und so erhielt ich der Welt menschliche Geschöpfe gegen diejenigen, welche ich ihr geraubt habe. Das ist noch nicht alles: ich verteilte die Güter, welche ich in der Ausübung meines Amtes erworben, unter die Armen, ward ein eifriger Besucher der Kirchen, und gewöhnte die Leute, welche mich mieden, daran, mich zu sehen. Alle vergaben mir, einige liebten mich sogar, allein ich fürchte, Gott habe mir nicht vergeben, da mich die Erinnerung an jene Exekution unablässig verfolgt, und mir ist, als ob sich der Geist jenes Weibes allnächtlich vor mir aufrichte.«

Der Sterbende schloß die Augen und erhob ein Stöhnen. Francis fürchtete sicherlich, er möchte sterben, ohne weiter zu sprechen, denn er fuhr rasch fort: »Redet weiter, noch weiß ich nichts, und wenn Ihr Eure Erzählung beendet habt, will ich mit Gott richten.« »Ach, ehrwürdiger Vater« fuhr der Scharfrichter fort, »zumal des nachts und wenn ich irgendeinen Fluß übersetze, verdoppelt sich dieser Schrecken, den ich nicht zu bewältigen vermochte; dann ist mir, als würde meine Hand schwer, und als laste in ihr noch das Richtschwert, als nähme das Wasser die Farbe des Blutes an, und als vereinigten sich alle Stimmen der Natur, das Rauschen der Bäume, das Tosen des Windes, das Plätschern der Wogen, um eine klagende, verzweifelnde, schreckenvolle Stimme zu bilden, welche mir zuruft: ›Laß Gottes Gerechtigkeit walten!‹« »Das ist Delirium,« murmelte Francis kopfschüttelnd Der Scharfrichter faßte ihn am Arme, indem er sagte: »Delirium – Ihr sagt Delirium! Ach, nein, es war an einem Abend, ich habe ihre Leiche in den Fluß geworfen – das sind Worte, die mir meine Gewissensbisse wiederholen – ich habe sie in meinem Hochmut ausgesprochen; nachdem ich das Werkzeug der menschlichen Gerechtigkeit gewesen, dachte ich, das der Gerechtigkeit Gottes geworden zu sein. – Es war an einem Abend, wo mich ein Mann aufsuchte, und mir einen Befehl vorzeigte. Ich folgte ihm. Vier andere Herren erwarteten mich. Sie nahmen mich vermummt mit. Ich habe mir stets vorbehalten, mich zu widersetzen, falls mir der Dienst ungerecht schien, den man von mir fordern sollte. Endlich zeigten sie mir durch das Fenster eines kleinen Hauses ein Weib, das sich mit den Ellbogen auf ein Tischlein stemmte, und sagten zu mir: ›Das ist diejenige, welche Ihr hinrichten sollet!‹« »Schaudervoll!« rief Francis, »und Ihr habt Folge geleistet?« »Ehrwürdiger Vater, dieses Weib war ein Ungetüm; wie es hieß, hatte sie ihren zweiten Gemahl vergiftet, ihren Schwager umzubringen versucht, der sich unter diesen Männern befand; tags zuvor hatte sie eine junge Frau vergiftet, die ihre Nebenbuhlerin war, und ehe sie England verließ, hatte sie, wie man sagt, den Günstling des Königs ermorden lassen.« »Buckingham?« rief der vorgebliche Mönch. »Ja, ganz richtig, Buckingham.« »Sonach war diese Frau eine Engländerin?« »Nein, sie war Französin, doch hatte sie sich in England vermählt.«

Francis erblaßte, trocknete sich die Stirn und schob an der Türe den Riegel vor. Der Scharfrichter dachte, er wolle ihn verlassen, und sank seufzend auf sein Bett zurück. »Nein, nein, hier bin ich,« erwiderte Francis, und kehrte rasch zurück; »erzählet weiter, wer waren diese Männer?« »Der eine war, wie ich glaube, ein Ausländer, die vier andern Franzosen, welche die Uniform der Musketiere trugen.« »Ihre Namen?« »Ich kannte sie nicht; nur haben die vier anderen Herren den Engländer Mylord genannt.« »War diese Frau schön?« »Jung und schön, ja, besonders schön!« Francis schien auf seltsame Weise tief erschüttert; alle seine Glieder erbebten, man sah es, er wollte eine Frage stellen, doch wagte er es nicht. Nachdem er sich endlich mit Gewalt beherrscht hatte, fragte er: »Wie hieß diese Frau?« »Ich kannte sie nicht; wie schon gesagt, hat sie sich zweimal verheiratet, und einmal, wie es scheint, in Frankreich, das anderemal in England.« »Sie war jung, sagt Ihr?« »Etwa fünfundzwanzig Jahre alt.« »Schön?« »Bezaubernd.« »Blond?« »Ja.« »Lange Haare, nicht wahr? – die bis auf ihre Schultern niederwallten?« »Ja.« Der Scharfrichter stützte sich auf seine Kissen und heftete einen entsetzten Blick auf Francis, der totenfahl wurde. »Und Ihr habt sie getötet?« fragte dieser. »Ihr habt jenen Elenden als Werkzeug gedient, die sie nicht selber zu töten wagten? Ihr hattet kein Erbarmen mit dieser Jugend, dieser Schönheit, dieser Schwäche? Ihr habt sie getötet – diese Frau?« »Ach,« seufzte der Scharfrichter, »wie ich Euch sagte, ehrwürdiger Vater, so verbarg diese Frau unter einer himmlischen Hülle einen höllischen Geist, und als ich sie sah, als ich mich all des Bösen erinnerte, das sie mir selber angetan hatte . . .« »Euch? – was konnte sie Euch antun? redet.« »Sie hat meinen Bruder verführt und ins Verderben gestürzt; sie war mit ihm entflohen, da er ins Kloster gehen wollte.« »Mit deinem Bruder?« »Ja, mein Bruder war ihr erster Geliebter, und sie war die Ursache seines Todes. Ach, ehrwürdiger Vater, starret mich doch nicht so an; ich bin, ach! sehr straffällig, und habe keine Lossprechung zu hoffen.« »Nenne ihren Namen,« rief Francis. »Anna de Breuil,« stammelte der Verwundete. »Anna de Breuil!« rief Francis, indem er sich wieder emporrichtete und die beiden Hände zum Himmel erhob; »Anna de Breuil! nicht wahr, du hast gesagt Anna de Breuil?« »Ja, ja, das war ihr Name – o, sprecht mich los, denn' ich sterbe.« »Ich soll dich lossprechen?« rief Francis mit, verzerrtem Gesichte aus, bei dessen Anblick sich die Haare auf dem Haupte des Sterbenden sträubten, »ich soll dich lossprechen? Ha, ich bin kein Priester.« »Ihr seid kein Priester?« rief der Scharfrichter; »wer seid Ihr denn?« »Das will ich dir sagen. Elender!« »O Herr, mein Gott!« »Ich bin John Francis de Winter!« »Ich kenne Euch nicht,« rief der Scharfrichter. »Halt, halt! Du sollst mich kennen lernen; ich bin John Francis de Winter.« wiederholte er, »und jene Frau . . .« »Nun, jene Frau?« »Sie war meine Mutter.«

Der Scharfrichter stieß den ersten Schrei aus, jenen furchtbaren Schrei, den man zuerst vernommen hatte, und stammelte: »O, verzeiht mir, ja, verzeiht mir, wenn nicht im Namen Gottes, doch mindestens in Eurem Namen; wenn nicht als Priester, doch mindestens als Sohn.« »Dir verzeihen?« rief der falsche Mönch, »dir verzeihen? das mag Gott vielleicht tun, allein ich – niemals.« »Aus Barmherzigkeit!« stammelte der Scharfrichter, und streckte beide Arme nach ihm aus. »Keine Barmherzigkeit für den, der kein Erbarmen gehabt hat; stirb unbußfertig, stirb in Verzweiflung, fahre zur Verdammnis.« Da zog er einen Dolch unter dem Gewande hervor und bohrte ihm denselben in die Brust. »Da hast du,« sprach er, »meine Lossprechung.«

 


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